Blut und Schatten - Denis Herold - E-Book

Blut und Schatten E-Book

Denis Herold

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tabea jedoch, das schmutzige kleine Mädchen mit den verfilzten Haaren, dem verkniffenen Mund und den hasserfüllten Augen einer Erwachsenen, die sich im Wald versteckt und seit vier Tagen nichts gegessen hatte, Tabea jedoch war die Einzige von allen, die wusste, dass die sterbende Frau tatsächlich eine Hexe war. Denn die Frau, die gegen die Flammen kämpfte, war Tabeas Mutter. Deshalb wusste Tabea auch, was ihre Mutter zu tun vermochte. Und das hatte so rein gar nichts mit dem zu tun, was sich all die Leute, die Schaulustigen, die sich an dem grausamen Schauspiel ergötzten, in ihrem Aberglauben über Hexerei vorstellten. Nordhorn, die Stadt an der niederländischen Grenze, in der eigentlich nie etwas Aufregendes passiert, wird plötzlich Schauplatz schrecklicher Verbrechen. Junge Frauen werden grausam enthauptet – und niemand weiß, wer die nächste sein wird. Ein Verdächtiger ist kaum zu finden. Es scheint, als seien hier uralte übernatürliche Kräfte am Werk, die die Fesseln der Zeit und des Todes überwinden. Oder ist alles etwa nur Scharlatanerie?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 151

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Anmerkungen und Danksagungen

Prolog

Es schleicht jemand umher. Beobachtet. Lauert.

Der Wind flüstert es in den Bäumen. Tiere spitzen die Ohren. Gemäuer ächzen, wenn er sich nähert.

Die ganze Stadt sieht ihn, nur die Menschen sehen ihn nicht. Er geht umher in finstren Nächten. Düstere Wolken drängen sich vor den Mond, um seine Schritte zu verbergen.

Im Schutz der Dunkelheit sucht er einsame Häuser, blickt indieFenster, um unsere Liebsten zu holen. Er durchstreift die Gegend, um die unbemerkt von den Wegen zu zerren, die alleine unterwegs sind.

Wählerisch ist er, dieser unsägliche Schrecken. Wen er mit sich nimmt, der kehrt nie wieder zurück.

Und er ist voller Ungeduld. Er hat schon viel zu lange gewartet. Bald ist es soweit, bald wird er zuschlagen und Angst und Leid verbreiten.

Ich weiß nicht, woher er kommt, aber ich spüre, dass er nicht zum ersten Mal hier ist.

Ich spüre ihn dank der Gabe, die mir verliehen wurde, doch vermag ich ihn nicht aufzuhalten. Einst war ich stark, nun jedoch bin ich schwach, bin welk, wie die Blätter draußen in den Ästen. Schon bald werde ich verfaulen wie die Äpfel auf dem Boden vor den Bäumen.

Was kann ich schon gegen ihn ausrichten?

Wenn ihm niemand Einhalt gebietet, wird es viele Opfer geben.

Sich zu quälen,ist das größte Geschenk, das man sich selbstmachenkann. Man glaubt es zunächst nicht, aber später sieht man es meistens ein. Erst wenn jedesKörperteil, jeder Muskel so richtig schmerzt und zittert, fühlt man, dass man lebt.Das Heben und Senken des Brustkorbes. Das schwere Atmen. Das Ringen nach Luft.Das Blut, das in den Ohren rauscht. Sich an die Grenze herantasten, um dann noch einen Schritt weiter zu gehen.

Heute allerdings bewegte sich Johanna beim Laufen in der Komfortzone. Sie hatte keine Lust, sich zu verausgaben. Nur ein bisschen Stressabbau.

