Eisiges Glas - Anders de la Motte - E-Book

Eisiges Glas E-Book

Anders de la Motte

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Beschreibung

Skandinavisches Noir vom Feinsten – raffiniert, atmosphärisch und hochspannend ab der ersten Seite: Anders de la Mottes Schweden-Krimi »Eisiges Glas« Kaum hat Kriminalinspektorin Leonore Asker ihren ersten Fall als Leiterin der Abteilung für hoffnungslose Fälle gelöst, nimmt ihr Vater nach jahrelangem Schweigen Kontakt zu ihr auf. Der Prepper steht unter Verdacht, mit dem Tod eines Urban Explorers in Zusammenhang zu stehen, dessen Leiche ohne Augen aufgefunden wurde – und droht, sich der Verhaftung ohne Hilfe seiner Tochter gewaltsam zu widersetzen. Zur gleichen Zeit erhält Leos Kindheitsfreund Martin Hill den Auftrag, auf einer Privatinsel mit verlassenem Observatorium an einer Biografie zu arbeiten. Bald entdeckt Hill, dass es in der Gegend noch mehr Geschichten gibt – über mysteriöse Lichter und über Körper ohne Augen … Tough, nerdig, ungewöhnlich anders: der 2. Fall für Leo Asker und ihr Team von Außenseitern! Ausgezeichnet als Best Crime of 2023 (Verdens Gang)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 716

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Anders de la Motte

Eisiges Glas

Leonore Askers besondere FälleKriminalroman

Aus dem Schwedischen von Marie-Sophie Kasten

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Anders de la Motte, geboren 1971, arbeitete mehrere Jahre als Polizist in Stockholm und in der Security-Branche, bevor er Schriftsteller wurde. 2010 erhielt er für sein Debüt Game den Preis der Schwedischen Akademie der Krimiautoren. Sein Roman UltiMatum wurde 2015 als bester schwedischer Kriminalroman ausgezeichnet. In Schweden sind seine Romane Nummer-1-Bestseller. Mit Sommernachtstod gelang ihm auch in Deutschland der Sprung auf die Bestsellerliste. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Malmö.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Winter 2019

Der gläserne Mann

Montag

Asker

Hill

Siebzehn Jahre früher

Asker

Der gläserne Mann

Hill

Asker

Der gläserne Mann

Asker

Sechzehn Jahre früher

Hill

Dienstag

Hellman

Asker

Der gläserne Mann

Asker

Vierundzwanzig Jahre früher

Hill

Der gläserne Mann

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Der gläserne Mann

Hill

Asker

Sechzehn Jahre früher

Hill

Asker

Der gläserne Mann

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Mittwoch

Asker

Hill

Der gläserne Mann

Asker

Hill

Der gläserne Mann

Asker

Hill

Sechzehn Jahre früher

Asker

Hill

Asker

Hill

Der gläserne Mann

Asker

Hill

Donnerstag

Asker

Sechzehn Jahre früher

Asker

Hill

Hellman

Der gläserne Mann

Asker

Hill

Hellman

Asker

Hill

Hellman

Hill

Asker

Der gläserne Mann

Freitag

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Der gläserne Mann

Hill

Asker

Hill

Asker

Samstag

Hill

Asker

Hellman

Hill

Der gläserne Mann

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Der gläserne Mann

Sonntag

Hill

Asker

Hill

Hellman

Asker

Der gläserne Mann

Hill

Hellman

Hill

Asker

Hill

Der gläserne Mann

Montag

Asker

Hill

Hellman

Asker

Hill

Asker

Hill

Der gläserne Mann

Hellman

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Hellman

Asker

Hill

Hellman

Hill

Der gläserne Mann

Asker

Hill

Hellman

Asker

Hill

Der gläserne Mann

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Der gläserne Mann

Hill

Zwei Tage später

Asker

Dank des Verfassers

Winter 2019

»Was war das denn?«

Elis kommt beim Rudern aus dem Takt, denn am Boden des kleinen Bootes ist ein bedrohliches Kratzen zu hören.

Nick und er sind seit einer knappen halben Stunde in der pechschwarzen Finsternis unterwegs, und das plötzliche Geräusch hat ihn erschreckt.

»Verdammt! Haben wir ein Leck?«, keucht er, nachdem es ihm gelungen ist, auf dem dunklen See ein, zwei Meter zurückzurudern. Sein Atem bildet eine kleine Dampfwolke in der Luft, bevor er sich in der kalten Nachtluft verflüchtigt.

»Nein«, sagt Nick, der vorne sitzt. »So eine Plastikschüssel lässt sich nicht so schnell versenken.«

Er hebt das Fernglas und starrt in die Dunkelheit.

Elis gibt sich mit der Antwort nicht zufrieden.

»Ich habe doch gesagt, wir hätten die Schwimmwesten mitnehmen sollen«, schimpft er. »Es ist mitten im Winter, das Wasser ist eiskalt. Keine Chance zurückzuschwimmen.«

Er deutet über seine Schulter. Weit hinter ihnen am Ufer, wo sie das Boot gestohlen haben, ist die Außenlampe der Pfadfinderhütte gerade noch zu sehen. Eines der wenigen Lichter in dem Wald, der den See umgibt.

»Sollen wir lieber umkehren? Es bei Tageslicht noch mal versuchen?«

Kaum hat Elis diese Frage gestellt, reißt die Wolkendecke auf. Der Vollmond kommt zum Vorschein und verwandelt die schwarze Wasseroberfläche in flüssiges Glas.

»Sieh mal«, sagt Nick aufgeregt. »Wir sind gleich da. Man kann deutlich den Förderturm und das Observatorium sehen.«

Er zeigt auf die Insel, die vor ihnen aufragt. Das Ufer liegt im Nebel, aber im schwachen Licht des Mondes ist über den Baumwipfeln ein Turm mit einer Kuppel zu erkennen.

Elis durchläuft ein Schauer. Wahrscheinlich wegen der nasskalten Nachtluft, aber ganz sicher ist er sich nicht. Seit sie das Boot vom Steg abgestoßen haben, verfolgt ihn ein ungutes Gefühl.

Er schaut verstohlen zum Festland hinüber.

Es ist weit bis dorthin, zu weit.

Er schiebt sich die Mütze aus der Stirn und fährt sich mit dem Ärmel darüber. Sie sind beide schwarz gekleidet, tragen Handschuhe, Stiefel und Strickmützen.

Die Uniform der Urban Explorer.

Nick lässt das Fernglas sinken und schaut auf die Uhr.

»Bald Mitternacht. Halte dich links und rudere am Ufer entlang, und ich versuche, Steine zu erspähen«, weist er Elis an. »Der Kai müsste auf der Südseite liegen.«

Widerwillig beginnt Elis wieder zu rudern. Das Quietschen der Scharniere vermischt sich mit dem Plätschern des Wassers.

Je näher sie der Insel kommen, desto mehr Umrisse tauchen aus dem Nebel auf. Am Ufer wachsen Kriechfichten auf einem Teppich aus spitzen Steinen, der sich ein ganzes Stück in den See hineinzieht, wo die größten Felsblöcke wie scharfe Raubtierzähne nur wenige Meter vor ihrem Plastikboot aus dem Wasser ragen.

Elis rudert vorsichtig, lässt die Felsen nur aus dem Blick, um ab und an zu dem Licht an der Pfadfinderhütte hinüberzuschielen.

Nick scheint zu merken, dass er Aufmunterung braucht. »Glaubst du, dass diese beiden verrückten Ufo-Typen, die uns die Karte gegeben haben, zu Hause in ihrem Reihenhaus Alien-Pornos anschauen?«, fragt er über die Schulter. »Dass sie sich als Außerirdische verkleiden und Rollenspiele spielen?« Elis verzieht den Mund.

»Bestimmt«, erwidert er. »Ich kapiere immer noch nicht, wie du sie dazu gebracht hast, uns zu helfen.«

»Oh, das war leicht«, lacht Nick. »Ich habe sie davon überzeugt, dass ich auch an die Geschichte mit Ufo-Gunnar Irving glaube, an fliegende Untertassen und Weltraumwesen. Außerdem habe ich ihnen Martin Hills Buch gegeben und The Truth is out there hineingeschrieben. Sie hätten sich vor Aufregung fast in die Hose gemacht.

Elis lacht, mit Humor geht es ein bisschen leichter.

»Da ist der Kai«, sagt Nick.

Aus dem Nebel taucht eine verwitterte Zementbrücke auf, an der schief ein zerbeultes Schild hängt. Im Mondlicht kann man es gerade noch lesen.

»Einsturzgefahr. Zutritt verboten«, liest Nick. »Dann sind wir hier richtig.«

Sie vertäuen das Boot an einer rostigen Leiter, setzen die Rucksäcke auf und klettern hinauf. Elis dreht sich zum Festland um.

Auch an der Südseite ist der See bewaldet und dunkel. Aber auf einer Landzunge auf der anderen Seite steht ein großes, schlossähnliches Gebäude mit gedämpfter Fassadenbeleuchtung. »Wie weit, denkst du, ist es bis Stjärneholm?«, fragt Elis.

»Vielleicht fünf- oder sechshundert Meter«, antwortet Nick. »Deutlich näher als die Pfadfinderhütte. Aber mach dir keine Sorgen, Familie Irving schaut nicht in diese Richtung. Sie ist vollauf damit beschäftigt, nach fliegenden Untertassen Ausschau zu halten.«

Er macht eine übertriebene Geste Richtung Nachthimmel, bevor er sich umdreht und an Land geht.

Elis steht ein paar Sekunden reglos da. Es schaudert ihn wieder, oder vielleicht ist es eher ein Zittern. Das ungute Gefühl lässt ihm keine Ruhe.

