Winterfeuernacht - Anders de la Motte - E-Book
SONDERANGEBOT

Winterfeuernacht E-Book

Anders de la Motte

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Atmosphärische Krimi-Spannung aus Schweden: Was geschah wirklich im Feriendorf Gärdsnäset, als das Luciafest ein tödliches Ende nahm? 1987 verbringen die beiden besten Freundinnen Laura und Iben die Winterferien wie jedes Jahr bei Lauras geliebter Tante Hedda in deren Feriendorf Gärdsnäset in Schonen in Süd-Schweden. Doch beim Luciafest geraten die Mädchen wegen eines Jungen in Streit, und am Ende des Abends brennt der Festsaal lichterloh. Laura wird schwer verletzt, Iben stirbt in den Flammen. 30 Jahre lang wird Laura nicht nach Gärdsnäset zurückkehren, ihre Tante wird sie nie wiedersehen. Als Laura nun die Nachricht erhält, dass Hedda gestorben ist und ihr Gärdsnäset vererbt hat, ist sie geschockt. Muss sie sich nun doch noch den Dämonen der Vergangenheit stellen? Notgedrungen reist Laura nach Schonen, um das halb verfallene Feriendorf zu verkaufen. Doch die Käufer sind merkwürdig aggressiv, und bald mehren sich die Anzeichen, dass Hedda einem dunklen Geheimnis auf der Spur war … Der dritte Schweden-Krimi von Anders de la Motte nach »Sommernachtstod« und »Spätsommermord« überzeugt erneut mit atmosphärischem Setting, klug gezeichneten Charakteren und einer geschickten Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, Schuld, Lügen und der Suche nach Wahrheit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 572

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anders de la Motte

WINTERFEUERNACHT

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Marie-Sophie Kasten

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Atmosphärische Krimi-Spannung aus Schweden: Was geschah wirklich im Feriendorf Gärdsnäset, als das Luciafest ein tödliches Ende nahm?

1987 verbringen die beiden besten Freundinnen Laura und Iben die Winterferien wie jedes Jahr bei Lauras geliebter Tante Hedda in deren Feriendorf Gärdsnäset in Schonen in Südschweden. Doch beim Luciafest geraten die Mädchen wegen eines Jungen in Streit, und am Ende des Abends brennt der Festsaal lichterloh. Laura wird schwer verletzt, Iben stirbt in den Flammen. Dreißig Jahre lang wird Laura nicht nach Gärdsnäset zurückkehren, ihre Tante wird sie nie wiedersehen.

Als Laura nun die Nachricht erhält, dass Hedda gestorben ist und ihr Gärdsnäset vererbt hat, ist sie geschockt. Muss sie sich nun doch noch den Dämonen der Vergangenheit stellen? Notgedrungen reist Laura nach Schonen, um das halb verfallene Feriendorf zu verkaufen. Doch die Käufer sind merkwürdig aggressiv, und bald mehren sich die Anzeichen, dass Hedda einem dunklen Geheimnis auf der Spur war …

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

Epilog 1

Epilog 2

Leseprobe »Stille Falle«

Für Anette,

für alles, was wir zusammen gemacht haben.

Und alles, was uns noch erwartet.

Vedarp und der See Vintersjö sind beides fiktive Orte. Genau wie Nedanås in Spätsommermord und Reftinge in Sommernachtstod basieren sie auf meiner Heimat in Nordwest-Schonen, insbesondere den Kommunen Bjuv, Åstorp und Ängelholm.

Prolog

Sie hatte den See immer geliebt. Fast ein halbes Jahrhundert lang war dieser Platz ihr Zufluchtsort gewesen. Eine Welt, die zwar nicht frei von Sorgen war, wo das Böse aber nie hatte Fuß fassen können. Zumindest hatte sie sich das eingeredet. Jetzt wusste sie es besser.

Sie fröstelte, wie sie da am Rande des Schwimmstegs saß und die Beine aus dem eiskalten Wasser hob. Faltige Haut, krumme Zehen und Krampfadern, die dünne, blaue Spinnennetze auf ihren Waden bildeten. Wann war es dazu gekommen? Wann hatte sie die Füße einer alten Frau bekommen?

Genau wie mit dem restlichen Älterwerden ließ sich das nicht an einen bestimmten Zeitpunkt knüpfen. Stattdessen handelte es sich um eine schleichende Veränderung, wie wenn das Herbstlaub langsam fiel und man eines Morgens aufwachte und es um den See herum Winter war.

Das Eis bildete bereits einen dicken Kreidekreis am Ufer entlang, und die hohen Bäume, die beinahe bis zum Saunaschuppen neben dem Steg reichten, erstreckten sich kahl in den Abendhimmel. Die Kolonie Krähen, die mittlerweile die einzigen Gäste des Feriendorfes waren, beobachteten sie von dort oben mit wachsamen dunklen Augen.

Es besteht keine Gefahr, dachte sie. Ich werde nicht baden. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.

Sie zog die Füße ein und wickelte sich das Handtuch fester um den Körper. Die Bewegung brachte den Steg zum Schaukeln, und die rostigen Ketten, mit denen er an Pfeilern befestigt war, rasselten. Die Saunawärme strömte unter dem Handtuch hervor und verwandelte sich in Dampf, als sie auf die kalte Winterluft traf.

Vorsichtig strich sie mit der einen Hand über die grauen, rissigen Planken.

Der Steg hätte schon vor mindestens einem Monat gesäubert, geteert und winterfest gemacht werden müssen, so wie sie es früher getan hatten. Aber genau wie mit so vielen anderen Sachen im Feriendorf hatte sie diesen Kampf schon lange aufgegeben. Oder vielleicht auch einfach nur die Lust verloren.

Nach dem Herzinfarkt Anfang Herbst, ihrem zweiten und vermutlich vorletzten, wie Doktor Olsson säuerlich bemerkt hatte, verbat er ihr das Winterbaden.

»Dein Herz verträgt keine weiteren Belastungen, Hedda. In keinerlei Hinsicht …«

Eigentlich sollte sie operiert werden, in ihrem Poststapel im Haus lagen mehrere Aufforderungen, aber sie verabscheute Krankenhäuser genauso sehr wie Ärzte.

Bis vor einigen Wochen hatte sie daher auf die Aufforderungen und die Ermahnungen des Doktors gepfiffen. Ihr Leben bestand ohnehin nur darin, mit der Katze auf dem Schoß im Fernsehsessel zu sitzen und sich vom Vormittags-, Nachmittags- oder Abendgrog in eine andere, glücklichere Zeit versetzen zu lassen. Sich Gesichter, Stimmen, Gelächter ins Gedächtnis zu rufen. Erinnerungen an Sommer und Winter, die vorüber waren. Erinnerungen an die Kinder. Ihre Kinder, so nannte sie sie. Laura, Jack, Peter, Tomas. Und dann Iben. Die arme, arme kleine Iben.

An manchen Winterabenden meinte sie fast, sie dort draußen hören zu können. Autotüren, die zuschlugen, fröhliche Stimmen, Füße, die vor der Haustür den Schnee abstampften. Manchmal sprang sie sogar vom Sessel auf, um sie zu Hause willkommen zu heißen, ihnen zu sagen, wie sehr sie sich nach ihnen gesehnt und sie vermisst hatte.

Aber wenn sie die Haustür öffnete, war der Platz draußen immer menschenleer. Dreißig Jahre Leere. Sehnsucht, Schuld. Warum sollte sie das noch länger hinauszögern? Warum die wenigen Genüsse opfern, die es noch gab, um ein paar Jahre mehr zu leben? Der Doktor konnte zum Teufel gehen. So dachte sie jedenfalls.

Bis zu diesem Morgen vor wenigen Wochen, als ein Wagen draußen auf dem Hof gestanden hatte. Eines der wenigen Male, dass sie sich bereit erklärt hatte, Besuch zu empfangen. Widerwillig war sie nüchtern geblieben, hatte sogar geduscht und saubere Kleider angezogen. Sie hatte sich eingeredet, dass alles schnell geklärt sein würde.

Aber als sich die Autotür öffnete, schien etwas in ihrem Kopf klick zu machen. Es hatte einen Lichtfunken ausgelöst, der so klar war, dass sie sich die Hand vor die Augen schlagen musste.

Einen Moment lang hatte sie gedacht, sie hätte einen Schlaganfall. Dass sie auf ihrer eigenen Türschwelle tot umfallen würde, bevor sie auch nur ein Wort mit den Besuchern wechseln konnte. Aber nach einer Sekunde war das vorbei gewesen und die Welt zu ihrer bleichen Novembertrübe zurückgekehrt. Sie war mit Begrüßungsphrasen, Namen, dann einem geschäftlichen Vorschlag und Zahlen gefüllt worden, genau wie geplant.

Trotzdem meinte sie während des gesamten Gesprächs, eine schwache Stimme im Hinterkopf wahrzunehmen, die sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Als junge Frau hatte sie sich von dieser Stimme leiten lassen, aber nach dem Luciabrand, als ihr klar geworden war, dass ihre Intuition sie betrogen hatte, hatte sie nicht mehr hingehört, sie in Alkohol und Selbstmitleid ertränkt. Bis jetzt.

Denn in den Tagen nach dem Besuch war die schwache Stimme lauter geworden. Sie hatte ihr immer energischer erklärt, dass das Unmögliche möglich geworden war. Dass sie nach all diesen Jahren eine neue Chance bekommen hatte. Die Chance, in die Vergangenheit zurückzukehren. Die Chance, ein paar ihrer Fehler wiedergutzumachen, diejenigen zu schützen, die sie liebte.

Aber sie musste vorsichtig vorgehen – sich vor dem Feuer in Acht nehmen.

