BLUTBESUDELT NEVERLAND - Christopher Golden - E-Book

BLUTBESUDELT NEVERLAND E-Book

Christopher Golden

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Beschreibung

Eine Buchheim-Vorzugsausgabe, schaurig schön illustriert und hochwertig produziert. Nur in kleiner Auflage für absolute Liebhaber. 1967 – es ist der Sommer der Liebe in San Francisco, den Gayle und ihr Mann zusammen mit Tausenden anderen am Fisherman's Wharf zelebrieren. Doch nicht nur die neu gewonnene Freiheit einer ganzen Generation ist an diesem 15. Juli in Gefahr – denn der teuflische Zauberer von OZ ist zurückgekehrt, und er trachtet nach nichts Geringerem als den magischen Herzen unserer und aller anderen Welten, um diese sich untertan zu machen. Seit ihrer letzten Begegnung während des London Blitz hat der Zauberer auch die verlorenen Jungen von NEVERLAND in rasende Monster verwandelt, und zusammen mit den höllischen Kreaturen von OZ und von WONDERLAND sind sie nun auf der Suche nach dem letzten verbliebenen aller magischen Steine: dem Smaragdherzen von OZ. In einer letzten verzweifelten Schlacht stellt sich Gayle dem Vormarsch des Zauberers entgegen, einer Schlacht, in der eine alte Rivalität zwischen einem Piraten und einem verlorenen Jungen, eine verbannte Hexe und die Liebe einer kleinen Elfe über das Schicksal aller Welten entscheiden könnten. Cover: Arndt Drechsler Illustrationen: Glenn Chadbourne Bonus: eine zusätzliche Illustration, exklusiv für die deutsche Ausgabe, gesamt 11 Stück Über BLUTBESUDELT OZ: Monsters and Critics: »Du wirst das Land hinter dem Regenbogen mit neuen Augen sehen. Man kann nur hoffen, dass Golden und Moore ihre Hände von 101 Dalmatiner lassen.« Ray Garton: »Einer der gruseligsten Romane, die ich gelesen habe. Golden und Moore haben offenbar Spaß daran, die magische Welt von Oz in einen Albtraum zu verwandeln.« Über BLUTBESUDELT WONDERLAND: Dave Simms (Cemetery Dance Online): »In BLUTBESUDELT WONDERLAND ist der Kaninchenbau in Stacheldraht gekleidet und mit Gift versetzt. Und er führt in ein alptraumhaftes Land, das sich Lewis Carroll nur hätte ausdenken können, wenn sein Verstand mit dem von Clive Barker verschmolzen wäre.« George R. R. Martin: »Horrorliteratur erlebt ein Comeback, und Schriftsteller wie Christopher Golden sind der Grund, warum.« Cemetery Dance Weekly: »James A. Moores Romane stehen den besten von King, Koontz und McCammon in nichts nach.«

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Seitenzahl: 165

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CHRISTOPHER GOLDEN

JAMES A. MOORE

Illustriert von

Glenn Chadbourne

Aus dem Amerikanischen von

Kristof Kurz

Grimma

Buchheim Verlag

2023

Deutsche Erstausgabe

Vorzugsausgabe

Limitiert auf 555 Exemplare

© 2023 Buchheim Verlag, Olaf Buchheim, Grimma

Alle Rechte vorbehalten

Illustrationen: Glenn Chadbourne

Umschlagzeichnung: Arndt Drechsler

Übersetzung: Kristof Kurz

Lektorat: Frank Weinreich

Satz im Verlag

www.buchheim-verlag.de

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

BLOODSTAINED NEVERLAND

Copyright © 2022 by Christopher Golden and James A. Moore

published in agreement with the author,

c/o BAROR INTERNATIONAL, INC.,

Armonk, New York, U.S.A.

