BLUTBESUDELT WONDERLAND - Christopher Golden - E-Book

BLUTBESUDELT WONDERLAND E-Book

Christopher Golden

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Beschreibung

Die Fortsetzung des für den Bram Stoker Award nominierten BLUTBESUDELT OZ 1940 – sieben Jahre sind vergangen, seit Gayle miterleben musste, wie ihre Familie und Nachbarn gemetzelt wurden. Getötet von den teuflischen Geschöpfen aus OZ, die in einem Tornado in ihre Welt kamen. Nun versucht sie gemeinsam mit Elisa, in London den Krieg zu überleben. Doch es ist nicht der Angriff der deutschen Luftwaffe allein, um den sie sich sorgen müssen. Die Heerscharen aus OZ haben Gayle und Elisa aufgespürt. Und diesmal kommen sie nicht allein. Sie werden begleitet von alptraumhaften Kreaturen aus dem BLUTBESUDELTEN WONDERLAND. Alle wollen den seltsam grün schimmernden Anhänger, den Gayle mitnahm, als sie aus Kansas floh. Einen Stein voller Magie: Das Smaragdherz von OZ. Nur wenn Gayle die Wahrheit über die Kraft des Steins herausfindet, haben sie und Elisa eine Chance zu überleben. Dave Simms (Cemetery Dance Online): "In BLUTBESUDELT WONDERLAND ist der Kaninchenbau in Stacheldraht gekleidet und mit Gift versetzt. Und er führt in ein alptraumhaftes Land, das sich Lewis Carroll nur hätte ausdenken können, wenn sein Verstand mit dem von Clive Barker verschmolzen wäre." Auch als Buchheim-Vorzugsausgabe, schaurig schön illustriert und hochwertig produziert. Nur in kleiner Auflage für absolute Liebhaber. - Illustriert von Glenn Chadbourne - zwei neue Illustrationen plus eine nicht in der US-Originalausgabe verwendete - exklusiv für die deutsche Ausgabe - farbige Signaturseite mit der Coverillustration der amerikanischen Originalausgabe von Glenn Chadbourne - farbige Vor- und Nachsatzpapiere - Druck auf holzfreiem, nicht verbleichendem Papier - hochwertige Fadenbindung - kratzfeste Schutzcellophanierung - erhabene Relieflackierung auf dem Umschlag - limitiert auf 555 Exemplare - signiert von Christopher Golden, James A. Moore und Glenn Chadbourne - handnummeriert - handgeprägt mit der Buchheim-Limited-Edition-Prägung

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Aus dem Amerikanischen von

Kristof Kurz

Grimma

Buchheim Verlag

2020

Deutsche Erstausgabe

ISBN E-Book: 978-3-946330-21-9

Auch als Vorzugsausgabe

Limitiert auf 555 Exemplare

Signiert von Christopher Golden, James A. Moore & Glenn Chadbourne

© 2020 Buchheim Verlag, Olaf Buchheim, Grimma

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagzeichnung: Arndt Drechsler

Übersetzung: Kristof Kurz

Lektorat: Claudia Pietschmann

www.buchheim-verlag.de

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

BLOODSTAINED WONDERLAND

Copyright © 2017 by Christopher Golden and James A. Moore

published in agreement with the author,

c/o BAROR INTERNATIONAL, INC.,

Armonk, New York, U.S.A.

Eins

Am ersten November des Jahres neunzehnhundertvierzig hing wie so oft in letzter Zeit der durchdringende Gestank von verbranntem Holz und Asche in der Londoner Luft. Gayle Franklin lief die Straße hinunter und versuchte, die Ruinen der Stadt, in der sie vor über fünf Jahren eine Heimat gefunden hatte, nicht allzu genau anzusehen. Sie hatte seit fünfzehn Stunden nichts gegessen und ihr Magen knurrte, doch sie hatte auch früher schon Hunger gelitten. Sie hatte gehungert, sie war schmutzig gewesen und sie hatte es überstanden. Sie würde auch das hier überstehen.