Sie schaute auf ihre verkrüppelte linke Hand hinab. Auf das Narbengewebe, das sich über ihren Handrücken zog, und die zwei Stümpfe, die alles waren, was von ihrem kleinen Finger und ihrem Ringfinger übrig geblieben war. Mit der anderen Hand griff sie nach ihrem Abendjoint und dem Feuerzeug, die sie beide neben sich auf den Steg gelegt hatte. Seit Sommer 1975 oder vielleicht 76 pflanzte sie im Treibhaus hinter dem Werkzeugschuppen ihr eigenes Marihuana an. Eigentlich sollte sie auch darauf verzichten, aber das Gras half ihr, ihre Gedanken zu sammeln. Darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollte.

Laura anrufen, war ihr erster Impuls gewesen. Aber sie hatte es nicht gemacht. Hatte sie vielleicht Angst? Wahrscheinlich. Angst davor, als verrückte Alte abgetan zu werden, noch bevor sie das Unerhörte erklären konnte, das sie entdeckt hatte. Oder vielleicht fürchtete sie etwas noch Schlimmeres: dass Laura einfach auflegen würde. Das wäre allerdings völlig verständlich.

Sie hatte Laura damals im Stich gelassen, sie hatte alle im Stich gelassen. All ihre Kinder.

Sie behielt den süßen Rauch im Mund, bevor sie ihn in den Abendhimmel steigen ließ. Der Mond, der über dem See hinaufkletterte, verwandelte die Wasseroberfläche allmählich in fließendes Silber. Hedda gegenüber, am langen Nordufer, reckte sich der Bergkamm als steiler Schatten empor. Nur eine einsame Lampe durchbrach die kompakte Dunkelheit dort drüben. Wie immer zog dieses Licht Heddas Blick an.

Natürlich hätte sie das Feriendorf verkaufen sollen. Ihr wurde viel Geld geboten, mehr, als sie jemals brauchen würde.

Ein kluger Mensch hätte prompt unterschrieben. Er hätte die Krähenkolonie, das Haus und den baufälligen Schwimmsteg verlassen, um seine letzten Jahre an einem behaglicheren Ort zu verbringen. Er hätte sich nicht von einer längst eingeschlafenen Intuition stören lassen und darauf verzichtet, an der Vergangenheit zu rütteln.

Ein kluger Mensch.

Ihr Blick wanderte wieder zum nördlichen Ufer. Zu dem einsamen Licht.

Dreißig Jahre, war schon so viel Zeit vergangen? Sie musste Laura anrufen, auch wenn sie Angst davor hatte. Sie musste ihr erklären, was vor sich ging. Ihr sagen, dass sie sich in Acht nehmen sollte. Aber zuerst musste sie sich ihrer Sache ganz sicher sein. Die Intuition durch konkrete Beweise ersetzen. Denn die Wahrheit tat weh. Und außerdem konnte sie gefährlich sein. Immerhin war bereits ein junger Mensch gestorben, und andere waren ihr Leben lang gezeichnet. Und vielleicht wären noch mehr an der Reihe. Das war jedenfalls nicht auszuschließen.

Sie schaute wieder auf ihre verbrannte Hand und streckte die rosa Fingerstümpfe aus.

Ein Windstoß fegte durch die Baumkronen, und gleichzeitig begannen die Krähen sich unruhig zu bewegen, schlugen mit den Flügeln und gaben gellende Warnschreie von sich. Vielleicht ein Fuchs oder eine allzu aufdringliche Eule? Dann würden sich die Vögel schnell wieder beruhigen, sobald sich die Bedrohung entfernt hatte.

Aber die Warnrufe hielten an, nahmen an Stärke zu und schwollen zu einer Kakofonie aus Lauten und Bewegungen an.

Sie wusste, was das bedeutete. Jemand näherte sich dem Feriendorf. Jemand, den die Krähen nicht kannten.

Ein Fremder.

Sie drehte den Kopf zum Waldrand, aber das schwache Licht der Außenlampe ihres Hauses wurde von der Dunkelheit zwischen den Bäumen verschluckt.

Ein paar Sekunden lang hoffte sie, dass sie sich geirrt hatte. Aber die warnenden Krähenschreie gingen weiter, ohne ein Anzeichen, dass sie nachlassen wollten.

Sie hatte kein Motorengeräusch gehört und auch kein Scharren von Schritten auf Kies, also kam der Fremde durch den Wald. Sie erhielt hier draußen fast niemals Besuch, und definitiv keinen, der so durch die Dunkelheit geschlichen kam.

Das konnte eigentlich nur eine Sache bedeuten: Sie war zu eifrig gewesen. Hatte zu tief gegraben. Sich irgendwie verraten.

Es rasselte in ihrer Brust, ein spitzer, brennender Schmerz, den sie leider wiedererkannte.

Was sollte sie jetzt tun?

Das Telefon befand sich drüben im Haus, und auch wenn sie es vor dem Besucher erreichte, wen sollte sie anrufen? Was sollte sie sagen?

Dass die Vergangenheit zurückkam. Wer sollte ihr das wohl glauben?

Und wenn sie jetzt zum Haus rannte, würde sie definitiv ihre Angst zeigen.

Denn sie hatte Angst, das ließ sich nicht leugnen. Angst um sich, aber vor allem um Laura. Das Rasseln in der Brust nahm zu, machte ihre Atmung flach.

Flucht war ausgeschlossen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als ruhig sitzen zu bleiben und zu Ende zu rauchen. Darauf zu hoffen, dass die Güte trotz allem siegen würde. Vor allem an einem Platz wie diesem.

Sie wandte sich wieder dem See zu und nahm einen tiefen Zug. Dabei versuchte sie, ihre zitternde Hand zur Ruhe zu bringen.

Eine schwache Vibration im Steg ließ die altersschwache Vertäuung wieder ihren Klagesang aufnehmen. Das Geräusch mischte sich mit dem der Krähen und mit ihrem eigenen rasselnden Herzschlag. Sie unterdrückte den Reflex, sich umzudrehen. Stattdessen blieb sie zum Wasser gewandt sitzen.

Die Schritte hörten direkt hinter ihrem Rücken auf. Der Steg wippte immer noch leicht auf dem Wasser, bevor er zur Ruhe kam. Fast gleichzeitig wurden auch die Krähen still. Als wären sie neugierig und wollten hören, was gesagt wurde.

Sie schaute zu dem ersehnten Licht auf der anderen Seite. Dann nahm sie einen letzten Zug und warf die Kippe ins Wasser. Die Glut beschrieb einen Bogen, bevor sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Ein Opfer an den Wassergeist, dachte sie. Plötzlich überkam sie eine seltsame Ruhe. Eine Art Traurigkeit, die ihr rasendes altes Herz dämpfte.

»Ich weiß, warum du da bist«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Du möchtest herausfinden, wie viel ich weiß.«

Es kam keine Antwort.

Langsam drehte sie den Kopf.

Der Besucher stand nur einen Meter entfernt, türmte sich über ihr auf wie ein Schatten. Die Kapuze war über den Kopf gezogen, das Gesicht lang im Finstern.

»Ich habe mir alles ausgerechnet«, sagte sie langsam. »Das Angebot für Gärdsnäset, das Bauprojekt, wer wohl dahintersteckt.«

Der Besucher stand noch immer still und unbeweglich da.

Sie überlegte, ob sie wirklich weitersprechen sollte. Aber jetzt war es zu spät aufzuhören. Zu spät, um zu bereuen. Die Wahrheit musste ans Licht. Lauras wegen. Der anderen Kinder wegen. Ihretwegen.

Sie füllte die Lungen mit Luft. Schluckte.

»Der Luciabrand …«, sagte sie und merkte gleichzeitig, wie der Besucher leicht den Kopf hob. »Darum geht es bei alldem.«

Sie wandte sich wieder dem See zu, ließ ihren Blick auf dem einsamen Licht dort drüben auf der anderen Seite ruhen.

»Ich weiß, was in jener Nacht wirklich passiert ist«, sagte sie. »Und warum es passiert ist …«

1

Sie hat den Winter immer gehasst, schon seit sie klein war, oder zumindest beinahe. Früher einmal gab es Schlittschuhfahrten und Rodelhänge, Lagerfeuer, heiße Schokolade aus der Thermoskanne und Freunde, mit denen man sie teilte. Aber das ist lange her, das war vor dem Winterfeuer.

Jetzt gibt es nur noch Kälte.

»Also … Laura.«

Ihr Tischherr schaut bestimmt schon zum dritten Mal verstohlen auf das Namensschildchen neben ihrem Weinglas.

Er heißt Niklas, und bisher erweist er sich als ebenso uninteressant wie nervös. Niklas hat es schon geschafft, sich die Krawatte schmutzig zu machen, oder noch schlimmer: bewusst eine Krawatte gewählt, auf der bereits ein Fleck war, als er sich für das Abendessen fein gemacht hat.

»Woher kennst du Stephanie?«

Die Frage ist fast lächerlich vorhersehbar.

»Wir haben uns vor ein paar Jahren bei der Arbeit kennengelernt. Aber jetzt sind wir gute Freundinnen.«

Laura versucht, einigermaßen höflich zu klingen. Sie sagt nicht, dass Steph ihre beste Freundin ist und, so traurig sich das vielleicht anhören mag, an sich auch ihr einziger enger Kontakt. Möglicherweise abgesehen von Andreas.

Er fragt noch irgendetwas, aber der lautstarke Alphamann ihnen gegenüber, der seit seinem großartigen Erscheinen vor einer Dreiviertelstunde Hof hält, sagt etwas Lustiges, und das Gelächter der übrigen Gäste übertönt Niklas’ Stimme.

