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Anders de la Motte

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Beschreibung

In der Walpurgisnacht 1985 wird ein 16jähriges Mädchen im Wald neben einem Schloss in Österlen ermordet. Alles wirkt, als habe man sie bei einem Ritual geopfert. Ihr Stiefbruder wird schließlich für die Tat verurteilt, und kurz darauf verschwindet die ganze Familie spurlos. Im Frühling 2019 zieht die Ärztin Thea Lind im Schloss ein. Nachdem sie einen seltsamen Fund in einer uralten Eiche gemacht hat, steigt ihre Faszination für die Tragödie aus der Vergangenheit, die sich direkt neben ihrem neuen Zuhause zutrug. Je mehr Ähnlichkeiten sie zwischen der Kindheit des getöteten Mädchens und ihrer eigenen schmerzhaften Vergangenheit entdeckt, desto mehr ist sie überzeugt davon, dass die Wahrheit über diese Nacht nie ans Licht kam. Und dass der Frühling 1985 vielleicht mehr Opfer gefordert hat … Der letzte eigenständige Kriminalroman von Anders de la Mottes hochgelobtem Jahreszeiten-Quartett, in dem er seine Leser in die schaurig schöne Abgeschiedenheit Südschwedens mitnimmt. Die Vorgänger SOMMERNACHTSTOD, SPÄTSOMMERMORD und WINTERFEUERNACHT wurden alle für den Preis als Schwedens bester Krimi nominiert.

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Seitenzahl: 617

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Anders de la Motte

Bluteiche

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Marie-Sophie Kasten

Knaur eBooks

Über dieses Buch

In der Walpurgisnacht 1986 wird ein sechzehnjähriges Mädchen im Wald neben einem Schloss in Österlen ermordet. Alles wirkt, als habe man sie bei einem Ritual geopfert. Ihr Stiefbruder wird schließlich für die Tat verurteilt, und kurz darauf verschwindet die ganze Familie spurlos.

Im Frühling 2019 zieht die Ärztin Thea Lind im Schloss ein. Nachdem sie einen seltsamen Fund in einer uralten Eiche gemacht hat, steigt ihre Faszination für die Tragödie aus der Vergangenheit, die sich direkt neben ihrem neuen Zuhause zutrug. Je mehr Ähnlichkeiten sie zwischen der Kindheit des getöteten Mädchens und ihrer eigenen schmerzhaften Vergangenheit entdeckt, desto mehr ist sie überzeugt davon, dass die Wahrheit über diese Nacht nie ans Licht kam.

Und dass der Frühling 1986 vielleicht mehr Opfer gefordert hat …

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

92. Kapitel

Epilog

Anmerkung des Autors

Leseprobe »Stille Falle«

Für meine Leserinnen und Leser,

weil ich dank euch den schönsten Job der Welt habe.

April ist der übelste Monat von allen, treibt

Flieder aus der toten Erde, mischt

Erinnerung mit Lust, schreckt

Spröde Wurzeln auf mit Frühlingsregen.

 

Aus Das öde Land von T. S. Eliot

Prolog

19. Mai 1986

Sobald Klein-Stefan in das Sumpfgebiet fuhr, musste er an das tote Mädchen denken. Er konnte einfach nicht anders. Die Gerüchteküche, die schon am Morgen des ersten Maitages in Gang gesetzt worden war, hatte in den letzten Wochen für einige Aufregung in der Gegend gesorgt und seinen Kopf mit entsetzlichen Bildern gefüllt, gegen die er sich nicht wehren konnte.

Ihr lebloser Körper auf dem Opferblock mitten im Steinkreis. Das weiße Kleid, die offenen Haare. Die über der Brust gekreuzten Hände mit den zwei Hirschgeweihen zwischen den steifen Fingern. Das einst so schöne Gesicht von einem blutigen Tuch bedeckt, als ob derjenige, der sie getötet hatte, ihr hinterher nicht in die Augen schauen wollte.

Die meisten Bewohner von Tornaby waren sich schon absolut sicher darin, wer sie ermordet hatte und dass das Ganze eine scheußliche, aber einfache Geschichte war. Eine Familientragödie. Aber es gab auch einige, die hinter vorgehaltener Hand behaupteten, dass sich in der Walpurgisnacht, am dreißigsten April, in Wirklichkeit etwas ganz anderes zugetragen hatte. Dass es vielleicht der Grüne Mann leibhaftig war, der sich sein Frühlingsopfer geholt hatte.

Obwohl er lange Zeit an Spukgeschichten geglaubt hatte, bekam Klein-Stefan eine Gänsehaut. Sumpfwald umschloss den schmalen Schotterweg und schlug mit seinen langen, grünen Fingern gegen den Autolack. Von allen Ländereien, die zum Schloss gehörten, mochte er den Sumpf am wenigsten. Er verabscheute die Feuchtigkeit dort, den Verwesungsgeruch und den wassergetränkten Untergrund, der dich in einem Moment trug, um im nächsten deine Stiefel so tief in den Schlamm zu ziehen, dass selbst ein erwachsener Mann Mühe hatte, alleine wieder herauszukommen. Der Sumpf ist das Reich des Grünen Mannes, beschwor sein Großvater immer. Die Menschen tun gut daran, sich von dort fernzuhalten. Der abergläubische alte Griesgram hatte wohl nicht ganz unrecht.

Der Schotterweg, dem Klein-Stefan folgte, führte tief in den Sumpf hinein nach Svartgården, dem Hof, auf dem das tote Mädchen gewohnt hatte. Vor etwa einem Monat hatte er sie noch zur Bushaltestelle mitgenommen. Sie hatte hier im Pick-up gesessen, auf dem Beifahrersitz, direkt neben ihm. Sie hatte nicht sehr viel gesagt, schien in Gedanken versunken. Klein-Stefan hatte sie heimlich beobachtet, ihre Bewegungen verfolgt, ihr Gesicht betrachtet. Und plötzlich hatte ihn ein Gefühl überkommen, das er sich damals nicht richtig erklären konnte.

Er war verheiratet, hatte zwei kleine Töchter, Haus, Auto und einen guten Job, alles Dinge, die er normalerweise schätzte, die aber in diesem Moment, als er neben diesem schönen Mädchen saß, auf einmal erdrückend wirkten. Sein Leben war bereits abgesteckt: eine lange, vorhersehbare Reise, ohne einen Hauch des Verlockenden und Verbotenen, das von dem Mädchen ausging, ja, wonach sie sogar roch. Süß und säuerlich wie frisch ausgetriebener Flieder. Ein Duft, der Sehnsucht weckte. Begehren.

Als sie einmal weggeschaut hatte, war er kurz davor gewesen, seine Hand auszustrecken und ihren Arm zu streicheln. Als könnte er mit einer leichten Berührung an all dem teilhaben, was ihm entging. Im letzten Moment hatte er sich zurückgehalten, aber das Gefühl, etwas verloren zu haben, hatte ihn noch mehrere Tage lang begleitet.

Der Schotterweg wurde schlechter, je weiter er in den Sumpf hineinfuhr, und Klein-Stefan tat sein Bestes, um den tiefsten Schlaglöchern auszuweichen. Lasse Svart sollte die Straße instand halten, so war es im Pachtvertrag vermerkt, aber das war ihm natürlich vollkommen egal. Lasse hatte sich jahrelang darauf verlassen können, dass der Graf niemals einen anderen Pächter finden würde, dass keiner an ein paar Dutzend Hektar feuchten Sumpfwalds interessiert wäre, und er deshalb auf Svartgården im Prinzip tun und lassen konnte, was er wollte. Er hatte dort sein eigenes kleines Königreich, in sicherer Entfernung von Gesetzen, Vorschriften und neugierigen Blicken.

Aber das war vor der Walpurgisnacht gewesen. Bevor Lasse Svarts sechzehnjährige Tochter erschlagen auf dem Opferstein gefunden worden war, der Boden um sie herum voller Hufabdrücke.

In der Walpurgisnacht ist der Grat zwischen Leben und Tod am schmalsten. Alles ist in Bewegung, die Natur ist hungrig, und der Grüne Mann reitet durch die Wälder.

Er unterdrückte ein erneutes Schaudern.

Der Wald öffnete sich, und er fuhr auf den lehmigen Vorplatz von Svarts Hof. Drei heruntergekommene Gebäude standen geduckt unter den Bäumen in der Dunkelheit, als versuchten sie sich zu verstecken. Zwischen den Brennnesseln lagen verrostete Landwirtschaftsgeräte.

Er hatte Svartgården schon einige Male besucht, meist in Begleitung des Schlossverwalters, Erik Nyberg, und jedes Mal war ihnen ein Rudel kläffender Terrier entgegengesprungen, noch bevor er den Wagen geparkt hatte. Jetzt waren keine Hunde zu sehen. Alles war still und leer. Nicht einmal die Vögel machten auf sich aufmerksam, obwohl es ein Frühlingsmorgen war. Stattdessen lag eine seltsame, bedrückende Ruhe über dem Hof.

Klein-Stefan blieb einen Moment neben dem Wagen stehen und schob sich eine Prise Snus unter die Lippe, während er darauf wartete, dass Lasse oder eine seiner Frauen den Kopf aus dem Wohnhaus steckten und wissen wollten, was zum Teufel er hier zu suchen hatte. Aber alles blieb dunkel und still. Lasses roter Pick-up war weg, er stand weder auf dem Hof noch im Fahrzeugschuppen, und der alte, klapprige Ford, mit dem die Frauen normalerweise herumfuhren, war auch nicht zu sehen. Er schaute auf die Uhr. Halb acht Uhr morgens. Wer war denn so früh schon unterwegs?

Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Ein kleiner Hund schaute an der Schmiede um die Ecke. Er war noch ganz jung, kaum mehr als ein Welpe.

»Komm her!«, rief Klein-Stefan, ohne richtig zu wissen, warum.

Der Hund machte ein paar vorsichtige Schritte nach vorne, hielt Kopf und Körper dabei gesenkt und klemmte den Schwanz ängstlich zwischen die Beine. Dann blieb er plötzlich stehen und erstarrte, als ob er etwas gehört hätte.

Klein-Stefan drehte den Kopf, aber das Wohnhaus sah noch immer dunkel und still aus. Als er sich wieder dem Hund zuwandte, war dieser verschwunden.

Auf halber Treppe zum Wohnhaus hinauf bemerkte er, dass die Haustür nur angelehnt war. Er blieb auf der Betonstufe stehen und wusste nicht genau, was er tun sollte. An der Wand neben der Tür hing eine etwa fünfzig Zentimeter große Figur, die aus grünen Zweigen geflochten war. Sein Großvater hatte auch jedes Jahr so eine Figur gemacht und an die Haustür gehängt.

Damit der Grüne Mann heute Nacht weiterreitet und nicht an unserem Haus stehen bleibt.

»Hallo! Ist jemand zu Hause?«

Die Worte prallten von den Hauswänden ab und kehrten als verzerrtes Echo wieder. Als ob die Stimme jemand anderem gehörte, jemandem, der ihn aus der Dunkelheit und dem grünen Dickicht heraus beobachtete, ihn nachäffte und sich einen Spaß mit ihm erlaubte.

Klein-Stefan schielte zu der unheimlichen Figur aus Zweigen, und einen Moment lang war er kurz davor, die Treppe wieder hinunterzusteigen, sich in seinen Wagen zu setzen und wegzufahren. Er könnte Erik Nyberg sagen, dass niemand zu Hause gewesen wäre und die Ablesung des verdammten Wasserzählers warten musste. Aber er war ein erwachsener Mann, der seine Arbeit zu erledigen hatte, und kein kleiner Bub mehr, der sich vor Spukgeschichten fürchtete.

Er klopfte an die Tür.

»Hallo!«, rief er noch einmal. »Ist jemand zu Hause? Hier ist Klein-Stefan, vom Schloss.«

Keine Antwort.

Die Stille, die vom Haus ausging, verstärkte sein Unbehagen, er begann zu schwitzen, sein Hemd klebte ihm am Rücken. Er holte tief Luft, klopfte noch einmal, stärker jetzt. Dann öffnete er die Tür ganz und betrat den Flur. Das Haus roch seltsam. Er vernahm einen muffigen, tierischen Geruch, den er nicht richtig einordnen konnte.

»Hallo?«

Er schaute in die Küche. Auf dem Küchentisch standen benutzte Teller, Gläser und Besteck von drei Personen. Ein paar Fliegen schwirrten um die Essensreste. Hinter dem Tisch war einer der Stühle umgefallen. Klein-Stefan drehte sich um. Durch die Türöffnung auf der anderen Seite des Flurs sah er ein ordentlich gemachtes Bett.

»Hallo!«, rief er, diesmal in Richtung Obergeschoss.

Noch immer keine Antwort. Sein Unbehagen wuchs, aber er riss sich zusammen und stieg die steile Treppe hinauf. Die Stufen knarrten unter seinen Stiefeln.

Das obere Stockwerk lag im Dunkeln. Links gab es ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett, genauso ordentlich gemacht wie das im Untergeschoss. Die Tür auf der rechten Seite war geschlossen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er erkannte, dass sie nicht einfarbig grün, wie er zunächst gedacht hatte, sondern von einem sorgfältig gemalten Blätterwerk überzogen war. Fast wie ein Kunstwerk.

Elitas Zimmer hatte jemand in schönen, verschlungenen Buchstaben in Augenhöhe daraufgeschrieben.

Hier drin hatte sie gewohnt. Hier hatte sie gelebt.

Elita Svart. Das Frühlingsopfer.

Klein-Stefan legte die Hand auf die Türklinke, glaubte seinen Herzschlag durch die Räume hallen zu hören. Er war auf dem Weg, etwas Verbotenes zu tun, in eine Welt einzudringen, zu der er eigentlich keinen Zutritt hatte. Ein ungebetener Gast, ein Eindringling.

Da bemerkte er einen zweiten Text auf der Tür. Kleine, verzerrte Buchstaben, die sich fast mit dem Blätterbild vermischten, aber immer deutlicher hervortraten, je mehr sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten.

Die Natur ist hungrig, der Grüne Mann reitet durch die Wälder.

Zugleich entdeckte er noch etwas: Verborgen zwischen dem gemalten Blattwerk befand sich ein großes, unheimliches Männergesicht.

Die Einsicht durchzuckte ihn schlagartig, und es überlief ihn eiskalt. Er wusste nicht, warum, aber das Gefühl war so stark, dass sich seine Nackenhaare aufrichteten. In diesem Haus war etwas passiert. Etwas Schlimmes, das Lasse Svart und seine Frauen dazu gebracht hatte, mitten beim Abendessen aufzuspringen, zu ihren Autos zu rennen und in die Nacht hinauszufahren. Etwas, das mit einem toten sechzehnjährigen Mädchen auf einem kalten Stein zu tun hatte und mit einem geisterhaften Reiter, der durch den Wald galoppierte.

Klein-Stefan ließ den Türgriff los und sprang in drei Sätzen die Treppe hinunter. Dann stürzte er durch den Flur zur Außentreppe und zu seinem Wagen.

Eilig startete er den Motor, legte einen Blitzstart hin und schaute erst in den Rückspiegel, als er sich ganz sicher sein konnte, Svartgården tief im Wald hinter sich gelassen zu haben.

1

»Hallo, Margaux, hier ist Thea. Tut mir leid, dass ich schon länger nicht mehr angerufen habe. Ich war viel mit dem Umzug beschäftigt. Aber jetzt sind David und ich in Schonen angekommen. Unser neues Leben kann beginnen, eine neue, glücklichere Geschichte als die alte. Zumindest hoffen wir das beide.«

 

Die Drohnenkamera macht als Erstes eine Nahaufnahme des Schlossportals und der feudalen Steintreppe. Dann vergrößert sie langsam den Ausschnitt, bis das gesamte Schloss im Bild zu sehen ist. Es besteht aus einer großen Mittelpartie und zwei angehängten Flügeln, die das Gebäude von oben wie ein lang gezogenes H aussehen lassen.

Man sieht die weiße, frisch verputzte Fassade, das grüne Kupferdach, das Kutscherhaus und die Stallungen, die etwas weiter rechts liegen, hinter dem Ostflügel, und den Burggraben jenseits des Westflügels. Dann hört man die Stimme des Sprechers.

Schloss Bokelund befindet sich in circa vier Kilometern Entfernung von der kleinen Gemeinde Tornaby in der Kommune Ljungslöv, welche im nordwestlichen Teil der Provinz Schonen liegt, unweit vom Südende des Nationalparks Söderåsen. Das Schloss gehört zu den ältesten in Schonen, seine Geschichte reicht bis ins vierzehnte Jahrhundert zurück. Das jetzige Hauptgebäude im französischen Renaissancestil wurde um 1880 errichtet, aber Reste der alten Burg lassen sich noch im Keller erahnen, wo ein Kerkerloch erhalten geblieben ist.

Das Letzte ist ein wenig überspitzt formuliert. Tatsächlich weiß niemand so genau, wofür das kleine Gewölbe im Keller verwendet wurde. Aber David hat recht, dass ein Kerker deutlich besser klingt als ein Vorratskeller, das muss Thea zugeben.

Die Drohnenkamera zoomt noch wenig weiter hinaus, sodass der moosgrüne Burggraben, der die Schlossinsel umschließt, sichtbar wird. Außerdem die Allee, die im Süden das Schloss mit der Hauptstraße verbindet, und die schmale Steinbrücke, die im Norden in den Schlosswald hinüberführt. Im Osten lässt sich der Sumpf erspähen.

Schloss Bokelund liegt auf einer Insel, umgeben von einem Burggraben, der erschaffen wurde, als man im siebzehnten Jahrhundert das Wasser des nahe liegenden Sumpfgebiets umleitete. Der Sumpf von Tornaby, eines der größten Feuchtgebiete Schonens, gehört mit seiner reichen Pflanzen- und Tierwelt zu den Natura-2000-Schutzzonen.

Schnitt zu Hirschen im Gegenlicht, Farn, Moos, einer Libelle, die über einem stillstehenden Gewässer tanzt, einer Schar Gänse, die über den blauen Himmel zieht.

Zurück zur Drohne. Eine neue Kamerafahrt, diesmal von oben nach unten, in entgegengesetzter Richtung der ersten Aufnahme, sodass man schließlich auf dem großen Absatz der Schlosstreppe landet, wo Thea und David gerade stehen.