Einen Augenblick lang stand sie an der Ecke South Hampstead Road und Finchley Road in der klammen Kälte. Noch vier Blocks, dann war sie zu Hause. Eigentlich keine weite Strecke, doch sie musste auf der Hut sein. Wenn sie unvorsichtig wurde, konnte ihr selbst dieser kurze Weg zum Verhängnis werden. Sie fuhr mit den Fingern über den Mantel, betastete die Nähte im Innenfutter. Es gab viele Arten, sich zu schützen.

Gayle war während der Großen Depression in Hawley in Kansas aufgewachsen. Vor sieben Jahren hatte sie miterlebt, wie das Städtchen während des schlimmsten Staubsturms seit Menschengedenken auf grausame Weise ausgelöscht worden war. Diese Erfahrung hatte sie für immer verändert, hatte sie stärker gemacht, als die meisten Menschen beim Anblick ihrer langen Locken und ihres schönen Gesichts ahnten. Sie war sechzehn Jahre alt und, obwohl sie nach Schweiß roch und Asche auf ihrer Haut klebte, ein hübscher Anblick.

Wieder knurrte ihr Magen. Der Hunger erinnerte sie an ihre Kindheit in Kansas. Magere Jahre, an die sie trotzdem gern zurückdachte. Der Boden des von Stürmen heimgesuchten Landes war so trocken gewesen, dass nichts darauf wachsen wollte, doch selbst im schlimmsten Elend hatte sie nie daran gezweifelt, dass ihre Eltern sie liebten. Diese waren nun schon lange tot, gestorben an dem Tag, an dem Hawley zur Geisterstadt geworden war.

Nach diesem entsetzlichen Ereignis wurde Elisa zur ganzen Familie, die ihr noch geblieben war, auch wenn sie nicht miteinander verwandt waren. Elisa war ebenfalls in Hawley gewesen und hatte ihren Mann und ihren kleinen Sohn in jener langen Nacht voller Schrecken verloren. Gemeinsam hatten sie die Vereinigten Staaten verlassen und waren nach Europa gegangen. Sie gaben sich als Mutter und Tochter aus, obwohl sich nicht wenige fragten, wie Elisa mit ihrem olivfarbenen Teint zu einer so hellhäutigen Tochter kam. Sie waren durch Osteuropa gereist und hatten kurzzeitig bei einigen Vettern von Elisa Unterschlupf gefunden, bevor es sie nach Frankreich und schließlich nach London verschlagen hatte. Hier, so glaubte Elisa, konnte sie Gayle eine angemessene Schulbildung und Aussicht auf eine bessere Zukunft bieten.

Aber dann war alles hier vor weniger als zwei Monaten erneut dem Wahnsinn anheimgefallen. Die machthungrigen Deutschen hatten der Welt schon vor einer Weile den Krieg erklärt – nun ließen sie ihren Worten Taten folgen: Am siebten September hatten sie die ersten Bomben auf London geworfen und seither nicht mehr damit aufgehört.

Den jüngsten Nachrichten zufolge waren allein in London über eine Viertelmillion Menschen ausgebombt und Tausende gestorben. Das klang unvorstellbar, doch Gayle musste sich nur die verkohlten, ausgebrannten Ruinen ansehen, die sich in beinahe jede Richtung erstreckten, um sich davon zu überzeugen. In der Stadt war es nicht mehr sicher. Jedes Mal wenn die Bomben fielen, wurden weitere Gebäude vernichtet und Feuersbrünste erhellten die Nacht. In ihrer Verzweiflung griffen manche Menschen auf drastische und gefährliche Maßnahmen zurück, um sich und ihre Familien zu schützen.

Gayle und Elisa waren bis jetzt mit heiler Haut davongekommen – weil sie vorsichtig waren. Und weil sie sich schon einmal gegen den Wahnsinn zur Wehr gesetzt hatten.