Sie hätte dieses Abendessen absagen sollen, ganz wahrheitsgemäß erklären sollen, dass sie Kopfschmerzen hat und außerdem einen Haufen Arbeit. Aber sie hatte Stephanie versprochen zu kommen. Versprochen, sich gut zu benehmen und dem nervösen Niklas eine Chance zu geben.

»Es ist wichtig, dass du back in den Sattel steigst, Laura. Find somebody new. Yihaa!«

Letzteres hat Stephanie ehrlicherweise nicht gesagt, das hat Laura für sich hinzugefügt. Sie nimmt einen kräftigen Schluck Wein und denkt sich, dass sie ungerecht ist. Steph ist in den USA aufgewachsen und spricht daher beide Sprachen gleichzeitig. Manchmal hat Laura den Eindruck, dass sie es absichtlich macht, die Mischung übertreibt, um sich von der Menge abzugrenzen, was kaum nötig ist.

Sie schaut zum Kopfende des Tisches. Steph ist wie immer hübsch und trägt ein genau im richtigen Maße ausgeschnittenes Kleid. Das blonde Haar ist perfekt geföhnt, sie hält den Kopf auf eine Art und Weise schief, dass alle Männer in ihrer Nähe ihr sofort zu Füßen liegen. Steph ist zwei Jahre älter als sie, aber die Schönheitsoperationen, die sie hat machen lassen, sind so diskret und professionell, dass niemand sie auch nur auf einen Tag älter als vierzig schätzen würde.

Laura selbst sieht exakt wie fünfundvierzig aus. Sie hat Krähenfüße in den Augenwinkeln und eine Sorgenfalte auf der Stirn, die auf der kreideweißen Haut, wie nur Rothaarige sie haben, besonders gut sichtbar ist. Die Haarfarbe und den Hautton hat sie von ihrem Vater geerbt, den verbissenen Ausdruck um ihren Mund herum hat sie sich dagegen selbst zugelegt.

Laura trägt ein langärmeliges Hemd und darüber eine Kaschmirjacke, und obwohl es im Raum so heiß ist, dass einige Herren schon ihre Krawatten gelöst haben, sind ihre Finger und ihre Nasenspitze eiskalt. Das sind sie immer, das ganze Jahr hindurch, dank des Winterfeuers. Oder besser gesagt: wegen. Dankbarkeit verspürt sie deshalb nicht.

Sie und Steph sind in vielen Dingen das genaue Gegenteil. Steph ist offen und extrovertiert, hat sich ganz allein eine eigene Firma aufgebaut. Sie selbst hat die ihres Vaters übernommen. Sie hat sich an den gedeckten Tisch gesetzt, wie ihre Mutter ihr gegenüber in regelmäßigen Abständen hervorhebt.

Stephanie muss Lauras Blick gespürt haben, denn sie schaut in ihre Richtung und nickt vielsagend. Sie weiß, was das heißt. Reiß dich zusammen, Laura, gib ihm eine Chance.

Sie seufzt innerlich und wendet sich dann Niklas zu. Sie versucht, nicht auf den Fleck auf seiner Krawatte zu schauen.

»Entschuldige, ich habe nicht ganz verstanden, was du gesagt hast.«

Niklas errötet.

»Ach, ich habe nur gefragt, ob du auch in der Investmentbranche tätig bist.«

»Nein, ich arbeite im Risikomanagement. Vor allem im soften Sektor.«

Niklas schaut verständnislos drein, und ihr wird klar, dass sie die Antwort genauer erklären muss.

»Wir schätzen Menschen ein. Ob sie für eine Beförderung oder Anstellung geeignet sind. Vielleicht hast du schon mal den Begriff Screening gehört?«

»Du meinst, dass ihr das Strafregister anschaut und so was …?«

Sie hört an seinem Tonfall, dass er nicht versteht, was nicht weiter verwunderlich ist. Ihr Arbeitsfeld ist gelinde gesagt klein.

»Das Strafregister ist nur ein kleiner Teil. Wir wollen ein vollständigeres Bild von einer Person bekommen. Die ökonomischen Verhältnisse überprüfen, die Familienverhältnisse, mit alten Lehrern sprechen, früheren Arbeitgebern, Kollegen. Zusammengenommen führen wir über hundert verschiedenen Kontrollen durch und laden manchmal auch noch zu intensiven Interviews ein.«

Sie lässt weg, dass Letzteres ihre besondere Spezialität ist, sie will ihn nicht unnötig erschrecken. Tatsächlich hat sie sich das meiste, was Niklas angeht, schon zusammengereimt, oder zumindest das Wichtigste. Sodass sie absolut nicht daran denkt, ihn noch einmal zu treffen, egal, was Steph sagt.

»Wer sind eure Kunden?«

Eine gute Frage, das musste man ihm lassen. Wenn das ein Interview wäre, würde sie jetzt einen kleinen Schnörkel in die eine Ecke ihres Auswertungsformulars kritzeln, um zu markieren, dass er schlauer war, als er aussah.

»Vor allem Personalberater«, antwortet sie. »Aber auch Unternehmen oder Behörden, die intern auf Führungspositionen oder hohe Chefposten befördern. Manchmal sind es auch Investoren, die wissen wollen, mit wem sie es zu tun haben.«

»Wie Stephanie?«

»Genau.«

Gerade als Laura die Höflichkeit erwidern und Niklas nach seinem Job fragen will, mischt sich das Alphamännchen in ihre Unterhaltung ein. Er ist etwa fünfzig Jahre alt, und sie braucht nicht auf sein Namensschildchen zu schauen, um zu wissen, wie er heißt.

»Du arbeitest also im Bereich Personalberatung?«

Das Alphatier hat bereits die Aufmerksamkeit des restlichen Tisches, sodass sich jetzt alle Blicke auf sie richten.

»Nein«, antwortet Laura schroff, weil sie schon weiß, worauf er hinauswill.

Aber so einfach lässt er sich natürlich nicht abwimmeln.

»Ich bin nämlich auf der Suche nach einer neuen Herausforderung.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Wie gesagt, ich mache keine Personalberatung.«

Aber das Alphatier hört nicht zu.

»Ich erhöhe in der Regel den Umsatz schon im ersten Jahr um mindestens zehn Prozent«, sagt er. »Diese Woche war ein Artikel über mich in der DI, hast du ihn gesehen?«

Laura wendet sich demonstrativ an Niklas, aber das Alphatier versteht den Wink nicht.

»Mindestens einmal pro Woche rufen mich Headhunter an«, fährt er fort. »Manchmal bieten sie reine Fantasiegehälter. Aber ich suche nach der richtigen Herausforderung. Was hast du gesagt, für welche Firma du arbeitest, Lena?«

Steph greift ein, bevor Laura dazu kommt, ihn abzufertigen.

»Laura ist Geschäftsführerin ihres eigenen Unternehmens, Tobias. Sie schätzt solche Leute wie dich ein, sucht nach euren Schwachstellen. The skeletons in your closets. Du solltest dich lieber vor ihr in Acht nehmen.«

Vereinzelt bricht Gelächter aus, und hätte Tobias auch nur das kleinste bisschen Fingerspitzengefühl, hätte er die Sache auf sich beruhen lassen. Stattdessen beugt er sich über den Tisch.

»So, so. Na, wie würdest du mich denn einschätzen, Laura? Welche Schwächen habe ich?«

Er lächelt breit, zeigt seine frisch gebleichten Zähne und nimmt einige der übrigen Gäste für sich ein.

Laura bemerkt Stephanies Blick, und natürlich sollte sie den Mund halten, aber Alpha-Tobias sieht so selbstgefällig aus, wie es nur eine gewisse Sorte Mann kann. Er hat wirklich darum gebeten.

Steph schüttelt den Kopf, aber Laura beschließt, nicht in ihre Richtung zu schauen.

»Ich habe schon massenhaft Leute wie dich getroffen«, brüstet sich Tobias. »Hobbypsychologen, die glauben, sie könnten Menschen dadurch einschätzen, dass sie sie einen blöden Test ausfüllen lassen. Kannst du deine drei größten Schwächen aufzählen? Welche Farbe verknüpfst du mit deiner Persönlichkeit? Wenn du ein Auto wärst, welche Marke wärst du dann? Das ist doch alles Bullshit.«

Er lacht laut und erhält wieder Rückendeckung von einigen, hauptsächlich männlichen Gästen. Gestärkt von der Unterstützung beugt er sich noch weiter vor und streckt einen Zeigefinger aus, der eine dünne, klebrige Haut über dem Nagel hat.

»Aber mach ruhig, Laura, give me your best shot!«

»Okay, aber vergiss nicht, dass es deine Idee war.«

Sie trinkt einen Schluck Wasser, stellt das Glas ab und studiert Tobias dabei gründlich. Sie lässt den Blick von der Rötung an seinem Haaransatz über den Oberkörper bis zu den Händen wandern. Am Tisch ist es mucksmäuschenstill geworden.

»Du bist verheiratet«, beginnt sie. »Aber das da ist nicht deine Gattin.«

Sie deutet mit einem Nicken auf die zwanzig Jahre jüngere Frau, die zwei Stühle weiter sitzt und mit Tobias gekommen ist.

»Du bist mit dem Auto hierhergefahren, um die Gelegenheit zu nutzen, ihr deinen teuren Wagen vorzuführen. Theoretisch könnte er von einer italienischen Marke sein, aber um die richtig gut fahren zu können, braucht es Zeit, und du bist nicht der Typ, der Geduld hat, deshalb tippe ich auf einen leichter zu manövrierenden Porsche.«

Tobias’ Blick flackert.

