Stille Falle - Anders de la Motte - E-Book

Stille Falle E-Book

Anders de la Motte

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Beschreibung

Willkommen bei Schwedens Dezernat für die wirklich hoffnungslosen Fälle! Eigentlich steht Kriminalinspektorin Leonore Asker kurz vor der Beförderung: Die Leitung der Abteilung für Schwerverbrechen in Malmö ist ihr so gut wie sicher. Stattdessen wird sie noch während der Ermittlungen in einem spektakulären Entführungsfall in ein Dezernat versetzt, von dem sie noch nie gehört hat: Ihre neuen Kollegen, allesamt Außenseiter und Nerds, nennen es nur »Dezernat für hoffnungslose Fälle«, denn hier landet, was bei der Polizei als unlösbar gilt. Kurz darauf wird Leo ein Foto zugeschickt, das zwei Figuren in einer Modelleisenbahn-Landschaft zeigt. Das Bild ähnelt verblüffend dem letzten Instagram-Post der beiden entführten Teenager, von deren Fall Leo so abrupt abgezogen wurde. Weil ihre ehemalige Vorgesetzte nichts von Leos neuen Erkenntnissen wissen will, weiht sie ihren Kindheitsfreund Martin Hill ein, einen Experten für Lost Places. Sie ahnt nicht, dass sie ihn damit in größte Gefahr bringt … Wendungsreiche Fälle, atmosphärische Schauplätze und charmant-skurrile Figuren: Stille Falle ist der 1. Band der neuen, düster-mitreißenden Krimireihe von Bestseller-Autor Anders de la Motte.

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Seitenzahl: 562

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Anders de la Motte

Stille Falle

Leonore Askers besondere Fälle

Aus dem Schwedischen von Marie-Sophie Kasten

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Eigentlich steht Kriminalinspektorin Leo Asker kurz vor der Beförderung zur Leiterin der Abteilung für Schwerverbrechen in Malmö – stattdessen wird sie noch während der Ermittlungen in einem spektakulären Entführungsfall in ein Dezernat versetzt, von dem sie noch nie gehört hat: Ihre neuen Kollegen, allesamt Außenseiter und Nerds, nennen es nur »Abteilung für hoffnungslose Fälle«, denn hier landet, was bei der Polizei als unlösbar gilt. Kurz darauf wird Leo ein Foto zugeschickt, das zwei Figuren in einer Modelleisenbahn-Landschaft zeigt. Das Bild ähnelt verblüffend dem letzten Instagram-Post der beiden entführten Teenager, von deren Fall Leo so abrupt abgezogen wurde …

Inhaltsübersicht

Vorwort

Der Troll

Freitag

Smilla

Montag

Asker

Asker

Der Troll

Smilla

Dienstag

Asker

Asker

Der Troll

Asker

Smilla

Asker

Der Troll

Asker

Asker

Der Troll

Asker

Siebzehn Jahre früher

Asker

Hill

Mittwoch

Asker

Asker

Hill

Asker

Smilla

Asker

Der Troll

Asker

Siebzehn Jahre früher

Hill

Donnerstag

Asker

Asker

Hill

Siebzehn Jahre früher

Asker

Der Troll

Asker

Der Troll

Asker

Asker

Der Troll

Asker

Asker

Der Troll

Asker

Siebzehn Jahre früher

Smilla

Asker

Asker

Der Troll

Hill

Freitag

Asker

Smilla

Asker

Smilla

Asker

Asker

Hill

Asker

Hill

Siebzehn Jahre früher

Asker

Smilla

Asker

Hill

Sechzehn Jahre früher

Smilla

Samstag

Asker

Hill

Asker

Smilla

Hill

Sechzehn Jahre früher

Asker

Der Troll

Asker

Asker

Asker

Hill

Asker

Smilla

Sonntag

Asker

Asker

Asker

Fünfzehn Jahre früher

Asker

Smilla

Asker

Hill

Asker

Hill

Montag

Asker

Smilla

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Hellman

Smilla

Hellman

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Hellman

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Asker

Hill

Smilla

Asker

Fünfzehn Jahre früher

Asker

Hellman

Smilla

Hellman

Der Troll

Asker

Der Troll

Asker

Drei Tage später

Hill

Asker

Dank des Verfassers

Dies ist eine fiktive Erzählung, weshalb ich mir einige Freiheiten bezüglich wirklich existierender Orte und Phänomene erlaubt habe. Alle Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig.

Der Troll

Als er acht Jahre alt war, rannte er eines Frühlingsabends einfach davon.

Eben noch hatte er mit einigen älteren Kindern im Wald gespielt – dann war er plötzlich verschwunden.

Das ganze Dorf suchte verzweifelt nach ihm, trotz Regen und Kälte. Immer wieder riefen sie seinen Namen, ihre Stimmen hallten bis über die Baumwipfel und wurden allmählich heiser. Aber er war wie vom Erdboden verschluckt.

Erst mit einsetzendem Morgengrauen, als die Hoffnung langsam zu sinken begann, wurde er durchnässt und fiebrig heiß in einer Felsspalte entdeckt.

Weder weinte er noch schien er glücklich über die Rettung zu sein, er starrte nur mit leerem Blick vor sich hin. Er vermochte nicht zu erzählen, was ihm zugestoßen war, erkannte nicht einmal mehr seine eigenen Eltern wieder.

Zumindest wurde es ihm später so berichtet.

Er selbst konnte sich an nichts von alldem erinnern, oder zumindest nur an wenige Fragmente, in etwa so, wie man sich an ein altes Märchen erinnert. An eine Geschichte, die einem so oft erzählt worden war, dass sie fast Wirklichkeit wurde.

Die Zeit danach blieb ihm dafür umso deutlicher in Erinnerung.

Steife Krankenhauslaken, weiß gekleidete Menschen, die mitleidig schauten und flüsterten. Die extremen Kopfschmerzen und Fieberträume, aus denen er jedes Mal schweißgebadet und mit Herzrasen erwachte. Er träumte von dunklen, feuchten Orten, tief im Berginnern; von Stahltüren, Ketten, panischer Angst und brennenden Schmerzen. Es dauerte Wochen, bis die Beschwerden seiner Hirnhautentzündung wieder abklangen und er nach Hause entlassen werden konnte.

Aber dort fühlte er sich wie ein Fremder. Musste sich von seiner Mutter sein Zimmer zeigen lassen und fragte mindestens hundert Mal, ob er wirklich hier wohnte.

Erst sehr viel später verstand er, was es damit auf sich hatte. Warum er bis zu jener Nacht keinerlei Erinnerungen an seine Kindheit hatte. Warum in seinem Kopf wirre Gedanken und ein dunkles Begehren herrschten.

Er war ein Wechselbalg.

Jemand, der den Platz des kleinen Jungen eingenommen hatte, der davongelaufen war. Ein Wesen, aus Schmerz und Fieberträumen entstanden, das nur äußerlich einem Menschen ähnelte. In Wirklichkeit jedoch ein Ungeheuer war.

So beginnt seine Geschichte.

Freitag

 

 

 

 

 

 

 

Smilla

Da ist es!«

Er eilt vor ihr durch das Gebüsch, Smilla hat Mühe, ihm zu folgen. Von dem halb zugewucherten Forstweg, wo sie den Wagen abgestellt haben, sind sie mindestens einen Kilometer gelaufen. Um sie herum wächst düsterer Nadelwald, gelegentlich von goldschimmerndem Herbstlaub unterbrochen. Hier und da große Brombeerbüsche, deren blutrote Dornenranken an der Kleidung hängen bleiben und die Haut zerkratzen.

»Warte!«, ruft sie.

Der Boden ist abschüssig und voller Laub, was ihn rutschig macht. Sie gleitet aus, landet auf den Knien. Der Tragegurt ihrer schweren Kamera scheuert an ihrem Hals, aber mit ihr kann man bei schwachem Licht die besten Bilder machen.