Sie hatte ihre erste Studienwoche hinter sich und damit ihre erste Woche des Pendelns von Nordhorn nach Münster. Sie war jetzt schon genervt von der Fahrerei mitderBahn. Aber sie brachte es nicht übers Herz,aus Nordhornund von ihrer Familiewegzuziehen. Ihre Mutter warnervenkrank. Das lag in ihrer Familie. Es hießzum Beispiel, Johanna habe einen Urgroßonkelin Kölngehabt, der Schriftsteller gewesen und zum Schluss über seine unheimlichen Geschichten wahnsinnig gewordensei.Johanna, die bislang gottlob noch keine Anzeichen dieser familiären Vorbelastung an sich feststellen konnte,wollte sie nicht alleine lassen. Sie wusste, dassihre Mutter darüberandersdachte. Wer blieb schon freiwillig in Nordhorn wohnen, wenn er in Münster leben konnte? Johanna Friedrichbliebbewusstin Nordhorn wohnen, und sie hatte es noch nicht bereut.Klar, zu den Studentenpartys konnte man nicht ohne Weiteres, aber das war ihr nicht wichtig. Und zur Not könnte man ja auch vielleicht später mal bei Kommilitonen übernachten.

Sie joggte am Kanal aufderHöhe des Vechtesees. Es war bereits Dämmerung,und sie hatte leuchtende Kleidung angezogen.Die Luft war trocken und frisch. Es warbislangeinherrlicher Taggewesen. Johanna blähte ihre Nasenflügelauf und fühlte sich lebendig.Irgendwo von hinten kam ein Fahrrad.

Sie war zufrieden. Sie war jung, sie war hübsch (das wusste sie),und vor ihr lag das ganze Leben mit seinen Möglichkeiten.

Plötzlich:

Der Schmerz!

Der Schreck!

Ein Schlag?

Der Boden, der näher kommt!

Und dann die Dunkelheit…

1. Kapitel

Einst in einer kalten Nacht, da ich

um den Schlaf gebracht,

durch den Wald so finster und doch vertraut ich schlich.

Schläfrig hockte ich mich nieder, rieb mir meine kalten Glieder,

und ich frug mich immer wieder:

Was hat das Schicksal gegen mich,

warum verhöhnt das Schicksal mich,

warum nur er und nicht ich?

Ich erinnermich noch ganz genau, vor mir nichts als

schwarz und grau,

mein Magen, ganz verkrampft und flau, nie war ein Wald so unheimlich.

Die Furien ließen mich nicht rasten, ich konnte nichts als weiterhasten,

den Weg, den musste ich ertasten,

die Stille machte mich wahnsinnig.

Die Nichtpräsenz von Leben, sie machte mich noch wahnsinnig,

warum nur er und nicht ich?

Weiter irrtich ohne Ziel, immer weiter

–bis ich fiel,

das Schicksal treibt schon böses Spiel,auf Schritt und Tritt verfolgtes mich.

Während meines ganzen Lebenssuchte ich nach Glück - vergebens,

und was blieb zum Lohn des Strebens?

Eine Seele schwarz und schmutzig.

DerGräuel einer einzigen Nacht tränkte sie so schwarz und schmutzig.

Warum nur er und nicht ich?

Im menschlichen Körper befinden sichetwasechs bis siebenLiterBlut. Verliert eine Person davonetwa einen halbenLiter, zum Beispiel durch einen Messerstich, so ist dasnochnicht weiter tragisch. Bei einemVerlust vonanderthalbLiternverspürt man einDurst- und Schwächegefühl, die Atmung beschleunigt sich undder BetroffenebekommtAngst.Aber bereits der Verlust eines Liters kannmanchmaleinen tödlichen Kreislaufschock auslösen. Anzeichen dafür sind Herzrasen,Zittern sowie kalter Schweiß. Der Körper setzt seine Betriebstemperatur herunter, wodurch der überlebenswichtige Sauerstoff und andere Energien eingespart werden sollen.Ab zweiLitern Blutverlust fühltman sich verwirrt und schwindelig,schließlichverliert mandas Bewusstsein.Bei Verlust der Hälfte des Blutes, also von dreibisdreiundhalbLitern, ist der Tod gewiss.