 

Wo der Steg an Land stößt, befindet sich eine windschiefe Hütte ohne Tür. Nick hält inne, faltet eine handgezeichnete Karte auseinander und versucht, sich in dem Nebel und dem schwachen Licht zu orientieren.

»Hier entlang!«, sagt er und geht einige Meter am Waldrand entlang. »Hier ist der alte Grubenweg!«

Kaum sichtbar zwischen einigen Fichtenstämmen verläuft eine halb zugewachsene Fahrrinne. Erst als sie vom Wasser aus nicht mehr gesehen werden können, schalten Elis und Nick ihre Stirnleuchten an. Der dichte Nebel im Wald dämpft den Schein ihrer Lampen.

Der Boden ist mit Moos und Farn bedeckt. An manchen Stellen gibt es Sturmholz oder Erdlöcher. Überall ragen schiefe Steine hervor, genau wie die im Wasser.

»Irgendwie unheimlich«, murmelt Elis, ohne zu wissen, warum. Normalerweise fürchtet er sich nicht im Dunkeln, aber die Insel und der Wald jagen ihm aus irgendeinem Grund Angst ein.

Nick wirkt vollkommen unberührt. Er bleibt stehen und leuchtet einen großen Stein am Wegesrand an. Dieser ist hell und feinkörnig und glitzert schwach.

»Rhyolith«, sagt er zufrieden und tätschelt den Felsblock. »Die Insel Blockö ist einer von wenigen Orten in ganz Skandinavien, wo diese Gesteinsart vorkommt. Und sieh mal hier!«

Nick zeigt auf eine Einkerbung im Stein.

»GUS2009«, liest Elis.

»Göinge Ufo sällskap«, grinst Nick. »Sogar der Name ist bescheuert. Aber so wissen wir jedenfalls, dass sie die Wahrheit gesagt haben.«

Nick holt sein Multifunktionswerkzeug heraus und wählt einen spitzen Meißel.

URBX2019 ritzt er in den Stein.

»So, damit beweisen wir, dass wir zumindest genauso weit gekommen sind.«

Sie gehen weiter und folgen den Reifenspuren. Der Wald steht hier so dicht, dass sie mehrfach gezwungen sind, Zweige zur Seite zu schieben, um voranzukommen. An einer Stelle ist der Weg fast einen Meter tief abgesunken.

»Grubenlöcher«, sagt Nick. »Die ganze Insel ist wie ein Schweizer Käse. Die Gänge sind voller Wasser und können jeden Moment einstürzen. Uns ertränken, wie diese armen Kerle 1965.«

Er lacht, aber Elis findet das nicht so komisch. Der Gedanke an das schwarze Wasser unter seinen Füßen bereitet ihm Unbehagen.

Nach einigen Hundert Metern taucht am Rand ihrer Lichtkegel etwas Großes auf. Ein hohes, braunfleckiges Eisengatter, an dem graue Flechten wie riesige Spinnennetze zwischen dem Maschendraht hängen.

Über das Gatter erstreckt sich ein Metallbogen mit rostigen Buchstaben.

STJÄRNGRUVAN.

Weiter unten, zu beiden Seiten der schweren Kette, die das Gatter verschließt, hängen zwei Schilder. Das erste gleicht dem unten am Steg.

Einsturzgefahr. Zutritt verboten!

Auf dem zweiten Schild steht nur ein Wort.

GEFAHR!

Nick steht schon am Tor und befühlt die Kette.

»Nichts zu machen«, stellt er fest. »Und an diesem rostigen Teil hochklettern und mir Wundstarrkrampf holen, will ich nicht wirklich, oder was meinst du?«

Er leuchtet mit der Stirnlampe nach oben. Das Tor und der Zaun daneben sind bestimmt vier Meter hoch. Ganz oben befindet sich ein y-förmiger Überhang mit rostigem Stacheldraht.

»Aber dank unserer Ufo-Freunde haben wir eine Hintertür.« Nick schaut noch einmal auf die Karte und folgt dem Zaun links von ihnen.

Elis starrt noch immer auf das Tor. Er hat schon oft Warnschilder gesehen und sich nie darum gekümmert. Aber diese hier beunruhigen ihn.

Der Rost, die Typografie, die verblichene gelbe Farbe. Vielleicht liegt es auch nur an der kurzen Botschaft.

GEFAHR!

Er muss schlucken.

»Worauf zum Teufel wartest du?«, flüstert Nick ihm zu. »Komm jetzt!«

Widerwillig reißt Elis den Blick vom Schild los und folgt seinem Freund.

Kurz darauf bleibt Nick an einem großen Busch stehen, der durch den Zaun hindurchwächst. Er schaut noch einmal auf die Karte, bückt sich und kriecht in den Busch hinein.

»Hier ist es!« Er hält ein paar Zweige hoch, wodurch ein Wildwechsel unter dem Zaun zum Vorschein kommt.

Das Loch ist nicht groß, sie müssen zuerst ihre Rucksäcke unter dem Zaun hindurchschieben, bevor sie selbst hinterherkriechen können.

»Verdammt«, keucht Nick, als sie auf der anderen Seite des Busches herauskrabbeln, und klopft sich Erde und Laub von der Hose.

»Erstaunlich, dass die beiden dicken Ufo-Typen das geschafft haben. Wobei es natürlich zehn Jahre her ist, vielleicht waren sie damals noch beweglicher.«

Elis hört nicht zu. Er ist vollauf damit beschäftigt, mit seiner Stirnlampe die Gegend abzuleuchten. Trotz der Spannung lässt ihn die Unruhe nicht los. Der Bereich hinter dem Zaun weist eine andere Vegetation auf. Kein Fichtenwald mehr, sondern natürlich gewachsene Birken, deren Stämme gespenstisch bleich schimmern. Im Nebel hinter den Birken bilden die Grubengebäude große, bedrückende Schatten.

»Endlich«, sagt Nick aufgeregt. »Bist du bereit für eine Zeitreise ins Jahr 1965?«

Elis antwortet nicht.

Das Gras geht hier allmählich in kahlen Betonboden über, und je näher sie den Gebäuden kommen, desto mehr zerborstene Steine liegen verstreut, bis die Landschaft sich öffnet und ein Vorplatz zwischen zwei düsteren Gebäuden erkennbar wird. Das rechte Gebäude ist doppelt so groß wie das andere. Satteldach und Wände sind aus rostigem Blech. Ganz oben auf dem Dach befindet sich eine Reihe von Fabrikfenstern.

Nick richtet den Schein seiner Lampe darauf.

»Siehst du, die Fenster sind ganz. Und es gibt auch keine Schmierereien.«

Elis weiß, dass das gute Nachrichten sind, denn es bedeutet, dass hier schon lange niemand mehr war, dennoch fällt es ihm schwer, das gebührende Maß an Begeisterung aufzubringen. Sie befinden sich mitten auf einer einsamen Insel, in einem eiskalten, dunklen See, und niemand weiß, dass sie hier sind. Zudem ist die gesamte Insel von überfluteten Grubengängen durchzogen, die jederzeit einstürzen können.

Er schaut auf sein Handy. Ein einziger kleiner Balken ist zu sehen, was seine Laune nicht verbessert.

»Mieses Netz, stimmt’s?«, bemerkt Nick. »Die Ufo-Typen hatten die Theorie, dass die Außerirdischen die Signalwellen stören. Als sie davon gesprochen haben, haben sie richtig glänzende Augen bekommen. Aber ich habe einen Kumpel bei Telia, der meint, es liegt einfach daran, dass sich der See in einem tiefen Krater befindet und die Mobilfunksignale deshalb kaum bis hierher vordringen. So much for fucking X-Files.«

Er geht an den Fabrikgebäuden entlang. Elis steckt sein Handy weg und folgt ihm.

Der Mond schaut wieder hervor, und am anderen Ende des Platzes sieht er einen großen, düsteren Betonturm aus Nebel und Dunkelheit emporragen.

Der Turm ist sicher fünfzehn Meter hoch. An den Seiten ist er offen, sodass man durch die dreistöckige Konstruktion hindurchsehen kann.

»Das ist der Förderturm«, sagt Nick und leuchtet mit der Lampe das dunkle Gebäude ab. »Hier kamen die Wagen aus der Grube. Und da oben …«

Auf dem Flachdach des Turms, neben dem Förderrad, kann man die dunkle Kuppel erahnen, die sie bereits vom Wasser aus gesehen haben.

»Bernhard Irvings Observatorium«, murmelt Elis. Endlich stellt sich ein Gefühl der Spannung bei ihm ein. Vertreibt das Unbehagen.

»Genau«, lächelt Nick. »Die Stelle, an der das riesige Wesen mit den roten Augen gelandet ist.«

Unter ihren Schritten knirscht es, als sie weitergehen, und als Elis den Boden beleuchtet, entdeckt er, dass zwischen den Steinen schwarze Glasscherben liegen.

»Ganz schön ordentliche Dinger«, sagt Nick, als er die sechs Betonpfeiler betrachtet, auf denen der Turm ruht. »Die stehen bestimmt noch hundert Jahre.«

An einer moosbewachsenen Platte im Boden bleibt er stehen.

»Und hier drunter befindet sich der Grubenschacht. Der Eingang zur Unterwelt.«

»Mm«, brummt Elis.

Er sucht nach einer Möglichkeit, den Turm zu erklimmen. Bis zur ersten Ebene sind es sicher sieben oder acht Meter. An der linken Seite verläuft in Zickzackform eine Stahltreppe, aber der Abschnitt vom Boden bis zur ersten Plattform fehlt.