Smilla kommt wieder auf die Füße, klopft sich das nasse Laub von der Hose, während er bereits im Dickicht verschwunden ist.

Was er wohl gesehen hat?

»MM!«, ruft sie. Er möchte, dass sie ihn so nennt, obwohl sein Name so schön ist. Malik Mansur. Genauso sanft wie seine Augen.

Offiziell sind sie kein Paar mehr. Seit dem Sommer machen sie eine Beziehungspause, auch wenn sie jetzt so tun, als sei alles in Ordnung, und der Tatsache nicht ins Auge sehen wollen, dass Smilla bald nach Paris zurückkehren wird.

Dabei war er wütend und eifersüchtig gewesen, als sie Schluss gemacht hatte, und hat ihr bitterböse Nachrichten geschrieben. Aber jetzt ist alles wieder wie immer. Zumindest fast.

MM ist in den letzten vier Monaten erwachsener geworden, männlicher, spannender.

Sogar ein bisschen gefährlich.

Der Sex mit ihm ist auch besser. Viel besser.

Vielleicht hat er während ihrer Abwesenheit eine andere kennengelernt?

Manches deutet durchaus darauf hin, sie wollte jedoch nicht nachfragen.

Es ist einfacher so.

»Smilla!«, hört sie ihn aus dem Dickicht rufen.

Sie steigt weiter hinauf, passt aber besser auf, wohin sie tritt.

Weiter oben wird der Boden wieder eben. Unter ihr geht es sicher fünfzig Meter hinunter, vielleicht sogar mehr.

»Smilla!«

MM taucht plötzlich mit strahlendem Gesicht vor ihr auf. So gefällt er ihr.

»Da ist es!«

Das Gebäude, auf das er zeigt, ist so niedrig und zugewachsen, dass es kaum zu sehen ist.

Es sieht aus wie ein trister Betonklotz. Statt Fenstern gibt es Gitterkäfige, die mit Granitsteinen gefüllt sind. Sie erinnern Smilla an die Gartenmauer ihres Sommerhauses in Falsterbo. Sie hebt die Kamera und schießt ein paar Bilder.

»Steinfilter«, erklärt MM und klopft auf einen der Käfige. »Dieser Bunker sorgt für die Luftzufuhr der ganzen Anlage, genau, wie er gesagt hat.« Er klingt angespannt und aufgeregt.

Dann zieht er sie mit sich um das Gebäude herum.

Während sie getrennt waren, hat sein Interesse für Urban Exploration noch weiter zugenommen. Wahrscheinlich hängt das mit der Vorlesung zusammen, die er an der Universität besucht. Architektur des Verfalls. Jedenfalls ist er gar nicht mehr zu bremsen, wenn er auf das Thema kommt, genauso wenig wie auf seinen Dozenten, Martin Hill.

Vielleicht hat MM seinen neuen Bekannten in dieser Vorlesung kennengelernt, allerdings macht er ein großes Geheimnis daraus.

Auf der Rückseite des Betongebäudes bricht Gestein durch den Boden, bildet große moosbewachsene Felsblöcke. Durch die Kameralinse hindurch sehen sie fast lebendig aus. Zusammengekauert, lauernd.

Sie erschaudert, als sie daran denkt, wie weit sie vom Auto entfernt sind und wie schwierig es wäre, zurückzufinden, falls etwas passiert.

Sie tastet nach ihrem Telefon in der Jackentasche. Es ist noch da, aber ausgeschaltet.

Als sie vorhin noch ziemlich weit weg von hier getankt haben, hat MM darauf bestanden, dass sie beide gleichzeitig die Handys ausmachen. Das hatte er seinem Bekannten versprochen.

Weil diese Expedition super geheim ist, sagte er. Einzigartig.

»Sieh mal!« MM zeigt auf die Rückseite des Bunkers. Ein Teil der Wand schiebt sich hier nach vorne, man erkennt eine dunkle Öffnung.

»Die Tür ist wie versprochen offen.«

Smilla versucht, seine Begeisterung zu teilen, aber sie hat ein ungutes Gefühl.

»Wie heißt dein Freund noch mal?«, fragt sie.

»Wer? Berg?«

»Berg? Heißt er wirklich so?«

Er zuckt mit den Schultern.

»Und ihr kennt euch erst seit ein, zwei Monaten?«, hakt sie nach. »Trotzdem hat er dir diesen unglaublichen Tipp mit dem Tunnel gegeben? Und dem Höhlenregen?«

MM hört die Frage nicht, oder aber er ignoriert sie. Er ist vollauf damit beschäftigt, die Tür zu begutachten. Sie ist aus Beton und sicher fünfzig Zentimeter dick.

Die Öffnung selbst ist schmal, einen Moment lang hofft sie, sie sei zu eng, um hindurchzukommen.

Aber MM lässt sich wie immer nicht aufhalten. Er nimmt den Rucksack ab und zwängt sich hindurch.

»Komm, du passt hier auch rein!«

Sie zögert eine Sekunde.

Zu Hause auf ihrem Rechner hat sie jede Menge Fotos von anderen Expeditionen gespeichert. Von stillgelegten Fabriken, verlassenen Häusern, vergessenen Orten, genau wie diesem hier.

Aber kein Höhlenregen. Den gibt es nur an wenigen unterirdischen Orten, an denen die Verhältnisse so speziell sind, dass die Luftfeuchtigkeit sichtbare Tropfen in der Luft bildet. Sie würde wahnsinnig gern einen Höhlenregen fotografieren, das weiß er. Dennoch zögert sie.

Sie sind keine Anfänger, sie haben Handys, Taschenlampen und Ersatzakkus dabei. Aber dieser Ort ist seltsam: Der Wald, die Höhe, die lauernden Felsblöcke und die schwere Betontür wecken ein ungutes Gefühl in ihr.

Und dann noch dieser Bekannte. Berg.

Ein ganz gewöhnlicher schwedischer Familienname.

Und trotzdem klingt er unheimlich.

Berg.

Sie blickt verstohlen zu den Felsbrocken. Sie erinnern sie an Trolle aus einem alten Märchenbuch. Uralte Berggeschöpfe. Böse.

»Jetzt komm!«

MM streckt ihr die Hand entgegen. Er klingt ungeduldig, sein Gesicht wirkt im Halbdunkel angespannt.

Immer noch zögert sie. Am liebsten würde sie kehrtmachen, zum Auto zurückgehen, das Handy einschalten und jemanden anrufen: ihre Mutter, ihren Vater, ihre Schwester, egal wen, nur um eine Stimme zu hören. Und erklären, wo sie hier ist, und dass sie jetzt sofort nach Hause fahren möchte.

Aber dann verändert sich MMs Gesichtsausdruck, zeigt dieses Lächeln, das ihr so lange gefehlt hat und das ihr Herz immer zum Schmelzen bringt.

»Komm jetzt, Smilla«, sagt er sanft.

Sie zaudert noch einen Moment. Dann ergreift sie seine Hand und lässt sich von ihm durch den Türspalt ziehen.

Der Raum dahinter ist klein. Die Wände, der Boden, die Decke sind aus grauem Beton.

An der Innenseite der Tür, durch die sie soeben hineingekommen sind, befindet sich ein großes, rostiges Rad aus Metall, das den Schließmechanismus aktiviert. Etwas an dem Rad und dem Schloss stört sie, verstärkt ihr ungutes Gefühl.

MM scheint jedoch nichts zu merken.

»Siehst du?«, fragt er, während er mit der Taschenlampe über die Wände leuchtet. »Keine Kritzeleien. Das bedeutet, dass bisher kaum jemand hier gewesen sein kann. Die Tür unten ist zugeschweißt, somit ist dies der einzige Zugang.«

Smilla nickt angestrengt.

Aus einem Loch am Boden ragen die Sprossen einer Leiter. Sie leuchtet mit der Taschenlampe in die Öffnung.