»Eigentlich hast du schon zu viel getrunken, aber du willst trotzdem nach Hause fahren, damit dein teures Gefährt nicht an der Straße parken muss. Was wiederum bedeutet, dass du dich weder um die Risiken und Konsequenzen für dich noch für andere scherst. Da du mit dem Auto gekommen bist, wohnst du nicht in der Stadtmitte, sondern vermutlich auf Lindingö oder in Djursholm. Deinen übertriebenen »I«s nach zu urteilen, tippe ich auf Ersteres, deine Satzmelodie deutet allerdings darauf hin, dass du irgendwo an der Westküste geboren und aufgewachsen bist.«

Sie macht eine Pause, lässt ihn einen Moment lang zappeln und bemüht sich, Stephs Blick nicht zu begegnen. Das hier ist einfach zu leicht. Und es macht Spaß.

»Dein Anzug ist von Brioni, deine Uhr eine Rolex, die Krawatte von Fendi«, fährt sie fort. »Natürlich in Rot, denn in irgendeiner Autobiografie hast du gelesen, dass das die Farbe der Macht ist. Autobiografien sind im Übrigen das Einzige, was du liest. Und du hast erst vor Kurzem eine Haartransplantation machen lassen.«

Sie lehnt sich zurück. Versucht, nicht allzu selbstgefällig auszusehen.

»Fazit: Du bist eine risikofreudige Midlife-Crisis auf zwei Beinen. Wie gefällt dir diese Einschätzung?«

Am Tisch herrscht immer noch Totenstille. Tobias schnappt nach Luft, als wäre er kurz davor zu explodieren.

Ohne Vorwarnung beginnt Steph zu lachen. Sie bricht in ein lautes, ansteckendes Gelächter aus, das die anderen mitreißt und die Stimmung schnell wieder entspannt.

»Sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt habe«, ruft sie, als das Gelächter in ein vergnügtes Murmeln übergegangen ist. »Laura ist fucking lebensgefährlich.«

Tobias kippt den Inhalt seines Weinglases hinunter.

»Verdammt, woher weißt du das alles?«

Er klingt gekränkt, aber auch ein wenig beeindruckt.

»Willst du das wirklich wissen?«, fragt Laura.

Das Gemurmel am Tisch hört wieder auf. Sie sieht ihn ruhig an.

»Ich habe den Artikel über dich in der Zeitung gelesen. Da stand, woher du kommst, wo du wohnst und dass du seit vielen Jahren verheiratet bist. Aber deine Begleitung trägt keinen Ehering.« Sie deutet wieder auf die jüngere Frau, deren Hände auf der Tischdecke zu sehen sind. »Auf dem Foto in der Zeitung hattest du außerdem einen höheren Haaransatz.«

Und du hast etwas Klebriges auf den Fingern, das wahrscheinlich Rogaine ist, denn falls die Transplantation nicht glücken sollte, kannst du dir nichts Schlimmeres vorstellen, als eine Glatze zu bekommen. Diese Erkenntnis behält sie allerdings für sich. Es gibt trotz allem Grenzen.

Tobias errötet wieder. Der Schock und die Verwunderung haben sich inzwischen gelegt. Jetzt ist er wütend, fühlt sich gedemütigt und überlegt wahrscheinlich gerade, ob er sie eine Bitch nennen, aufstehen und hinausstürmen soll oder ob er so tun soll, als halte er ihr die andere Wange hin und sei ein guter Verlierer. Sie vermutet Letzteres. Alles andere wäre dämlich.

»Und das Auto?«, fragt ihr Tischherr. »Woher wusstest du, dass er Porsche fährt?«

Sie zuckt mit den Achseln.

»Er ist direkt nach mir gekommen und hat draußen geparkt. Ich habe gesehen, wie sie aus dem Wagen stiegen, als ich zur Tür ging.«

Wieder bricht Gelächter aus. Tobias bleibt sitzen, grinst verlegen und gibt sogar vor, an dem Spaß teilzuhaben. Eine kluge Entscheidung.

Eine der Frauen am Tisch lacht so heftig, dass sie kaum noch Luft bekommt. Sie greift nach ihrem Wasserglas, wirft es um, und als sie sich vorbeugt, gerät eine ihrer Locken zu nahe an eine brennende Kerze.

Laura sieht, was gleich passieren wird, und öffnet den Mund, um die Frau zu warnen. Aber es ist zu spät. Eine Stichflamme, dann ein Schrei.

Nach einem kurzen Augenblick ist alles vorüber. Die Locke ist verbrannt, die Flamme gelöscht. Alles, was zurückbleibt, sind aufgeregte Stimmen und der beißende Geruch nach verbranntem Haar.

Die gesamte Aufmerksamkeit richtet sich auf die Frau, daher merkt niemand, dass Laura aufsteht und aus dem Zimmer eilt. Ihr Magen zieht sich zusammen, sie spürt kalten Schweiß im Nacken.

Sie schafft es gerade noch, die Toilettentür hinter sich abzuschließen, den Wasserhahn aufzudrehen und ihre Haare beiseitezuschieben, bevor sie ins Waschbecken bricht.

Hinterher spült sie sich den Mund aus, schnäuzt sich mehrmals, um den Geruch nach verbranntem Haar aus der Nase zu bekommen. Doch er scheint sich festgebissen zu haben.

Sie schaut sich im Spiegel an und stellt fest, dass sie womöglich noch blasser als sonst aussieht.

»Beruhige dich«, murmelt sie. »Ganz ruhig.«

Nach einer Weile geht es ihr besser. Sie lauscht Richtung Esszimmer. Die aufgeregten Stimmen haben sich gelegt. Ein leichter Luftzug verkündet, dass jemand ein Fenster geöffnet hat.

So im Nachhinein muss sie sich eingestehen, dass es keine gute Idee war, Tobias so herunterzumachen. Wenn sie nicht ihre Show abgezogen hätte, hätten die Haare der Frau nicht Feuer gefangen, und sie selbst würde nicht hier stehen und Erbrochenes aus Stephs Marmorwaschbecken spülen.

Ihre Kopfschmerzen sind schlimmer geworden, und am liebsten möchte sie einfach nach Hause fahren, sich einigeln und nichts mit Menschen zu tun haben müssen. Aber sie will Steph nicht enttäuschen.

Sie holt ihr Handy aus der Handtasche. Eine SMS und zwei verpasste Anrufe. Der erste stammt von einem Kontakt namens Ex-Mann/Stalker Andreas.

Einer von Stephs kleinen Scherzen, den sie so hat stehen lassen. Sie ist schließlich selbst schuld, weil sie ihr Handy einen Moment lang unbeaufsichtigt ließ. Außerdem ist es nicht ganz falsch.

Ein gutes Jahr nach der Scheidung ruft Andreas immer noch fast täglich an. In den letzten Wochen haben die Telefonate zugenommen. Natürlich sollte sie ihn bitten, damit aufzuhören. Ihm erklären, dass sie beide mit ihrem Leben vorankommen sollten. Doch sie hat es nicht getan.

Der zweite verpasste Anruf ist von einer Nummer, die sie nicht kennt. Eine Festnetznummer mit einer Vorwahl, die ihr vage bekannt vorkommt.

Sie öffnet eine Such-App. Die Telefonnummer gehört zu einer Kanzlei Håkansson in Ängelholm, und sobald sie den Ortsnamen gelesen hat, beginnt eine schwache Alarmglocke in ihrem Hinterkopf zu läuten. Ohne lange darüber nachzudenken, ruft sie an. Aber eigentlich erwartet sie nicht, dass am Freitagabend um acht Uhr jemand ans Telefon geht.

»Håkansson.«

Der Mann am anderen Ende spricht einen knarrigen, schonischen Dialekt.

»Hallo, ich heiße Laura Aulin. Sie haben mich vorhin angerufen?«

»Ach, wie gut, dass Sie zurückrufen …«

Sie hört das Rascheln von Papier.

»Also, es geht um Ihre Tante. Hedda. Hedda Aulin. Haben Sie kürzlich mit ihr gesprochen?«

Die Alarmglocken läuten immer stärker, und Laura spürt die Übelkeit wieder in sich aufsteigen.

»Wir … haben keinen Kontakt.«

»Nicht?«

»Nein, schon seit vielen Jahren nicht mehr. Ist ihr etwas zugestoßen?«

Die kurze Stille beantwortet die Frage. Sie schluckt.

»Mein aufrichtiges Beileid, Ihre Tante ist leider von uns gegangen.«

»Wann?«

»Irgendwann in der Nacht zu Montag, wird vermutet.«

Ohne Vorwarnung beginnt es am Rücken unter ihrer Haut zu kribbeln. Eine schmerzhafte Kombination aus Wärme und Kälte, die sie seit Jahren nicht mehr gespürt hat. Jedenfalls nicht im Wachzustand.

»Tja, wie auch immer …«, fährt Håkansson fort. »Ihre Tante hat mich neulich kontaktiert, um ein Testament aufzusetzen. Sie sind die Alleinerbin.«

Er verstummt, wartet darauf, dass Laura etwas erwidert, aber sie weiß nicht, was sie sagen soll.

»Wie Sie sicher verstehen, gibt es hinsichtlich der Hinterlassenschaften einige praktische Entscheidungen zu fällen«, redet er weiter.

»Ja … ich verstehe«, quetscht sie hervor. »Kann ich Sie morgen wieder anrufen?«

»Montag reicht völlig. Es eilt nicht direkt. Wie gesagt, mein Beileid. Ihre Tante war …« Er zieht den Satz in die Länge, als suche er nach den richtigen Worten. »Eine sehr spezielle Frau.«

Das Gespräch endet, und Laura bleibt mit dem Handy am Ohr stehen. Die Haut an ihrem Rücken brennt wie Feuer, Schweißtropfen bahnen sich ihren Weg zum Hosenbund hinunter. Ihr restlicher Körper ist eiskalt.