Seit 1996 befindet sich das Schloss im Besitz der Bokelund Stiftung. Diese wurde von Graf Rudolf Gordon gegründet, dem letzten Privateigentümer des Schlosses. Die Bokelund Stiftung ist in ihrer Art einzigartig, ihr Zweck besteht in der Förderung der Gemeinde Tornaby sowie ihrer Bewohner. Die Stiftung finanziert unter anderem eine Buslinie sowie eine Bezirksarztstelle und vergibt Stipendien. Außerdem hat man kürzlich das Schloss renoviert und im alten Glanz wiederhergestellt.

Der Filmabschnitt endet.

»Was hältst du davon?« David sieht eifrig, aber auch nervös aus. »Das Interview, das wir gleich machen, wird direkt dahinter eingefügt.«

»Schön«, erwidert Thea und bereut die Wortwahl sofort, als sie Davids Grimasse sieht. »Professionell«, fügt sie hinzu. »Sehr professionell.«

David schaut zufriedener drein. Er klappt das Laptop zu und legt es auf die Steinbalustrade.

»Ich habe den Film gerade vom Produzenten bekommen.« Er zeigt auf einen kleinen Mann mit Baseballkappe, der ein Stück entfernt steht und mit dem Kameramann und dem Tontechniker diskutiert. »Ein paar Feinheiten werden noch geändert, und die Musik fehlt, aber das machen sie nach dem Interview. Ich glaube, das wird richtig gut. Hoffentlich hält das Wetter.«

Er wirft einen beunruhigten Blick in den Himmel. Dafür, dass es erst Mitte April ist, ist es ziemlich warm, die Frühlingssonne scheint, aber ein grauer Streifen breitet sich langsam am Horizont aus.

»Das muss einfach perfekt werden«, murmelt David, vermutlich mehr zu sich selbst als zu ihr.

Thea legt ihre Hand auf seinen Arm.

»Das wird es auch, bleib ganz ruhig.«

David nickt, zwingt sich zu einem schiefen Lächeln. Er trägt eine kreideweiße Kochuniform. Der schon leicht graue Bart entlang der Kieferknochen ist ordentlich getrimmt und das blonde Haar nach hinten gekämmt.

Eine Frau mit einer Schminktasche am Gürtel kommt auf sie zu.

»Hallo. Ich würde gern Ihre Stirn ein wenig pudern.«

»Ja, natürlich.«

Die Visagistin ist um die dreißig und damit sicher fünfzehn Jahre jünger als Thea und David. Außerdem ist sie ziemlich attraktiv. Bis vor Kurzem hätte David jetzt schon seine große Charmeoffensive gestartet und dieses selbstsichere Lächeln gezeigt, gegen das man sich nur schwer wehren konnte. Aber David ist nicht er selbst. Immer wieder kaut er an seinem Daumennagel herum, die Fingerspitze ist schon ganz rot, und die Visagistin muss kämpfen, um die Schweißperlen auf seiner Stirn zu verdecken.

Sie wendet sich an Thea.

»Sind Sie auch dabei?«

»Nein«, unterbricht David. »Meine Frau ist ein bisschen schüchtern.«

Er zwinkert Thea zu, will damit wohl zeigen, dass alles in Ordnung und die Diskussion beendet ist und er respektiert, dass sie nicht ins Fernsehen will. Aber Thea weiß, dass das nicht stimmt.

»David, kannst du kurz herkommen?«, ruft der Produzent.

Thea zieht sich ein Stück zurück. Am liebsten würde sie die Treppe hinunterschleichen und nach Hause ins Kutscherhaus verschwinden, um sich so weit entfernt von der Kamera wie möglich aufzuhalten. Aber die Fernsehreportage ist eine große Sache für das Schloss, und sie muss zumindest da sein und Interesse zeigen.

»Wie geht es voran?«, fragt eine Stimme schräg hinter ihr.

»Gut.« Thea versucht, ihre Überraschung zu verbergen. Davids Mutter hat trotz ihrer Größe ein ungewöhnliches Talent dafür, sich anzuschleichen. Ingrid ist etwas über eins fünfundsiebzig und damit gut zehn Zentimeter größer als Thea. Sie hat einen geraden Rücken und breite Schultern, an ihr ist nichts zusammengesunken, wie man es oft bei Leuten im Rentenalter sieht. Das stahlgraue Haar ist kurz geschnitten, der Blick hinter der Brille scharf.

»Das Wetter scheint zu halten. Das ist sehr gut.«

Thea nickt zur Antwort.

»Wann kommt Doktor Andersson morgen?« Ingrid wechselt rasch das Thema, das ist typisch für sie.

»Um neun«, antwortet Thea, obwohl sie sich sicher ist, dass Ingrid über ihren Terminplan schon genau Bescheid weiß.

»Und dann wird sie dich hier herumführen, dir die Praxisräume zeigen und erklären, wie alles funktioniert.«

Feststellungen, keine Fragen.

»Mhm.«

»Sigbritt Andersson ist eine ausgezeichnete Bezirksärztin«, fährt die Schwiegermutter fort. »Sie hat Tornaby viel bedeutet.«

Thea wartet auf das Aber, das in der Luft hängt. Und wie auf Bestellung kommt es auch.

»Aber Sigbritt war von Natur aus immer ziemlich neugierig, schon als sie klein war. Bei ihr muss man immer ein bisschen aufpassen, was man sagt, wenn du verstehst, was ich meine. Vor allem, wenn es um Privates geht.«

Ingrid schweigt exakt lange genug, um wieder abrupt das Thema wechseln zu können.

»Du hast deine Medikamente abgesetzt, habe ich gehört. Schön, dass du auf dem Weg der Besserung bist.«

Thea sagt nichts, bedankt sich innerlich bei David für diesen kleinen Übergriff.

»David und du, ihr braucht einander.« Ingrid deutet mit einem Nicken auf ihren Sohn, der mit dem Produzenten und dem Reporter spricht, der ihn interviewen soll. »Ihr braucht die Möglichkeit, euch zu erholen. Von allem wegzukommen, was passiert ist.« Sie nickt noch einmal, wie um das Gesagte zu bekräftigen. »Ich kümmere mich übrigens gerade um die Gästeliste für das Testessen. Wie schade, dass deine Eltern nicht mehr unter uns sind.«

Das neue Gesprächsthema wirkt unschuldig, aber bei Ingrid weiß man nie genau.

»Ja«, antwortet Thea. Die Lüge ist gut einstudiert und fühlt sich nicht einmal mehr unwahr an.

Ingrid berührt sie am Arm.

»Du sollst wissen, dass du für Bertil und mich wie eine eigene Tochter bist.«

Das zu hören überrascht Thea, und sie weiß nicht richtig, was sie sagen soll. David und sie hatten zwar schon ein paar Jahre lang eine On-Off-Beziehung, aber verheiratet sind sie erst seit November. Die Male, die sie ihre Schwiegereltern getroffen hat, lassen sich wahrscheinlich an einer Hand abzählen. Und Ingrid Nordin ist für gewöhnlich keine Person, die Gefühle oder auch nur Wertschätzung zeigt.

»Wie geht es Bertil heute?«, bringt Thea hervor.

»Gut. Er wäre gern gekommen, aber er fühlt sich ein bisschen müde. Jetzt fangen sie bestimmt gleich an.« Ingrid zeigt zum TV-Team hinüber.

David hat sich an denselben Platz auf dem Treppenabsatz gestellt, an dem der Drohnenfilm endet. Der Reporter, der ihn interviewen soll, ist ein junger Mann mit kreideweißen Zähnen und einem eng anliegenden Anzug. Er sieht ein bisschen zu ehrgeizig aus, um so eine Art von Wohlfühlreportage zu machen. Seiner Körpersprache und den gereizten Blicken nach, die er dem Produzenten immer wieder zuwirft, scheint er der gleichen Meinung zu sein.

Die erste Frage klingt wie aus dem Sport-Business.

»David Nordin, erzählen Sie! Wie fühlt es sich an, nach über zwanzig erfolgreichen Jahren als Koch, Küchenchef und Restaurantleiter in Stockholm nach Hause zurückzukommen?«

Thea kennt die Antwort bereits. Sie und David haben für das Interview fast eine Woche lang geübt. Dennoch ist sie überraschend nervös.

»Fantastisch natürlich«, sagt David. »Das Schloss Bokelund ist ein wunderbarer Ort für ein Restaurant. Ich bin sehr glücklich darüber, meine Heimat und die regionale Küche damit hervorheben zu können. Das ist ein natürlicher Schritt für mich, auf den ich jahrelang gewartet habe.«

David endet mit einem Lächeln, das ihn so aussehen lässt, als würde er vor Selbstsicherheit strotzen. Dieser Teil der Geschichte ist besonders wichtig, der muss sitzen. David ist der erfolgreiche Sohn der Gemeinde, der triumphierend zurückkehrt, um Touristen und Sommergäste anzulocken. Kein Gastwirt mit zweifelhaftem Ruf, der in aller Stille gezwungen war, seine Restaurants zu schließen und mit eingeklemmtem Schwanz in den Süden zu fliehen.

»Und jetzt stehen also Sie und zwei Ihrer Jugendfreunde hinter diesem Projekt?«

Thea atmet tief aus. Der Reporter hält sich an die vereinbarten Fragen.

Auch David wirkt erleichtert. »Das ist richtig. Jeanette Hellman und Sebastian Malinowski. Sebastian ist einer der Gründer des IT-Unternehmens Conexus, und Jeanette blickt auf eine lange Karriere in der Finanzbranche zurück. Wir sind alle in Tornaby aufgewachsen und sehen das Restaurant als Chance an, unserem geliebten Heimatort etwas zurückzugeben.«

Oh, oh! Wer hat ihm denn diesen Satz geschrieben? Das warst doch wohl nicht du, ma chère?