Der Eisengeschmack, manchmal auch der Eisengeruch,des menschlichen Blutes istübrigenstatsächlichauf Eisen im Blut zurückzuführen. Das Eisen isteinwichtigerBestandteil ver–schiedener Eiweiße beziehungsweise wird an Eiweiße gebunden durch den Körper transportiert. Ein besonders wichtiges dieser eisenhaltigen Eiweiße ist das Hämoglobin, bekannt als Bestandteil derroten Blutkörperchen und für den Sauerstofftransport im Blut zuständig.DasEisenistmit einer Gesamtmenge von etwa zwei bis vier Grammdas am häufigsten vorkommende Spurenelement in unserem Körper.

Wer sein Opfer aber mit Gewissheit töten möchte, der schlage ihm den Kopf ab.Die gewaltsame Abtrennung des Kopfes vom Rumpf,also das Köpfen oderEnthaupten(vornehmer: Dekapitation), führt unweigerlich zur Beendigung des Lebens der betroffenen Person. Es ist noch kein Fall bekannt (sieht man von der Legende vom PiratenKlaus Störtebeker ab), in dem ein Geköpfter noch weiter unter uns wandeln konnte.

Ganz plötzlich war es vorbei mit dem guten Wetter. In der letzten Zeitwar es noch wunderbar golden-sonnig gewesen, doch mit einem Mal brachen düstere und nasskalte Tage über Nordhorn ein.

Als Marcel mit seinem Freund Alexander wie so oft Basketball spielte, ahnte er nicht, dass seine Schwester bald tot sein würde.

Es war eigentlich zu kühlund zu ungemütlich, um im Freien Körbe zu werfen, dochdas störte den aufgeweckten Elfjährigen und seinen Klassenkameraden nicht. Sie spielten nach Streetballregeln gegeneinanderund benutzten dabei den einzigender vier Körbe, dernochnicht von Vandalen herabgebogen war.Es rochbereitssehrnach Herbst.Nach verwelkendemLaub.

Marcel war größer und kräftiger als Alexander und lag schon haushoch in Führung, so dass Alexanderbalddie Lust am Spiel verlor.

Schließlich sagte der rothaarige Junge: „Ich hab keinen Bock mehr. Lass mal aufhören!“

„Also gibst du auf, du Opfer?“

„Nö!“

So spielten sie noch fünf Minuten weiter, bis Alexander sichschließlichgeschlagen gab.

„MagicLuhmanngewinnt ein weiteres Mal!“,triumphierte der Sieger mit den kurzen blonden Haaren.

„Und jetzt?“,fragte Alex.

Der Sieger zuckte mit den Achseln und warf einen Blick zum Himmel: „Weiß nicht. Wir sollten lieber reingehen. Das sieht nach Regen aus.“

„Zu euch oder zu uns?“

„Ich würd‘sagen,zu mir, zu mir ist kürzer.“

In der Tat lag das Elternhaus von Marcel näher, denn dieLuhmannswohnten im ZentrumNordhorns,während Alexanders Elternin Bookholt wohnten.Und so fuhren sie zu Marcel.

Auf ihren Mountainbikes verließen siedas Gelände und passiertenein Wäldchen zu ihrer Rechten. Sie kamen an einem Tennisplatz vorbei und überquerten eine stärker befahrene Straße.

Nacheiner kurzen Zeitgemächlichen Fahrenskamensiean einer Schule vorbei.Aus einer Laune heraus zog Marcel einen Flummi aus seiner Hosentasche und rief Alexander zu: „Los, fang!“ Er warf ihn so, dass er zwischen den beiden Jungen auf dem Boden aufsetzte und auf Alexander zusprang. Dieser jedoch griff ins Leere. Der Flummi prallte noch einmal auf, um schließlich durch einen Maschendrahtzaun auf dem Grundstück eines stattlichen Anwesens zu verschwinden. Der grüne Zaun maß etwa zwei Meterin der Höheund wurde nach oben hin von Stacheldraht abgeschlossen.