2

Wasser ist nichts, wovor man Angst haben muss, Laura. Nicht, solange man Respekt davor hat.

Heddas Worte hallen durch Lauras Kopf, während sie schwimmt.

Der Pool in der Spa- und Fitnessetage des Gebäudes ist zwanzig Meter lang, und Laura durchpflügt eine Bahn in fünfzehn Sekunden. Sie atmet nur unmittelbar nach der Rollwende und macht gleichmäßige Bewegungen, bei denen sie nicht unnötig Sauerstoff verbraucht. Sie schwimmt eine Bahn nach der anderen und hat normalerweise nichts im Kopf als das Geräusch des Wassers und das Pochen des Pulses gegen die Schläfen. Aber heute ist es anders. Die Gedanken kreisen, Stimmen und Erinnerungen werden wach.

Sie war nie gut in Sport. Vor allem nicht in Sportarten, in denen man zusammenspielen musste. In den teuren Privatschulen hatte sie genug Gelegenheit, das herauszufinden.

Mit dem Schwimmen war es anders. Da gab es keine Mannschaftskameraden oder Bälle. Nicht einmal wirkliche Gegner. Nur sie und das Wasser.

Es war Hedda, die ihr beigebracht hat, richtig zu schwimmen. Davor hatte sie Schwimmunterricht in Singapur bekommen. Sie schaffte gerade einmal eine panische Bahn Hundekraul mit einem Privatlehrer neben sich, während ihre Mutter auf einem Liegestuhl saß und in der Vogue blätterte.

Hedda hatte ihre Angst bemerkt, und an einem Sommerabend nahm sie sie mit hinaus zu dem kleinen Ruderboot. Laura war damals sieben Jahre alt, aber sie erinnert sich noch an das kleinste Detail. An den Vollmond und den Sternenhimmel über ihnen. Die Stille, als Hedda die Ruder mitten auf dem See hochzog.

»Der See trägt dich«, sagte sie. »Du musst ihm nur vertrauen. Und ich bin direkt hinter dir. Auf dem ganzen Weg zurück nach Hause.«

Sie deutete auf den Strand, wo die Lichter der Ferienhäuser zu sehen waren.

»Bist du bereit?«

Laura atmete ein, nickte. Dann kippte Hedda das Boot um.

 

Laura duscht wie immer in der Kabine ganz links, in der alle Fugen zwischen den Kacheln sauber sind und der Wasserstrahl am gleichmäßigsten herabströmt. Bevor sie hineingeht, spritzt sie sorgfältig die Wände und den Boden ab. Die schwarze Sprühflasche, die sie bei sich hat, beinhaltet zur Hälfte Wasser, zur Hälfte Chlorlauge. Eine Mischung, die garantiert die meisten Mikroorganismen abtötet, die sich auf dem Boden befinden können. Trotzdem behält sie die Badeschlappen an.

Ihr Badeanzug ist langärmelig, er erinnert an einen Neoprenanzug, und sie zieht ihn erst aus, nachdem sie die Duschkabinentür hinter sich geschlossen hat. Hier drin kann niemand sie sehen, und sie braucht nicht den Rücken zur Wand zu drehen, während sie duscht.

Hedda und sie wiederholten diese erste Schwimmtour jeden Sommer. Gemeinsam kippten sie das Boot um, obwohl es eigentlich nicht mehr nötig war. Wenn das Wasser richtig warm war, hatten sie es nicht eilig, zum Strand zu kommen, dann lagen sie stattdessen draußen auf dem See auf dem Rücken und ließen sich treiben, während sie Hedda erklärte, wie die verschiedenen Sternbilder hießen.

Das kleine Ruderboot lag am nächsten Morgen für gewöhnlich am Ufer direkt vor dem Haus.

»Das Boot kennt den See genauso gut wie ich. Es findet allein nach Hause.«

 

Als sie fertig geduscht hat, wickelt sie sich in den Bademantel, zieht die Kapuze über den Kopf und fährt mit dem Fahrstuhl direkt in ihre Wohnung. Während sie geschwommen ist, war die Putzfrau da. Jetzt ist sie wieder verschwunden und hat nichts anderes hinterlassen als einen schwachen Geruch nach Sauberkeit.

Laura kickt die Badeschlappen weg und geht barfuß über den glatten Kalksteinboden. Unterwegs richtet sie die kleine Guan-Di-Statue, die den Eingang vor bösen Geistern bewacht und die von der Putzfrau beim Abstauben der Kommode ein paar Millimeter verschoben wurde.

Die Fußbodenheizung in der Wohnung ist voll aufgedreht, das Thermostat zeigt fünfundzwanzig Grad an. In einer Ecke steht ein Kamin. Das Feuer ist eigentlich eine Gasflamme, die sich steuern und kontrollieren lässt und hinter Panzerglas eingekapselt ist. Laura zündet das Feuer mit einer Fernbedienung an und vermeidet es, die Flammen anzuschauen. Dann zieht sie ihre Fellpantoffeln an.

Es ist kurz nach drei an einem Samstagnachmittag. Über den schneebedeckten Dächern von Stockholm wird es allmählich dunkel. In der Wohnung ist es still, das einzige Geräusch ist das schwache Rauschen des Verkehrs tief unten auf der Straße. Laura macht noch nicht das Licht an, sie nimmt das Handy von der Ladestation. Keine Nachrichten oder verpassten Anrufe. Nicht, dass sie welche erwartet hätte. Sie ist es, die jemanden anrufen müsste. Sie hätte es schon heute Morgen machen sollen, aber sie hat es hinausgezögert.

»Madeleine Aulin.«

Im Hintergrund sind Stimmen zu hören.

»Hallo, Mama. Ich bin’s. Bist du beschäftigt?«

»Pierre und ich haben Gäste.«

»Aus Schweden?«

»Ja. Nur ein paar alte Bekannte.«

Ein schwach veränderter Tonfall, den Laura sofort durchschaut.

»Ist Marcus da?«

Die kurze Pause beantwortet die Frage.

»Sie sind gestern gekommen. Ganz kurzfristig. Er hatte so viel Stress, und das Au-pair kümmert sich um die Kinder, bis die Weihnachtsferien beginnen.«

Laura presst die Zähne zusammen. Rein formell ist sie Marcus’ Chefin, aber natürlich hat ihr kleiner Bruder mit keinem Wort erwähnt, dass er vorhatte, sich freizunehmen. Und schon gar nicht, dass er zu ihrer Mutter und Pierre nach Mallorca reisen wollte.

Ihre Mutter deutet Lauras Schweigen auf ihre Weise.

»Wir sind nicht davon ausgegangen, dass du kommen kannst. Marcus sagte, du hättest viel zu tun. Aber natürlich bist du jederzeit willkommen. Das weißt du.«

Laura bewegt die Kiefer, um die Spannung zu lösen. Natürlich kann sie die Einladung nicht annehmen, teils weil die nicht von Herzen kommt, teils weil sie sich kaum etwas Grässlicheres vorstellen kann, als in der protzigen spanischen Villa von ihrer Mutter und Pierre zusammen mit Marcus’ lauter Familie Weihnachten zu feiern. Aber wenn sie ablehnt und es wie immer, wenn eine Familienzusammenkunft ansteht, auf die Arbeit schiebt, würde sie ihnen recht geben. Sie würde damit gutheißen, dass die Familie sie ausgeschlossen hat.

»Hast du eigentlich mit Andreas gesprochen?«, fragt ihre Mutter, bevor sie einen Entschluss fassen kann.

»Wieso?«

Die Frage überrascht sie und gleichzeitig auch wieder nicht.

»Marcus hat ihn neulich zufällig am Stureplan gesehen, zusammen mit einer Frau. Es schien ihm etwas peinlich?«

Ihre Mutter lässt das Letzte wie eine Frage klingen. Als würde sie irgendeine Erklärung erwarten.

»Wir sind seit einem Jahr geschieden. Andreas darf treffen, wen er will.«

Ein kurzes Geräusch im Hörer. Vielleicht ein Schnauben.

»Tja, nicht einmal seine Geduld ist endlos.«

Sie hat auf diesen Kommentar gewartet, seit der Name Andreas fiel. Die säuerliche kleine Bemerkung, die Laura daran erinnert, dass sie sich lächerlich benimmt. Dass sie so schnell wie möglich aufhören sollte, Ärger zu machen, und Andreas bitten sollte, sie zurückzunehmen, bevor es zu spät ist.

»Hast du gewusst, dass Tante Hedda tot ist?«

Ein Feuerzeug klickt. Ihre Mutter raucht immer noch, obwohl ihr Vater an Lungenkrebs gestorben ist. Ein langes Ausatmen, ein Seufzer voller Tabakrauch, während Lauras Gehirn automatisch das Krankheitsrisiko nach fünfundfünfzig Jahren Nikotinkonsum bewertet.

»Ja, ich habe davon gehört«, sagt ihre Mutter. »Traurig.«

»Warum hast du mich nicht angerufen und es mir erzählt?«

Stille, noch ein Rauchseufzer.

»Ich habe einfach nicht daran gedacht. Pierre und ich waren ziemlich mit dem Haus beschäftigt. Und du hast doch wohl auch genug zu tun? Wie hast du überhaupt davon erfahren?«

»Gestern Abend hat mich ein Anwalt angerufen. Hedda hat mir Gärdsnäset vererbt.«

»Aha.«

Laura erahnt die Unruhe hinter dem neutralen Wort.

»Warum hat sie das wohl gemacht, glaubst du?«

»Keine Ahnung. Hedda war immer etwas eigen. Wie du sicher weißt, war sie nicht einmal so höflich, sich zu melden, als dein Vater starb. Ihr eigener Bruder. Nach allem, was wir für sie getan hatten. Was willst du überhaupt mit einem alten Feriendorf?«

Wieder lag Schärfe in der Stimme. Wie eine Andeutung, dass Laura etwas falsch machte oder gemacht hatte. Sie zog es vor, das zu ignorieren.