Margaux’ Stimme kommt aus dem Nichts. Thea zuckt zusammen, unterdrückt den Impuls, sich umzudrehen. Natürlich weiß sie, dass Margaux nicht da sein kann. Obwohl sie recht hat. Das mit dem geliebten Heimatort ist ganz klar zu dick aufgetragen.

»Eine fantastische Möglichkeit«, beantwortet David eine Frage, die Thea nicht mitbekommen hat. »Wir sind der Bokelund Stiftung äußerst dankbar dafür, dass sie das Schloss renoviert und ins Restaurant investiert hat. Uns sozusagen den Weg geebnet hat …« Er lacht.

Thea schaut verstohlen zu ihrer Schwiegermutter, die sich ganz auf das Interview konzentriert. David erwähnt nicht, dass sie die Vorsitzende des Stiftungsrates ist. Dass sie hier in der Gegend fast überall die Finger im Spiel hat, inklusive dieser Reportage.

Inzwischen scheint sich David warm geredet zu haben. Seine Stimme klingt nicht mehr so angespannt, sein Lächeln kommt spontaner. Thea entspannt sich ein wenig.

»Hat das Schloss denn auch ein paar Gespenster?«, hört sie den Reporter fragen.

Wieder taucht Margaux in ihrem Kopf auf. Diesmal als Bild. Der schräge Pony, die braunen Augen, der leicht schief stehende Schneidezahn, gegen den sie immer ihre Zunge drückt, bevor sie lächelt.

»Natürlich gibt es die«, sagt David. »Zwei Stück. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ertrank eine junge Frau, als sie im Eis des Burggrabens einbrach. Der Legende nach war sie auf dem Weg in den Wald, auf der anderen Seite, zu einem heimlichen Liebestreffen mit dem Sohn des Försters. Und im späten neunzehnten Jahrhundert fiel eine andere junge Frau bei einer Hubertusjagd im Schlosswald vom Pferd und brach sich das Genick. Es heißt, dass man die beiden Frauen manchmal nachts durch den Wald reiten hört. Zumindest, wenn man an solche Geschichten glaubt.«

Der Reporter nickt interessiert.

»Aber es gibt wohl noch eine wahre Geschichte? Von einem dritten Mädchen, das gestorben ist. Ich denke dabei an das Frühlingsopfer.«

Davids Lächeln erstarrt, während Thea sieht, wie ihre Schwiegermutter den Rücken strafft.

»Ja, eine traurige Geschichte. Vielleicht nichts, was man …« Davids Blick wird unsicher, er sieht zuerst zu Thea, dann zum Produzenten.

»Wir brechen ab!« Der Produzent nimmt den Reporter beiseite. Sie scheinen hitzig zu diskutieren.

David kaut an seinem Daumennagel herum, seine Stirn glänzt. Thea geht zu ihm und greift nach seiner freien Hand, die warm und verschwitzt ist.

»Was war das denn?«

Er schüttelt den Kopf. »Nichts. Ich bin nur ein bisschen aus dem Konzept geraten.«

Die Visagistin taucht wieder auf und pudert seine Stirn. Das Gespräch zwischen Produzent und Reporter geht weiter.

»Aber warum?«, hört Thea den Reporter fragen. »Der True-Crime-Aspekt ist doch viel interessanter. Die Zuschauer lieben so etwas, ich begreife nicht, warum wir …«

Der Produzent unterbricht ihn und sagt etwas, woraufhin sich der Reporter umdreht und verärgert die Treppe hinuntergeht.

David drückt ihre Hand, während Ingrid zum Produzenten geht und ein paar Worte mit ihm wechselt.

»Wir machen es noch mal«, sagt der Produzent und winkt dem Kameramann zu. »Ich stelle die Fragen, wir fangen einfach von vorn an und halten uns an das, was vereinbart war, okay?«

David nickt steif. Thea lässt seine Hand los und verschwindet schnell aus dem Bild.

»Gut, dann los.«

Der Produzent stellt die gleichen einleitenden Fragen wie beim ersten Mal, aber David verhaspelt sich sofort. Sie wiederholen es mehrmals, aber David kann sich nicht mehr konzentrieren. Die Antworten, die er hervorbringt, klingen mechanisch und einstudiert, und sein Charme ist völlig verschwunden.

Thea sieht, wie der Produzent auf die Uhr schielt und dann zum Himmel schaut, an dem der graue Streifen näher kommt.

»Wir machen eine kurze Pause, nimm einen Schluck Wasser, David.«

Der Produzent und Ingrid beraten sich erneut, während David an einer Wasserflasche nippt. Die Visagistin führt dabei einen ungleichen Kampf gegen seine Schweißperlen.

»Alles geht schief«, murmelt er. »Noch bevor wir überhaupt angefangen haben.«

Thea greift wieder nach seiner Hand. »Du schaffst das schon. Versuch, dich ein bisschen zu entspannen.«

»Das geht nicht. Wir müssen umdenken. Irgendwas anderes machen.« Er drückt ihre Hand, schaut sie bittend an und hebt die Augenbrauen, damit sie auch sicher versteht, was er meint. »Ich schaffe das nicht ohne dich, Thea. Bitte …«

Sie schluckt, versucht, das Risiko zu überblicken.

Ingrid unterbricht ihre Gedanken.

»Tja, Thea. Peter und ich haben darüber geredet, dass es gut wäre, wenn du auch im Beitrag vorkämst.« Sie deutet auf den Produzenten. »Die stützende Ehefrau, die neue Distriktärztin und so weiter.«

Thea spürt, dass alle Blicke auf sie gerichtet sind. Ihr Magen verkrampft sich, ihr Mund ist trocken. David drückt noch einmal ihre Hand. Immer fester, bis sie es fast nicht mehr aushält.

Sie holt tief Luft.

»Okay«, erwidert sie und bereut es sofort. Aber jetzt ist es zu spät.

Margaux’ heisere Stimme taucht wieder in ihrem Kopf auf.

Wir haben alle unsere Gespenster, Thea. Manche mehr als andere.

In der Ferne, hinter dem immer grauer werdenden Streifen am Horizont, beginnt es bedrohlich zu donnern.

2

»Du fragst dich bestimmt, wie es Emee geht. Sie läuft davon, sobald ich sie von der Leine lasse. Dann verschwindet sie im Wald und kommt nicht, wenn ich rufe. Ich glaube, dass sie nach dir sucht, Margaux. Dass sie Sehnsucht nach dir hat. Das haben wir beide. Vermisst du uns auch? Entschuldige, das ist eine dumme Frage.«

 

Thea geht durch den Buchsbaumgarten und weiter über den Rasen hinter dem Schloss. Emee kennt den Weg schon. Der Hund läuft eifrig den Pfad entlang und zieht an der Leine.

Auf der Rückseite des Schlosses ist der Burggraben breiter. Er bildet dort ein langes, schmales Becken oder fast schon einen kleinen See, der von einer Steinbrücke geteilt wird, die zum Wald hinüberführt. Die Brücke ist nur etwa zwei Meter breit. Sie wurde im frühen neunzehnten Jahrhundert gebaut, vermutlich damit die Herrschaft vom Schloss aus direkt in den Wald reiten konnte.

Unter der Brücke ist das Wasser flaschengrün, es fließt träge dahin, und die Oberfläche ist an den meisten Stellen von Wasserpflanzen und einer schleimigen Algenschicht bedeckt. Das Wasser kommt aus dem Sumpf und führt einen Geruch mit sich, den Thea schon an anderen Orten wahrgenommen hat, zum Beispiel im nigerianischen Urwald, in der trockenen Wüstenlandschaft von Äthiopien, der gerichtsmedizinischen Station in Solna und zwischen den syrischen Ruinen. Der Geruch nach Erde und Vergorenem, nach Eisen und Ammoniak, nach Maden und Insekten mit bebenden Flügeln, die von der Verwesung leben.

Thea überläuft ein Schauer, und Emee schnaubt, als wolle sie auch von dem modrigen Wasser weg. Sobald sie die Brücke passiert haben, löst Thea die Leine, und der Hund verschwindet wie ein grauer Blitz zwischen den Bäumen.

Thea folgt dem Fußweg unter den hohen Baumkronen und wartet, bis sie außer Sichtweite des Schlosses ist, bevor sie sich eine Zigarette anzündet. Gauloises ohne Filter. Sie hat sie durch Margaux schätzen gelernt, allerdings David versprochen, damit aufzuhören.

Sie nimmt einen tiefen Zug, hält den Rauch zurück, bis er in den Luftwegen brennt.

Was ist schlimmer als ein Arzt, der raucht?, witzelte Margaux immer. Zwei Ärzte, die rauchen, natürlich!

Ein alberner Scherz, aber Margaux hatte immer Erfolg damit. Sie brauchte nur den Kopf vorzubeugen, den Blick hinter ihren Ponyfransen zu verbergen, die sie wie eine Comicfigur aussehen ließen, damit man anfing zu lachen.

Das Fernsehinterview von vorhin beunruhigt Thea. Sie versucht sich einzureden, dass es nur ein paar Minuten Bildmaterial sind, dass es trotz allem über fünfundzwanzig Jahre her ist und dass niemand sie wiedererkennen wird. Außerdem hatte sie keine Wahl, denn David hätte nicht alleine weitermachen können. Die Eröffnung rückt immer näher, er arbeitet jeden Tag sehr lang und telefoniert ständig. Der Druck auf ihn ist enorm.