Ein feuchter Luftstrom schlägt ihr entgegen, gepaart mit dem Geruch nach Wasser, Stein und Metall. Der Atem des Berges. Sie hat diesen Ausdruck einmal in einem Urban-Exploration-Forum gelesen und fand ihn schön. Als wäre ein Berg ein lebendiges Wesen. Aber jetzt, wo ihr der Geruch aus der Tiefe entgegenschlägt, spricht sie diese Vorstellung weniger an. Ein paar Meter weiter unten beleuchtet das Licht ihrer Taschenlampe einen weiteren Raum, auch dieser mit einem Loch im Boden, durch das eine Metallleiter in die Dunkelheit führt.

»Komm.«

MM hängt sich seine Taschenlampe an einer Schnur um den Hals, fasst nach den Handgriffen der Leiter und beginnt hinabzusteigen.

Sie selbst zögert wieder. Schielt zur Tür. Das große Rad bereitet ihr Unbehagen, obwohl sie nicht genau erklären kann, warum.

Aber MM hat den nächsten Raum erreicht, und sie kann ihn nicht allein weiterklettern lassen.

Also tritt sie an die Leiter und folgt ihm.

Der Handlauf ist kalt und rau. Wo sich der Rost durch die galvanisierte Oberfläche gefressen hat, ist das Metall fleckig.

Sie bekommt Herzklopfen.

MM hält kaum inne, um den Raum zu begutachten, in den sie gelangen. Er lässt nur einmal kurz den Lichtkegel der Taschenlampe über die Wände wandern, bevor er weitersteigt. Die Wände sind jetzt aus Fels, nicht mehr aus Beton. Der Raum misst ein paar Quadratmeter mehr als der Bunker, ist aber vollkommen leer. MM schlüpft durch das Loch hindurch, weiter in die Finsternis hinein.

Der Berg ist still, nur die Geräusche ihrer Bewegungen und ihr keuchender Atem sind zu hören.

Ein dritter Raum, noch etwas größer. Auch hier findet sich nichts, was MM dazu bringt, stehen zu bleiben. Der Atem des Berges wird stärker. Die Kamera schlägt gegen die Leiter, Smilla muss sie auf den Rücken schieben.

»MM, warte kurz!«

Er hält nur wenige Meter unter ihr inne.

»Was ist?«

»Nichts. Aber können wir nicht eine kurze Pause machen, du bist so schnell. Wir kommen gar nicht dazu, uns umzusehen.«

»Aber wir sind doch jetzt fast im Tunnel, ich kann sogar schon den Boden sehen.«

Er wartet ihre Antwort nicht ab und klettert weiter.

Sie hat keine andere Wahl, als ihm zu folgen.

Als sie den vierten Raum erreichen, endet die Leiter auf halbem Weg zwischen Decke und Boden. Sie müssen sich den letzten Meter vorsichtig hinunterlassen.

»Sie haben die Leiter gekürzt«, sagt MM, während er ihr hilft. »Bestimmt, damit man nicht ganz bis zum Tunnel kommt.«

Smilla atmet aus. Sie können nicht weiter, was zum einen enttäuschend ist, zum anderen eine Erleichterung. Sie sieht sich um. Der vierte Raum ist ungefähr dreimal so groß wie der oben im Bunker, die rauen Felswände sind feucht.

»Sieh mal.«

MM beleuchtet das Loch im Boden, wo die Leiter hätte hindurchführen müssen.

Zwei glänzende Streben, die sie zunächst nicht bemerkt hatte, ragen ein paar Zentimeter heraus. Es dauert ein paar Sekunden, bis Smilla begreift, was sie sieht. Es ist eine weitere Leiter, allerdings bedeutend neuer und aus Aluminium.

Das ungute Gefühl ist sofort wieder da.

»Warte!«, ruft sie wieder, aber MM ist schon losgeklettert. Bevor sie die Leiter erreicht, ist er bereits verschwunden.

»MM, warte doch!« Aber er reagiert nicht.

Der Atem des Berges ist jetzt so stark und feucht, dass sie ihn mit dem Handrücken aus dem Gesicht wischen muss.

»Wow!«, entfährt es MM. »Beeil dich, das musst du dir ansehen!«

Die Aluminiumleiter ist ungefähr fünf Meter lang. Sie endet in einer Pfütze, der Untergrund besteht aus spitzen Schottersteinen.

Dieser Raum ist noch größer als die anderen. Auf dem Boden liegen einige Gesteinsbrocken sowie rostiges, verbogenes Metall. An der einen Breitseite führt der Raum in einen Gang, aus dem ihr der feuchte Atem des Berges entgegenschlägt, bevor er durch das Loch in der Decke entweicht.

MM hat den Gang rasch hinter sich gelassen, Smilla sieht den Schein seiner Taschenlampe auf der anderen Seite entlanghuschen. Seine Stimme klingt aufgeregt:

»Komm, Smilla, beeil dich!«

Der Gang führt deutlich abwärts. Durch die Neigung gerät sie auf den Schottersteinen leicht ins Rutschen.

Als sie in den Raum gelangt, in dem sich MM befindet, verschlägt es ihr die Sprache. Auf einmal sind Zweifel und Unbehagen wie weggeblasen.

»Und?«, fragt er mit seinem unwiderstehlichen Lächeln.

»Das ist fantastisch«, haucht sie dann.

Der Raum, den sie für einen Zugtunnel hielten, ist in Wirklichkeit eine riesige, lang gestreckte Höhle. Sie ist gute hundert Meter lang und endet an einem massiven Steintor, das gerade noch im Schein ihrer Taschenlampen zu erahnen ist.

Die Höhle ist mindestens zehn Meter hoch, die Wände, an denen Wasser in Rinnsalen herabläuft, bestehen teils aus Beton, teils aus Gestein. Am Boden hat sich ein seichter See gebildet, aus dem an einer Seite Schienen hervorschauen, die drüben am Tor, wo das Wasser tiefer ist, nicht mehr zu sehen sind.

An einigen Stellen ragen Steine, die sich vermutlich von Decke und Wänden gelöst haben, aus dem schwarzen Wasser. Auf der rechten Höhlenseite befinden sich eine Laderampe und zwei rostrote Stahltüren. Aber es sind weder die Türen noch die Bahngleise, die Smilla faszinieren – sondern die Luft.

Der Luftstrom aus dem Gang, durch den sie gerade gekommen sind, ist so stark, dass die kalte, feuchte Luft in der Grotte herumwirbelt und kleine, aber deutlich sichtbare Wassertropfen bildet.

»Höhlenregen«, sagt Smilla andächtig.

»Ja, so ist es«, grinst MM. »Berg hält, was er verspricht.«

Smilla legt ihre Taschenlampe auf einem Vorsprung ab und beginnt, mit ihrer Kamera Aufnahmen zu machen.

»Leuchte da drüben hin«, bittet sie MM. »Steig mal auf die Laderampe.«

Während sie Fotos macht, gibt sie ihm Anweisungen. Aber nach einer Weile ist er es leid, den Assistenten zu spielen, und untersucht stattdessen die Metalltüren an der Laderampe.

Smilla fotografiert weiter. Das Licht ist schwach, sie muss die Position der Taschenlampe immer wieder korrigieren und die Einstellungen der Kamera verändern, bevor die Bilder so werden, wie sie sie haben will.

Sie hat vor, sie später zu vergrößern und vielleicht einige in ihrem Schlafzimmer in Paris aufzuhängen.

Ein unterdrückter Laut unterbricht sie.

Er klingt wie ein Schrei.

Sie schaut sich nach MM um, aber der ist nicht mehr zu sehen.

Erst jetzt bemerkt sie, dass die linke Tür bei der Laderampe offen steht.

»MM?« Ihre Stimme hallt durch die Höhle. »Malik?«

Keine Antwort. Sie schaudert, nicht nur wegen der Kälte.

Das Unbehagen von vorhin ist wieder da, aber diesmal ist es doppelt so stark.

Sie starrt auf die offene Tür, auf die Dunkelheit, die hinter der Schwelle lauert.