»Die Treppe ist gekappt worden, genau wie die Ufo-Spinner erzählt haben.«

»Wie gut, dass uns das nicht aufhält.« Nick klopft auf Elis’ Rucksack. »Aber bevor wir das Seil nehmen, habe ich eine andere Idee. Sieh mal!«

Er leuchtet mit seiner Stirnlampe auf das mittlere Geschoss des Turms, von wo aus ein Steg zum Fabrikgebäude hinunterführt und in einer Dachgaube mit Holzluke endet.

»Da sind bestimmt die Förderwagen reingerollt, wenn sie mit dem Aufzug hochkamen. Es muss dort also Schotter geben und vielleicht eine Treppe, die nicht gekappt wurde. Das wäre deutlich einfacher, als an einem blöden Seil zu baumeln, oder was meinst du?«

Elis kann ihm nur zustimmen. Er wiegt sicher fünfzehn Kilo mehr als Nick und vermeidet es zu klettern.

Die Tür zum Fabrikgebäude ist abgeschlossen, aber als Elis am Griff rüttelt, knarzt der Rahmen bedenklich. Die beiden Männer sehen sich an.

Nick setzt seinen Rucksack ab und holt eine Brechstange heraus. Sie wissen beide, dass das gegen die Regeln verstößt. Urban Explorer dürfen nirgendwo einbrechen. Aber dieses Mal ist es ein besonderer Fall. Once in a lifetime.

Die Tür gibt sofort nach. Sowie Nick ein bisschen Druck auf die Brechstange ausübt, öffnet sie mit einem kurzen Knall.

Dahinter erwartet sie eine große, dunkle Halle, in der es nach Steinstaub, Öl und Taubendreck riecht.

In der Mitte der Fabrikhalle steht eine große Schotteranlage, die fast bis zur Decke hinaufreicht. Direkt daneben führt eine schmale Kellertreppe zu einer geschlossenen Tür. Normalerweise würden sie dort anfangen und so tief wie möglich in das Gebäude hinuntersteigen, bevor sie sich methodisch wieder hinaufarbeiteten.

Aber heute Nacht gelten die üblichen Regeln nicht.

Sie richten ihre Lampen zur Decke. Dort oben, von Holzpfeilern gestützt, verläuft der Steg, den sie von draußen gesehen haben.

»Bingo!« Nick leuchtet auf eine Holztreppe unterhalb des Eingangs.

Ein plötzliches Geräusch schreckt sie auf. Etwas flattert oben auf der Treppe auf, schwingt sich in die Luft und verschwindet in die Dunkelheit der Fabrikhalle.

»Tauben«, seufzt Elis erleichtert. »Man erschrickt jedes Mal wieder.«

»Zumindest einer von uns«, grinst Nick. »Du kommst mir heute Nacht besonders schreckhaft vor. Hast du etwa Angst vor den Außerirdischen mit den leuchtenden Augen?«

»Arsch«, brummt Elis.

Nick betritt als Erster die knarrende Treppe.

Die Luke in der Dachgaube lässt sich leicht öffnen. Der Steg zum Förderturm ist ungefähr fünf Meter lang und erweist sich als Schmalspurbahngleis, das zum Fabrikgebäude hin stark abfällt. Zwischen den beiden Schienen verlaufen Querstreben aus Metall, wodurch die gesamte Konstruktion an eine Leiter erinnert.

Nick setzt vorsichtig den Fuß auf die erste Strebe, bevor er sich vorbeugt, mit den Händen nach jeweils einer Schiene greift und losklettert. Elis verfolgt neidisch seine geschmeidigen Bewegungen.

»Easy peasy!«, stellt Nick fest, nachdem er den Turm erreicht hat. »Du bist dran!«

Elis kopiert Nicks Klettertechnik. Er versucht, dabei nicht nach unten zu schauen. Nicht, weil er Höhenangst hat, aber das Gefühl über eine sechzig Jahre alte Metallkonstruktion zu krabbeln, ist nicht besonders angenehm, auch ohne dass man weiß, wie tief man fallen kann. Vor allem, wenn der Boden darunter aus Steinen und Glasscherben besteht. Gerade als er den Turm erreicht, gibt das Metall einen lauten Knall von sich, der zwischen den Gebäuden widerhallt, sodass sein Herz ein paar Sprünge macht.

Elis wischt sich den Schweiß von der Stirn, der trotz der Kälte unter seiner Mütze ausbricht. Sie befinden sich auf dem zweiten und mittleren Geschoss des Turms. Wie erwartet, führen die Gleise weiter bis zu einem großen Loch im Boden, wo der Aufzug mit den vollen Loren hinaufkam.

Nick ist bereits um das Loch herumgegangen und hat die äußere Treppe erreicht. Elis folgt ihm. Sie sind jetzt ziemlich weit oben, mindestens zehn Meter.

Über ihnen geht die Treppe im Zickzack weiter bis zum Dach hinauf. Nicks energische Schritte über das Stahlgitter lassen sie vibrieren. Elis eilt ihm hinterher.

Sie erreichen die eine Längsseite, gehen hinaus und stellen sich in die Mitte des Daches. Rechts von ihnen hängt das rostige alte Förderrad, links erhebt sich die dunkle Kuppel.

»Bernhards Observatorium.« Nick klingt beinahe feierlich.

»Nicht verwunderlich, dass er es hier oben gebaut hat«, sagt Elis und deutet über die Baumwipfel. »Man sieht den ganzen See.«

Sie befinden sich über der Nebelbank, die sich über das schwarze Wasser ausgebreitet hat. Hinter dem See erstrecken sich bewaldete Abhänge, die zu allen Seiten gleich hoch und steil sind.

»Als würde man in einem Trichter stehen. Sieh mal da oben. Wow!«

Durch Risse in der Wolkendecke sind der Vollmond und der Sternenhimmel zu sehen. Die Himmelskörper wirken hier klarer und heller als sonst.

»Das restliche Licht wird von den Rändern des Kraters verdeckt«, sagt Nick. »Sogar Stjärneholm ist kaum beleuchtet.«

Elis dreht sich um und folgt seinem Blick. Das Gut auf der anderen Seite des Wassers ist deutlich zu erkennen, aber die Außenbeleuchtung ist ungewöhnlich sparsam für ein Gebäude dieser Größe. Er richtet den Blick wieder auf das Observatorium.

»Echt unglaublich.«

»Ich hab doch gesagt, dass es das wert ist.« Nick klopft ihm auf den Rücken. »Komm jetzt, dann schauen wir, wie es innen aussieht.«

Der untere Teil des Observatoriums besteht aus Beton, die Kuppel selbst ist mit abblätterndem rostigem Blech versehen. Direkt vor ihnen befindet sich eine gewöhnliche Tür. Nick drückt das Brecheisen in den Türspalt, so nah wie möglich am Schloss. Es knackt in der Tür, aber sie gibt nicht nach. Daraufhin stemmt er sich mit dem Fuß gegen die Wand und versucht es noch einmal, jedoch mit dem gleichen Resultat.

»Warte, ich versuche es mal«, sagt Elis. Er stellt den Fuß gegen die Wand, genau wie Nick, und hängt sich mit seinem ganzen Gewicht an die Brechstange. Mit einem dumpfen Knall schlägt die Tür auf, wobei er nach hinten stürzt.

Als er sich wieder aufrappelt, ist Nick schon im Observatorium verschwunden.

»Scheiße!«, ruft er. »Komm rein und sieh dir das an!«

Die Innenseite der Kuppel besteht aus schwarz gestrichenem Holz. Eine Plattform am Boden zeigt, wo einmal das Teleskop gestanden haben muss.

Aber es gibt etwas anderes hier, was Nicks Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Fast um die gesamte Kuppel herum verläuft ein Regal, gefüllt mit lauter seltsamen Dingen. Bücher, vergilbte Zeitschriften, ein paar ungleiche Kaffeetassen, dunkle Glasbehälter mit trübem Inhalt.

In einem Bereich des Regals befindet sich eine Menge unheimlicher Plastikköpfe in unterschiedlichen Größen. Von Puppen, Actionfiguren, sogar der Kopf einer Schaufensterpuppe. Ihre Augenhöhlen sind alle leer. Sie starren blind in den dunklen Raum hinein. Elis stellen sich die Nackenhaare auf.

»Schau!«

Nick leuchtet zur Decke.

Erst jetzt sieht Elis, dass an der Innenseite der Kuppel Gegenstände befestigt sind.

Blaue, braune, große, kleine.

Aus Papier, Plastik, Glas. Aus Zeitungen ausgeschnitten, aus Puppenköpfen herausgelöst.

Ein Schauer überläuft Elis, der zu einem Beben wird.

Die Decke hängt voller Augen.

Hunderten von Augen.

»Was verdammt ist das …?«, flüstert Nick.

Elis erwidert nichts. Ein neues Gefühl beginnt, in ihm zu wachsen. Mit jedem Atemzug wird es stärker, während ihn die Augen von oben anstarren.

»Sieh mal das hier.«

Nick leuchtet eine grüne Plastikfigur mit abstehenden Antennen an. Ein Außerirdischer. Als er ihn mit dem Finger antippt, geraten die Antennen ins Schwingen.

»Sollen wir den diesen Spinnern mitbringen, als Dank für ihre Hilfe?«

»Fass das nicht an«, sagt Elis.

Nick lacht.

»Warum denn nicht?«

Elis weiß darauf keine gute Antwort. Aber das neue Gefühl wächst weiter.

Nick nimmt die Kamera aus dem Rucksack und beginnt, in schneller Folge Fotos zu knipsen.

Das starke Blitzlicht flackert durch die Kuppel. Wird von Glas, Metall und Plastik reflektiert. Und von den Augen an der Decke.

Blitz.

Finsternis.

Blitz.