Trotzdem ist sie davon überzeugt, dass es die unerwartete Frage war, die ihn aus der Fassung gebracht hat. Ein drittes totes Mädchen, aus deutlich jüngerer Zeit, über die der Reporter offensichtlich sehr viel lieber sprechen wollte, als mit der Wohlfühldokumentation weiterzumachen. David hat ihr gegenüber diese Geschichte nie erwähnt. Sie muss die richtige Gelegenheit abwarten, um ihn danach zu fragen.

 

Der Schlosswald erhebt sich aus dem umliegenden Sumpf wie ein sanfter Hügel. Ein Stück festes Land, wo die Bäume älter und größer werden konnten als an anderen Stellen. Die Bokelund Stiftung hat das gesamte Geld in das Schlossgebäude gesteckt und den Wald sich selbst überlassen. Der Teil in unmittelbarer Nähe zur Brücke und zum Schloss ähnelte irgendwann einmal einem Park, aber inzwischen ist der Kies auf den Wegen von Unkraut überwuchert, die alten Laternen sind nicht mehr angeschlossen, und nur wenige Bänke taugen noch zum Sitzen. Nicht dass jemand das tun würde. In der knappen Woche, die Thea nun hier ist, hat sie nicht eine Menschenseele im Wald getroffen, was vielleicht nicht so verwunderlich ist. Tornaby liegt fünf Kilometer entfernt, und das Schloss hat kaum Nachbarn. Es führen auch nur wenige Wege hierher. Es scheint, als habe die Welt diesen Ort vergessen und Thea die ganze verfallene Schönheit überlassen. Das frisch ausgetriebene Laubdach ist noch nicht geschlossen, sodass das Sonnenlicht auf den von Buschwindröschen bedeckten Boden fällt. Vögel singen, und der Wind bläst sanft durch die Baumkronen. Alles ist unglaublich schön, wobei es durch den Verfall zugleich ein wenig traurig wirkt. Vielleicht gefällt es ihr deshalb so gut?

Ein schiefer Pfosten mit Richtungsweisern informiert darüber, wie weit es zurück zum Schloss ist (fünfhundert Meter nach Süden, auf demselben Weg, den sie gekommen ist), nach Tornaby Dorf (fünf Kilometer nach Westen, entlang des fast zugewachsenen Pfades links), zum Steinkreis, den sie bisher noch nicht erforscht hat (sechshundert Meter geradeaus in Richtung Norden), und ein letzter Pfeil weist nach rechts zum Kanal (fünfhundert Meter nach Osten).

David hat erzählt, dass der Kanal eigentlich ein breiter Graben ist, der zwischen Schlosswald und Sumpf ungefähr einen Kilometer ins Land schneidet und das Wasser aus dem Feuchtgebiet in den Burggraben leitet. Er hat den Plan, ein Restaurantfloß anzuschaffen, um über den Burggraben und den Kanal bis zum Forsthaus zu fahren, das am anderen Ende liegt. Thea fragt sich allerdings, ob das träge Wasser und der Sumpfgeruch den Essensgästen nicht den Appetit verderben würden. Aber natürlich hat sie das David gegenüber nicht erwähnt.

Sie folgt dem Pfad Richtung Osten, zieht langsam an ihrer Zigarette, damit sie so lange wie möglich etwas davon hat. Nach einigen Minuten erreicht sie eine Lichtung. An der einen Seite streckt sich ein uralter Baum mit buckligem Stamm und schweren, verdrehten Zweigen in den Himmel. Die Rinde ist grau, wirkt durch das helle Licht jedoch fast weiß.

Statt wie sonst den Pfad weiterzugehen, überquert sie die Lichtung und geht auf den Baum zu. Der Stamm hat sicher einen Umfang von vier Metern, vielleicht mehr. Daneben steht eine schmutzige Informationstafel, die ihr bisher noch nicht aufgefallen war. Sie reibt die Algen ein wenig weg, um den Text lesen zu können.

Eiche. Quercus robur.

Die Eiche ist einer der größten Bäume Skandinaviens und kommt von Schonen bis Gästrikland vor. Dieses Exemplar wird Galgeneiche genannt. Allerdings ist ungewiss, ob der Baum tatsächlich für Hinrichtungen genutzt wurde. Einer Untersuchung von 1998 zufolge wird das Alter der Eiche auf über neunhundert Jahre geschätzt, was sie – neben dem Weißdornhain beim Steinkreis – zum ältesten Baum des Schlosswaldes macht. Die knotigen Wucherungen am Stamm werden Maserknolle oder Holzkropf genannt und werden vermutlich durch einen genetischen Defekt hervorgebracht, der bewirkt, dass die Holzfasern beim Austreiben im Verhältnis zum Stamm in die falsche Richtung wachsen.

In ungefähr drei Metern Höhe finden sich am Stamm zwei größere Maserknollen sowie ein Loch, die zusammen betrachtet Ähnlichkeit mit einem Männergesicht haben. Die Formation wird im Volksmund Grüner Mann genannt und knüpft an eine lokale Sage an. Ihr zufolge ist der Grüne Mann ein Naturwesen, das in manchen Frühlingsnächten die Gestalt eines Menschen annimmt und durch die Wälder reitet, um den Winter und die Dunkelheit zu vertreiben. Derselben Sage nach legt man Frühlingsgaben in den Mund des Grünen Mannes, um die Wiederkehr des Lebens zu beschleunigen.

Thea mustert den Stamm. Die Formation, die der Text beschreibt, ist leicht zu entdecken. Zwei abstehende Ovale, deren Ränder geschwollen und deren Mittelteil glatt ist, und unter ihnen ein schwarzes, kreisrundes Loch. Das Ganze sieht zweifellos aus wie ein verzerrtes Männergesicht mit leeren Augen und einem weit geöffneten Mund.

Direkt zu ihren Füßen wachsen einige Buschwindröschen. Ohne genau zu wissen, warum, pflückt sie ein paar von ihnen und steckt sie sich in die Jackentasche. Dann drückt sie die Zigarette aus, stellt den Fuß auf den untersten Knoten am Stamm, schiebt sich nach oben und greift mit der einen Hand nach dem nächsten. Seit sie klein war, ist sie nicht mehr auf Bäume geklettert, aber sie erinnert sich noch an die Technik, die ihr großer Bruder ihr beigebracht hat. Die Hände zum Festhalten, die Füße zum Hochdrücken. Thea wiegt nicht viel, außerdem sind ihre Arme, ihre Schultern und ihr Rücken kräftig.

Die helle Eichenrinde ist rau und bucklig, voller Risse und Falten, nach denen sie greifen kann, und es dauert nicht lange, bis sie die Höhe des Gesichts erreicht hat. Sie starrt der unheimlichen Figur in die toten Augen und kommt sich auf einmal lächerlich vor. Was macht sie da eigentlich? Solche Einfälle waren eher typisch für Margaux, sie selbst beschäftigt sich mit Vernunft, Logik und Dingen, die sich messen und ordnen lassen. Sie liebt es zu puzzeln, Fluchtwege auszukundschaften, und hat immer einen Rucksack mit dem Nötigsten zur Hand, falls das Schlimmste eintreffen sollte. Vielmehr hatte, korrigiert sie sich. Bis das Schlimmste tatsächlich eintraf.

Thea holt die Buschwindröschen aus der Jackentasche und schiebt sie dem Grünen Mann in den Mund. Das Loch ist größer, als es von unten aussah, Thea kann problemlos die ganze Hand hineinstecken. Ein Stück weiter hinten spürt sie eine Kante, als wäre der dicke Stamm teilweise hohl. Sie steckt den Arm so tief hinein, wie sie kann, schließt die Augen und ruft sich das Bild von Margaux ins Gedächtnis. Sie versucht, jedes Detail ihres Gesichts zu erkennen. Die dunkle Haarsträhne, die Augen, die kleinen Sommersprossen auf der Nase. Ihr Lächeln.

Dann lässt sie die Buschwindröschen ins Innere des Baums fallen.

Für die Wiederkehr des Lebens.

Ein Wind zieht durch den Wald, drückt die Baumwipfel herunter und wirbelt totes Laub vom Boden auf. Er führt den Geruch nach Elektrizität und Gewitter mit sich. Thea fröstelt.

Irgendwo tief im Wald beginnt Emee zu bellen.

3

Walpurgisnacht 1986

Liebe Leser!

Jede Geschichte braucht einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Das ist mein Anfang.

Ich heiße Elita Svart. Ich bin sechzehn Jahre alt. Ich wohne auf einem Hof mitten im Wald, in der Nähe von Tornaby.

Wenn ihr das hier lest, bin ich schon tot. Aber wir fangen ganz von vorn an, oder was meint ihr?

Der Vorarbeiter der Werkstatt machte sich über ihn lustig, so viel war Arne Berg ziemlich schnell klar. Der fette Kerl hing über dem Ladentisch und sprach so laut, dass seine beiden Mitarbeiter, die ein Stück entfernt damit beschäftigt waren, bei einem Volvo 245 das Öl zu wechseln, sicher hörten, was gesagt wurde.

»Wie war noch der Name?«

»Polizeiassistent 2971 Berg, Polizei Ljungslöv. Ich soll ein Einsatzfahrzeug abholen.«

Arne strich sich mit einer Handbewegung über den Schnurrbart, von der er glaubte, sie würde ihn älter und erfahrener aussehen lassen.