Und plötzlich wird ihr klar, was sie schon oben im Bunker gestört hat.

Die halb geöffnete Betontür hatte an der Innenseite ein großes drehbares Rad.

Aber von außen war die Tür ganz glatt.

Das hieß, wer auch immer die Tür geöffnet hatte, hatte es von innen getan. Hatte die Tür gerade so weit aufgemacht, dass ein Mensch hindurchschlüpfen konnte. Wie ein Köder.

Und dann der Name.

Berg.

Wie aus dem Nichts überkommt sie der Impuls zu fliehen. Ihr wird eiskalt, und die kompakte Dunkelheit hinter der Stahltür befeuert ihre Angst. Das Herz klopft ihr bis zum Hals.

Sie sollte auf der Stelle von hier verschwinden.

Zur Leiter zurücklaufen und, so schnell sie kann, wieder Richtung Tageslicht klettern.

Ein Teil von ihr wünscht sich nichts anderes.

Aber ein anderer, vernünftigerer Teil sagt ihr, dass MM sich verletzt haben kann. Dass er vielleicht direkt hinter der Tür liegt und ihre Hilfe benötigt. Dass jede Sekunde zählt.

»MM!«, ruft sie noch einmal.

Das Echo schallt unbeantwortet durch die Höhle, bevor es verstummt.

Sie greift nach ihrem Handy, schaltet es ein, was natürlich dumm ist. Es ist ein Reflex, der sie Sekunden kostet und ihr nur klarmacht, dass sie hier unten im Berg keinen Empfang hat.

Sie steckt das Handy wieder weg und versucht, sich zusammenzureißen.

Dann geht sie langsam auf die schwarze Öffnung zu.

Ein schwacher Geruch strömt ihr entgegen. Es riecht muffig, nicht so wie bisher. Als hätte der Berg hier einen anderen Atem, dichter, intensiver.

Der Geruch macht ihr Angst, festigt ihre Überzeugung.

Dies ist ein unheimlicher Ort.

Ein böser Ort.

Aber sie muss weitergehen.

Hinein in die Finsternis.

Montag

 

 

 

 

 

 

 

Asker

Leo Asker erwacht mit einem Kribbeln im ganzen Körper. Es ist wie eine Vorahnung, dass ihr etwas zustoßen wird.

Etwas Ernstes, worauf sie nicht vorbereitet ist.

Es könnte mit dem neuen Fall zu tun haben.

Seit Freitag ist ein junges Paar spurlos verschwunden.

Aber sie hat früher auch schon ähnliche Fälle bearbeitet, ohne gleich derart extrem schwarzzusehen.

Auch nach hundert Liegestützen und ebenso vielen Sit-ups im Schlafzimmer lässt das Gefühl sie nicht los. Das trübe graue Wetter macht all das auch nicht besser.

Es ist Oktober, die Bäume im Park tragen noch Herbstlaub. Normalerweise mag sie diese Jahreszeit mit der klaren Luft und den V-Formationen der Gänse am Himmel.

Aber heute Morgen erscheinen ihr die Kälte und Feuchtigkeit wie eine Vorwarnung, dass etwas passieren wird.

Der Winter in Skåne ist für gewöhnlich eine Mischung aus Wind und eiskaltem Regen, der durch Mark und Bein geht. Sie hasst den Winter, hasst es zu frieren.

Das hat sie in ihrem Leben schon zur Genüge getan.

Weil man sich abhärten muss, sagte Prepper-Per immer. Weil Unbehagen und Schmerz nur die Faulheit sind, die den Körper verlässt.

Dass er in ihren Gedanken auftaucht, ist nicht weiter verwunderlich. Untergangsszenarien waren immer schon Pers Ding. Sein Lebenselixier.

Das große Haus, in dem sie ein Gästezimmer bezogen hat, gehört ihr nicht. Sie wohnt nur so lange darin, bis die Familie wieder aus dem Ausland zurückkehrt.

Das Haus ist alt und stattlich, die Renovierung hat einige Millionen Kronen gekostet.

Kupferdach, Balkone, Fischgrätparkett und Stuckdecken. Außerdem Panoramafenster mit Blick auf das Meer.

Asker ist selten da. Sie kommt spät nach Hause, geht früh. So ist es ihr am liebsten.

Sie duscht heiß, zieht sich Jeans, Bluse und Blazer an. Dann nimmt sie an der Marmorarbeitsplatte in der riesigen Küche einen Espresso ein, während sie auf Instagram nach Smilla Holst sucht.

Immer noch keine neuen Einträge bei ihr oder ihrem Freund. Es gibt nur das Selfie von Freitag, das ist ihr letztes Lebenszeichen.

Smillas Familie schlug am Samstagabend Alarm, nachdem sie einen Tag lang nicht zu erreichen gewesen war. Daraufhin wurden quasi unmittelbar polizeiliche Ermittlungen eingeleitet, was ungewöhnlich ist, wenn es um vermisste Personen geht. Aber ganz Malmö kennt die Familie Holst, ihren Reichtum und ihre Macht.

Auch nach dem Kaffee verspürt Asker noch das unbehagliche Gefühl, das allmählich in bohrende Kopfschmerzen übergeht. Sie schluckt zwei Alvedon, bevor sie die Alarmanlage aktiviert und das Haus hinter sich abschließt. Dann stöpselt sie ihre Kopfhörer ein und setzt die Kapuze auf, lässt die Musik ihre Gedanken an Prepper-Per und alles, was dazugehört, davontragen.

»Hallo, Leo!«, grüßt der Alte mit Hund, als sie Richtung Pendelzug geht. »Schon wieder Montag, was! Neue Woche, neue Möglichkeiten!«

Asker hört ihn nicht, kann aber die Worte von seinen Lippen ablesen. Eine von vielen ungewöhnlichen Fertigkeiten, für die sie Prepper-Per zu danken hat. Wobei das Lippenlesen in diesem Fall keine besondere Herausforderung ist. Der alte Mann hat nur vier Begrüßungen auf Lager, das hier ist Nummer drei.

Asker ringt sich ein freundliches Lächeln ab und winkt, bleibt aber im Gegensatz zu ihm nicht stehen, sondern zeigt nur auf ihr Handgelenk, um zu signalisieren, dass sie es eilig hat. Der Alte ist Witwer und wohnt in dem ehemaligen Torwärterhäuschen am Ende der Allee, was ihn zu ihrem nächsten Nachbarn macht.

Er gehört zu den Leuten, die die Einsamkeit nicht schätzen, sondern, um gegen diese anzukämpfen, lieber Fremde ansprechen.

Es ist sieben Uhr morgens, bis zum Sonnenaufgang dauert es noch eine Weile, der Bahnsteig ist fast leer. Der feuchte Nebel dämpft das Quietschen der Zugbremsen.

Sobald sie in den Zug eingestiegen ist und die Kapuze zurückgeschlagen hat, riecht sie Zigarettenrauch.

Er stammt von einem langhaarigen Mann in Lederjacke und zerlöcherten Jeans. Er ist unrasiert, hat Ringe unter den Augen, trägt Lederarmbänder am Handgelenk und eine Tätowierung, die sich den Hals hinaufzieht. Außerdem sitzt er so breitbeinig da, dass man meinen könnte, er würde Kakteen zwischen den Schenkeln züchten.

Abgesehen davon, dass er ungeniert qualmt, scheint er auch betrunken zu sein. Entweder hat er ungewöhnlich früh mit dem Trinken begonnen, oder – was wahrscheinlicher ist – er ist auf dem Weg nach Hause von einem nächtlichen Ausflug zu einer der abgelegeneren Haltestellen an der Bahnlinie.

Vor dem Mann steht eine junge, etwa zwanzigjährige Schaffnerin, der er lautstark erklärt, dass er seine verdammte Zigarette raucht, wo er will.

Die übrigen Passagiere schauen aus dem Fenster oder auf ihre Handys. Tun so, als würden sie nichts mitbekommen, um nicht in die Sache hineingezogen zu werden. Ein schwedischer Nationalsport.