eISBN: 9783946330332

INHALT

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

DIE AUTOREN

ILLUSTRATOR

»Das Leben wird ein schrecklichgroßes Abenteuer sein.«

EINS

Im Sommer des Jahres 1967 verwandelte sich San Francisco in eine neue Welt, ein Reich des Friedens und der Freude. Irgendwie, irgendwo hatte ein kleiner Funke einen Flächenbrand der Freiheit entfacht – Freiheit von den Normen und Zwängen des Kapitalismus, der den Menschen seit Generationen vorschrieb, wie sie zu leben hatten. In einem Café, einem Klub oder einem Universitätscampus war ein junger Mensch aufgestanden und hatte so laut »Warum?« gefragt, dass ein Ruck durchs Land gegangen war und sich viele Leute dieselbe Frage stellten. Und als sie begriffen, dass es darauf keine zufriedenstellende Antwort gab, versuchten sie es mit einer anderen Frage.

Warum nicht?

Es war der Sommer der Liebe, ein Begriff, der Gayle Franklin Keyes ausnehmend gut gefiel. Mit jedem Atemzug, den Gayle in ihrer Wahlheimat tat, inhalierte sie die Freude, Liebe und die Freiheit, die eine ganze Generation junger Menschen – über einhunderttausend, wenn man den Zeitungen Glauben schenken wollte – in die Straßen und Hügel von San Francisco getragen hatten. Diesen schönen, zerzausten, wilden Kindern mit Blumen im Haar war es zu verdanken, dass Gayle gelegentlich auch etwas anderes inhalierte.

Gayle hatte im Jahr 1924 in dem winzigen, trostlosen Ort Hawley in Kansas das Licht der Welt erblickt. Nach einer lang anhaltenden Trockenheit vernichteten 1933 heftige Winde und Staubstürme die sowieso schon kümmerliche Ernte des inzwischen als Dust Bowl – »Staubschüssel« – bekannten Landstrichs. Da war Gayle neun Jahre alt und hatte Hunger und Sorgen bereits kennengelernt – doch auch die Zuwendung und Liebe ihrer Eltern. Sie freute sich auf ihre kindliche Art, wenn sie bei der harten Arbeit helfen konnte. Sie würden es schon schaffen, hatte ihr Vater ihr immer wieder versichert. Doch jener verhängnisvolle Sommer vor vierunddreißig Jahren hatte seine Worte Lügen gestraft.

Eines Tages war ein gewaltiger Staubsturm gekommen, hatte die Erde aufgewühlt und die Sonne verdunkelt. Doch Gayle hatte ihre Eltern nicht wegen des Wirbelsturms verloren – sondern an die Wesen, die der Tornado mit sich getragen und auf den trockenen, verdorrten Boden gespuckt hatte. Albtraumhafte Wesen. Hungrige Wesen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Einwohnern Hawleys hatte Gayle überlebt. Sie war zusammen mit einer hilfsbereiten Frau namens Elisa, die ihren Mann und ihr kleines Kind verloren hatte, entkommen. Elisa hatte Gayle in ihre Obhut genommen, und gemeinsam hatten sie den Ozean überquert, um in London neu anzufangen. Dort waren sie glücklich gewesen – bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Die Luftangriffe auf London waren schon schlimm genug gewesen. Die deutschen Bomber ließen ihre tödliche Fracht auf jeden noch so kleinen Lichtschimmer regnen. Tausende starben, doch die tapferen Londoner ließen sich nicht entmutigen. Und dann kehrten die Ungeheuer inmitten der Zerstörung, des Verderbens und Leidens zurück, und diesmal machten sie gezielt auf Gayle Jagd.

Gayle hatte etwas, das sie haben wollten.

Einen grünen Stein, der an einer Kette um ihren Hals hing und dessen Wärme sie auf ihrer Haut spürte. Es war kein richtiger Smaragd, eigentlich noch nicht einmal ein Edelstein, obwohl er gelegentlich so bezeichnet wurde: das Smaragdherz von Oz. An manchen Tagen hing es schwer um ihren Hals … an anderen gelang es ihr, es beinahe völlig zu vergessen.

So wie zum Beispiel heute Abend.