»Soso.« Der Vorarbeiter bewegte einen speckigen Finger über die Spalten seines Auftragsbuchs. »Ein Einsatzfahrzeug für die Polizei in Ljungslöv. Wird das denn gebraucht? Ich dachte immer, ihr würdet da draußen in der Pampa mit dem Traktor fahren.«

Arne konnte die beiden Blödmänner drüben am Volvo feixen hören, aber er verzichtete darauf, sich umzudrehen. Stattdessen klopfte er mit dem Fingerknöchel auf die Theke.

»Den Schlüssel. Ich habe es eilig.«

»Eilig! Wieso denn? Musst du heim und melken, Jüngelchen? Oder sollst du dem Geheimdienst helfen, den Palme-Mord aufzuklären?«

Erneutes Gelächter, diesmal lauter. Der Vorarbeiter richtete sich auf, holte einen Autoschlüssel hervor und legte ihn demonstrativ vor sich auf den Ladentisch. Offenbar wollte er die Sache so weit wie möglich in die Länge ziehen.

Arne war es gewohnt, dass die Leute ihn zum Narren hielten. Er war zweiundzwanzig und der Jüngste auf der Polizeiwache von Ljungslöv. Ein Frischling, der gerade die Ausbildung beendet hatte und nur Kaffee kochen, am Empfang stehen und Botengänge machen durfte. Polizeichef Lennartson hatte nur äußerst widerwillig dafür gesorgt, dass Arne im Postauto nach Helsingborg mitgenommen wurde, um den neuen Streifenwagen abzuholen. Lennartson bekam immer einen besonderen Ausdruck im Gesicht, wenn sich ihre Blicke kreuzten. Eine Mischung aus Verärgerung und Widerwillen, der Arne nur allzu oft schon begegnet war. Als wäre das etwas, was er bei den anderen hervorrief, ohne es selbst unter Kontrolle zu haben.

Er biss sich auf die Lippen. Im Sommer würden andere, jüngere Polizisten auf die Station kommen, sodass er in der Hierarchie ein kleines Stückchen aufstieg. Dann würde er wie ein richtiger Polizist auf die Straße kommen. Bis dahin musste er die Situation einfach ertragen, Lennartsons Grimassen und die Schikanen der anderen Kollegen aushalten. Aber dieser Werkstattfuzzi und seine zwei Helfer waren nur mickrige Zivilisten, die überhaupt kein Recht hatten, sich über einen echten Polizisten lustig zu machen.

Der Vorarbeiter kritzelte etwas in sein fleckiges Auftragsbuch.

»Berg war der Name.« Der große Kerl grinste breit.

»Mhm …« Arne ahnte schon, was kommen würde.

»Bergauf oder bergab?«

Die Idioten am 245er brachen in schallendes Gelächter aus, und Arne presste die Zähne in die Unterlippe. Bergab-Arne, so hatten sie ihn in der Schule immer genannt. Sie hatten über seine Noten gelacht, darüber, dass er schlecht Fußball spielte, darüber, dass seine Eltern ihn erst spät bekommen hatten. Manchmal hatten sie sogar angedeutet, dass seine große Schwester eigentlich seine Mutter sei, obwohl Ingrid erst zwölf gewesen war, als er geboren wurde.

Egal, mit wie vielen er sich geprügelt hatte, wie viele Schläge er ausgeteilt und eingesteckt hatte, das Gelächter hatte nicht aufgehört, selbst nicht, als er erwachsen wurde. Weil er nicht zum Militärdienst taugte, weil er keinen Job lange behielt, weil die Polizei ihn nie genommen hätte, wenn nicht sein Schwager Bertil mit Lennartson Bridge spielen würde.

Bergab-Arne.

»Hier unterschreiben!«

Der Werkstattfuzzi drehte das Auftragsbuch zu ihm hin und zwinkerte ihm zu, als sei Arne ein kleiner Laufbursche und kein Polizist in voller Uniform.

»Der Saab in der Ecke da drüben. Und halt ihn bitte vom Acker fern, Berg.«

Arne kritzelte seine Unterschrift und riss den Schlüssel an sich.

Die beiden Idioten waren immer noch damit beschäftigt, neues Motoröl in den Volvo zu füllen. Der Behälter mit dem alten Öl stand noch auf einem kleinen Rollwagen. Der eine Idiot hatte Strähnen in seiner Vokuhila-Frisur, der andere trug einen Ohrring. Bestimmt waren beide heimliche Schwuchteln. Nicht viel älter als Arne selbst, aber trotzdem glaubten sie, über ihn lachen zu dürfen.

Die Männer richteten sich auf und grinsten ihn blöd an, als er vorbeiging. Sicher überlegten sie, was für eine dumme Bemerkung sie zum Abschied noch machen könnten.

»Ihr müsst mal den Boden wischen«, sagte Arne, bevor einer von beiden dazu kam, den Mund zu öffnen.

Dann trat er so fest er konnte gegen den Rollwagen mit dem Öltrog, woraufhin sich ein Schwall klebrigen Motoröls auf die Füße der Männer ergoss. Lachend ging er zum Polizeiauto, sprang hinein und fuhr davon.

Das Einsatzfahrzeug war ein Saab 900 Turbo. Er war erst ein paar Tausend Kilometer gefahren und roch noch immer wie ein Neuwagen. Ein Kraftpaket mit hundertfünfundsiebzig PS.

Auf der Bundesstraße 21 Richtung Osten schaltete Arne das Blaulicht und die Sirene ein und schaffte es, den Tacho auf über hundertachtzig hochzujagen. Er genoss es, wie die anderen Autofahrer zur Seite fuhren, um ihn durchzulassen. Er sah noch die beiden Idioten aus der Werkstatt vor sich, wie sie mit ölverschmierten Schuhen herumrutschten, während ihr Chef wie ein verstopftes Walross herumbrüllte.

Zum ersten Mal seit Langem hatte Arne gute Laune. Als wäre etwas von ihm abgefallen. Mit diesem Wagen konnte er fahren, wie und wohin er wollte. Lennartson war Hobbybauer und hatte die ganze Woche davon geredet, dass seine Sau bald werfen würde, daher hatte er wahrscheinlich für heute schon Schluss gemacht und keine Ahnung, wo Arne sich herumtrieb. Solange er sich etwas abseits von Ljungslöv hielt, würde niemand erfahren, was er mit dem Polizeiwagen machte. Hauptsache, er stand morgen rechtzeitig vor Dienstbeginn um acht Uhr in der Garage.

Das Ortsschild von Tornaby tauchte auf, und Arne wurde langsamer. Es war höchste Zeit, dass die Leute sein neues Ich zu sehen bekamen. Den neuen Arne Berg.

4

»Du fragst dich, ob ich immer noch den gleichen Albtraum habe. Ich würde so gerne Nein sagen, denn ich möchte nicht, dass du dir meinetwegen Sorgen machst. Es geht mir gut, Margaux. Reden wir nicht mehr darüber, okay?«

 

Der Knall dröhnt in Theas Ohren. Sie springt aus dem Bett, wirft sich auf den Boden und schlägt die Arme über den Kopf.

Das Feldlazarett in Idlib. Die explodierenden Bomben, die die Gebäude und die Menschen darin zerreißen, alles und jeden unter den Trümmern begraben. Vom Betonstaub droht sie zu ersticken. Sie muss aufstehen, den Schutzhelm aufsetzen. Sie muss nach Margaux schauen, muss hier weg, muss …

David steht in der Tür. Er bewegt den Mund, aber sie hört nicht, was er sagt, ihr Kopf befindet sich immer noch in dem zerstörten Krankenhaus. Sie kämpft sich durch die Trümmer, die Verwüstung, stolpert über die Toten …

Dann fühlt sie seine Hände auf ihren Schultern. Er schüttelt sie vorsichtig. Der Albtraum lässt von ihr ab, und sie kann wieder hören.

»Thea«, sagt er mit sanfter Stimme. »Bist du wach?«

Es gelingt ihr zu nicken, wobei sie merkt, wie dunkel es ist. Das Nachtlicht in der Wandsteckdose neben der Tür ist erloschen, keine Außenbeleuchtung dringt durch das Fenster. Nur ein schwaches Mondlicht fällt herein und lässt Davids Gesicht kreideweiß erscheinen.

Er zieht sie an sich. Erst da realisiert sie, dass ihr Körper angefangen hat zu zittern. Zuerst nur ein bisschen, dann immer stärker, bis ihre Zähne klappern und sie sich kaum noch aufrecht halten kann. Ihre Brust verengt sich, die Atmung wird flach.

»Ganz ruhig«, murmelt er in ihr Ohr. »Das war nur ein Blitzeinschlag. Du bist hier in Sicherheit, Thea. Atme ruhig und tief.«

Sie versucht, seinem Rat zu folgen, macht tiefe Atemzüge, presst sich so fest sie kann an ihn. Der Druck auf der Brust lässt nach, und das Zittern wird in dem Maße schwächer, wie der Albtraum allmählich von ihr lässt.

»Alles okay?«

Sie nickt, zieht sich zurück und wischt mit dem Handgelenk die letzten Tränen weg.

»Ich muss zum Schloss hoch«, sagt er. »Der Strom ist ausgefallen. Kommst du mit?«

Sie nickt wieder. Sie möchte auf keinen Fall allein im Dunkeln bleiben.