Die Straße vor Gayle war mit den Trümmern eines zusammengestürzten Gebäudes versperrt. Sie hätte zurückgehen und den ganzen Wohnblock umrunden können, doch dafür war sie zu ungeduldig. Sie wollte nach Hause. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg durch die Ruine, wobei sie sorgfältig auf jeden Schritt achtete. Erst vor einer Woche war ihre Klassenkameradin Constance Woodworth böse gestürzt, als ein Schuttberg unter ihr ins Rutschen geriet. Constance war von einer Lawine aus Stein und Mörtel erfasst worden und hatte sich das Bein an drei Stellen gebrochen. Gayle hatte die Woodworths erst gestern besucht und ihnen das wenige Essen gebracht, das sie für die Familie hatte auftreiben können. Constance’ Bein wollte einfach nicht verheilen. Inzwischen hatte es sich sogar entzündet und Constance wurde von Fieberanfällen geschüttelt. Wenn sie sich nicht bald erholte, so befürchtete Gayle, würde sie Weihnachten wohl nicht mehr erleben.

Dabei konnten sowohl sie als auch Constance sich glücklich schätzen. Immerhin hatten sie noch ein Heim. Die winzige Wohnung, die sich Elisa und Gayle teilten, war bisher unversehrt geblieben. Eine kleine Insel der Vernunft mitten im Wahnsinn eines Weltkriegs. Immerhin.

Doch bald würde die Sonne untergehen. Mit der Nacht kämen die Bomber, und wenn nicht heute, dann bald. Gayle und Elisa konnten nichts anderes tun als beten und hoffen, dass ihnen das Glück weiterhin gewogen blieb.

Während Gayle über den Schutt balancierte, rutschten die wenigen Konservendosen und die drei Äpfel, die sie in einem Sack über der Schulter trug, hin und her. Es war nicht gerade ein Festmahl, aber wenigstens würde etwas auf dem Tisch sein, wenn Elisa vom Lazarett, wo sie bei der Pflege der Verwundeten half, nach Hause kam. Gayle bemerkte eine Bewegung im Augenwinkel, drehte den Kopf nach links und erhaschte einen Blick auf runzlige Haut und schlohweißes Haar. Eine alte Frau, hier in den Trümmern? Unwahrscheinlich. Gayle reckte den Hals, doch die Gestalt war in einem der Gräben verschwunden, die sich um die Ruinen zogen.

Gayles Nackenhaare stellten sich auf, und sie bekam Gänsehaut. Irgendjemand folgte ihr. Womöglich war derjenige auch nur zufällig in dieselbe Richtung unterwegs, doch ihr Bauchgefühl sagte etwas anderes – und sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihren Instinkten zu vertrauen. Sie hatten ihr mehr als einmal das Leben gerettet.

Sie betrachtete den Schutt, überlegte sich einen einigermaßen sicheren Weg durch die Trümmer und beschleunigte ihren Schritt. Trotz ihres ängstlich klopfenden Herzens zwang sie sich zur Ruhe. Hinter ihr ertönte ein Knirschen, als wäre jemand auf einem Trümmerbrocken ausgerutscht, und Gayle riskierte einen Blick über die Schulter. Was sie sah, ließ sie nur noch schneller laufen. Die gebückt gehende Frau war klapperdürr und schmutzig und sah aus wie eine aus der Irrenanstalt Repton entlaufene Patientin. Gut möglich, dass sie nichts Böses im Schilde führte – doch sie starrte Gayle unverwandt und mit fester Entschlossenheit an.

Und Gayle lief hier in aller Seelenruhe mit einem Sack voller Lebensmittel durch die Gegend. Wie dämlich. Da könntest du genauso gut vor einem Dutzend Matrosen den Rock heben.

Sie kletterte auf die Spitze des Schuttbergs und betrachtete dann die Straße vor sich. Nur noch drei Blocks, dann wäre sie zu Hause. Hinter dem Trümmerhügel war der Weg wieder frei. Sie kletterte so schnell wie möglich hinunter.

Unwillkürlich griff Gayle mit der linken Hand nach dem Anhänger, der vor ihrer Brust baumelte, tastete durch den Blusenstoff nach der vertrauten Form der Kette, die sie stets um den Hals trug. Eine letzte kleine Erinnerung an zu Hause und die Welt, die sie vor langer Zeit hinter sich gelassen hatte. Die Halskette war sicher eine Menge wert, und doch würde sie sich niemals von ihr trennen. Sie hatte sie in der Nacht, in der Hawley zerstört worden war, von einem sehr tapferen Mann bekommen. Die Kette sollte sie beschützen, und genau das hatte sie bis zum heutigen Tag getan.