Finsternis.

Als würden die Augen zwinkern.

Sich bewegen.

Sie beobachten.

Elis wird eiskalt.

Das wachsende Gefühl wird plötzlich zu einer Überzeugung.

Das hier ist kein vergessener Ort. Keine verlassene Ruine.

Jemand besitzt diesen Raum. Jemand, der wichtige Gegenstände gesammelt und sie sorgsam aufgestellt hat. Der sich in der Kuppel ein kleines Heiligtum aufgebaut hat, dessen Bedeutung Elis nicht begreift. Aber eines weiß er sicher.

Jetzt in diesem Moment, an diesem Ort, sind er und Nick nicht Urban Explorer.

Sie sind Einbrecher.

Er denkt an das Schild am Tor draußen.

GEFAHR!

Dann an den hohen Zaun, an dem zu beiden Seiten Stacheldraht überhing.

Auf den ersten Blick, um Unbefugte draußen zu halten. Aber vielleicht genauso gut, jemand anderen hier innen.

»Wir müssen gehen«, murmelt er.

»Erst, wenn ich fertig mit Fotografieren bin.«

Nick feuert weiter seine Blitze ab. Dabei läuft er so aufgeregt herum, dass er an das Regalbrett stößt und einer der dunklen Glasbehälter herunterstürzt und mit einem dumpfen Knall zu Bruch geht.

Der Inhalt, eine stark alkoholisch riechende Flüssigkeit und etwas, das nach kleinen weißen Kugeln aussieht, ergießt sich über den Boden.

Elis springt erschrocken zurück.

Verschieden große Augen rollen über den Beton.

Sie stammen nicht von Puppen oder Spielsachen. Diese sind von Wesen, die einmal lebendig waren.

Elis und Nick stehen ein paar Sekunden starr, ihre Stirnlampen auf den Boden gerichtet.

»Was zum Henker …«, stößt Nick aus. »Sind das Tieraugen?«

Die Aufregung hat seine Stimme verlassen. Jetzt klingt er zögerlich. Ängstlich.

»Wir müssen hier weg«, wiederholt Elis. »Jetzt sofort.«

Diesmal hört Nick auf ihn.

Draußen ist der Nachthimmel inzwischen fast vollständig von Wolken bedeckt, und das Mondlicht wird immer fahler. Sie rennen zur Treppe.

Auf halbem Weg hören sie wohlbekannte Geräusche aus der Dunkelheit.

Das Schlagen von Flügeln hallt durch die Fabrik.

»Die Tauben«, sagt Nick. »Etwas muss sie aufgeschreckt haben.«

Sie laufen schnell zum Rand des Turms. Von dort aus können sie in die offene Dachluke hineinsehen.

Unten in der Fabrik ist ein rotes Licht zu sehen. Es bewegt sich rasch in ihre Richtung, verschwindet aus ihrem Blickfeld, wird vom Knarren der Holztreppe ersetzt.

»Da kommt jemand«, zischt Nick.

Sie schalten die Stirnlampen aus und stürzen zur Stahltreppe.

»Das Seil«, sagt Elis. »Wir können uns vom gekappten Teil aus runterlassen.«

Er wartet die Antwort nicht ab, sondern rennt hinunter, wobei er sich gleichzeitig den Rucksack vom Rücken zerrt, um an das Seil und die Karabinerhaken zu kommen.

Da verschwindet das Mondlicht komplett und taucht die Treppe in Dunkelheit. Elis hätte fast die letzte Stufe verpasst. Im letzten Moment kann er nach dem Geländer greifen, sonst wäre er ins Leere gestürzt.

Nick ist dicht hinter ihm und muss abrupt stoppen, und Elis bedeutet ihm, still zu sein.

Durch ihr heftiges Keuchen hindurch hören sie deutlich das Geräusch von vibrierendem Metall. Wie Peitschenhiebe hallt es durch das Gebäude. Jemand kommt den Steg herauf. Jemand, der größer und schwerer ist als sie.

»Beeil dich«, zischt Nick.

Sie befestigen gemeinsam die Karabinerhaken am Geländer und werfen dann die Rucksäcke hinunter. Elis greift mit beiden Händen nach dem Seil. Gleitet rückwärts über die letzte Stufe und weiter in die Dunkelheit. Über sich sieht er Nicks Füße auf dem Gitter der letzten Treppenstufe.

»Komm schon!«, ruft er leise, aber Nick bewegt sich nicht. »Komm schon, Nick«, wiederholt Elis, während er sich ein Stück hinuntergleiten lässt. Da spürt er eine Bewegung im Seil. Eine stärker werdende Vibration. Schwere Schritte auf der Treppe.

»Nick!«, ruft er, aber sein Freund scheint erstarrt zu sein. Er steht zur Treppe gewandt, wo die Schritte rasch näher kommen.

Elis gleitet noch ein Stück abwärts.

»Nick!«

Er verstummt, als er durch das Gitter eine hünenhafte Silhouette erkennt, die langsam auf sie zukommt. Um ihren Kopf leuchtet es rot.

Elis’ Herz setzt kurz aus. Ein riesiges schwarzes Wesen mit roten Augen, genau wie in der Ufo-Legende. Er schnappt nach Luft.

Die Schritte kommen weiter auf sie zu.

Bumm.

Bumm.

Bumm.

Der Schrei kommt so unerwartet, dass Elis sich fast in die Hose gemacht hätte, aber zugleich bringt er sein Herz zum Rasen.

Es ist Nick, der schreit, der vor Schreck aufbrüllt.

Der immer weiter schreit, obwohl er längst wieder Luft holen müsste.

Dann endet das Brüllen abrupt. Stattdessen ertönt ein hässliches Knirschen.

Elis sieht, wie Nicks Füße die Treppenstufe verlassen. Seine Zehen schweben ein paar Handbreiten nach oben, als würde das Wesen ihn einfach in die Luft heben.

Dann fließt etwas Feuchtes, Warmes durch das Treppengitter, trifft Elis im Gesicht. Er muss blinzeln.

Blut.

Nicks Blut.

Als Elis die Augen wieder öffnet, sieht er Nicks Körper nur wenige Zentimeter entfernt durch die Luft fliegen. In der nächsten Sekunde schlägt er mit einem matten Schlag auf dem Boden auf.

Elis blickt nach oben.

Durch das Treppengitter starrt das Wesen auf ihn herab. Das Gesicht liegt im Dunkeln, und wo die Augen sitzen müssten, sind nur zwei große, rote Kugeln.

Elis ist vor Schreck gelähmt.

Das Wesen greift nach den Karabinern und löst scheinbar mühelos das Seil. Ein paar Sekunden hält er Elis in der Luft, die roten Augen auf ihn geheftet.

Dann lässt das Wesen das Seil los.

Lässt ihn fallen.

Elis landet hart, sein Brustkorb schlägt auf einen Stein. Er ringt nach Atem, glaubt das Brechen seiner Rippen zu hören. Aber zumindest ist er nicht auf den Glasscherben gelandet.

Nick liegt ein paar Meter entfernt. Elis kriecht zu ihm, schaltet die Stirnlampe ein. Noch bevor er den schlaffen Körper seines Freundes berührt, weiß er, dass dieser tot ist.

Nicks Gesicht ist kreideweiß, die Augen verdreht, die Zunge hängt ihm halb abgebissen zwischen den krampfartig geschlossenen Kiefern, das Kinn ist blutverschmiert.

Elis dreht sich der Magen um, aber er hat keine Zeit, sich zu übergeben.

Nicht, wenn er überleben will.

Er hört von oben schon Schritte. Das Wesen bewegt sich Richtung Steg, um in die Fabrik zurückzukehren. Um ihn zu finden und seine Arbeit zu beenden.

Elis rappelt sich auf, zwingt seine Beine zum Gehen. Die Fußknöchel schmerzen, aber zu seiner Überraschung tragen sie ihn dennoch.

Schlimmer steht es um den Brustkorb. Jeder Atemzug schneidet ihm in die Lunge. Aber sein Herz schlägt schnell, pumpt Adrenalin durch seinen Körper, sodass er trotz Schmerzen funktioniert.

Der Kegel seiner Stirnlampe dringt durch die Dunkelheit, als er Richtung Zaun rennt. Da hört er, wie die Tür zur Fabrik aufgestoßen wird. Dann Schritte über den Kies.

Er dreht sich nicht um. Stürzt so schnell er kann auf das Gebüsch zu. Wirft sich hinein, kriecht auf allen vieren zum Wildwechsel. Spitze Dornen reißen ihm das Gesicht auf, stechen ihm in Knie und Ellbogen.

Im Schein der Lampe entdeckt er den Durchgang. Er drückt sich so flach wie möglich auf den Boden, beginnt, sich unter dem Zaun durchzuschlängeln.

Hinter sich hört er Zweige knacken und ein dumpfes Brummen, wie von einem Tier. Elis bewegt sich so schnell er kann vorwärts.

Der Durchgang ist für das Wesen viel zu schmal, aber er kann es schaffen.

Er ist fast auf der anderen Seite, als seine Hose am Maschendraht hängen bleibt.

Er rollt sich auf den Rücken, reißt und zerrt mit den Händen an seinem Bein. Der spitze Draht dringt durch den Stoff und bohrt sich in sein Fleisch.

Währenddessen kommt das Brummen näher, und auf der anderen Seite des Zauns taucht ein riesiger Schatten mit roten Augen auf.

Elis’ Herz rast. Er zerrt noch einmal an seinem Bein. Der Draht reißt ein Stück Haut mit, bevor er nachgibt, aber Elis spürt es kaum. Er ist durch, das Wesen sitzt auf der anderen Seite fest.