Asker macht ihre Musik aus, legt den Kopf schief und mustert den Mann von oben bis unten. Um die fünfzig, etwa eins achtzig groß, circa neunzig Kilo, von denen zehn zu viel sind. Er ist selbstsicher, gewohnt, zu bekommen, was er will, wenn er nur ein bisschen laut wird. Er hält sich für einen coolen Schlägertypen, bewegt sich aber nicht so.

»Wir können erst losfahren, wenn Sie die Zigarette ausgemacht haben!« Die Schaffnerin bemüht sich um einen bestimmten Tonfall. Aber der Mann spürt ihre Angst, genießt die Situation.

»Mach dir doch in die Hose!«, grinst er und bläst ihr Rauch ins Gesicht.

Asker seufzt. Sie hängt sich die Ohrhörer um den Hals und tritt vor.

»Machen Sie die Zigarette aus!« Sie hält ihm ihren Dienstausweis hin.

Die Augen des Mannes werden schmal. Sie sieht ihm an, wie es in seinem Kopf zu arbeiten beginnt, registriert seinen abschätzenden Blick.

Polizistin, Anfang dreißig, blond, kurzhaarig und für eine Frau ungewöhnlich groß und breitschultrig. Sie hat zwei unterschiedliche Augen – das eine ist blau, das andere grün. Diese Eigenschaft nennt man Heterochromie, aber das weiß der Mann ihr gegenüber natürlich nicht. Außerdem ist er vollauf damit beschäftigt, ihren Körper zu scannen. Es ist unschwer zu erkennen, dass er ihre äußeren Erscheinungsmerkmale taxiert, sie mit seiner Selbstüberschätzung und seiner Trunkenheit zusammenzählt und zu dem erwartbaren Ergebnis gelangt.

»Hey, meine Hübsche!«, grinst er, wobei er seine nikotingelben Zähne entblößt. »Wenn nur alle Bullen so aussehen würden wie du.«

Der Mann klopft sich einladend auf den Schenkel.

»Aber, meine Süße, der alte Jocke hat so was schon öfter erlebt. Wenn er seine Zigarette ausmachen soll, musst du wohl Verstärkung rufen. Sonst muss man einfach brav abwarten, bis er fertig geraucht hat.« Er hebt die Zigarette an, um einen Zug zu nehmen, und zwinkert ihr dabei zu.

Dass er sie unterschätzt, ist nicht das, was Asker am meisten ärgert, und auch nicht sein zweifelhaftes Frauenbild, sondern die Tatsache, dass er von sich in der dritten Person redet.

Außerdem hat sie Kopfschmerzen, was ihre ohnehin niedrige Toleranzschwelle noch zusätzlich herabsenkt.

Ohne die geringste Vorwarnung schlägt sie Jocke die Zigarette aus der Hand, greift dann nach seinem beringten Ohr und drückt zu.

Sein Körper reagiert sehr viel schneller auf den Schmerz als sein Gehirn. Instinktiv tut er alles, um ihn zu lindern. Bevor Jocke Zeit hat zu denken, ist er vom Sitz aufgestanden und stolpert gebeugt durch den Wagen, wobei Asker ihm einen Arm auf den Rücken gedreht hat.

»Verdam…«, ist alles, was er ausstoßen kann, bevor ihm die Beine weggeschlagen werden und er mit einer erniedrigenden Bauchlandung auf den regennassen Bahnsteig stürzt.

Ein paar verschlafene Fahrgäste nesteln an ihren Mobiltelefonen, aber für ein Video ist es zu spät.

Draußen auf dem Bahnsteig rappelt sich Jocke auf. Er ist tiefrot im Gesicht, seine Fäuste sind geballt, während Asker ihn von der Zugtür aus beobachtet.

Er hat zwei Möglichkeiten: Er kann mit Gewalt seinen verletzten Stolz wiederherstellen oder die Wut hinunterschlucken und so tun, als hätte dieser unschöne Zwischenfall nie stattgefunden.

Sie hebt die Augenbrauen zu einem und?, um seine Entscheidung zu beschleunigen.

Jocke zögert noch. Seine Fäuste öffnen und schließen sich, der Mund ebenso. Er versucht, einen Entschluss zu fassen, aber jetzt, da seine Selbstsicherheit Schaden genommen hat, verunsichert ihn ihr zweifarbiger Blick. Sie sieht das Fragezeichen in seinem Gesicht.

Was ist sie für eine, wer ist sie, wie soll er mit ihr umgehen?

Bevor Jocke sich entscheiden kann, schließen sich die Zugtüren, und der Zug rollt langsam los. Da wächst sein Mut, er rennt los und hämmert gegen das Zugfenster. Schreit irgendetwas Idiotisches, um einen Funken seines Selbstbildes zu retten, bevor er und der Bahnsteig im Nebel verschwinden.

Asker lässt sich auf einen Sitz fallen und steckt sich die Ohrhörer wieder ein.

Um sie herum werden die Handykameras enttäuscht ausgeschaltet.

»Danke«, murmelt die Schaffnerin, und erhält ein Nicken zur Antwort.

Die junge Frau sieht aus, als wolle sie noch etwas hinzufügen.

Aber Asker hat sich weggedreht und hört wieder Musik.

Asker

Malmö wurde ursprünglich auf einer Sandbank zwischen einem Moor und dem Meer erbaut. Das war eher eine praktische als eine strategische Lage und hatte mit dem Hering zu tun sowie dem Handel, den dieser mit sich brachte.

Im siebzehnten Jahrhundert, als Dänemark durch den Friedensvertrag von Roskilde auch Skåne an die Schweden verlor, wurde Malmö eine Grenzstadt. Sie wurde von den umliegenden Sümpfen durch Festungen und einem langen Wallgraben abgeschirmt, der ins Meer führte und die Stadt in eine fast uneinnehmbare befestigte Insel verwandelte.

Zweihundert Jahre später begann die Stadt deutlich zu wachsen. Deswegen wurden die Verteidigungsanlagen abgerissen und der Wallgraben in einen Kanal verwandelt.

Die kleinen Seen und Sümpfe, die die Stadt einmal umgeben hatten, wurden trockengelegt und mit neuen Stadtteilen bebaut. Rörsjöstaden, wo das Polizeigebäude liegt, gehört dazu.

Das Haus steht an der Kreuzung Exercisgatan und Drottninggatan, von wo aus man einen Blick Richtung Nordwesten hat, wo der Kanal ins Meer mündet.

In den letzten Jahren sind in dem Viertel auch noch ein Gefängnis, das Amtsgericht, die Staatsanwaltschaft und das Amt gegen Wirtschaftskriminalität entstanden, die zusammen ein großes Rechtszentrum bilden. Vielleicht liegt es an der Tatsache, dass das Land einmal Moorland war, dass Kälte und Feuchtigkeit manchmal auch durch Türen und Schleusen dringen. Besonders an Tagen wie diesem, an denen der Wind vom Meer hereinzieht.

Die Abteilung für Kapitaldelikte befindet sich ganz oben im siebten Stock, von wo aus man einen Blick über die Dächer und das Meer hat. Glaswände, Großbildschirme. Gedämpftes Licht. Ein dunkler Teppichboden, der das Geräusch des vibrierenden Telefonklingelns absorbiert. An keinem Detail wurde hier gespart, sogar die Kaffeemaschine in der hellen Kochnische ist erstklassig.

Asker arbeitet seit bald vier Jahren in der Abteilung für Kapitaldelikte, kürzer als die meisten anderen, trotzdem ist sie bereits Gruppenchefin. Sie rechnet damit, in einem Jahr die gesamte Abteilung zu leiten, auch wenn dies nicht allen Kollegen passen wird.

Sie steht ganz vorn in dem modernen Besprechungszimmer, das im Unterschied zu den übrigen Räumen keine Fenster nach außen hat, dafür eine Glaswand zum großen Innenhof, die sich über sämtliche Stockwerke erstreckt.