Es war der fünfzehnte Juli. Strawberry Alarm Clock gaben ein Konzert in Fisherman’s Wharf, was in dem Hafenviertel für große Vorfreude sorgte. Im Lauf des Jahrzehnts waren der Pier und seine Umgebung zu einer beliebten Touristenattraktion geworden – eine Entwicklung, mit der Gayle und ihr Mann Gabriel Keyes nicht unzufrieden waren. Früher waren die Fischerei, der Verkauf des Fangs und die Restaurants, in denen dieser serviert wurde, fest in Händen der Italiener gewesen. Die Aussicht, die man von diesen Restaurants auf die Bucht von San Francisco, die Golden Gate Bridge und Alcatraz hatte, zog bald mehr Gäste und sonstige Touristen an als die frischen Meeresfrüchte.

Die Geschäftsleute, die daraus Kapital schlagen wollten, ließen nicht lange auf sich warten. Die alte Schokoladenfabrik wurde renoviert und beherbergte nun Wohnungen, Geschäfte und Märkte. Bald konnte man überall billige Souvenirs und anderen Tand kaufen. Ein Ehepaar, das vom Touristenboom profitieren wollte, besaß sogar die Unverfrorenheit, sein neu eröffnetes Restaurant »Tarenttino’s« zu nennen – obwohl sie gar keine Italiener waren. Weder die Fischer noch die Anwohner waren von dieser Entwicklung besonders angetan, doch die Stadt wollte auf die Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft nicht verzichten.

Das Jahr 1967 veränderte alles.

Der endlose Streit um die Zukunft von Fisherman’s Wharf war vergessen, als Zehntausende unrasierte Männer mit freiem Oberkörper und Frauen mit nackten Füßen und knappen Sommerkleidern die Straßen bevölkerten. In jenem Sommer war die Stadt Schauplatz einer Revolution, deren Zentrum sich an der Kreuzung Haight/Ashbury befand. Von hier aus traten die Musik und die Träume von einer besseren Welt ihren Siegeszug um die Welt an. Doch das Viertel war zu klein für einhunderttausend Hippies, und so eroberten sie mit ihren Hoffnungen und ihrer Sanftmut den Rest der Stadt und auch Gayles Herz. Schon bald trug sie ebenfalls ein zu kurzes Sommerkleid und flocht sich Blumen ins Haar, obwohl sie mit ihren dreiundvierzig Jahren die Mutter dieser Blumenkinder hätte sein können. Mr. Keyes zeigte sich Gayles Launen gegenüber nachsichtig. Er küsste sie im Sonnenschein und rauchte sogar hin und wieder etwas Gras.

Sie betrieben einen recht einträglichen Laden namens Exquisite Imports, in welchem sie Kleidung, Geschenkartikel und – am wichtigsten – Musik aus dem Ausland verkauften, die in Amerika nicht so leicht zu bekommen war. Da San Francisco schon seit Langem eine große chinesische sowie japanische Diasporagemeinde beheimatete, hatten alle, die sich für diese Kulturen interessierten, in San Franciscos weltbekannter Chinatown eine Menge Läden und Restaurants zur Auswahl. Exquisite Imports hingegen war Anlaufstelle für jene, die auf der Suche nach englischen, irischen oder schottischen Produkten waren. Dazu zählten insbesondere die Hippies, die die Neuerscheinungen der Londoner Musikszene hören wollten, noch bevor sie in den Staaten im Radio gespielt wurden.

»Na los, Schatz! Sie haben schon angefangen!« Lachend ergriff Gayle die Hand ihres Mannes und zog ihn hinter sich her.