Elis dreht sich wieder auf den Bauch. Er findet Halt und kommt langsam wieder auf die Füße.

Er will gerade losrennen, da greift etwas nach seinem Fußgelenk.

Reißt ihn so gewaltsam zu Boden, dass seine Stirnlampe vom Kopf fliegt.

Verzweifelt krallt er die Finger in den weichen Untergrund und tritt mit dem freien Fuß nach hinten.

Schreit, dass es ihm fast die Lunge zerreißt.

Aber es hilft nichts.

Das Wesen zieht ihn durch den Zaun zu sich zurück.

Weg vom Schein der Lampe.

Hinein in die Finsternis.

Der gläserne Mann

Er erwacht widerwillig. Kämpft mit aller Macht dagegen an, um länger in diesem Abgrund bleiben zu können.

In der tiefen nachtschwarzen Finsternis, in die er hineingehört.

Aber wie immer ist sein Widerstand zwecklos.

Er hat das Erwachen schon eine Weile gespürt, die kleinen Signale wahrgenommen, die sich ihren Weg zu ihm hinunterbahnen. Dumpfe Stimmen, die Geräusche verschiedener Apparaturen. Dann das Gefühl, wie die Schwerelosigkeit allmählich nachlässt, wie er an die Oberfläche geholt wird.

Gezwungen wird, in seinen Körper zurückzukehren.

Dieses Gefühl hasst er mehr als alles andere.

Denn er weiß, was es mit sich bringt.

Unbehagen, Leid, Schmerz.

 

Langsam öffnet er die Augen. Der Raum ist kühl und dunkel, das einzige Licht stammt von den kleinen Leuchtdioden an den Maschinen um sein Bett herum.

Trotzdem ist es die Grenze dessen, was seine Augen vertragen.

Das ist der Preis, den er bezahlt, um zwischen den Welten zu wandern.

Zumindest flüstern sich das die Diener zu, wenn sie glauben, dass er sie nicht hört.

Bald werden sie hier sein. Einer oder mehrere von ihnen, denn die Maschinen haben ihnen bestimmt schon mitgeteilt, dass er wieder da ist.

Dass ihre Arbeit bald wieder beginnt.

Genau wie sein Leiden.

 

Er schließt zitternd die Augen. Sein Körper ist schwach, und die Kälte in ihm wird sich noch lange halten. Aber wenn sie dann von ihm ablässt – wenn seine Kraft wiederkommt – wird er sie aufsuchen.

Die, die sich immer in seinen Gedanken findet.

Er wird sie wie üblich aus der Ferne beobachten, verborgen zwischen den Schatten.

Eines Tages wird er ihr erzählen, was er tief unten im Abgrund gesehen hat.

Wird von Tod und Verwesung berichten, von Insekten, Würmern und namenlosen blinden Wesen, kriechend, krabbelnd, schlängelnd.

Und von der Reise in die ewige, eiskalte Finsternis, von der niemand je wieder zurückkehrt.

Niemand – außer ihm.

Montag

 

 

 

 

 

 

 

 

Asker

»Hallo Leo, hier ist dein Vater.«

Kriminalkommissarin Leo Asker drückt sich den Hörer ans Ohr. Die Narbe an ihrem Arm juckt unerbittlich, der Puls pocht gegen ihr Trommelfell. Ihr kleines Büro im Geschoss minus eins, die angeschlagenen Mitarbeiter der Abteilung für verlorene Seelen, Jonas Hellman, der sie um ihre Ermittlung gebracht hat, Martin Hill, Smilla Holst, Julia, der Troll und sein furchtbarer Berg. Das alles verwandelt sich in ein einziges Rauschen am Rand ihres Bewusstseins.

Das Einzige, was ihr Hirn deutlich registriert, ist die heisere, tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung. Seit fünfzehn Jahren hat sie sie nicht mehr gehört, trotzdem wird ihr innerlich sofort kalt.

»Also, Leo«, sagt ihr Vater. »Wie ich gehört habe, bist du eine richtig fleißige Polizistin geworden. Ein loyaler Lakai der Macht. Eine einfache kleine Staatsbeamtin. Deine Mutter muss genauso enttäuscht sein wie ich.«

Asker presst die Kiefer zusammen.

»W-was willst du?«, bringt sie hervor.

Es stört sie, dass sie stottert. Und auch ihr Ton. Sie klingt wie ein verschreckter Teenager.

Natürlich entgeht Per das nicht. Er genießt ihre Unsicherheit und Angst.

»Das fragst du dich, nach allem, was ich für dich getan habe …«, sagt er. »Und nach allem, was du für mich getan hast. Du hast dafür gesorgt, dass ich zwischen Verrückten eingesperrt wurde, vollgedröhnt mit Medikamenten wie ein sabbernder Idiot. Ich habe dir für diese Erfahrung nie richtig gedankt.«

Seine Stimme lässt ihr Hirn wieder klarer werden. Per lenkt dieses Gespräch, reizt sie, glaubt, zu wissen, wer sie ist.

Sie füllt ihre Lungen mit Luft, kneift die Augen zusammen und atmet langsam durch die Nase aus. Ihr Puls wird ruhiger, der Teenager Leo zieht sich zurück in ihr Unterbewusstsein.

»Was willst du, Per?«, fragt sie jetzt mit robuster Stimme.

Es entsteht eine kurze Pause.

»Man wird mich bald wegen Mordes verdächtigen«, sagt er. »Eine Leiche ist in unmittelbarer Nähe der Farm aufgetaucht. In ein paar Tagen wird die Polizei kommen, um mich festzunehmen.«

Asker zuckt zusammen. Das Gespräch, das ihr ohnehin schon unwirklich erschien, hat nun vollkommen den Bezug zur Realität verloren.

»Warum?« Sie klingt erstaunlich gefasst.

»Weil jemand versucht, mich dranzukriegen«, sagt Per. »Und weil der Staat nur auf eine Gelegenheit wartet, mich für immer wegzusperren.«

Er macht wieder eine Pause, aber diesmal schweigt Asker.

Per Asker, der Vater, zu dem sie seit fünfzehn Jahren keinen Kontakt mehr hatte, seit er versucht hatte, sie beide in die Luft zu sprengen, ruft plötzlich an, um ihr zu sagen, dass man ihn des Mordes verdächtigen wird. Wieso?

»Wie du dir sicher denken kannst, habe ich hin und her überlegt«, fährt er in überheblichem Ton fort. »Meine Möglichkeiten durchgespielt.«

Und plötzlich wird Asker die Antwort auf ihre Frage klar.

»Und wie es so scheint, bist du meine beste Alternative, Leo. Du bist die Einzige, die fähig genug ist, die Sache zu klären.«

Asker kneift die Augen zusammen und wiederholt ihre Atemübung.

»Und warum sollte ich das tun?«, fragt sie so ruhig wie möglich.

»Du meinst, dass die Liebe zu deinem Vater kein ausreichender Grund ist?«

Sie beißt sich auf die Lippe, wartet ab.

»Okay, Leo. Lass mich direkt zur Sache kommen«, sagt er bedächtig. »Wenn du mir nicht hilfst, werde ich mich sicher nicht freiwillig ergeben. Und wenn jemand weiß, wozu ich fähig bin, dann du. Du weißt, dass ich mich jahrelang vorbereitet habe. Wer auf die Farm kommt, um mich mit Gewalt fortzuschaffen, wird es bitter bereuen.«

Per macht eine übertrieben lange Pause, um die Worte sacken zu lassen.

»Vielleicht ist dir dein Vater egal«, spricht er weiter. »Aber kannst du damit leben, das Blut deiner Kollegen an den Fingern kleben zu haben? Mit dem Wissen leben, dass du alles hättest verhindern können. Und was würde nach so einer Sache von deiner Karriere übrig bleiben, glaubst du?«

Wieder verstummt er, und für eine Sekunde fragt Asker sich, ob er aufgelegt hat. Aber sie spürt seine Anwesenheit durch den Hörer hindurch.

»Entscheide dich schnell, bevor es zu spät ist, liebe Tochter«, raunt er.

Dann wird die Verbindung unterbrochen.

Hill

Das Taxi bleibt vor einem gläsernen Gebäude stehen, welches sich im Zentrum des Technologieparks befindet, der im Osten von Lund entstanden ist. Nachdem Martin Hill mühsam ausgestiegen ist, muss er sich erst einmal auf seine Krücke stützen, die man ihm im Krankenhaus mitgegeben hat.

Natürlich hätte er noch ein paar Tage dort bleiben sollen, bis die Ärzte und er selbst sicher sein konnten, dass die Schussverletzung an seinem Schenkel ordentlich heilte und keine Komplikationen entstanden.

Aber er hat schon zu viel Zeit seines Lebens in Krankenhäusern verbracht. Er verabscheut den Geruch, die Geräusche und den Gedanken an seine eigene Sterblichkeit.

Zumindest ist es das, was Sofie vermutet.

Sie ist inzwischen zu ihrem Mann nach Brüssel zurückgefahren, der allmählich ahnt, dass ihre Schwedenreisen nicht nur mit ihrer Arbeit zu tun haben, sondern damit, dass sie einen anderen hat.

Normalerweise wäre Hill mit diesem Handlungsverlauf nicht unzufrieden gewesen. Er mag Sofie, könnte sich eine Zukunft mit ihr durchaus vorstellen.

Aber das war, bevor Leo Asker wieder aufgetaucht ist.

Bevor sie ihn aus dem Berg des Trolls rettete. Bevor sie ihm ihr Geheimnis anvertraute, während er in Lebensgefahr schwebte. Bevor sie ihm erzählte, dass ihr Vater versucht hatte, sie beide umzubringen, sie ihn aber überlisten und sich befreien konnte.