»Weißt du, wo die Regenjacken sind? Es schüttet.«

Sie folgt ihm ins Wohnzimmer, trinkt in der Küche ein Glas Wasser. Plötzlich merkt sie, dass etwas fehlt.

»Hast du Emee gesehen?«

»Sie ist an mir vorbeigehuscht, als ich die Haustür geöffnet habe.«

»Wann?«

»Direkt nach dem Knall. Ich habe nach draußen geschaut, um nach den Lampen am Schloss zu sehen, da ist sie abgehauen. Es ist stockdunkel.«

David klingt, als würde er sich deutlich mehr Sorgen um das Schloss als um den Hund machen. Sein Handy beginnt zu klingeln.

»Securitas«, sagt er und dreht sich weg, um zu telefonieren.

Thea öffnet die Haustür. Der Regen prasselt auf den Kies und das Pflaster vor dem Eingang.

»Emee«, ruft sie, muss aber einsehen, dass ihre Stimme nicht einmal über den Hof trägt.

»Im Schloss wurden sowohl der Feuermelder als auch die Alarmanlage ausgelöst«, sagt David. »Wahrscheinlich ein Kurzschluss. Wir müssen sofort hinfahren.« Er kramt eine Taschenlampe aus einer Schublade.

»Aber Emee …«

»Wir finden sie bestimmt unterwegs. Jetzt komm!«

Er reißt die Haustür weiter auf und rennt vornübergebeugt zum Wagen. Thea zögert einen Moment, dann zieht sie Schuhe und Jacke an und läuft hinterher.

Zwischen dem Kutscherhaus und dem Hauptgebäude des Schlosses sind nur zweihundert Meter Schotterweg. David tritt auf das Gas und lenkt mit einer Hand, während er am Daumennagel der anderen kaut. Sie selbst hält nach Emee Ausschau, besorgt darüber, dass David sie überfahren könnte. Aber sie ist ein Straßenhund, versucht Thea sich selbst zu beruhigen. Emee weiß, dass Autos gefährlich sind.

Das Schloss sieht irgendwie noch schwärzer aus als ihr kleines Haus, als ob die hohen Mauern, der Turm und das steile Dach die Dunkelheit noch verstärken würden.

David macht vor der Küchentür am Ostflügel eine Vollbremsung. Während er mit dem Schlüssel hantiert, nimmt er die Taschenlampe in den Mund. Von innen hört man das Heulen der Alarmsirene zwischen den Steinwänden widerhallen.

»In der Küche gibt es eine Notlampe. Geh einfach dem Licht nach«, ruft David über seine Schulter, bevor er die Kellertreppe hinunter verschwindet.

Thea ist froh darüber, dass er sie nicht aufgefordert hat mitzukommen. David weiß, dass sie Keller verabscheut: den Geruch, die stickige Luft und die Dunkelheit. Sie hasst Dunkelheit.

Sie folgt dem schwachen Licht zur Notlampe, schaltet sie ein und läuft schnell damit den Gang entlang, der zum großen Speisesaal führt. Vielleicht ist Emee auf dem Weg zur Brücke und zum Schlosswald? In dem Fall müsste man sie von der rückwärtigen Terrasse aus sehen können.

Schlagartig verstummt die Sirene, der Speisesaal liegt dunkel und verlassen da. Die neuen Tische und Stühle stehen noch gestapelt in der Ecke, die Wände sind mit vergoldeten Paneelen bedeckt, die erst kürzlich gereinigt wurden. Thea richtet die starke Lampe auf die Deckenbemalung: griechische Motive, junge Frauen in langen Gewändern in einem Wald. Naturwesen kreisen um sie herum, Satyrn, Zentauren und andere, deren Namen sie nicht kennt. Einige Bäume sehen aus wie lebendige Wesen, und sie muss an das Gesicht in der Galgeneiche denken, an den Grünen Mann, dem sie Buschwindröschen geopfert hat. Im Nachhinein eine idiotische Idee.

Sie öffnet die Glastüren, die auf die Rückseite des Gebäudes führen. Der Wolkenbruch scheint vorüber und in einen leichten Nieselregen übergegangen zu sein. Sie zieht die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und tritt auf die gepflasterte Terrasse hinaus. Dort lässt sie das Notlicht über die niedrigen Hecken des Buchsbaumgartens schweifen, dann weiter Richtung Rasen.

»Emee! Emeee!«

Ein kräftiger Blitz erleuchtet den gesamten Garten. Ein blauweißer Kern mit roten Kanten, der die Finsternis durchbricht und im Wald jenseits des Burggrabens einschlägt. Der Knall ertönt fast im selben Moment und ist so laut, dass Thea der Atem stockt.

Der Albtraum ist wieder da. Die Druckwelle, die Panik, das Gefühl, nicht aufstehen zu können, zu ersticken. Wieder beginnt ihr Körper zu zittern. Sie geht in die Hocke, beugt den Kopf nach vorn, versucht, ruhig zu atmen.

Ein und aus. Eiin und auus …

Etwas berührt Thea am Rücken. Es ist Emee. Der Hund schiebt die Schnauze in ihre Hand und knurrt leise, woraufhin sie den Hund eng an sich zieht, und seltsamerweise protestiert Emee nicht, sondern steht still da und lässt sich umarmen.

Während der Regen ihr in die Jacke tropft, macht Thea weiter tiefe, langsame Atemzüge, und einige Minuten später lässt der Panikanfall nach. Sie wischt Tränen und Regentropfen mit dem Jackenärmel weg.

»Gutes Mädchen«, murmelt Thea in das Ohr der Hündin. »Bald ist es vorbei. Wir müssen nur ein bisschen abwarten.«

Aus den Augenwinkeln nimmt sie einen Lichtschein wahr, der aus dem Westflügel kommt. Einen Moment lang glaubt sie, es sei David, doch der hat eigentlich keinen Zugang zum westlichen Teil, und selbst wenn er ihn hätte, hätte er in der kurzen Zeit nicht dorthin gelangen können. Außerdem ist der Schein zu schwach und unstet, um von einer Taschenlampe zu kommen.

Jemand steht in einem der Fenster dort oben. Ein kleiner Mann mit einer Kerze in der Hand, zur Hälfte hinter einem Vorhang versteckt. Quer durch den Regen treffen sich ihre Blicke.

Thea erkennt den Ausdruck in seinen Augen wieder, sieht ihn jeden Morgen und jeden Abend in ihrem Badezimmerspiegel.

Trauer.

Der Mann nickt ihr leicht zu, bläst dann die Kerze aus und wird von der Dunkelheit verschluckt.

5

Walpurgisnacht 1986

In Tornaby entkommt niemand der Vergangenheit. Alles wiederholt sich, wieder und immer wieder, nur mit neuen Gesichtern. Wie ein einziges langes Ritual.

Aber heute Nacht wird sich alles ändern. Alles ist in Bewegung geraten, und der Grüne Mann reitet durch die Wälder.

Hört ihr ihn kommen? Hört ihr ihn meinen Namen flüstern?

Elita Svart, Elita Svart …

Arne bog nach Tornaby ab, kurbelte das Seitenfenster des Polizeiwagens herunter und ließ den Ellbogen hinaushängen. Er fuhr absichtlich langsam, nickte allen, die er traf, mit unbewegter Miene zu, woraufhin die anderen das Nicken verwundert erwiderten: der Eisenwarenhändler, der Maler, die mürrische Briefträgerin, alles Leute, die ihn sonst nie gegrüßt hätten. Er machte kehrt und fuhr die Runde noch ein paarmal. Dann parkte er vor der Sparkasse und stieg aus dem Wagen.

Zwei andere Autos standen schon dort, nämlich der grüne Land Rover des Grafen und der weiße Pick-up, der dem Schlossverwalter Erik Nyberg gehörte. Im Normalfall wäre Arne nicht hineingegangen, denn er hatte seit seiner Kindheit Angst vor Rudolf Gordon. Die älteren Kinder hatten sich gegenseitig Angst eingejagt, indem sie sich Geschichten darüber erzählten, wie der Graf sie fortgejagt hatte, als sie in der Nähe des Schlosses im Wald gespielt hatten, oder wie er die Hunde auf sie gehetzt hatte und ihnen auf dem Pferd nachgefolgt war. Manche hatten sogar behauptet, sie hätten den Grafen in der Walpurgisnacht einmal als Grüner Mann verkleidet durch den Wald reiten sehen, einfach nur, um sie zu erschrecken.

Aber weder Ammenmärchen, Spukgeschichten noch spindeldürre alte Männer machten dem neuen Arne Berg Angst. Er setzte die Uniformmütze auf, rückte das weiße Holster zurecht und betrat die Bank.

Die drei Erbsenzähler, die für Bertil arbeiteten, sahen hinter dem verglasten Schalter auf und schauten erschrocken, was Arnes ohnehin schon gute Laune noch verbesserte.

»Na, wie läuft’s denn so?«, fragte er, so autoritär er konnte. Er schob die Daumen unter den Gürtel und wippte auf den Fersen, wie er es bei älteren Polizeibeamten gesehen hatte.

»Gut«, murmelten die Angestellten fast im Chor.

»Ausgezeichnet«, erwiderte Arne. »Ist der Direktor da?«

»Er hat eine Besprechung«, sagte der Erbsenzähler, der ihm am nächsten saß.