Gabriel holte sie ein, gab ihr einen Kuss auf die Wange und lief an ihr vorbei. »Ich gehe voraus.«

Sie erhaschte noch einen Blick auf sein Profil, dann marschierte er vor ihr her, ohne ihre Hand loszulassen, und sie folgte ihm wie ein unartiges Schulkind. Mr. und Mrs. Keyes hatten sich in dieser Stadt ein wunderschönes Leben aufgebaut. Gabriel, der in wenigen Wochen seinen 55. Geburtstag feiern würde, war zwölf Jahre älter als sie, aber für jeden Spaß zu haben. Als sie sich kennengelernt hatten, war er bereits verwitwet gewesen, und beide hatten versucht, während des Kriegs irgendwie über die Runden zu kommen. Auf den ersten Blick hatten der Detective Inspector von Scotland Yard und die Verkäuferin ein ungewöhnliches Paar abgegeben, doch das, was sie gemeinsam erlebt und überlebt hatten, hatte sie zusammengeschweißt.

Und sie waren zusammengeblieben, weil ihre Liebe so groß und die Zuneigung, die sie füreinander empfanden, aufrichtig war. Durch geteilte Freude und gemeinsames Lachen war es ihnen gelungen, den schrecklichen Erinnerungen zu entkommen. Sie waren kinderlos geblieben – wie hätten sie in dem Wissen, dass die Schrecken der Vergangenheit sie jeden Tag, jeden Augenblick einholen konnten, ein Kind in die Welt setzen können? Und doch hatten sie das Lachen nicht verlernt. Es war ein gutes Leben, auch wenn zumindest Gayles erste Lebenshälfte alles andere als das gewesen war.

Die Leute tanzten in den Straßen, salzige Luft wehte von der Bucht herüber, Lichter funkelten und über allem lag der intensive Duft von Gras und Patschuli. Gayle drückte Gabriels Hand und stellte sich hinter ihn.

»Wir verpassen sie noch, Mr. Keyes«, sagte sie mit drängendem Unterton.

»Meine Güte, Mrs. Keyes, das sind doch nur Strawberry Alarm Clock. Wenn es The Who oder Big Brother and the Holding Company wären, könnte ich deine Ungeduld ja nachvollziehen«, sagte er über seine Schulter hinweg, während er sich durch die Menge in Richtung der behelfsmäßig zusammengezimmerten Bühne schob.

»Gesprochen wie ein alter Mann, mein Schatz.«

»Quatsch«, knurrte Keyes.

Gayle lachte und folgte ihm. Musik erfüllte die Luft, und alle tanzten ausgelassen. Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen nahm sie an der Hand. Gayle löste sich von ihrem Mann und ließ sich herumwirbeln.

»Deine Haare sind so schön!«, rief das Mädchen aufgeregt.

Gayle trug einen selbst geflochtenen Kranz aus Gänseblümchen, roten Kalandrinen und Mohnblumen mit geradezu unwirklich leuchtenden Farben auf ihren immer grauer werdenden Locken. Über das Kompliment des Mädchens freute sie sich noch mehr als über die Musik.

»Deine auch!«, sagte Gayle und strich hellorange Strähnen aus dem Gesicht des Mädchens.

Sie lächelten einander an, dann eilte Gayle weiter durch die Schneise, die ihr Mann gebahnt hatte, holte ihn ein, zwängte sich neben ihn, schlang einen Arm um ihn und legte den Kopf auf seine Schulter.

»Tanz mit mir!«, befahl sie.

Ihre Begeisterung war ansteckend. Sie ließen sich vom Rhythmus der Musik und der Jugend um sie herum treiben und vergaßen dabei ihr Alter und die Schatten der Vergangenheit.

Da sah sie den Vampir.

Eine plötzliche Wärme am Brustbein brachte ihre Augenlider zum Flattern. Sie hatte diese Hitze seit Jahren nicht gespürt, doch ihr Körper erinnerte sich sofort daran. Am unteren Rand ihres Sichtfelds bemerkte sie einen grünen Schimmer: Das Smaragdherz von Oz leuchtete hell und war so heiß, dass es ihre Haut verbrannte. Gayle nahm den Schmerz kaum wahr. Keyes tanzte weiter, wollte sie herumwirbeln und geriet ins Taumeln, da Gayle schlagartig stehen geblieben war.