In der Woche im Krankenhaus hat er viel über Leos Geschichte nachgedacht. Viel an sie gedacht.

Zu viel, ehrlich gesagt.

Aber jetzt bietet ihm diese unerwartete Einladung die Möglichkeit, auf andere Gedanken zu kommen.

Hill streckt sich. Die Luft ist feucht, nebelig-kühl, was für den Herbst und Winter in Skåne typisch ist, Hill aber gar nicht bekommt.

Alfacent Industries, Corporate Headquarters, prangt auf dem großen erleuchteten Schild am Eingang des Gebäudes. Hill lässt den Blick nach oben wandern. Das Gebäude ist wirklich speziell, seine Fassade besteht aus schwarzem, mattem Glas. Alle Flächen und Winkel streben Richtung Himmel. Unten ist das Gebäude deutlich breiter als oben, wodurch es, in Kombination mit der futuristischen Architektur, an ein Raumschiff erinnert. Was wiederum nicht verwunderlich ist, wenn man die Geschichte des Unternehmens kennt beziehungsweise die der Eigentümerfamilie Irving. Und die kennt Hill besser als die meisten.

An der Seite befindet sich eine Rampe, aber er beschließt dennoch, die Treppe zu nehmen. Eine dumme Idee, wie er erkennt, sobald sich die Schussverletzung an seinem Bein schmerzhaft bemerkbar macht.

Er bleibt stehen, verzieht gequält das Gesicht.

In dem Moment öffnet sich die Eingangstür, und ein Mann um die fünfzig kommt auf ihn zu. Er trägt einen schwarzen, gut sitzenden Anzug und ein Polohemd, das seine breiten Schultern und den muskulösen Oberkörper betont. Haare und Bart sind grau meliert, der Blick fest.

»Willkommen, Lektor Hill«, begrüßt er ihn. »Darf ich Ihnen helfen?«

Im nächsten Augenblick hat der Mann ihn schon die Treppe hinaufgeführt und in die Lobby gebracht.

»Mein Name ist Samuel. Ich bin der Sicherheitschef von Alfacent. Die Rezeption ist gleich hier geradeaus.«

Hill nickt dankend, bevor er sich neugierig umschaut. Die Lobby ist mindestens so imposant wie das Äußere des Gebäudes. Heller Steinboden. Weiße Wände, die sicher zehn Meter hoch sind.

In der Mitte der Lobby steht die Skulptur eines Mannes in etwa doppelter Körpergröße. Die Figur beschirmt ihre Augen mit der einen Hand, während die andere Richtung Himmel deutet. Oder besser gesagt zur Decke, wo Lampen wie Sterne funkeln. Hill humpelt näher.

Die Statue ist pechschwarz, und obwohl man die Gesichtszüge nur schwer ausmachen kann, sieht der Mann aus, als würde er sehnsüchtig zu den künstlichen Sternen hinaufblicken.

Bisher hat Hill die Skulptur nur auf Fotos gesehen, und erst aus der Nähe erkennt er, dass sie nicht aus Stein oder Keramik ist, sondern aus schwarzem Glas.

»Gunnar Irving als junger Mann.« Samuel ist lautlos an Hills Seite gerückt. »Der Gründer von Alfacent.«

»Mm«, brummt Hill.

Er wartet auf eine Fortsetzung, eine Grimasse oder Geste, die verrät, dass der andächtige Ton des Sicherheitschefs nicht ernst gemeint ist. Stattdessen nickt Samuel Hill stumm zu, wie um ihn zu ermuntern, weiter Richtung Rezeption zu gehen.

Auf seine Krücke gestützt, humpelt Hill vorwärts. Die Dame am Empfang trägt genauso schwarze Kleidung wie Samuel und sieht eher wie ein Model aus als wie eine Rezeptionistin.

»Lektor Hill, willkommen«, sagt sie. Mit etwas zu breitem Lächeln. »Nova Irving verspätet sich um ein paar Minuten, wofür ich mich entschuldige. Setzen Sie sich solange, dann hole ich Sie, sobald sie bereit ist. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Espresso, Cappuccino oder vielleicht ein Mineralwasser?«

»Nein, vielen Dank.«

Es kommt ihm ziemlich altmodisch vor, mit Titel angeredet zu werden.

Er geht zum Wartebereich mit Sitzmöbeln aus Chrom und Leder, lässt sich in einen Sessel sinken und greift nach seinem Handy.

Aber statt im Netz zu surfen, bleibt sein Blick an der großen Skulptur hängen. Da sich das Licht im Glas bricht, verändert sich der Gesichtsausdruck der Figur ständig. Wechselt zwischen Faszination, Sehnsucht und Entschlossenheit.

Aber auch etwas Beunruhigendem.

Er macht mit der Handykamera ein Foto der Statue, wird dann aber von einer Nachricht von Leo unterbrochen.

Hast du Zeit zu reden?, fragt sie. Er blickt zur Rezeptionistin hinüber. Die Frau hat ihren Platz verlassen und ist mit ihrem übertriebenen Lächeln auf dem Weg zu ihm.

Gerade nicht, schreibt er notgedrungen zurück.

Ok, dann später. Es ist etwas passiert, worüber ich reden muss.

»Entschuldigen Sie die Verzögerung, Lektor Hill«, sagt die Empfangsdame, als sie vor ihm steht. »Nova Irving empfängt Sie jetzt.«

Sie führt ihn durch ein paar Glastüren zu einem Aufzug, hält eine Passierkarte an ein Lesegerät und drückt auf den obersten Knopf im Fahrstuhl, bevor sie ihm zum Abschied zulächelt.

Der Aufzug bewegt sich leise und so schnell, dass sich Druck auf Hills Ohren legt.

Die ganze Situation ist ein bisschen surreal, aber auch spannend.

Erst vor zwei Stunden bekam er einen Anruf von einer Frau, die sich als Nova Irvings Sekretärin vorstellte. Sie hatte ihn unumwunden gefragt, ob er Zeit für ein Treffen hätte, am besten schon heute. Mehr wollte sie nicht sagen. Da Hill schon seit Jahren versuchte, Kontakt zu Alfacent oder der Familie Irving aufzunehmen, hatte er kaum eine andere Wahl, als zuzusagen.

Der Aufzug bremst ab, die Türen gleiten fast lautlos auf.

Draußen wartet eine Frau, die etwa in Hills Alter ist. Auch sie ist schwarz gekleidet, trägt aber im Unterschied zum Personal in der Lobby statt eines Poloshirts eine Bluse unter dem Jackett. Ihren Hals schmückt eine silberne Kette mit Anhänger.

»Willkommen, Lektor Hill. Ich bin Nova Irving, die Geschäftsführerin von Alfacent Industries. Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.«

Ihre Stimme ist überraschend tief, der Handschlag fest. Nova Irving trägt ihr rotblondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihre Haut ist braun gebrannt, der Lippenstift knallrot, und die Augen sind so hellblau, dass sie fast unecht wirken.

»Sagen Sie bitte Martin«, sagt Hill. »Und ich gebe zu, ich bin gespannt, worum es hier geht. Ihre Assistentin war am Telefon sehr kryptisch.«

Nova Irving deutet mit der Hand auf einen gläsernen Konferenzraum.

»Ich werde es gleich erklären. Lassen Sie uns hier hineingehen.«

Hill folgt ihr auf seine Krücke gestützt.

Der Tisch im Konferenzraum ist oval, an jeder Seite stehen fünf Stühle. Durch das Fenster hat man einen Blick auf den nördlichen Teil von Lund.

An der Breitseite des Raumes, neben dem Eingang, steht eine Büste, die ebenfalls aus schwarzem Glas ist. Sie ist detailreicher gestaltet als die Skulptur in der Lobby und stellt einen alten Mann mit eckigen Wangenknochen, hohem Haaransatz und einem Blick dar, den Hill sofort wiedererkennt.

»Gunnar Irving, mein Vater.« Novas Stimme hat den gleichen Ton, der Hill vorhin bei Samuel aufgefallen ist.

Respekt, wenn nicht gar Verehrung.

Nova bedeutet Hill, Platz zu nehmen, setzt sich dann ihm gegenüber und legt ein Tablet auf den Tisch.

Hill lässt sich schwer in einen Stuhl fallen, lehnt seine Krücke an den Tisch.

Er geht davon aus, dass sie ihm jetzt erklärt, warum er hier ist, doch stattdessen stellt sie ihm eine Frage.

»Sie haben uns vor einigen Jahren kontaktiert, richtig, Martin? Sowohl Alfacent als auch die Familie?«

»Das stimmt«, nickt Hill. »Ich schrieb damals ein Kapitel über Stjärneholm und Gunnar Irving für mein Buch Vergessene Orte und deren Geschichten. Aber leider war niemand zu einem Interview bereit, und man wollte mich auch nicht auf die Insel Blockö lassen.«

»Nein, damals war meine Schwester Maud die Geschäftsführerin. Sie hatte eine andere Einstellung. War zurückhaltender, könnte man sagen. Meine Führung ist transparenter.«

Novas Lächeln ist attraktiv und ansteckend.

»Was wissen Sie über Alfacent, Martin?«

Hill räuspert sich.

»Also, ich weiß, dass Sie im medizintechnischen Bereich tätig sind. Chirurgische Instrumente, OP-Roboter und solche Dinge. Außerdem waren Sie unter anderem frühzeitig mit DNA-Analysen auf dem Markt.«

»Das ist richtig«, bestätigt Nova. »Aber wir entwickeln auch Dinge, die im Menschen landen. Pacemaker, Implantate, künstliche Herzklappen.«

Ihre Augenbrauen wandern ein Stück nach oben, als erwarte sie eine Reaktion von ihm. Hill ist verwirrt. Weiß sie von seiner Titan-Herzklappe? Und wenn ja, was hätte das mit seinem Besuch hier zu tun?