»Die Beerdigung ist am Samstag. Ich habe vor, hinzufahren.«

Wieder ein Zigarettenzug.

»Denkst du, dass das so klug ist?«

»Ich bin Heddas nächste Angehörige.«

»Du fährst also nur deshalb hin? Weil du so gutmütig bist?«

Laura presst wieder die Kiefer aufeinander.

»Es ist wohl eher wegen ihm?«, fährt ihre Mutter fort. »Dem Findelkind?«

Das Gefühl, durchschaut worden zu sein, treibt ihr die Hitze ins Gesicht.

»Er heißt Jack.«

Ihre Mutter schnaubt.

»Er ist abgehauen, weißt du das nicht mehr? Er hat dich im Stich gelassen, als du es besonders schwer hattest.«

»Ja, ich erinnere mich.«

Die Worte schneiden ihr ins Herz, vor allem, weil sie wahr sind.

»Du warst noch keine sechzehn, es war eine lächerliche Teenagerliebe. Und trotzdem kannst du nicht aufhören, an ihn zu denken. Du hoffst bestimmt, dass er bei der Beerdigung auftaucht.«

Laura zwingt sich, nicht darauf zu antworten.

»Wenn ich du wäre, würde ich mich fernhalten. Gärdsnäset ist ein schrecklicher Ort, und nach allem, was passiert ist, begreife ich nicht, dass du überhaupt …«

Ihre Mutter unterbricht sich, zieht zweimal kurz an der Zigarette.

»Was ich versuche zu sagen, Laura …« Ihre Stimme ist weicher geworden, fast ein bisschen besorgt. »Man sollte nicht an der Vergangenheit rühren. Das führt selten zu etwas Gutem, glaub mir.«

 

Laura steht im Schlafzimmer vor dem großen Wandspiegel. Sie zögert einen Augenblick, bevor sie den Bademantel öffnet und ihn zu Boden fallen lässt. Die letzte verbliebene Wärme vom Duschen entschwindet, sie schaudert.

Der Raum ist dunkel, nur ein kleiner Lichtstrahl findet seinen Weg hinein und lässt ihre Haut noch blasser aussehen als sonst. Laura löst den Knoten im Nacken und schüttelt ihr rotes Haar aus, sodass es über ihre Schultern fällt. Dann verschränkt sie die Arme vor der Brust. Ohne den Blick vom Spiegel zu wenden, dreht sie langsam den Oberkörper. Der Fleck beginnt auf der unteren Hälfte des linken Schulterblatts. Je weiter sie sich dem Spiegel zudreht, desto mehr wächst er, wird zu einem großen Feld rauen Narbengewebes, das sich von der Schulter schräg den Rücken hinunter ausbreitet. Sie zittert wieder.

Einige kurze Augenblicke lang kann sie sich an alles erinnern. An das Prasseln der Flammen, den Geruch nach Ruß, verbranntem Haar und Fleisch, der so intensiv ist, dass sie ihn im Mund schmecken kann.

Den Schmerz am Rücken, der zugleich heiß und kalt ist.

Dann das schwebende Gefühl, als jemand sie über das Eis trägt, immer näher an das schwarze, kalte Wasser dort draußen. Und zum Schluss die Schreie. Ihr eigener und der von jemand anderem.

3

Die Saftbar liegt in der Birger Jarlsgatan direkt neben Stephanies Fitnesscenter und ist voll mit Frauen, die geklont sein könnten. Daunenjacken über der Sportkleidung, perfekte Frisuren, das Saftglas in der einen Hand und das Telefon in der anderen. Gespräche, die eher an Monologe erinnern, weil keine der anderen in die Augen schaut.

Steph unterscheidet sich von den anderen Gästen in einem wichtigen Punkt. Sie hat tatsächlich richtig trainiert, was man sowohl an ihren Kleidern erkennen kann als auch an dem dünnen Schweißfilm, der noch auf ihrer Stirn zu sehen ist. Steph macht keine halben Sachen, was eine der Eigenschaften ist, die Laura an ihr mag. Go big oder go home, wie Steph immer sagt. Laura selbst geht nie ins Fitnessstudio. Schweißverschmierte Geräte, gemeinsame Umkleideräume, offene Duschen und neugierige Blicke.

»Um das Ganze zusammenzufassen, ziehst du also in Erwägung, in ein Kaff in Schonen zu fahren, um eine Tante zu begraben, die du seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hast, und alles nur, um deine Mutter zu ärgern, zu der du kaum Kontakt hast?«

Steph nimmt einen Schluck von einem Saft, der so viele Zutaten hat, dass der Mann hinter der Theke vier Minuten gebraucht hat, um ihn zu mixen.

Laura antwortet nicht, teils weil Steph nicht ganz unrecht hat, teils weil sie nicht die ganze Geschichte erzählen kann. Sie reibt die Handflächen aneinander und versucht, die Fingerspitzen wieder warm zu bekommen. Draußen herrschen Minusgrade, und obwohl es noch nicht Dezember ist, sind die mehrere Dezimeter hohen Schneehaufen am Bordsteinrand bereits schmutzig braun.

»Wie lange kennen wir uns jetzt schon?«, fragt Steph. »Haben wir uns nicht in dem Jahr kennengelernt, in dem ich hierhergezogen bin?«

»Im Jahr darauf. Du bist im September 2015 nach Schweden gezogen, wir haben uns im Januar 2016 getroffen.«

»Also fast zwei Jahre. Es fühlt sich länger an. Jedenfalls hast du mich schon zigmal über meine Ex-Männer und den Unterschied zwischen Amerikanern und Schweden reden hören. Ich weiß dafür inzwischen alles über dein – vorsichtig ausgedrückt – spezielles Verhältnis zu deiner Mutter und deinem deadbeat von kleinem Bruder. Und auch über deine Scheidung und Stalker-Andreas. Aber über eine reiche Tante in Schonen hast du noch keinen Ton gesagt.«

Steph hebt die Augenbrauen, aber ihre Stirn bleibt glatt.

»Hedda war nicht reich«, sagt Laura.

»Nicht? Ich dachte, du hättest gesagt, du würdest erben.«

»Ich habe heute Morgen eine E-Mail von dem Anwalt bekommen. Hedda war im Prinzip völlig verarmt. Es gibt ein Stück verpfändetes Land, das ist alles.«

»I stand corrected. Du hast eine arme Tante, über die du bisher keinen Mucks gesagt hast. Warum nicht?«

Weil ich das alles hinter mir gelassen habe, will sie sagen. Aber das stimmt natürlich nicht. Stattdessen vermeidet sie es, antworten zu müssen, indem sie mit den Achseln zuckt.

»Du weißt, dass wir ziemlich viel umgezogen sind, als ich klein war«, sagt sie. »Mein Vater hat in weiten Teilen Südostasiens gearbeitet, sodass ich fast jedes Jahr die Schule wechseln musste.«

Sie erhält ein Nicken zur Antwort.

»In den längeren Ferien wohnte ich meistens bei meiner Tante, in ihrem Feriendorf in Schonen. Hedda hatte keine eigenen Kinder, deshalb war sie wie eine zweite Mutter für mich. Ich hatte dort auch Freunde. Ich liebte es, dorthin zu fahren.«

»Aha?«

Die perfekten Augenbrauen sind noch immer hochgezogen. Laura holt Luft.

»Als ich fünfzehn war, passierte im Winter ein Unfall. Ein Brand …«

Steph beugt sich interessiert vor.

»Meine Freunde und ich haben im Tanzpavillon der Ferienanlage das Luciafest gefeiert, im Winter war das Gebäude sonst geschlossen. Eine typische Teenagerparty. Plötzlich fing es an zu brennen.«

Sie verstummt, überlegt, wie viel sie erzählen soll. Dann entscheidet sie sich für die offizielle Version.

»Der Tanzpavillon ist komplett runtergebrannt. Es gab viel Rauch und ein großes Durcheinander. Alle versuchten hinauszukommen. Eine meiner Freundinnen schaffte es nicht.«

Steph wird bleich. Ihre Augen glänzen.

»Wie schrecklich.«

Steph legt die Hand auf ihren Arm. Die Geste rührt Laura fast. Steph kann bei Geschäften steinhart sein und derb wie ein Pferdehändler. Aber das ist nur die Oberfläche.

»Sie hieß Iben«, fügt Laura hinzu. »Wir waren beste Freundinnen.«

Steph drückt ihren Arm, und eine Weile sitzen sie schweigend da.

»Was …« Steph räuspert sich. »Was ist dann passiert?«

Laura reißt sich zusammen. Über den Rest kann sie besser sprechen, aber leicht ist es auch nicht.

»Meine Eltern holten mich ein paar Tage später nach Hause nach Hongkong. Gleich darauf wurde ich krank. Ich wurde von einem Virus befallen, bekam eine Hirnhautentzündung und lag mehrere Monate im Krankenhaus. Als ich endlich wieder auf den Beinen war, wollten meine Eltern weder darüber sprechen, was passiert war, noch über Tante Hedda. Und mich schon gar nicht wieder dorthin reisen lassen.« Ich nenne den Virus Winterfeuer, er hat unter anderem mein inneres Thermostat zerstört, was der Grund dafür ist, dass ich fast immer friere.

Das Letzte behält sie für sich, genau wie die Tatsache, dass sie seitdem ihr ganzes Leben gezwungen war, Pillen zu schlucken, um den Albträumen zu entgehen. Stattdessen unterstreicht sie ihre Erzählung mit einem schuldbewussten Lächeln, das sie problemlos aufsetzen kann. Steph sieht schockiert aus.