Sie umklammerte fest seine Hand. Er folgte ihrem Blick und erstarrte ebenfalls, als er den Vampir sah.

»Gayle«, sagte er. Sie konnte ihn über dem fröhlichen Geklimper von Strawberry Alarm Clock und dem Gelächter der Hippies kaum hören.

Der Vampir war bei seiner Verwandlung noch ein Junge gewesen. Nicht älter als zwölf, schätzte Gayle. Sein fettiges schwarzes Haar reichte bis zu seinen Schultern, und obwohl die Straßen von Fisherman’s Wharf hell erleuchtet waren, sah sie das Flackern seiner kränklich gelben Augen. Sobald sie ihn bemerkt hatte, war auch er wie angewurzelt stehen geblieben. Gayle, Keyes und der drahtige Vampirjunge bildeten kleine Inseln in einem wogenden Meer aus Jubel und Musik.

Wieder pulsierte der Smaragd auf ihrer Brust. Er war so heiß, dass sie ihre versengte Haut roch. Dann bemerkte sie eine weitere Insel in der Menge, drehte sich nach links und starrte in das nächste Paar grüngelber Augen, das einer großen Frau mit kalkbrauner Haut und dichten schwarzen Locken gehörte. Sie war wunderschön. Verführerisch. Doch Gayle und Keyes hatten in der Vergangenheit Hunderte Vampire gesehen und Dutzende getötet. Sie kannten ihre Tricks.

»Ich sehe mindestens drei weitere«, sagte Keyes. Gayle spürte seinen warmen Atem im Ohr. Er packte ihre Hand noch fester. »Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause.«

Nach Hause. Auch dort würden sie nicht sicher sein. Doch in ihrem Heim hatten sie zumindest Waffen und verfügten über andere Möglichkeiten, sich zu verteidigen. Gayle liebte Keyes zu sehr, um ihn darauf hinzuweisen, dass er das Offensichtliche aussprach. Außerdem war es ihre Schuld, dass die Vampire Teil seines Lebens geworden waren. Da war es nur gerecht, dass sie im Gegenzug gelegentlich sein männliches Ego streichelte.

Der Vampirjunge schlängelte sich durch die wogende Menge. Strawberry Alarm Clock spielten die ersten Takte von »Incense and Peppermints«, und viertausend Hippies stimmten grölend mit ein. Wie auf ein unhörbares Stichwort setzten sich Gayle und Keyes gleichzeitig in Bewegung und zwängten sich durch die Zuschauer.

Keyes besaß die richtige Statur, um ihnen einen Weg zu bahnen. Er bildete die Vorhut, Gayle behielt unterdessen die Vampire im Auge, die sich durch die bunten Menschenmassen auf sie zubewegten. Sie wandten sich vom Embarcadero ab, auf dem sich die Bühne befand, und Richtung Stockton Street. Immer mehr Feierwütige strömten zum Konzert. Gayle und Keyes durchquerten eine dicke Haschischwolke. Sie musste husten, und sobald sie sich den Rauch aus den Augen geblinzelt hatte, bemerkte sie, dass der Junge und die große Frau nur noch etwa fünf Meter hinter ihnen waren. Die Vampire pflügten förmlich durch die Menge.

»Die Menge lichtet sich«, sagte Keyes. »Gleich rennen wir los. Bereit?«

Gayle war seit ihrem neunten Lebensjahr stets dazu bereit, die Flucht zu ergreifen.

Wenn sie es nach Hause schaffen wollten, mussten sie die beiden Blutsauger irgendwie unschädlich machen. Die anderen Vampire waren noch zu weit entfernt, um eine Gefahr darzustellen. Einer lief sogar in die falsche Richtung. Er leckte sich die Lippen, als er eine ausgelassen tanzende Frau oben ohne erblickte, die sich zur Feier des Tages den Körper bemalt hatte. Doch für ihre Brüste interessierte er sich nicht. Er wollte ihr Blut.