Marcel verfluchte sein Pech und Alexanders Unvermögen. „Alter, kannst du nicht aufpassen?“ Das große Grundstück mit dem beeindruckenden Gebäude darauf war Marcel bislang noch nie zuvor aufgefallen. Es sah aus wie ein Minischloss aus rotem Klinker, hatte ausladende Fenster und einen Erker. Der Schüler schätzte, dass die Bewohner Millionäre sein mussten.Irgendwie machte es einen unheimlichen Eindruck, auch wenn Marcel nicht wirklich sagen konnte,warum.

„Sorry!“,antwortete Alexander kleinlaut. „Ich geb dir einenneuen.“

„Nichts da!Ich will den wieder haben.“

„Den kriegen wir nicht wieder.“

„Traust dich wohl nicht, was?“,sagte Marcel und reckte die Nase in die Höhe.„Aber ich trau mich.“

Über denStacheldrahtwürden sie nicht gelangen, so viel war klar. Sie umrundeten das Grundstück in Richtung Frontseite und stellten fest, dass vorne kein Maschendrahtzaun mehr war, sondern ein einfacher, höchstens einen Meter hoherGrenzzaun.

„Jetzt weiß ich,welches Haus das ist“,meinte Alexander.„Als ich früher mit meinem Opa hier manchmal lang spaziert bin, hatdereinmalgesagt, da wohnt einMagier. Hab‘ich aber nichtgeglaubt.“

„Stimmt auch nicht.Magiergibt es gar nicht. Guck, hier steht sogar ein Name.“

E.Hoffmannstand auf einem vergoldeten Schild an dem großen Tor. „Magierhaben keine Namensschilder“,konstatierteMarcelim Brustton der Überzeugungund drückte auf die sich darunter befindende Klingel.

Man hörte nichts. Das war auch nicht zu erwarten, da das Haus über zwanzig Meter von dem Tor entfernt war. Es gab auch keine Reaktion.

Marcel klingelte noch einmal. Wieder nichts. Weder meldete sich jemand über die Gegensprechanlage, noch war in den Fenstern eine Bewegung zu erkennen.

„Tja, niemand da. Dann muss ich wohl über den Zaun hier klettern, um meinen Flummi wiederzubekommen.“

„Biste sicher? Und wenn die einen Hund haben?“

„Dann wär’der schon längst hier“,beruhigte Marcel ihn und sichgleichermaßen.

„Ich find’ das hierirgendwie seltsam. Vergiss doch denScheiß-Flummi. Ich hab mindestens fünfStückdavon zuhause.“ Alexander sah unsicher zu den Fenstern, ob sich da nicht doch etwas täte.

Marcel grinste ihnhöhnisch an. „Hast Schiss, was?Wenigstens bin ich kein Schisser.Passauf!“ Er blickte noch einmal zum Haus. Dann ergriff er den Zaun und schwang sein rechtes Bein darüber.

Von einem Moment auf den anderen hatte er das Gefühl, dass es möglicherweise doch keine so gute Idee war, die Grenzen dieses Grundstücks zu verletzen. Er konnte sich nicht erklären, woran es lag, doch plötzlich bekam er es regelrecht mit der Angst zu tun.Sein Herz hämmerte in seiner Brust und ein Schauer lief über seine Haut.Als hätte er einen elektrischen Zaun berührt, zog er sein Bein zurück und machte einen Satz nach hinten.

„Was ist los?“,fragte Alexander.

„Ich hab jemanden gesehen“,log Marcel.

„Und der Flummi?“

„Hat eh ne doofe Farbe! Komm!“ Die beiden Jungen schwangen sich auf ihre Fahrräderund fuhren davon.