»Eric Holst hat Ihren Namen erwähnt«, fährt sie fort. »Eric ist unser Vorstandsvorsitzender. Er hat erzählt, dass Sie Ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um seine Enkelin Smilla aus der Hand eines Entführers zu retten. Und das, ohne hinterher zur Presse zu laufen und sich für Ihre Tat zu rühmen. Eric ist wirklich nicht leicht zu beeindrucken, daher wurde ich neugierig und habe ein bisschen recherchieren lassen.«

Ohne Hills Antwort abzuwarten, schaltet sie das Tablet ein.

»Martin Hill«, liest sie vor. »Einunddreißig Jahre alt, an verschiedenen Orten in Schweden aufgewachsen, heute Lektor an der Universität Lund, wo Sie ein Seminar über die Architektur des Verfalls geben. Bei den Studierenden sehr beliebt, außerdem Autor eines Bestsellers, der so etwas wie eine Bibel für Menschen ist, die sich für Urban Exploration interessieren, also die Erforschung verlassener Gebäude und Orte.«

Sie hebt wieder die Augenbrauen. Hill weiß immer noch nicht, was er sagen soll. Die Situation ist seltsam und zugleich – aufregend. Die Heimlichtuerei, das futuristische Bürogebäude, die viel zu freundlichen Mitarbeiter. Und dann natürlich Nova Irving selbst. Sie ist schön, intelligent und charismatisch. Der Typ Mensch, der innerhalb von Sekunden einen ganzen Raum für sich einnehmen kann. Der Kontrast zum Krankenhausbett, das er gerade verlassen hat, oder zu der gruseligen Erinnerung an den Troll und seinen Berg könnte kaum größer sein.

»Und Sie haben eine künstliche Herzklappe aus Titan«, fährt sie fort. »Eine von uns, was bedeutet, dass Sie quasi ein Mitglied der Alfacent-Familie sind.«

»Aha.« Hill fällt nichts Besseres ein.

Natürlich sollte er fragen, wie sie an diese Information gekommen ist, die unter die medizinische Schweigepflicht fällt, aber er ist viel zu sehr damit beschäftigt, zu ergründen, worum es bei diesem Gespräch eigentlich geht.

»Was wissen Sie noch über das Unternehmen, Martin?«

Novas Blick und das kleine Lächeln, das die ganze Zeit in ihrem Mundwinkel hängt, deuten an, dass sie ihn testet. Dass sie die Karten erst auf den Tisch legen wird, wenn er für gut befunden wird.

»Alfacent wurde von Ihrem Großvater, Bernhard Irving, gegründet«, beginnt er. »Damals hieß die Firma noch All-Konserver und war in der Lebensmittelindustrie tätig. Bernhard verdiente während des Krieges und auch danach viel Geld, aber Ende der Fünfzigerjahre ging es der Firma immer schlechter.«

Er räuspert sich, überspringt die Ursache für diesen Niedergang.

»In den Sechzigerjahren übernahm Ihr Vater Gunnar die Geschäfte. Er benannte die Firma in Alfacent um, verlagerte die Produktion in den medizintechnischen Bereich und präsentierte ein paar bahnbrechende Erfindungen, die das Unternehmen in Rekordzeit wieder auf die Füße brachten.«

Er macht eine höfliche Pause, aber Nova Irving ist noch nicht zufrieden.

»Und …« Ihr Blick funkelt, als käme jetzt das Entscheidende.

Hill wählt seine Worte mit Bedacht. Aber wenn Novas Researcher herausgefunden hat, dass er eine künstliche Herzklappe hat, dann weiß sie mit Sicherheit auch genau, was er in seinem Buch über die Familie Irving geschrieben hat.

»Gunnar, Ihr Vater …«, fährt er fort und deutet mit einem Kopfnicken zur Glasbüste hinüber, »… behauptet, die Ideen zu seinen Erfindungen seien ihm durch eine Begegnung mit einem Ufo gekommen, die er als junger Mann bei Bernhards Observatorium draußen auf Blockö gehabt habe. Die Außerirdischen sollen vom Sternbild Alfa Centauri gekommen sein, weshalb Gunnar mit dem Einverständnis seines Vaters das Unternehmen in Alfacent umtaufte. Die Erzählung lieferte einen Nährboden für eine Reihe von urbanen Mythen um Ihren Familienbesitz Stjärneholm. Ein Mythos besagt, dass Bernhard Irving in einer unterirdischen Grabkammer liegt, ein anderer, dass es ein Netz an Grubengängen gibt, welches sich unter dem See Miresjö erstreckt und bis zur Insel reicht.«

Nova Irving mustert ihn eingehend, ohne etwas zu sagen.

Dann öffnet sich ihr Gesicht ohne Vorwarnung zu einem breiten Lächeln. Ihre geraden, weißen Zähne kontrastieren mit ihrem blutroten Lippenstift.

»Gut zusammengefasst, Martin!« Sie schiebt das Tablet beiseite. »Vor allem die Sache mit den Mythen. Über die Firma und meine Familie wurde ein Haufen Unsinn verzapft. Das ist im Prinzip auch der Grund, warum ich Sie hergebeten habe.«

Hill richtet sich auf.

»Alfacent wird bald hundert und Gunnar achtzig«, erklärt Nova. »Der Vorstand und ich sind der Meinung, dass diese Jubiläen ein guter Anlass wären, ein Buch über unsere …« Sie unterbricht sich, scheint nach dem richtigen Wort zu suchen. »… recht farbige Geschichte herauszubringen. Die kursierenden Gerüchte einzudämmen und den Fokus auf unseren Beitrag für die Menschheit zu richten. Und wer wäre besser dafür geeignet als ein Bestsellerautor mit einer Herzklappe von Alfacent in der Brust? Jemand, der sich schon in die Geschichte des Unternehmens und der Familie eingelesen hat, der hohe Glaubwürdigkeit besitzt und außerdem diskret ist.«

Ihr Lächeln wird noch ein paar Grade wärmer.

»Wir möchten Sie gern anheuern, Martin.«

»Okay …« Hill kann für einen Moment nicht klar denken.

»Selbstverständlich bezahlen wir Ihnen ein großzügiges Honorar«, verspricht Nova. »Sie erhalten freien Zugang zum Firmen- und Familienarchiv auf Stjärneholm. Wir stellen Ihnen sogar eine Unterkunft auf dem Grundstück zur Verfügung, damit Sie in aller Ruhe schreiben können.

»Warten Sie.« Hills Denkvermögen setzt wieder ein. »Also, zunächst mal habe ich einen Job.«

Nova schaut belustigt. »Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie krankgeschrieben. Zumindest bis zum nächsten Semester. Wir haben mit Ihrem Dekan gesprochen, und Sie bekommen keine Probleme, wenn Sie sich in der Zeit dem Schreiben widmen.«

»Tja …« Hill überspringt die Tatsache, dass sie bereits seinen Chef kontaktiert hat, und spult zum nächsten Einwand vor. »Aber Sie sehen ja, dass ich nicht ohne Grund krankgeschrieben bin. Meine Beweglichkeit ist eingeschränkt, und ich muss regelmäßig untersucht werden.«

Er hebt seine Krücke hoch, um dieses Argument zu bekräftigen.

»Stjärneholm verfügt über eine eigene, topmoderne Arztpraxis«, entgegnet Nova. »Wir bieten Ihnen ständige medizinische Überwachung und eine Reha mit den allerneuesten Behandlungsmethoden.«

»Äh …« Hill fasst sich in den Nacken.

Das Angebot ist wirklich verlockend. Zudem gibt es einen weiteren Faktor in Novas Gleichung, den sie selbst nicht bedacht hat. Etwas, das es Hill extrem schwer macht, auf die Einwände seines Über-Ichs zu hören.

Nova beugt sich vor. Ihr silberner Anhänger berührt den Tisch. Hill erkennt darin einen Frosch und erhascht einen Blick auf ihr Dekolleté, bevor er den Blick abwendet.

»Außerdem werden Sie natürlich Gunnar persönlich treffen«, sagt sie leise. »Und das alte Observatorium auf Blockö besuchen, wovon Sie doch immer schon geträumt haben. Seit den Sechzigern ist kaum jemand dort gewesen. Alles steht unberührt. Für einen Urban Explorer muss das ein Traum sein. Haben Sie als Jugendlicher nicht sogar eine Weile in der Gegend gewohnt?«

Ihre hellblauen Augen funkeln wieder.

Hill holt tief Luft, während er auf weiteren Protest seines Über-Ichs wartet. Aber seine Vernunft gibt sich geschlagen.

Stattdessen hört er eine ganz andere Stimme im Kopf, die ihm sanft und lockend zuflüstert.

… das alte Observatorium auf Blockö besuchen.

Wovon Sie immer geträumt haben.

Siebzehn Jahre früher

Er ist vierzehn. Erst vor ein paar Monaten ist seine Familie wieder umgezogen, diesmal in die Wälder, im Grenzgebiet zwischen Småland und Skåne. Er kennt hier niemanden, aber wie immer tut er sein Bestes, um sich anzupassen. Er versucht, sozial umgänglich und lustig zu sein. Versucht, Freunde zu finden und so zu tun, als würde es ihm nichts ausmachen, dass sie ihn Neger-Martin nennen.

An manchen Tagen geht es besser als an anderen.

Bald wird er jemanden kennenlernen, der genauso witzig und schlau ist wie er. Das sagt zumindest seine Mutter. Und da er sie nicht traurig machen will, widerspricht er nicht.