Vor ihr sitzen fünfzehn Mitarbeiter. Einige neue Gesichter sind darunter, sie wurden aus anderen Abteilungen abgezogen, was sie ein wenig überrascht.

Eine Minute vor neun trifft auch die Dezernatschefin ein und setzt sich in die hinterste Reihe. Vesna Rodic ist zwischen vierzig und fünfzig, einen Kopf kleiner als Asker und eine rundliche Frau. Normalerweise mischt sich Rodic nicht in Ermittlungen wie diese ein, was Asker sehr an ihr schätzt.

Sie streckt und räuspert sich und beginnt mit der Präsentation.

»Guten Morgen zusammen! Für diejenigen, die hier neu sind: Ich bin Kriminalkommissarin Asker, Gruppenleiterin hier bei den Kapitaldelikten. Heute geht es also um die beiden verschwundenen Personen, die unter Verdacht des Menschenraubes stehen.«

Sie klickt auf die Fernbedienung, woraufhin das Selfie der beiden verschwundenen jungen Leute auf dem riesigen Bildschirm hinter ihr erscheint.

»Bei den Personen, die wir suchen, handelt es sich um Smilla Holst und Malik Mansur. Sie wurden am Samstagabend von Smillas Eltern vermisst gemeldet. Das letzte Lebenszeichen der beiden ist ein Post in den sozialen Medien von Freitagmorgen, was bedeutet, dass sie jetzt seit ziemlich genau drei Tagen vermisst werden.«

Sie leiert die bekannten Fakten herunter, hauptsächlich für die Neuankömmlinge.

»Die Handys der beiden sind seit Freitag ausgeschaltet, aber wir haben natürlich im Blick, wenn sie zu einem anderen Zeitpunkt wieder eingeschaltet werden. Wir haben die gespeicherten Daten angefordert, aber wie die meisten von euch wissen, ist dieser Prozess in der Regel …«

Sie sucht nach dem passenden Ausdruck.

»… eine Herausforderung«, ergänzt sie dann mit säuerlicher Miene. »Aufgrund früherer Erfahrungen vermute ich, dass wir frühestens Ende der Woche eine Antwort erhalten.«

Sie lässt eine kurze Pause für das kollektive Aufseufzen.

Auf dem nächsten Bild ist nur Smilla zu sehen. Sie ist hübsch: helle Haut, blonde Locken, blaue Augen. Auf der Nase ein paar Sommersprossen, die in einigen Jahren wahrscheinlich nicht mehr zu sehen sein werden. Die Art von makelloser Schönheit, die nur zwischen siebzehn und zwanzig existiert.

»Smilla Holst, neunzehn Jahre alt«, fährt Asker fort. »Hat dieses Jahr Abitur gemacht und studiert in Paris. Verbringt momentan ihre Herbstferien zu Hause. Smilla ist im Haus der Eltern in Limhamn gemeldet. Fleißig, ehrgeizig, gute Noten. Die Eltern versichern, sie hätten ein sehr gutes Verhältnis zu ihr und es gäbe keinen Grund, warum sie sich freiwillig von zu Hause fernhalten könnte.«

»Das sagen alle, weil sie nicht zugeben wollen, dass sie schlechte Eltern sind und ihre Kinder nicht im Griff haben.«

Der Kollege, der Asker unterbrochen hat, heißt Johan Eskilsson und wird von allen Eskil genannt.

Er ist nur ein, zwei Jahre älter als sie und ein paar Zentimeter kleiner, was ihn ärgert, weil er der Typ Mann ist, der sich über so etwas aufregt.

Eskil ist wie immer frisch rasiert und frisiert, duftet nach Aftershave und einer Hautcreme, die er sich gekauft hat, weil sein Lieblingsinfluencer sie empfohlen hat. Der gleiche durchgeknallte Typ hat ihm auch Tipps zu seiner Frisur, seinem Hemd, seinem Krawattenknoten, seinem Ring, der Uhr und vielleicht sogar dem geleasten Sportwagen gegeben, mit dem Eskil von zu Hause zum Pilates fährt.

Eskil, the detective, wie er sich auf Tinder nennt, ist ein sehr guter Polizist – jedenfalls denkt er das von sich. Er hat auch einige andere feste Meinungen, zum Beispiel die, dass er der Gruppenchef sein müsste und nicht Asker.

Asker ignoriert seinen Kommentar und zeigt das nächste Foto, auf dem ein dunkel gelockter junger Mann mit markanten Gesichtszügen und sanften Augen in die Kamera blickt. Auch er sieht unglaublich gut aus.

»Malik Mansur, genannt MM, einundzwanzig Jahre alt. Bewohnt eine Einzimmerwohnung in Värnhem, studiert im zweiten Jahr Architektur in Lund. Auch er wird von den Eltern als fleißig …«

»Na klar …«, grinst Eskil, und die Kollegen um ihn herum pflichten ihm bei. Heute ist er besonders provokant. Er sitzt ganz vorne, umgeben von seinen üblichen Unterstützern. Einige von ihnen sind ziemliche Machos, die einen Chef mit Eiern in der Hose haben wollen. Im wörtlichen, nicht im übertragenen Sinn.

»Worauf Eskil gerne hinauswill, ist, dass Mansur ein paar Treffer im Strafregister hat«, erklärt Asker. »Ein Strafverfahren wegen eines kleineren Drogendeliktes vor ein paar Jahren sowie einen Vermerk von letztem Sommer, dass er in einem Auto zusammen mit einem verdächtigen Kriminellen aus Malmö gesehen wurde.«

»So ist es«, nickt Eskil zufrieden. »Und wenn du mich fragst, sollten wir uns auf diesen Zusammenhang konzentrieren.«

Asker ist es leid.

»Aber ich frage dich nicht, Eskil«, erwidert sie. »Und bis es so weit ist, bitte ich dich, deine unschätzbar wichtigen Ansichten für dich zu behalten.«

Sie starrt ihn aus ihren zweifarbigen Augen an. Sein Blick sucht nach Rückhalt bei den anderen, aber sowohl seine Unterstützergruppe als auch die anderen weichen ihm aus.

»Oh, dann entschuldige bitte«, brummt er.

Asker zeigt noch einmal das erste Foto.

»Dieses Selfie auf Smillas Instagramaccount am Freitagmorgen ist wie gesagt die letzte Spur und außerdem die aktuellste Beschreibung der beiden.«

Die beiden jungen Leute haben die Wangen aneinandergeschmiegt und schauen glücklich in die Kamera. Was man von ihrer Bekleidung sieht, wirkt praktisch. Polokragen und Softshelljacken: seine schwarz, ihre türkis. Um Smillas Hals hängt der Riemen einer Kamera, und hinter den beiden erkennt man die Motorhaube von Maliks schwarzem Wagen.

Unterwegs zu einem neuen Abenteuer lautet die Bildunterschrift, gefolgt von #newadventures und #love.

»Smilla und Malik waren einige Jahre lang ein Paar«, fährt Asker fort. »Sie haben sich auf dem Fest eines gemeinsamen Freundes kennengelernt. Ihrer Schwester zufolge haben sie im Sommer Schluss gemacht, kurz bevor Smilla zum Studium nach Paris gezogen ist, aber sie hielten Kontakt. Dem Foto nach scheinen sie ihre Beziehung wieder aufgenommen zu haben.«

Sie wechselt noch einmal das Bild, zeigt zwei ernst schauende Männer, offenbar Vater und Sohn.

»Smillas Vater, Tomas Holst, hier links, ist Geschäftsführer von Arkadia Immobilien. Arkadia wurde von Smillas Großvater Eric Holst gegründet, hier rechts im Bild, der noch immer Haupteigner und Vorstandsvorsitzender ist. Ich erwähne das deshalb …«

Sie wirft Eskil einen düsteren Blick zu, damit dieser sie nicht wieder mit irgendeiner Offensichtlichkeit unterbricht. Aber er scheint seine Lektion für heute gelernt zu haben.