Arne machte ein grimmiges Dienstgesicht, wie er es vor dem Spiegel geübt hatte.

»A-aber ich glaube, sie sind gerade fertig«, fügte der Mann hinzu und drückte auf einen Knopf, der eine Tür zum Schalterraum öffnete.

Arne trat ein. Er wusste, wohin er gehen musste, er hatte seinen Schwager schon oft hier besucht. Bertils Büro befand sich im ersten Stock, darin gab es drei große Fenster, die auf die Hauptstraße hinausgingen. Arne überlegte, ob er die Treppe geschmeidig hinaufspringen oder doch lieber langsamen, gemessenen Schrittes gehen sollte. Er entschied sich für Letzteres und konnte den ganzen Weg hinauf die Blicke der Erbsenzähler spüren.

Die Tür zum Büro seines Schwagers stand offen. Bertil, der Graf und Erik Nyberg standen davor und waren wohl gerade im Begriff aufzubrechen. Arne verlangsamte seine Schritte noch mehr.

»Dann machen wir es so«, hörte er Bertil sagen. »Heute ist der letzte Apriltag, die Pacht muss also heute noch gekündigt werden, wenn ihr nicht noch einen Monat warten möchtet.«

»Erik, kannst du das bitte übernehmen?« Der Graf hatte eine nasale Aussprache, wie viele aus der Oberklasse.

»Ich fahre heute Nachmittag raus«, antwortete der Verwalter.

»Am besten nimmst du noch jemanden mit«, meinte Bertil. »Lasse Svart wird die Kündigung nicht gerade begeistert hinnehmen.«

Bei dem Namen wurde Arne noch etwas hellhöriger.

»Ich weiß, wie man mit Lasse umgehen muss«, sagte Erik Nyberg schroff. »Aber ich nehme Per mit. Der Junge muss lernen, wie man die Dinge in die Hand nimmt.«

»Ich habe gehört, dass aus der Musikakademie nichts wurde«, entgegnete Bertil.

»Nein.« Erik Nyberg wechselte einen kurzen Blick mit dem Grafen. »Wir hielten das für keine gute Idee. Besser, er bleibt zu Hause und lernt einen ordentlichen Beruf.«

»Also, wir müssen jetzt gehen. Danke für deine Hilfe, Bertil«, beendete der Graf das Gespräch.

Die drei Männer gaben sich die Hand, wandten sich zur Treppe und bemerkten erst jetzt Arne. Der Graf sah flüchtig zu ihm hin. Rudolf Gordon ging auf die siebzig zu, war groß und dünn, hatte scharf geschnittene Züge und eingesunkene Augen. Erik Nyberg war dagegen einen Kopf kürzer und hatte ein wettergegerbtes, raues Gesicht, ein Aussehen, für das Arne ihn beneidete und das aus irgendeinem Grund dadurch verstärkt wurde, dass er immer eine zerschlissene Moleskin-Jacke trug.

»Meine Herren«, sagte er, als die beiden Männer vorbeigingen, und tat sein Bestes, um seine dienstliche Miene zu bewahren. Zu seiner Zufriedenheit erhielt er ein Nicken zur Antwort.

»Hallo, Arne.« Bertil klang nicht verlegen, eher ein wenig überrascht.

Arne richtete sich groß auf und wippte wieder auf den Füßen, während der Schwager ihn von oben bis unten musterte.

Bertil war fünfzehn Jahre älter und, seit Arne zehn Jahre alt gewesen war, wie ein großer Bruder für ihn. Eigentlich waren sie gleich groß. Trotzdem hatte Arne das erste Mal in seinem Leben das Gefühl, dass er nicht zu seinem Schwager aufsehen musste.

»Wie schön, Besuch von einem Ordnungshüter zu bekommen. Komm rein.« Bertil machte einen Schritt zur Seite und schlug die Arme aus. »Setz dich!«

Arne sank in einen der Ledersessel, die in der Ecke standen. Das Pistolenholster scheuerte ein bisschen gegen seine Hüfte, er rückte es zurecht. Eine große Zigarrenkiste stand auf dem Tisch, drei Kippen lagen noch im Aschenbecher. Bertil öffnete einen Schrank und holte eine Kristallkaraffe und zwei Cognacgläser hervor, die er auf den Tisch stellte.

»Wir genehmigen uns einen kleinen Schluck und ein paar Züge, oder? Du musst nur versprechen, Ingrid nichts davon zu sagen.«

Arne öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, und er musste sich mit einem kurzen Nicken begnügen.

»Worum ging es gerade?«, fragte er, als sie die Zigarren angezündet und einen Schluck Cognac getrunken hatten. »Mit dem Grafen und Erik Nyberg. Ich habe etwas von Lasse Svart gehört.«

Bertil blies eine graue Rauchsäule an die Zimmerdecke. Er sah aus, als würde er nachdenken.

»Das ist eigentlich geheim …« Er verstummte kurz, zupfte sich einen Tabakkrümel von der Zunge und beugte sich dann vor. »Der Graf hat ein Angebot für das Land um Svartgården bekommen. Die Armee will ihr Übungsgelände ausweiten. Sie bezahlt richtig gut für einen heruntergekommenen Hof und ein paar Hektar Sumpfland.«

Arnes Brust schwoll vor Stolz an, denn er und Bertil waren jetzt zum ersten Mal auf Augenhöhe, und Bertil sprach so vertraulich mit ihm wie noch nie.

»Verrückt! Dann fliegt Lasse Svart jetzt raus.« Arne grinste, begriff aber plötzlich, was das bedeutete. »Was wird dann aus der Familie?«, schob er so schnell hinterher, dass er von dem Zigarrenrauch husten musste.

Bertil zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das ist Lasses Problem. Aber es würde mich wundern, wenn ihm irgendjemand in der Gegend etwas vermieten wollte. Mit seinem Ruf, meine ich. Es wäre wahrscheinlich das Beste für alle, wenn Lasse einfach seine Frauen und sein Hab und Gut nehmen und verschwinden würde.«

Arne versuchte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, aber die vertrauliche Stimmung fühlte sich auf einmal nicht mehr so gut an wie noch vor einem Moment.

Er wusste auch, warum und mit wem das zu tun hatte.

Elita Svart.

6

»Ich habe im Wald etwas gefunden, Margaux. Ein Puzzlestück aus einer anderen Erzählung.«

 

Thea nimmt Emee mit hinunter in den Speisesaal des Schlosspersonals. Dort findet sie ein paar Kerzen, die sie anzündet, dann trocknet sie sich und den Hund notdürftig mit einer alten Decke ab. Es ist kurz nach fünf. Die Erinnerung an die Panikattacke hängt ihrem Körper noch nach und macht sich immer wieder in Form fast unmerklichen Zitterns ihrer Hände bemerkbar.

David läuft zwischen den Räumen hin und her, sie hört ihn telefonieren. In dem Moment, als er zu ihr in den Saal kommt, beendet er das Gespräch.

»Ah, du hast den Hund gefunden. Sehr gut! Tut mir leid, dass ich dir nicht beim Suchen geholfen habe. Hier herrscht das reinste Chaos. Die Tiefkühltruhen und Kühlschränke haben keinen Strom. Ich muss versuchen, irgendwann heute an einen Generator zu kommen, wenn das hier länger dauert.«

Er zieht einen Stuhl heran und setzt sich ihr gegenüber hin. Dann ändert sich sein Gesichtsausdruck, er sieht besorgt aus.

»Bist du okay? Geht es wieder besser?«

Sie nickt.

»Kann ich etwas für dich tun?«

»Alles in Ordnung, David. Ich mache mir eher Sorgen um dich. Wir hatten noch keine Zeit, über das Interview zu sprechen. Was ist da passiert?«

Er macht eine wegwerfende Handbewegung.

»Ach, ich habe nur den Faden verloren. Hatte schlecht gegessen, zu wenig geschlafen und hatte einfach keine Energie mehr. Aber du warst meine Rettung.« Er beugt sich vor und ergreift ihre Hand. »Ohne dich hätte ich alles vermasselt. Ich bin dir wirklich dankbar, Thea.«

Sie lächelt ihn an. Es freut sie, dass er ihr Opfer anerkennt, und an das Risiko, das es trotz allem bedeutet, versucht sie nicht zu denken.

»Wonach hat der Reporter denn gefragt?«

»Was meinst du?«

»Das mit dem dritten Mädchen, das gestorben ist?«

David schüttelt langsam den Kopf. »Eine tragische Geschichte. Ein junges Mädchen, das in den Achtzigerjahren im Schlosswald ermordet wurde. Das ist definitiv nichts, womit wir das Restaurant in Verbindung bringen wollen, deshalb bin ich aus dem Konzept geraten. Aber du hast wie gesagt die Situation gerettet.«

Er lässt ihre Hand los und steht auf, holt das Handy hervor.

»Tut mir leid, ich muss rangehen. Noch mal Securitas.«

Erst als er den Raum verlassen hat, fällt Thea auf, dass das Telefon gar nicht geklingelt hat.

 

Sie wartet, bis es dämmert, und geht dann zum Kutscherhaus zurück, wo sie sich trockene Sachen anzieht. Es hat aufgehört zu regnen, der Himmel wechselt von Rot zu Hellblau. Doktor Andersson kommt erst in zwei Stunden, aber Thea ist zu aufgeregt, um einfach nur die Zeit abzusitzen. Sie beschließt, mit Emee eine Runde durch den Schlosswald zu drehen.