Zwei Vampire. Na gut, dachte Gayle, mit zwei Vampiren werden wir fertig. Sie sah sich um. Die beiden hatten sich aus der Menge gelöst und das Ende der Stockton Street erreicht. Gayle und Gabriel wohnten in der Filbert Street, etwa einen halben Block vom Washington Square entfernt. Sie mussten es irgendwie lebend nach Hause schaffen. Gayle bemerkte einen tätowierten Biker mit verfilztem Bart, der seine schlammbespritzte Harley-Davidson am Straßenrand abstellte.

Sie schubste Gabriel in dessen Richtung. »Da, ein fahrbarer Untersatz!«

Keyes geriet kurz aus dem Tritt, dann rannte er auf den Bärtigen zu.

Zu ihrer Rechten ging ein junger Mann in der grellpinken Uniformjacke eines Marschmusikers in Richtung Embarcadero. Er sah aus, als wäre er direkt dem Sergeant-Pepper-Cover entsprungen, und hatte drei Freunde im Schlepptau. Alle grinsten, hatten glasige Augen und waren ganz offensichtlich voll auf Acid. Der Anführer hob und senkte einen krummen alten Holzgehstock, den er wahrscheinlich seinem Großvater entwendet hatte, zum Takt der Musik.

Gayle hatte ihm den Stock so schnell weggenommen, dass der Jugendliche mehrere Sekunden lang verwirrt seine leere Hand anstarrte, während er sie noch ein paarmal zur Faust ballte. Sie schlug indes den Stock so heftig gegen einen großen blauen Briefkasten, dass etwa eine Handbreit vom Ende abbrach. Nun hatte sie einen spitzen Eichenholzpflock mit gekrümmtem Griff in der Hand.

Das Smaragdherz von Oz glühte so hell auf ihrem Brustkorb, dass sich die Kumpels des Marschmusikers schützend die Hände vor die Augen hielten. Gayle schrie auf, als es ihre Haut verbrannte. Dann drehte sie sich zu dem Vampirjungen um. Er sah nicht älter aus als zwölf, auch wenn er womöglich schon fünfzig Jahre auf dem Buckel hatte.

Seine gelben Augen verengten sich zu Schlitzen. Er fletschte die scharfen Zähne und sprang auf Gayle zu.

Gayle rammte die Spitze des abgebrochenen Stocks in sein linkes Auge. Der Junge brach auf dem Asphalt zusammen, woraufhin der zugedröhnte Marschmusiker in der rosa Uniformjacke vor Schreck quietschte wie eine verletzte Katze.

»Scheiße, was soll das denn?«, rief einer der Jugendlichen. Wie gelähmt vor Schreck starrten sie den sich auf dem Boden windenden Vampir an.

Gayle riss den Holzstock aus der Augenhöhle des Jungen und stieß ihn mit aller Kraft durch den Brustkorb und in sein Herz. Der Vampir kreischte, bäumte sich auf und verwandelte sich in eine stinkende Wolke aus Leichenstaub, die sich allmählich in der von der Bucht herüberwehenden Brise auflöste.

Sie wandte sich dem nächsten Vampir zu. Die große Frau beugte sich vor, riss die limettenfarbenen Augen auf, zischte und entblößte ein Gebiss mit zwei langen und vielen kleinen spitzen Zähnen.

Nun lösten sich weitere Vampire aus der Menge. Gayle hatte einen von ihnen getötet, und der Smaragd auf ihrer versengten Brust spürte anscheinend, dass sie sich zur Wehr setzte, und kühlte ab. Gayle war eine ganz normale Frau aus Fleisch und Blut. Sie konnte weder zaubern noch die dem Smaragd innewohnende Macht kontrollieren – und trotzdem würde sie es niemals zulassen, dass der Stein den Vampiren oder gar demjenigen in die Hände fiel, der sie geschickt hatte.

Der gottverdammte Zauberer. Zumindest bezeichnete er selbst sich so.