Voretwa400 Jahren, in derheutigenNiedergrafschaft…

Ein leichter Wind strich über den Platz, so dass den Menschen ein wenig kalt war. Dicht gedrängt standen sie und warteten, gaben dabei ein gutes Ziel für Beutelschneider ab, aber sie wussten, dass sich das Warten lohnen würde. Heute gab esnämlichetwas zu sehen. Heute würde ein Mensch verbrannt werden. EineleibhaftigeHexe.

Leif, der sechzehnjährige Bauernsohn, war zum ersten Mal bei so einem Geschehnis. Er zitterte, aber nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung.Er hatte einen nicht gerade kurzen Weg zu Fuß zurückgelegt und war durch dasVeldhüserStadttorin die Stadt Nyenhueß gekommen, allein schon, um mitreden zu können.

Vielleicht würde er auf dem Rückweg heimlich ein wenig Steinstaub von der Kirchenmauer abschaben. Er sollte getrunken gegen den schwarzen Tod schützen. So hatte es ihm zumindest seine Großmutter erzählt, und diese wusste sehr viel.

DierothaarigeFraudort oben auf dem Scheiterhaufenkannte er nicht persönlich, aber schon seit Wochen erzählte man sich in Nyenhueß und den umliegenden Dörfern von der Frau, deren richtigen Namen er nicht wusste, die von vielen aberBlutrabegenannt wurde. Warum sie so geheißen wurde, wusste er aber nicht. Es hieß, sie seimit dem Teufel im Bunde. Ihr Nachbar selbst wolltegesehen haben, wie sie mit dem Fürstender Finsternis Unzucht getrieben hat.Außerdem war die Ernte in diesem Jahr außerordentlich schlecht, wasganzgewiss kein Zufall sein konnte.

Da sieentkleidetan den Pfahl gefesselt war, konnte Leif erkennen, dass sie offensichtlich am ganzen Körper komplett kahl geschoren worden war,damit mannachHexenzeichen suchenkonnte.Auf diese Weise sah der Junge dann auch die erste nackte Frau in seinem Leben, was ihn sehr aufwühlte.

Leif konnte kaum hören, was vorne gesprochen wurde. Er stand leider zu weit weg. Aber er glaubte zu verstehen, dass derVertreter des Gerichts, dereigensfür den Prozessweitangereist war,sie drängte,ihre Sünden zu bekennen. Sie würde damit das Recht erwirken, vor dem Entzünden der Flammen stranguliert und somit vor den Qualen bewahrt zu werden. Doch die Frau lächelte nurspöttischund tat nichts dergleichen.

Schließlich wurde eine Fackel auf das Scheiterholz gelegt. Schnell entzündete sichder Haufen und in kurzer Zeit hatte sich ein Ring aus Feuer um den Pfahl gebildet, der langsam aber sicher höher aufstieg.

Leifhatte gehört, dass manchmal feuchtes Holz verwendet wurde, so dass die Verurteilte am Rauch erstickte, bevor ihr Körper verbrannte.  Im Falle dieser Frau war man aber anscheinend nicht so gnädig.Erkonnte seinen Blick nicht von dem Geschehen abwenden. Dies war der aufregendste Augenblick in seinem bisherigen Leben. Was würde er zu erzählen haben!Eine leibhaftige Drud bei lebendigem Leibe verbrannt! Im Namen des Herrn!

Das Knistern und Knacken des brennenden Holzes. Das Zucken der nächtlichen Schatten auf den Gesichtern der Schaulustigen. Die Funken, die den Rauch überholten und in den wolkenlosen, schönen Nachthimmel aufstiegen.

Man konnte der Frau ansehen, dass sie sich fest vorgenommen hatte, nicht zu schreien, ummitWürde zu sterben.

Aber am Ende schrie sie doch…Am Endeschriensieimmer, hatte man Leif erzählt.

Es war das Schlimmste, was Leif je gehört hatte.

Es war das Schlimmste, was Leif je gesehen hatte.

Und es war das Schlimmste, was Leif je gerochen hatten.