»Ach, was für eine schreckliche Geschichte.« Sie drückt noch einmal ihren Arm. »Du musst dich furchtbar gefühlt haben.«

Laura zuckt mit den Schultern, ihr fällt keine bessere Reaktion ein.

»Das ist lange her. Tatsächlich habe ich seit Jahren nicht mehr daran gedacht.«

Eine Lüge, aber in ihrem jetzigen Gemütszustand merkt Steph es nicht.

»Und deine Tante hat später nicht versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen?«

Laura schüttelt den Kopf.

»Wir schrieben uns sonst immer Briefe, aber in den Monaten, die ich im Krankenhaus verbrachte, meldete sich Hedda kein einziges Mal. Darüber war ich natürlich traurig, aber ich schrieb ihr dennoch weiter, ohne eine Antwort zu erhalten. Bestimmt ein Jahr lang, dann gab ich es auf. Kein einziger Brief, nicht die kleinste Postkarte, obwohl sie wie eine zweite Mutter für mich gewesen war.«

»Nicht einmal, als du erwachsen warst?«

Lauras Kiefermuskeln sind angespannt.

»Ich habe von Hedda seit Winter 1987 keinen Ton mehr gehört. Ich verstehe überhaupt nicht, warum sie beschlossen hat, mir die Ferienanlage zu überlassen. Aber Hedda war ein bisschen speziell …«

»Wieso?«

»Sie malte Bilder, arbeitete mit Keramik, nähte eigene Kleider und machte eben diese ganzen Achtundsechziger-Sachen. Mein Vater nannte sie einen übrig gebliebenen Hippie.«

»Klingt charmant, wenn du mich fragst.«

»Das war es auch. Jedenfalls für mich als Kind. Ich liebte es, bei ihr zu wohnen. Es gab keine Regeln, keine …«

Laura merkt, dass sie unbewusst die Mundwinkel hochgezogen hat, und lässt das Lächeln schnell wieder verschwinden.

»Aber Hedda war auch unglaublich stur. Und nachtragend.«

Sie denkt an all die Male, die sie den ordentlichen Poststapel auf dem Sekretär vor der Haustür durchgeschaut hat. An das verärgerte kleine Kopfschütteln ihrer Mutter, wenn sie nachfragte, ob es wirklich keinen Brief an sie gab. Wie kann man sich einer Fünfzehnjährigen gegenüber so verhalten? Einem Menschen gegenüber, den man wie sein eigenes Kind behandelt hat? Sie reibt wieder die Fingerspitzen aneinander. Die Kälte lässt nicht nach.

»Und jetzt ist es zu spät für eine Versöhnung. Alles, was bleibt, ist ein letztes Lebewohl. Gott, wie schrecklich.«

Steph zieht das Saftglas zu sich heran und kaut gedankenverloren auf ihrem Strohhalm herum.

»Kommt dein kleiner Bruder auch zur Beerdigung?«

Laura schüttelt den Kopf.

»Marcus und sie haben sich nie kennengelernt. Er ist ja sieben Jahre jünger als ich, und meine Mutter wollte uns nicht beide die Ferien über wegschicken.«

»Du meinst, dass sie Marcus nicht wegschicken wollte? Sie konnte es nicht ertragen, so lange von ihrem kleinen Prinzen getrennt zu sein.«

Steph spitzt den Mund und spricht in Babysprache, sodass Laura lachen muss.

»Meine Mutter und Tante Hedda waren sich nie richtig grün.«

»Jetzt gefällt mir deine Tante noch besser.«

»Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich hinfahren will.«

Eigentlich hatte sie nicht vor, davon zu reden, aber Steph gelingt immer das Kunststück, dass sie gute Laune bekommt.

»Aha …« Steph beugt sich vor. »Die Intrige verdichtet sich.«

»Es gab da einen Jungen. Wir haben auch den Kontakt verloren nach …« Laura sucht nach den richtigen Worten. »Allem, was passiert ist.«

Steph hebt ein wenig das Kinn, sieht aus, als würde sie sie genauestens studieren, was Laura unerwartet nervös macht. Stephs Blick scheint sich durch ihren Schädel zu bohren, mitten hinein in ihre Gedanken. Es gibt so vieles, was sie nicht erzählt hat. Dinge, die sie verschwiegen, verdrängt hat.

Steph lacht auf.

»Ah. Und jetzt hoffst du, dass dein Traumprinz zur Beerdigung kommt? Ein dreißig Jahre alter Flirt, bereit, wiederaufgenommen zu werden.«

»Ja, vielleicht.«

Laura seufzt erleichtert auf.

»Wann fährst du?«

»Am Donnerstag nach der Arbeit. Sonntagabend geht es zurück.«

Steph nimmt einen langen Schluck von ihrem Saft.

»Willst du, dass ich mitkomme?«

»Danke, aber ich weiß, dass du Beerdigungen hasst.«

Sie schätzt das Angebot, sehr sogar. Aber Laura kann sie unter keinen Umständen mitnehmen. Denn was passiert, wenn Steph erfährt, was in dieser Lucianacht tatsächlich geschehen ist? Was Laura getan hat?

4

Aulin Consulting befindet sich in einem schönen alten Gebäude im Viertel Östermalm. Deckenstuck, dunkles Holz, Kristallleuchter und persische Teppiche. Laura hätte lieber etwas Moderneres, Zweckmäßigeres und weniger Kostspieliges. Sie schlägt das jedes Mal vor, wenn es um das neue jährliche Budget geht, aber ihre Mutter weigert sich seit dem Tod ihres Vaters, etwas zu ändern, und Marcus unterstützt sie immer dabei.

Das Unternehmen hat neunzehn Angestellte, elf davon in Teilzeit: Jura- und Journalistikstudenten, die Register kontrollieren, diverse öffentliche Dokumente beantragen und Lebensläufe durchsehen. Darüber hinaus hat die Firma vier Risikoberater und einen Statistiker auf der Gehaltsliste sowie Gunvor, die ihr Vater als seine Sekretärin angestellt hatte, als sie Mitte der Neunzigerjahre aus Asien zurückkamen. Laura weiß, dass ihre Mutter und Gunvor fast täglich miteinander sprechen und sie selbst nicht einmal die Kaffeemarke in der Mitarbeiterküche wechseln kann, ohne dass es weitergegeben wird.

Die Ausrichtung zu ändern und sich darauf zu konzentrieren, Menschen zu bewerten statt Gebäude und Autos, war ihre Idee. Ihr Vater ließ sich widerwillig darauf ein, nur ein Jahr, bevor er starb. Ihre Mutter wirft ihr das vor, das weiß sie. Sie behauptet mehr oder weniger direkt, dass es diese Umstrukturierungen waren, die ihn getötet haben, weniger der Krebs. Tatsächlich hatten sie keine andere Wahl. Ihr Vater hatte die Sache nicht mehr richtig im Griff, und die Firma, die jetzt floriert und sowohl ihre Mutter und Pierre als auch sie selbst und Marcus ernährt, war damals dabei unterzugehen. Aber darüber sprechen sie nie. Ihr Vater war unfehlbar, ein Heiliger. Sankt Jacob. Punkt!

Ihr eigenes Büro, das einmal ihrem Vater gehörte, liegt ganz am Ende des Flurs. Auf dem Weg dorthin kommt sie an Marcus’ geschlossener Tür vorbei. Wie gewöhnlich ist es ihm gelungen, sich davonzustehlen, während sie mit etwas anderem beschäftigt war. Marcus hat ein komisches Talent dafür.

Sie ist wie meist die Erste im Büro. Sie ist mit der Zahnschiene neben dem Kissen aufgewacht und musste daher den Tag mit der Einnahme von zwei Paracetamol beginnen.

»Zähneknirschen und Spannungskopfschmerzen, good for you. Dann kannst du Botox auf Rezept bekommen!«

Steph meint es gut, aber Laura würde sich niemals Nervengift ins Gesicht spritzen lassen. Und sich auch keinen Operationen, Impfungen, Sonnenbädern oder irgendwelchen anderen physischen oder psychischen Belastungen aussetzen, die sich vermeiden lassen. Belastungen, die den Virus, der sich irgendwo in ihr versteckt, auslösen können. Wie eine Schwangerschaft.

Sie zwingt ihr Gehirn, eine andere Richtung einzuschlagen, zieht an den Ärmeln ihrer Kaschmirjacke, damit sie die Handgelenke bedecken, und macht die Extraheizung unter dem Schreibtisch an, bevor sie den Computer hochfährt.

Sie googelt das Feriendorf Gärdsnäset. Zu ihrer Überraschung findet sie die Adresse einer Homepage. Aber als sie den Link anklickt, erscheint die Mitteilung, dass es die Seite nicht mehr gibt und der Domainname frei ist.

Stattdessen sucht sie nach dem See Vintersjö.

Der See, liest sie auf der Wikipediaseite, liegt in der Kommune Vedarp im Nordwesten der Landschaft Schonen. Er hat eine Tiefe von dreiundzwanzig Metern, eine Fläche von fünf Quadratkilometern und befindet sich sechsundsechzig Meter über dem Meeresspiegel. Der lang gezogene See wird aus den Bächen gespeist, die von dem Höhenzug Hallandsåsen herabfließen, sowie von einer unterirdischen Quelle, die mitten in den See mündet.

Die Gemeinde Vedarp mit 4058 Einwohnern liegt in einer Bucht am Westufer des Sees.

Die nördliche, weitgehend unbewohnte Seeseite grenzt an die Hänge des Hallandsåsen und ist zum großen Teil Naturschutzgebiet. An der südlichen Seite des Vintersjö befinden sich einige Gebäude, vor allem Ferienhäuser, aber auch ein paar ganzjährig bewohnte Häuser. Am Ostufer des Sees liegt das Schloss Vintersjöholm mit Wurzeln bis ins 16. Jahrhundert.