»… weil der Holst-Clan zu den reichsten und bekanntesten Familien in Malmö zählt. Sie sind Großsponsoren bei fast jedem Sportverein. Somit lässt sich auch nicht ausschließen, dass das Verschwinden mit einer Erpressung zu tun haben könnte, auch wenn bisher keine Lösegeldforderung eingegangen ist. Wir sollten daher vorsichtig damit sein, uns auf irgendein Szenario einzuschießen.«

Eskil flüstert der Frau neben sich etwas zu, woraufhin beide zu grinsen anfangen. Was auch immer er gesagt hat, will er offenbar nicht laut wiederholen.

»Wir haben die Personenbeschreibung an alle Streifenwagen der Gegend weitergeleitet und eine Fahndung nach Mansurs Wagen rausgegeben, der auf dem Foto zu sehen ist. Ein schwarzer Golf GTI, Kennzeichen MM.«

Asker beendet die Präsentation mit der Verteilung von Arbeitsaufgaben: eingehendere Befragungen der Familienmitglieder, Konten einsehen, Freunde und Kommilitonen aufsuchen.

Anschließend sieht sie zu Vesna Rodic hinüber, doch ihre Chefin hat dem nichts mehr hinzuzufügen, und sie erhält ein kurzes Nicken zur Antwort.

»Gut, dann fangen wir an. Ruft mich an, sobald ihr etwas zu berichten habt!«

Sie dankt für die Aufmerksamkeit und steuert auf ihr Büro zu. Eskil und seine Fans bleiben sitzen, flüstern, über sein Handy gebeugt, aufgeregt miteinander. Etwas an ihrer Körpersprache und ihren zufriedenen Mienen beunruhigt Asker, verstärkt das ungute Gefühl, das ihr noch immer nachhängt. Irgendetwas scheint im Gange zu sein, aber sie weiß noch nicht, aus welcher Richtung die Bedrohung kommt.

Asker holt sich eine Tasse Kaffee, setzt sich an den Schreibtisch und öffnet Smillas Instagramaccount. Malik hat zwar auch einen Account, aber er wurde schon lange nicht mehr aktualisiert.

Smilla ist hingegen recht aktiv.

Das letzte knappe halbe Jahr ist mit Bildern aus Paris gefüllt: Sehenswürdigkeiten, Klassenzimmer, ein paar Nachtclubs. Smilla ist ständig von Leuten umgeben, und die Kommentare sprudeln vor Emojis und Lebensfreude. Bis zu dem Foto von Freitagmorgen.

Seitdem sind beide verschwunden. Zwei gut geratene Millennials, die mit dem Mobiltelefon in der Hand aufgewachsen sind. Das lässt nichts Gutes hoffen.

Asker massiert sich die Schläfen. Die Kopfschmerzen und das Gefühl eines bevorstehenden Untergangs lassen ihr keine Ruhe.

Da vibriert ihr Handy.

Kannst du bitte kurz rüberkommen.

Sie zieht die oberste Schreibtischschublade auf, in der die Kopfschmerztabletten liegen, schluckt zwei von ihnen mit Kaffee runter, bevor sie aufsteht und den Raum verlässt.

 

Vesna Rodics Eckbüro ist doppelt so groß wie ihr eigenes. Die Wände sind übersät mit Diplomen, Wimpeln und Gruppenfotos. Beginnt man auf der einen Seite und arbeitet sich langsam vor, kann man ihr gesamtes Berufsleben nachverfolgen. Jeden Schritt auf der Karriereleiter.

Rodic ist seit fünf Jahren Chefin der Abteilung für Kapitaldelikte. Sie ist ehrgeizig, beliebt und kompetent. Seit einigen Monaten macht das Gerücht die Runde, dass sie bald auf einen anderen Posten befördert werden soll.

»Hallo, Leo«, grüßt sie auf ihre übliche zurückhaltende Art. »Schließ die Tür und setz dich.«

»Geht es um Eskil?«, fragt Asker, während sie sich auf einem Stuhl niederlässt. »Du kennst ihn doch. Man muss ihn und seine Clique an die kurze Leine nehmen. Eskil ist ein Mitläufer, kein Führertyp. Das Problem ist nur, dass er das selbst nicht kapiert.«

Rodic schüttelt resigniert den Kopf.

»Du kennst meine Meinung dazu, Menschen öffentlich abzuwatschen. So verschafft man sich keinen Respekt.«

»Nicht?« Asker hebt eine Augenbraue. »In diesem Haus gibt es sicher fünfzig männliche Chefs, die das Gegenteil beweisen. Starke Anführer, die klare Worte finden.«

Beim letzten Satz malt sie imaginäre Anführungszeichen in die Luft, was Prepper-Per bestimmt gehasst hätte.

Ihre Vorgesetzte seufzt.

»Darüber haben wir schon tausendmal gesprochen, Leo. Du bist eine gute Polizistin. Eine sehr gute. Aber wenn du vorankommen willst, zum Beispiel irgendwann mal auf diesem Stuhl sitzen möchtest …«

Sie sieht Asker mahnend an.

»… dann musst du besser darin werden, Menschen zu führen, die nicht über deine Fähigkeiten verfügen, was im Prinzip alle anderen, normal Sterblichen meint.«

Rodic beugt sich über ihren Schreibtisch.

»Und manchmal muss man sogar lernen, sich mit einer Situation abzufinden, womit ich wieder auf den eigentlichen Anlass dieses Gesprächs zurückkommen will: den Smilla-Holst-Fall.«

»Ja?«

»Wo stehen wir? Was wissen wir?«

Asker zuckt mit den Schultern.

»Du warst doch bei der Besprechung dabei. Es ist noch zu früh, es gibt viele Unklarheiten. Die Telefonverbindungen würden definitiv helfen, aber das geht wie immer nur langsam voran. Wir arbeiten solange weiter und versuchen, das Puzzle zusammenzusetzen.«

»Glaubst du an eine Entführung?«

»Fragst du nach meinem Bauchgefühl?«

»Ja.«

Asker scheint einen Moment nachzudenken, obwohl sie es eigentlich nicht nötig hat.

»Kidnapper wollen in der Regel so schnell wie möglich Geld«, sagt sie dann. »Je länger man wartet, desto größer die Gefahr, entdeckt zu werden. Oder kalte Füße zu bekommen, oder sogar das Opfer zu mögen. Jetzt sind schon drei Tage ohne Forderung vergangen. Also bin ich skeptisch.«

»Okay. Aber wenn es keine Entführung ist, was ist es dann?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich denke, man sollte alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

»Was sagen die Eltern?«

»Wir haben bis jetzt nur telefoniert. Ich treffe Smillas Eltern in einer Stunde.«

»Dein Eindruck?«

Asker verzieht kurz das Gesicht.

»Der Vater ist ernst und sachlich. Er will Fakten, Antworten, Ergebnisse, und zwar am liebsten sofort.«

»Und die Mutter?«

»Vorsichtiger und gefühlvoller. Gewohnt, sich im Hintergrund zu halten.«

Rodic wirkt angespannt.

Asker wartet. Das ist noch nicht alles, dessen ist sie sich sicher. Es geht um etwas Wichtiges, worum dieses Gespräch bisher einen Bogen gemacht hat.

»Der Polizeidirektor hat angerufen.«

»Und?« Asker setzt sich auf.

»Offenbar hat der Rechtsbeistand der Familie ihn kontaktiert und einige Fäden gezogen.«

Beim Ausdruck Rechtsbeistand in Kombination mit Rodics Körpersprache begreift Asker sofort, was Sache ist.

»Lissander und Partner«, bestätigt Rodic. »Die Kanzlei deiner Eltern.«

»Meiner Mutter und meines Stiefvaters«, korrigiert Asker.