Um ihn herum begannen einige der Schaulustigen, die zuvor noch Gift und Galle gegen die Frau gewettert hatten, zu weinen.

Leif übergab sich, sein säuerlich riechendes Erbrochendes klatschte zwischen die Füße der Leute auf den Boden, was sie jedoch gar nicht zu bemerken schienen.

Die zwölfjähre Tabea, die, verborgen in einem weiten Kapuzenmantel,in seiner Nähe stand, schüttelte angesichts dieses Jammerlappens unscheinbar den Kopf und widmete sich wieder dem Anblick der brennenden Frau. Ihr war klar, dass viele der Anwesendenglaubten, dort oben auf dem Scheiterhaufen stehe eine Hexe. Darüber hinaus würde es vielenegalsein, ob es stimmte, solange es nur ein Spektakel zu sehen, zu hören und zu riechen gab. Manche würden sogarvermuten,dass es sich bei ihr nicht um eine Hexe handele, aber gleichwohl dasSchauspielgenießen.

Tabea jedoch, das schmutzige kleine Mädchen mit den verfilzten Haaren, dem verkniffenen Mund und den hasserfüllten Augen einer Erwachsenen,die sich im Wald versteckt und seit vier Tagen nichts gegessen hatte,Tabea jedoch war die Einzige von allen, diewusste, dass die sterbende Frautatsächlicheine Hexe war.

Denn Tabea war ihre Tochter.Als Tochter war ihr auch bekannt, was ihre Mutteralleswusste undwas siezu tun vermochte. Es hatte so rein gar nichts mit dem zu tun, was sich die dummen Leute in ihrem Aberglauben über das Dasein als Hexe vorstellten.

Innerlich loderndvor Wut,aber äußerlichscheinbarungerührt verfolgte Tabea jedes kleine Detail des Geschehens, schließlich hatte ihre Mutter ihr,kurz bevor sie verschleppt, angeklagt, gefoltert,verhörtund zu einem grausamen Tod in den Flammenverurteiltwurde,zwei Dinge eingebläut: Dass sie erstens beim Anblick der Verbrennung keine Miene verziehen sollte und dass sie zweitens niemals in ihrem Leben vergessen sollte, was sie an diesem Tag an diesem Ort gesehen hat.

WennJohannaihren Blick durchden großenHörsaal der Universität mitmehreren hundertSitzplätzenschweifen ließ, hatte sie nicht den Eindruck, dassüberhaupt jemand den Ausführungen des Professors über mittelalterliche Lyrik folgte.

„Uns ist in altenMaerenwunders vil geseit

von Helden lobebaeren,von grôzer arebeit,

von freuden, hôchgezîten,von weinen und von klagen,

von küener recken strîtenmuget ir nu wunder hoeren sagen.“

Der Professorblickte fröhlichin die Runde, nachdem er soebeninbrünstig aufMittelhochdeutschdoziert hatte.„Unswird in alten Geschichten viel Erstaunliches berichtet, von ruhmwürdigen Helden, von großen Taten, von Freuden,Festen, von Weinen und von Klagen, vom Kampf kühner Krieger sollt ihr jetztWunderbaresvernehmen.Na, kommen die Zeilen jemandem bekannt vor?“

„Das Nibelungenlied!“,rief  eineStudentin.

„Richtig, dasNibelungenlied. Und wer hat das Nibelungenlied geschrieben?“

Schweigen.

„War auch eine Fangfrage. Während die Verfasser der Legenden und der Artusepennämlichüblicherweiseihre Namen nannten, traten die Dichter der Heldenliederhinter ihrem Werk zurück. Wir wissen nicht, wer das Nibelungenlied geschrieben hat. Vermutlich entstand es um 1200 am Hofe des Passauer Bischofs Wolgervon Erla.“

Johannagähnte.Was interessierte sieschonmittelalterliche Lyrik? Was interessierte sie das Mittelalter? Das Mittelalter war weit weg, war tot und begraben.

Die attraktiveA