Ihm ist ein Mädchen aufgefallen, das den Spind neben seinem hat. Sie ist groß und breitschultrig, und die meisten anderen scheinen ein wenig Angst vor ihr zu haben.

Irgendetwas an Leo Asker zieht ihn an, und er hat angefangen darüber nachzudenken, wie er sich ihr nähern könnte.

Heute Abend denkt er allerdings an nichts dergleichen.

Er steht am Strand. Vor ihm liegt der fast kreisrunde Miresjö, und ein gutes Stück entfernt sieht man den Umriss einer Insel. Blockö.

Er musste eine lange Busreise auf sich nehmen und zweimal umsteigen, um hierherzukommen. Dann noch einen anstrengenden Spaziergang zur Pfadfinderhütte machen, die, abgesehen von Stjärneholm, an der einzigen Stelle steht, wo der Hang so flach ist, dass man bis zum Wasser hinuntergelangt.

Er hat den Ort in einem Chatroom für Urban Explorer gefunden und war von Bernhard Irving und seinem Sohn, Ufo-Gunnar, fasziniert. Seit er das erste Mal auf ihre Familiengeschichte gestoßen ist, hat er einige Stunden in der Bibliothek verbracht, um alles zu lesen, was er über Stjärneholm, Blockö, das Bergwerk Stjärngruvan und das Observatorium finden konnte.

Es gibt einige im Chatroom, die die gleiche Reise unternommen haben wie er. Die zum Strand an der Hütte gegangen sind, nur um festzustellen, dass man nicht weiterkommt. Es gibt keine Boote auf dem See, und die Insel liegt fast einen Kilometer vom Ufer entfernt. Der Miresjö ist außerdem fast dreißig Meter tief und das Wasser daher selbst im Hochsommer eiskalt, was es schwierig macht, darin zu schwimmen.

Und selbst wenn es einem glücken sollte, hinüberzuschwimmen, ist das Ufer der Insel voll spitzer Felsblöcke und Steine, sodass man nicht an Land waten kann, ohne sich Füße und Knie aufzuschrammen.

Er weiß das alles. Er weiß, dass er nicht auf die Insel gelangen kann.

Aber am Ufer zu stehen, durch das Fernglas zu schauen und die Kuppel von Bernhards Observatorium über den Baumwipfeln zu erahnen, ist die Reise trotzdem wert. Den Ort zu sehen, an dem Gunnar Irving angeblich ein Ufo gesichtet hat, das dort gelandet sein soll.

Wo das schwarze Wesen mit den leuchtend roten Augen ausgestiegen ist und mit ihm gesprochen hat.

 

Er steht schon über zwei Stunden hier am Strand. Zwischendurch hat er sein mitgebrachtes Essen verspeist und den Armen, die das Fernglas halten, eine kurze Erholung gegönnt. Er will keine Sekunde verpassen, obwohl außer den sich im Wind wiegenden Baumkronen und vereinzelten Vögeln keine Bewegung zu erkennen ist.

Es fängt jetzt an zu dämmern. Dunkelheit legt sich allmählich über den See, am Himmel tauchen Sterne auf.

Ein letzter Blick, dann muss er gehen, wenn er den Bus erwischen will.

Er hebt das Fernglas, vergrößert den dunklen Umriss des Observatoriums.

Langsam bewegt er das Fernglas am Strand entlang, dann weiter über das Wasser Richtung Stjärneholm. Dem Chatforum zufolge soll es einen geheimen Tunnel geben, der die Insel mit dem Festland verbindet, aber der wurde bisher nicht gefunden. Der Gedanke verursacht ihm auch nach zwei Stunden Beobachtung noch Herzklappern.

Aus der Ferne ruft ein Käuzchen. Der unheimliche Laut schwebt über den See, dann wird es wieder ganz still. Martin lässt das Fernglas zur Insel zurückwandern und endet wieder am Observatorium. Dort verweilt er zum Abschied noch einen Moment.

Dann, er will gerade abbrechen, glaubt er, etwas zu sehen.

Etwas, das ihn innerlich zu Eis gefrieren und so lange verharren lässt, dass er den Bus verpasst.

In den folgenden Jahren gelangt er immer mehr zu der Überzeugung, dass ihm seine Fantasie an diesem Abend einen Streich gespielt hat. Dass er etwas gesehen hat, was er sehen wollte, weil das in diesem Moment alles war, was er hatte.

Und vielleicht war es auch so. Rein logisch wäre das die beste Erklärung. Aber ein kleiner Teil von ihm hält an dem fest, was er nur wenige Sekunden lang auf der Insel gesehen hat, hoch am Himmel, direkt über dem Observatorium.

Ein starkes weißes Licht, das aufleuchtete und dann wieder verschwand.

Asker

Die Luft in dem kleinen Büro ist muffig und abgestanden. Vor ihr auf dem Tisch liegt ihr Handy mit Martins Nachricht. Ihr Hirn läuft auf Hochtouren, aber sie kann nur daran denken, dass sie mit Martin Hill sprechen will. Er kennt ihre Herkunft, war derjenige, der ihrem Vater seinen Spitznamen gab.

Prepper-Per.

Ihr Vater, der Verrückte, der Bunker baut und Waffen, Sprengmittel und lebensnotwendige Güter ansammelt, während er sich auf den Tag des Jüngsten Gerichts vorbereitet. Der Mann, von dem sie bis vor einer Stunde dachte, dass sie nie mehr Kontakt zu ihm haben würde. Und jetzt versucht er plötzlich, sich in ihr Leben zurückzudrängen.

Langsam krempelt sie den Hemdsärmel auf. Die Narbe juckt noch immer, sie fährt mit den Fingerspitzen darüber. Folgt den tätowierten Buchstaben, die sie bedecken.

Resilienz.

Durch das Ritual lässt der Juckreiz nach einer Weile nach, ihr Stressniveau sinkt, und sie rollte den Ärmel wieder hinunter.

Ist das, was Per behauptet hat, überhaupt wahr?

Sie fährt den Rechner hoch. Das, was gemeinhin als polizeiliche Datenbank bezeichnet wird, besteht tatsächlich aus verschiedenen Systemen, von denen manche schon antik sind, andere eher mittelalterlich, und die alle gemeinsam haben, dass sie nicht besonders gut zusammenarbeiten, weder untereinander noch mit dem Anwender.

Nach einigen Klicks gelingt es Asker dennoch, ein Verzeichnis der letzten Anzeigen zu erhalten. Sie scrollt sie rasch durch. Nichts von einer Leiche in der Nähe der Farm.

Sie atmet aus, versucht, ihre Gedanken zu sammeln.

Hat Per sie nur angerufen, um sie zu ärgern oder zu manipulieren? Sie testet ihre Theorie mit ihrem gewöhnlichen Prozedere.

These: Per hat sie angelogen.

Frage: Warum?

Antwort: Um sie zu ärgern.

Frage: Warum?

Antwort: Weil er glaubt, etwas zu gewinnen.

Frage: Was?

Was hätte Per davon, sie nach fünfzehn Jahren zu kontaktieren, nur um sie zu ärgern? Und warum sollte er dafür etwas behaupten, was sie leicht nachprüfen kann? Und warum ausgerechnet jetzt?

Sie greift zum Hörer und ruft die Einsatzzentrale an.

»Asker hier, Kapitaldelikte«, sagt sie, als ein Operator abnimmt. »Habt ihr eine Streife Richtung Göinge geschickt? Ist in der Gegend eine Leiche gefunden worden?«

Sie drückt die Daumen, dass der Kollege am anderen Ende nicht weiß, dass sie überhaupt nicht mehr im siebten Stock arbeitet, sondern jetzt Chefin der Abteilung für verlorene Seelen unten im Keller ist.

»Augenblick …«

Sie hört das Klappern einer Tastatur.

»Ja, das ist richtig«, antwortet der Operator dann. »Die Meldung ist ganz neu. Das war erst vor einer knappen Stunde. Die Kollegen sind noch vor Ort. Ich kann Sie direkt weiterleiten, wenn Sie wollen.«

»Perfekt, danke.«

Asker verzieht das Gesicht, Per hat also die Wahrheit gesagt. Aber wie konnte er schon wissen, dass eine Leiche gefunden wurde? Und woher weiß er, dass der Fund ihn verdächtig macht?

Der Polizist vor Ort meldet sich so schnell, dass er das Handy in der Hand gehalten haben muss.

»Asker hier. Kapitaldelikte«, stellt sie sich vor. »Sie haben eine Leiche gefunden?«

»Ja, stimmt.« Der Mann klingt fragend. »Aber ich habe schon mit Ihrem Kollegen gesprochen. Er sagte, Sie seien unterwegs.«

»Wir haben wohl aneinander vorbeitelefoniert. Können Sie für mich noch mal alles wiederholen, bitte? Wo genau befinden Sie sich?«

»Unmittelbar nördlich der Grenze zu Småland. An einem Ort namens Hultet. Jemand von der Gemeinde hat angerufen. Sie räumen gerade eine alte Deponie für Gartenabfälle und sind dabei auf eine Leiche gestoßen.«

Asker sieht die Stelle vor sich. Sie ist hundertmal daran vorbeigeradelt. Sie liegt an einer Abzweigung, nur etwa fünfhundert Meter vom Tor zur Farm entfernt.

»Wie ich Ihrem Kollegen gerade gesagt habe, ist das Opfer ein erwachsener Mann«, fährt der Polizist fort. »Vermutlich um die fünfzig. Er liegt auf dem Bauch, das Gesicht nach unten. Viel kann man nicht erkennen, und wir wollten den Körper nicht unnötig bewegen. Die Techniker sind auf dem Weg.«

»Wie lange, denken Sie, hat er da gelegen?«, fragt sie.