Laura bleibt einen Moment reglos vor dem Bild des Sees und des Schlosses sitzen. Schließlich nimmt sie all ihren Mut zusammen, verlässt Wikipedia und sucht nach den Worten Vintersjö und Brand. Wie erhofft landet sie keinen deutlichen Treffer. Aber so leicht gibt sie nicht auf. Sie stößt auf eine Tageszeitung aus der Vintersjö-Region und findet das Archiv, in dem es eingescannte Bilder aus der Zeit vor dem Internet gibt. Sie wählt Oktober 1987 in der Menüleiste, dann Lokalnachrichten und scrollt bis zum Gesuchten vor.

Der erste Artikel ist nicht besonders beunruhigend.

Fehlerhafte Elektrik wahrscheinlich schuld am Brand in Sommerhaus am Vintersjö.

Der nächste Artikel ist einige Wochen später erschienen und umfangreicher.

Erneuter Brand im Feriendorf am Vintersjö. Brandursache ungeklärt.

Die dritte Schlagzeile hat eine viel dickere Schrift, und sie spürt, wie sich Kälte in ihrem Körper ausbreitet.

Noch ein Brand am Vintersjö. Polizei schließt Brandstiftung nicht aus.

Und schließlich kommt sie zu der Schlagzeile, gegen die sie sich nicht wehren kann. Die die Kälte bis in ihr Herz strömen lässt.

Tragödie am Vintersjö. Junge Frau kommt in heftigem Brand ums Leben.

Sie will gerade den Artikel vergrößern, um weiterzulesen, als es an die Tür klopft.

»Guten Morgen!«

Wie immer kommt Gunvor ins Zimmer, ohne auf eine Aufforderung zu warten.

»Hier komme ich mit deinem Morgentee.«

Gunvor umrundet den Schreibtisch und stellt eine dampfende Tasse neben die Tastatur, wobei sie ungeniert auf den Bildschirm schaut. Laura schließt schnell das Fenster über den Brand.

»Du siehst müde aus, kleine Laura.« Gunvor legt den Kopf schief und streicht ihr über das Haar. »Du achtest doch gut auf dich?«

Laura antwortet nicht. Sowohl die Geste als auch der Kommentar ärgern sie. Sie ist die Geschäftsführerin der Firma, aber Gunvor spricht mit ihr, als wäre sie immer noch die kleine Laura, die den Papa zur Arbeit begleitet hat.

»Es ist nicht leicht, allein zu sein«, fährt Gunvor fort. »Ich weiß noch, wie es für deine Mutter war, als Jacob starb. Sie hat sich monatelang eingeschlossen, hat kaum etwas gegessen.«

Gunvor redet weiter, aber Laura hört schon nicht mehr zu. Sie hat diese Geschichte schon oft gehört, und am liebsten möchte sie Gunvor anfauchen und sagen, dass Andreas nicht tot ist, dass sie nur geschieden sind und dass sie absolut nicht mit ihrer Mutter verglichen werden will. Aber das würde natürlich zu nichts führen. Ein solcher Ausbruch würde sofort zu einem Gesprächsthema am Mittagstisch auf Mallorca werden.

»… welch ein Glück, dass deine Mutter Pierre gefunden hat. So ein eleganter und höflicher Mann, genau, was sie brauchte.«

Und arm, fügt Laura im Stillen hinzu. Aber das hindert ihn nicht daran, das Geld ihrer Mutter auszugeben. Ganz zu schweigen davon, dass er auch noch mit Ratschlägen um sich wirft, wie das Unternehmen zu führen sei.

Sie arbeitet ihre E-Mails ab sowie die Anrufe, die sie tätigen muss. Aber es fällt ihr schwer, sich zu konzentrieren, und ihr Blick wandert immer wieder zum Bildschirm. Schließlich öffnet sie den Artikel.

Er ist nicht besonders lang. Zuerst die groß aufgemachte Überschrift, gefolgt von einem grobkörnigen Foto von Baumstämmen, Schnee und einem brennenden Gebäude.

In der Lucianacht kam es zu einem tragischen Brand im Tanzpavillon der Ferienanlage Gärdsnäset. Angaben zufolge feierten sechs Jugendliche aus der Gegend in dem winters geschlossenen Gebäude, als das Schicksal zuschlug. Vier Personen wurden bei dem Brand verletzt, und eine fünfte – ein sechzehnjähriges Mädchen – kam ums Leben. Laut Hauptbrandmeister Arne Jeppson deuten sowohl der schnelle Verlauf als auch die Tatsache, dass es die Jugendlichen nicht aus dem Gebäude schafften, auf einen Brandanschlag. Die Polizei hat Ermittlungen wegen Brandstiftung aufgenommen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Tragödie in Zusammenhang mit den Bränden steht, die bereits im Herbst und Winter am Vintersjö gelegt wurden.

Sie hört auf zu lesen und bleibt vor dem Computer sitzen. Die Artikel über den Brand sind relativ schwer zu finden, was bedeutet, dass Steph nicht bei einer kurzen Suche darauf stoßen kann. Und bis jetzt steht hier auch nichts Ungewöhnliches. Nichts, was sie nicht schon erzählt hätte. Es ist der letzte Artikel, der sie beunruhigt.

Verdächtiger im Fall Luciabrand festgenommen.

Die Polizei bestätigte, man habe eine Person festgenommen, die im Verdacht stehe, die Feuer am Vintersjö gelegt zu haben. Ermittlungsnahen Quellen zufolge soll es sich um einen jungen Mann aus der Gegend handeln, wobei der Verdacht auch den tragischen Luciabrand einschließt, bei dem eine junge Frau ums Leben gekommen ist.

 

Andreas ruft sie an, als sie auf dem Weg nach Hause ist. Die ersten beiden Male drückt sie den Anruf weg. Aber er gibt nicht auf. Sie schiebt die Mütze ein wenig zur Seite und steckt sich die Kopfhörer der Freisprechanlage in die Ohren. Der kurze Augenblick in der Kälte genügt ihren Fingern, um steif zu werden.

»Ich habe das von deiner Tante gehört. Wollte nur wissen, ob du okay bist.«

Laura seufzt tief. Sie weiß genau, wer hinter diesem Anruf steckt, und erhält auch sogleich die Bestätigung.

»Deine Mutter sagte, du würdest zur Beerdigung fahren.«

»Ja …« Kopfschmerzen trüben ihre Gedanken, trotzdem kann sie sich die Fortsetzung leicht ausrechnen. »Und jetzt hat sie dich dazu gebracht, mich anzurufen und zu überreden, es bleiben zu lassen.«

Ein Schweigen, das sich nur als Ja deuten lässt. Andreas ist ein netter Mensch. Viel zu nett.

»Ich dachte nur, dass das vielleicht keine so gute Idee wäre, so kurz vor …«

Er stockt, wartet darauf, dass sie etwas sagt.

»Sie wäre am Freitag zwei geworden«, fährt er mit trauriger Stimme fort, als sie nicht antwortet. »Ich habe dich angerufen, ich dachte, wir könnten zusammen zum Friedhof fahren.«

Ja, Andreas, ich kann auch rechnen. Ich weiß, wie viele Jahre, Monate und Tage es her ist. Ich glaube, ich könnte sogar die Minuten und Sekunden nennen, die seitdem vergangen sind. Aber was hilft das?

Natürlich sagt sie nichts davon laut. Niemals, zu niemandem. Sie begnügt sich mit einem einfachen: »Ich war eingeladen.«

»Ich mache mir Sorgen um dich, Laura«, murmelt er. »Du wirkst so …«

»So was?«

»Ich weiß nicht. Verschlossen.«

»Verschlossen?«

»Ja. Herrgott, du hast dir letztes Jahr nicht einmal freigenommen, als …«

Wie gewöhnlich schafft er es auch bei diesem Wort nicht richtig, es auszusprechen.

»… die Scheidung war, Andreas. Wir sind geschieden. Erinnerst du dich? Und trotzdem rufst du mich weiter an.«

»Du bedeutest mir immer noch was. Ich mache mir Sorgen …«

»Damit solltest du aufhören, denke ich. Lebe dein eigenes Leben weiter und lass mir meins.«

Erneutes Schweigen. Er will etwas sagen, und sie ahnt auch, was. Sie hilft ihm aus der unangenehmen Lage.

»Du hast jemanden kennengelernt, stimmt’s?«

»Wer sagt das?«

Ein leises Schnaufen.

»Mama, wer sonst? Offenbar hast du Marcus neulich zufällig getroffen.«

»Ja …« Sie kann hören, wie unangenehm es ihm ist. »Ich hätte es gerne selbst erzählt. Sie ist eine alte Kollegin …«

»Du schuldest mir nichts, Andreas«, unterbricht sie ihn. »Kein bisschen.«

Sie hält inne, versucht, gefasst zu klingen.

»Ich freue mich für dich, aber hör auf, meiner Mutter irgendwelche Gefallen zu tun, ja?«

Sie beendet das Gespräch vor der Pforte zu ihrem Haus. Dann hält sie den Schlüsselchip an das Lesegerät, passiert die Schleusen mit den verschlossenen Türen und bleibt ein paar Sekunden unterhalb des Kameraauges im großräumigen Foyer stehen. Im Aufzug zögert sie und wählt schließlich den untersten Knopf statt des obersten auf der Kontrolltafel.

Ihre Abstellkammer gähnt vor Leere. Zwei gleich aussehende Plastikkästen sind alles, was sich darin befindet. Seit sie letztes Jahr eingezogen ist, war sie nicht mehr hier unten.