Furcht stieg in ihr auf. Sie stand nicht zum ersten Mal solchen Kreaturen gegenüber. Sie hatte in ihre grässlichen Augen geblickt, die Berührung ihrer toten Hände und die Schärfe ihrer Krallen gespürt. Vampire hatten alle Menschen ermordet, die ihr jemals etwas bedeutet hatten – alle, bis auf Keyes. Die Angst lähmte sie, sodass sie sich am liebsten in einer Ecke verkrochen und geheult hätte. Doch davon ließ sie sich nicht das Geringste anmerken.

»Worauf wartet ihr?«, rief sie, woraufhin die große Frau zum Angriff überging. Zwei, nein drei weitere Blutsauger lösten sich aus der Menge.

Plötzlich rannte ein Mann – ein Mensch, kein Vampir – aus der Menge, packte die Frau bei den Locken und holte mit einem Säbel aus. Die Klinge blitzte im Licht der Straßenlaternen silbern auf. Die Vampirin zischte wütend, krümmte die Hände zu Klauen und versuchte, sich zu befreien. Der Mann riss ihren Kopf zurück und trennte ihn mit einem kräftigen Hieb von den Schultern. Die Vampirin färbte sich schwarz und zerfiel zu Asche. Der Geruch von heißem Silber lag in der Luft.

Der Mann, den Gayle auf Ende fünfzig schätzte, warf ihr einen finsteren Blick zu, als würde er sie ebenso sehr verabscheuen wie den Vampir, den er soeben getötet hatte. Er hatte das dicke graue Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und klimpernde Silberringe in seinen Bart geflochten.

»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte Gayle.

Der Mann kehrte ihr den Rücken zu und stellte sich den anderen Vampiren, die es auf Gayle abgesehen hatten. »Na los, hauen Sie ab«, sagte er über seine Schulter hinweg.

Sie wollte gerade etwas entgegnen, als sie den Motor einer Harley aufheulen hörte. Kurz darauf hielt Keyes mit quietschenden Reifen neben ihr.

Gabriel Keyes. Ihre große Liebe, ihr Ehemann, ihr Fels in der Brandung. Sie stieg zu ihm auf das gestohlene Motorrad. Ein paar Meter hinter ihnen kam der Biker taumelnd wieder auf die Beine, fing mit einer Hand das Blut auf, das ihm aus der Nase schoss, und zeigte ihnen mit der anderen Hand wütend den Mittelfinger. Keyes gab Gas und übertönte die Flüche, die der Mann ihnen hinterherschrie.

Gayle warf dem Bärtigen mit dem Säbel, der gegen die Vampire kämpfte, noch einen letzten Blick zu. Er holte mit der linken Hand aus und wieder blitzte Silber, doch es war nicht die Säbelklinge. Erst jetzt begriff Gayle, dass er die Vampirin von vorhin nicht am Haar gepackt, sondern ihren Kopf auf einen silbernen Haken gespießt hatte – einen Haken, der sich anstelle einer Hand am Ende seines Arms befand.

Die Vampire griffen wieder an und die Kämpfenden verschwanden in der Menge.

Gayle hielt sich an Gabriel fest, während er die brüllende Harley den Hügel hinauf nach Hause steuerte und das Gelächter, die Musik und dann auch die Schreie allmählich verstummten.

Doch nicht für lange.

ZWEI

Kyrie konnte die Musik, die durch die Luft schwebte, sehen. Das hätte sie auf einen ganzen Stapel der Bibeln ihres Vaters geschworen. Vor ihren Augen breitete sich die pulsierende Musik aus, als bestünde sie aus Wellen, die über die Menschen um sie herum schwappte, in manche eindrang, sich an anderen brach und wieder andere umspülte wie Steine in einem Fluss.

Mike hatte ihr irgendetwas in die Cola getan. Dafür hätte sie ihn jetzt zur Sau machen sollen, doch eigentlich war der Trip ziemlich gut. Sogar die Puka-Muscheln, die bei jeder Bewegung leise an ihrer Halskette klimperten, erzeugten deutlich sichtbare Wellen.