Manchmal glaubte sie, dass es ihr vorherbestimmt gewesen war, die Halskette zu besitzen. Es konnte gar nicht anders sein. Sie war ihr bereits sage und schreibe drei Mal gestohlen worden – einmal von einem von Elisas nichtsnutzigen Vettern –, und jedes Mal hatte sie sie wieder zurückerhalten. Die Halskette gehörte zu ihr – oder sie vielleicht auch zur Halskette. Wie dem auch sei, sie waren unzertrennlich. Eine tröstliche Vorstellung. Die Kette hielt die Ungeheuer fern. Auch dessen war sie sich gewiss.

Endlich ließ sie den Trümmerhaufen hinter sich. Nun war die West Hampstead Road direkt vor ihr. Sie ging schneller. Obwohl die Straße einigermaßen frei war, hatten die Bomben den benachbarten Häuserblock zum Großteil in Schutt und Asche gelegt. Ihr Magen flatterte nervös, als sie daran zurückdachte, was der Sturm in Hawley angerichtet hatte. Und dass die wahren Albträume erst danach aufgetaucht waren, um alles Leben in ihrem Heimatort auszulöschen. Sie erinnerte sich noch gut an die Ruine der Yancey-Farm: Der Sturm hatte das Haus ihrer Nachbarn ebenso schnell und gründlich dem Erdboden gleichgemacht wie die Bomben der deutschen Luftwaffe die Gebäude um sie herum.

Gayle sah sich um. Die alte Frau kletterte vorsichtig den Schuttberg des Gebäudes hinunter, in dem sich Gayles Lieblingsbäckerei und ein reizender kleiner Hutladen befunden hatten. Als sich ihre Blicke trafen, wollte die Alte etwas sagen, doch Gayle schüttelte nur den Kopf und rannte los. Das Herz hämmerte gegen ihre Brust. Obwohl sie sich nicht erklären konnte, weshalb sie solche Angst vor der Alten hatte, lief sie immer schneller. Ihr Gesicht war erhitzt und sie bekam Gänsehaut vor Angst. Wenn dir etwas Unbekanntes begegnet, dann ist die Flucht das einzig Vernünftige – das war die wichtigste Lektion, die sie in Hawley gelernt hatte.

Sie trat in eine tiefe Pfütze. Schuh und Strumpf waren völlig durchnässt, und das Wasser spritzte bis zu ihrem Oberschenkel hinauf. Sie unterdrückte ein erschrockenes Quietschen, zog den Fuß aus der kraterartigen Pfütze und ärgerte sich über ihre Unachtsamkeit.

Dann wagte sie einen weiteren Blick über die Schulter. Die Oberfläche der Pfütze war wieder so glatt wie ein Spiegel. Die alte Frau war nirgendwo zu sehen. Gayle war erleichtert und schämte sich gleichzeitig ein wenig. Wie hatte sie nur so töricht sein können? Die Frau war völlig harmlos, ein müdes altes Mütterchen auf der Suche nach einem Unterschlupf.

Gayle verscheuchte jeden weiteren Gedanken an die Alte und ging weiter. Direkt vor ihr mündete die West Hampstead Road in die West End Lande, in der sich ihre und Elisas Wohnung befand. Wenn sie sich beeilte, schaffte sie vor dem Essen noch den Abwasch. Elisa hatte den ganzen Tag im Lazarett gearbeitet und nach Ende der Schicht stand ihr noch ein langer Fußmarsch bevor, sie würde also dementsprechend erschöpft zu Hause ankommen.

Die Häuser an der Kreuzung waren nicht unversehrt geblieben, standen aber noch. Gayle atmete tief durch. Ihre Muskeln entspannten sich etwas. Die Gewissheit, gleich in der Sicherheit ihrer eigenen vier Wände zu sein, beruhigte sie.

Burke’s Butcher Shop zu ihrer Linken lag leer und verlassen da. Sowohl Fleisch als auch Besitzer suchte man dort vergebens. Oliver Burke war vor einem Monat gestorben. Obwohl Gayle ihn kaum gekannt hatte, vermisste sie seine freundliche Art ebenso wie den Schinken, den sie bei ihm gekauft hatten, wenn sie sich etwas ganz Besonderes gönnen wollten. Als sie an dem fensterlosen Geschäft vorbeikam, wanderte ihr Blick unwillkürlich in die Seitengasse daneben. Sie war zwar so gut wie in Sicherheit, durfte aber nicht nachlässig werden.

Die alte Frau, die ihr gefolgt war, starrte sie aus der Gasse an. Ihre verwaschenen blauen Augen saßen in von vielen Falten umgebenen Höhlen. Gayle keuchte bei dem Anblick vor Schreck auf. Bevor sie reagieren konnte, schoss die runzlige Hand der Alten hervor und packte mit erstaunlicher Kraft den Ärmel ihrer Bluse.

Anstatt Gayle zu sich zu ziehen, trat die Alte auf sie zu. Es knirschte und klirrte, als Gayle mit ihren schäbigen Stiefeln auf die Bruchstücke eines großen Spiegels trat. Sein Rahmen lehnte an der Wand. Nur wenige Scherben steckten noch darin, der Rest des Glases war auf dem Boden verteilt.

Gayle versuchte, sich loszureißen. Weiteres Glas knackte unter ihren Sohlen. Ihr Herz raste, als sie die linke Faust ballte und mit dem Sack in der rechten ausholte. Wenn die Wahnsinnige wirklich angriff, würde sie ihr die Konservendosen über den Schädel ziehen.

»Loslassen!«, blaffte Gayle und wollte sich befreien, doch der Griff der Alten war hart wie Stahl.

Die Frau mit dem faltigen Gesicht starrte sie finster an. Ihre fadenscheinige Kleidung war seit mindestens einem halben Jahrhundert aus der Mode. Trotz des kräftigen Griffs der krallenartigen Hand waren die Fingerknöchel der Frau arthritisch geschwollen, und die Adern unter der Haut zeichneten sich deutlich vor den dürren Muskeln ab. Sie war mehr oder weniger zahnlos und hatte runzlige und teigig blasse Lippen.

»Ich habe so lange nach dir gesucht«, krächzte die Alte. »Hör gut zu, Gayle. Wir haben viel zu besprechen und nur sehr, sehr wenig Zeit.«

Gayle starrte die Frau zitternd an. »Woher kennen Sie meinen Namen?«

Zwei

Elisa zog den Mantel fester um sich. Sie verließ das Lazarett, wo sie sich den ganzen Tag um die Kranken und Sterbenden, die Verwundeten und Verstümmelten gekümmert hatte, nicht ohne Gewissensbisse. Jetzt nach Hause zu gehen fühlte sich an, als würde sie ihre Patienten im Stich lassen. Manchmal war die Welt ein finsterer Ort, und sie wollte so viel Licht wie nur möglich in die Dunkelheit tragen.

Sie genoss die frische Luft, obwohl sie nach Asche und Zerstörung schmeckte – immer noch besser als der hartnäckige Geruch von Krankheit und Tod, von dem sie seit Sonnenaufgang umgeben gewesen war, der scharfe Gestank von Medikamenten und Desinfektionsmitteln, von Blut und Schmerz.

Elisa glaubte tief und fest an die Macht Gottes – immerhin hatte sie mit eigenen Augen gesehen, wie der Glaube die Armeen der Finsternis vertrieben hatte. Doch lieben konnte sie Ihn nicht. Er hatte ihr so viel genommen, ihren kleinen Sohn, ihren Ehemann, den Glauben an das Gute in der Welt. Wie konnte sie Ihn da verehren? Und so waren ihre Gebete denn auch oft kaum mehr als Verwünschungen. Nur an den Prinzipien, die man ihr beigebracht hatte, zweifelte sie nicht: Anstand und Menschlichkeit. Hätte sie doch nur glauben können, dass alle Erdenbürger diese Werte teilten.

Wer litt und Hilfe brauchte, dessen Leid sollte gelindert werden. Und daher half Elisa, wusch Wunden aus, hielt die Patienten fest, damit die hoffnungslos überarbeiteten Ärzte ihnen helfen konnten, leerte Bettpfannen und fütterte jene, die zu schwach waren, um aus eigener Kraft zu essen. Sie musste ihnen einfach helfen. Alles andere war wider ihre Natur. Wie oft hatte sie mit Stefan gestritten, wenn er mit einem neuen Plan dahergekommen war, wie er sich auf Kosten anderer Leute bereichern konnte.

Sie verscheuchte diese Gedanken und presste die Lippen fest aufeinander. Stefan war schon seit Jahren tot. Wenigstens hoffte sie das. Alles andere war zu furchtbar, um es überhaupt in Betracht zu ziehen.

Die strigoi – oder Vampire, wie Gayle sie nannte – hatten Stefan und den armen kleinen Jeremiah geholt. Elisa hoffte inständig, dass ihr Tod schnell und endgültig gewesen war. Sollte sie ihnen jemals in Gestalt der albtraumhaften Wesen begegnen, denen sie zum Opfer gefallen waren, dann würde sie auf der Stelle dem Wahnsinn anheimfallen.

Sie ließ die Hände über ihren Mantel und die sorgfältig darin eingenähten Kruzifixe gleiten. Diese Kreuze aus billigem Blech – Stefans letztes und kostbares Geschenk – hatten damals in Kansas sowohl ihres als auch Gayles Leben gerettet. Das hatte sie nie vergessen.

Die Luft war bitterkalt, doch sie stellte sich der Kälte mit derselben grimmigen Entschlossenheit wie schon so vielen Hindernissen, die sie in ihrem Leben hatte meistern müssen. Elisa war Roma von Geburt. Sie wusste besser als die meisten, dass das Leben nicht immer gerecht war. Man musste das Beste aus dem machen, was man hatte, und wenn man es geschickt anstellte, konnte man dabei sogar Freude finden.

Und Freude hatte sie trotz allen Leids, das ihr widerfahren war, im Laufe der Jahre oft erlebt. Ihr Mann und ihr Baby waren ihr genommen worden, doch dafür hatte sie in Gayle eine wunderbare Freundin und Tochter gefunden. Gayle war es zu verdanken, dass Elisa niemals aufgegeben hatte, sondern immer stark geblieben war. Gayle war der Grund, aus dem Elisa nicht an ihrem Kummer verzweifelte. Das Mädchen hatte so viel verloren und brachte dennoch die Kraft zum Weiterleben auf, da musste ihr das doch erst recht gelingen.

Bei diesem Gedanken lächelte Elisa. Hätte sie Gayle nicht versprochen, bei Sonnenuntergang zurück zu sein, sie hätte einfach weitergearbeitet. Sie hatten zwar seit sieben Jahren keinen strigoi mehr gesehen, dennoch würden sie für immer auf der Hut vor diesen albtraumhaften Kreaturen sein, die ihre Leben zerstört hatten.

Gayle spendete ihr Kraft, und im Gegenzug kümmerte Elisa sich um sie, zog sie wie eine eigene Tochter auf und sah zu, dass es ihr an nichts mangelte. Auch wenn Elisa dafür gelegentlich stehlen oder ihren Körper hatte verkaufen müssen. Einmal hatte sie sogar getötet, um Gayle und sich zu beschützen. Davon wusste Gayle nichts, und es war wohl das Beste, wenn sie nie davon erfuhr. Gayle sollte niemals dasselbe durchmachen müssen wie sie, das hatte sich Elisa geschworen: ein Schwur, den sie im Gedenken an ihren kleinen Jeremiah abgelegt hatte und niemals brechen würde, komme, was wolle.

Die Sonne stand schon tiefer am Himmel, als es ihr lieb war. Elisa senkte den Kopf und beschleunigte ihren Schritt. Schwere Zeiten brachten entweder das Gute in den Menschen zum Vorschein – oder sie entpuppten sich als Bestien. Sie war bereits mehreren Männern begegnet, die anzügliche Bemerkungen gemacht hatten, und auch einigen, die gern ihre Begierden mit Elisas Körper befriedigt hätten.

Elisa wusste, dass sie eine schöne Frau war. Sie hatte volle dunkle Locken und einen wohlgeformten Körper. Ihre Lippen versprachen bei jedem Lächeln tausend Freuden – zumindest hatte Stefan das damals gesagt, als er um sie geworben hatte. Ja, sie war hübsch, doch sie war nicht stolz darauf. Für Elisa war ihre Attraktivität nur ein weiteres Mittel, um zu bekommen, was sie wollte und brauchte. Leider ließ sich dieses Werkzeug aber auch allzu leicht gegen sie einsetzen. Dass sie eine Roma war, schien für manche Männer Rechtfertigung genug zu sein. War eine Zigeunerin nicht von Natur aus heißblütig und willig? Hatte sie als Zigeunerin nicht sowieso fast alles, was sie besaß, zusammengestohlen, sodass es nur gerecht war, es ihr wieder wegzunehmen? Sie schüttelte den Kopf. Genau dieser Unsinn trieb sie zur Verbitterung, und das durfte sie nicht zulassen.

Genau wie viele andere Stadtviertel hatte auch diese Gegend Schäden davongetragen. Mehrere Männer waren damit beschäftigt, den gröbsten Schutt fortzuschaffen. Zum Glück. Der Weg vor ihr war mehr oder weniger freigeräumt. Man hatte die Bombenkrater mit Steinen und Erde gefüllt, damit die Straße einigermaßen passierbar blieb.

Elisa sah in die Richtung ihrer Wohnung. Sie musste noch ein gutes Stück auf der London Road zurücklegen, bevor sie in die Park Lane einbiegen konnte, und die Sonne näherte sich immer weiter dem Horizont. Sie dachte gerade über die möglichen Hindernisse auf ihrem Weg nach – seien es Straßenschäden oder menschliche Raubtiere, die sie für leichte Beute hielten –, da sah sie sie.

Die beiden Männer boten einen äußerst beunruhigenden Anblick, was nicht allein an ihrer gewaltigen Leibesfülle in so mageren Zeiten lag. Auch ihre Größe war unheimlich. Sie maßen mindestens einen Meter neunzig, und Elisa müsste sich schwer irren, wenn sie jeweils weniger als zweihundert Kilo wogen. Und dennoch wirkten sie mit ihren dicken und viel zu kurzen Armen und Beinen beinahe wie Kinder, und ihre Kleidung – rot-weiß gestreifte Hemden und von Hosenträgern gehaltene kurze Hosen – verstärkte diesen Eindruck noch. Die beiden riesigen, dicken Männer ähnelten einander wie ein Ei dem anderen – ganz offensichtlich waren sie verwandt, wenn nicht sogar Zwillinge.

Als sie gleichzeitig die Köpfe zu Elisa umwandten, keuchte diese vor Schreck auf. Beim Grinsen auf ihren Gesichtern zuckte sie unwillkürlich zusammen und wurde an die Ochsen aus ihrer Kindheit erinnert. Breite, dicke Köpfe, faltige, gerötete Haut und dünnes blondes Haar, das unter ihren Kappen hervorlugte. Darüber hinaus war die Haut auf der linken Gesichtshälfte des einen und auf der rechten des anderen großflächig mit Narbengewebe überzogen. Elisas Magen krampfte sich zusammen, als sie begriff, dass es sich bei den beiden nicht nur um Zwillinge handelte, sondern dass sie irgendwann auch einmal miteinander verwachsen gewesen sein mussten.

Elisa war weit in der Welt herumgekommen und hatte von diesem Phänomen natürlich schon gehört. Einmal war sie sogar zwei zarten, kränklichen Mädchen begegnet, die man miteinander verwachsen aus dem Bauch ihrer Mutter geholt hatte. Man hatte sie als siamesische Zwillinge bezeichnet, obwohl sie Französinnen und nie in Siam gewesen waren. Diese überaus netten und reizenden Mädchen waren an den Hüften und Oberschenkeln zusammengewachsen gewesen, hatten sich Haut, Muskeln und Knochen geteilt. Wahrscheinlich war es den beiden massigen Männern vor ihr ähnlich ergangen, bis sie beschlossen hatten, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und sich einfach auseinanderzusägen.