»Jaja. In jedem Fall hat deine Mutter den Polizeidirektor kontaktiert. Sie sind wohl alte Freunde. Sie wollte sich vergewissern, dass wir alle abkömmlichen Einsatzkräfte für den Fall eingespannt haben.«

»Daher die vielen neuen Kollegen bei der Besprechung«, stellt Asker fest. »Isabel bekommt immer, was sie will.«

»Ja …« Rodic rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. »Isabel wird heute auch bei dem Treffen mit der Familie anwesend sein, deshalb wäre es besser, wenn ich das übernehme.«

»Warum?« Asker liebt diese Frage. Sie kann sie unzählige Male stellen.

»Um einen unnötigen Interessenskonflikt zu vermeiden.«

»Willst du mich von meinem eigenen Fall abziehen?«

»Rein formell betrachtet, ist das, wie du weißt, mein Fall«, erklärt Rodic trocken. »Ich leite die Voruntersuchungen, bis die Staatsanwaltschaft übernimmt. Meiner Einschätzung nach sollte lieber ich in Zukunft den Kontakt mit der Familie übernehmen.«

Asker möchte diese Entscheidung instinktiv weiter infrage stellen, denn so funktioniert sie, aber sie zögert. Rodic sieht so aus, als wolle sie noch mehr loswerden.

»Noch etwas.«

Rodic seufzt tief.

»Der Polizeidirektor hat entschieden, das Landeskriminalamt NOA hinzuzuziehen. Sie schicken morgen jemanden aus Stockholm hierher. Einen alten Bekannten.«

Angespannte Pause.

Zu angespannt.

Plötzlich versteht Asker. Deswegen die Alarmglocke in ihrem Kopf: das Getuschel nach der Besprechung, die Kopfschmerzen, das Gerede darüber, die Situation akzeptieren zu müssen, alles ergibt einen Sinn, und die Gefahr, die sie erahnt hat, nimmt endlich Form an. Eine grell aufblitzende Bedrohung, die geradewegs auf sie zurast. Der Tag der Abrechnung, auf den nicht einmal Prepper-Per sie vorbereiten konnte.

»Jonas Hellman«, konstatiert sie. Sie sieht es der Chefin an, noch bevor diese den Mund öffnet.

Verdammte Scheiße!

Der Troll

Kurz nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, erhielt er eine seltene Gabe.

Sein Stiefvater war ein mürrischer Kerl, normalerweise gingen sie einander aus dem Weg. Aber an diesem Frühsommerabend kam sein Stiefvater zu ihm in den Garten hinter dem düsteren Haus.

»Hier.« Er streckte ihm ein Schraubglas entgegen, in dem ein Schmetterling herumflatterte.

Die Flügel waren rostrot mit kleinen blauen Punkten am weißen Rand.

»Ein Trauermantel«, erklärte der Stiefvater. »Als Kind habe ich oft Schmetterlinge gefangen«, fügte er mit fast sanfter Stimme hinzu.

Er selbst lächelte, glaubt er zumindest heute. In diesem Moment war er nämlich glücklich. Nicht nur wegen des schönen Schmetterlings im Glas, sondern auch wegen des unerwarteten Vertrauens, das der sonst so ruppige Mann ihm entgegenbrachte.

»Komm, dann zeige ich dir, wie man ihn versorgt.«

Zu seiner Freude nahm der Stiefvater ihn mit hinunter in seine Kellerwerkstatt, ein Ort, der normalerweise verboten war.

An den Wänden hingen ordentlich aufgereihte Werkzeuge. Es roch nach Malerfarbe, Leim und Waschbenzin. Aber zu diesen Gerüchen mischte sich noch ein weiterer. Muffig, feucht, und seltsam bekannt. Der Geruch nach Keller, Stein und Erde.

In der Mitte des Raums stand ein Tisch mit einer Modelllandschaft. Kleine Häuser und Figürchen aus Plastik, manche von ihnen bereits angemalt, andere noch nicht. Eine Miniaturwelt, die langsam zum Leben erwachte, und seinen Blick auf sich zog. Fasziniert streckte er die Hand aus, um die Landschaft zu berühren. Er wollte sie mit den Fingern spüren, nicht nur anschauen.

»Das ist kein Spielzeug!«, brummte sein Stiefvater, woraufhin er erschrocken die Hand wieder zurückzog.

»Hier, sieh mal!« Der Stiefvater nahm einen Hammer und eine spitze Ahle von der Werkzeugwand und stach damit sechs kleine Löcher in den Deckel des Schraubglases.

»So, jetzt bekommt der Schmetterling Luft«, sagte er. Dann erklärte er ihm, dass er Zuckerwasser durch die Löcher tropfen sollte.

»Du kannst ihn eine Woche lang behalten. Danach musst du das Glas öffnen. Ohne Hoffnung kann nichts auf Dauer überleben.«

Er tat, wie der Stiefvater es ihm gesagt hatte. Zumindest anfangs.

Er verwahrte das Glas mit dem Schmetterling in seinem Zimmer, fütterte ihn, konnte ihn stundenlang einfach nur beobachten. Er freute sich an den Farben, den Details, den Bewegungen.

Am Geräusch der hauchdünnen Flügel, die gegen das Glas flatterten.

Aber er genoss auch die Macht.

Die Herrschaft über ein schönes, lebendiges Wesen zu haben, das verzweifelt versuchte, freizukommen. Er wollte mehr sehen, ihm noch näherkommen. Fühlen, was der Schmetterling fühlte.

Nach einer Woche hätte er den Deckel öffnen und ihn freilassen sollen.

Nach zwölf Tagen lag der Trauermantel reglos auf dem Boden des Glases.

Auf den Flügeln glitzerte das Zuckerwasser, das er nicht mehr getrunken hatte, da er die Hoffnung verloren hatte.

Sogar im Tod war der Schmetterling unglaublich schön.

Und er gehörte ihm ganz allein.

Smilla

Sie erwacht ganz plötzlich.

Der Schädel brummt, im Mund Metallgeschmack. Übelkeit brennt ihr wie ein Kloß im Hals. Sie spürt Druck im Unterleib, sie muss aufs Klo.

Smilla will die Augen öffnen, um sich zu orientieren, merkt erst nach ein paar Sekunden, dass sie bereits offen sind.

Trotzdem ist alles dunkel. So dunkel, dass sie nicht einmal ihre Hände sehen kann, selbst wenn sie sie sich vor das Gesicht hält.

»Hallo!«, stößt sie aus, aber es gerät nur zu einem Wispern.

»Hallo!«, versucht sie es noch einmal, etwas lauter. Keine Antwort. Nur schwarze Stille. Ihr Herz klopft immer schneller, in ihren Ohren dröhnt es, sie kann nicht denken.

Luft. Sie braucht Luft.

Es fühlt sich an, als würde sich ihr Brustkorb mit jedem Atemzug zusammenziehen, sie erdrücken.

Sie schluckt, kneift die Augen zusammen. Langsam zählt sie von zehn runter, so wie sie es gelernt hat. Dabei holt sie tief Luft, sodass das Hirn mit Sauerstoff und Kohlendioxid versorgt wird.

Drei …

Zwei.

Eins.

Der Trick funktioniert. Ihr Puls verlangsamt sich, die Panik legt sich allmählich, sie wird wieder klarer im Kopf.

Wo ist sie? Wie ist sie hier gelandet?

Gerade noch befand sie sich mit MM in einer Höhle. Und dann …

Dann?

Sie erinnert sich an einen Schrei, eine dunkle Türöffnung, einen unangenehmen Geruch.

Angst.

Danach nur noch verschwommene Bilder.

Und dann Finsternis.

Ein Arm spannt. Ihre Finger ertasten ein Pflaster in der Armbeuge.

War sie betäubt? Wenn ja, wie lange?

Und wo befindet sie sich?

Wieder beschleunigt sich ihr Puls.

Sie zählt noch einmal rückwärts.

Drei …

Zwei.

Eins.

Sie muss versuchen, sich zusammenzureißen.

Letzten Sommer ist sie mit ihrer Schwester in ein Geiselcamp gegangen. So haben sie den Survivalkurs spaßeshalber genannt. Es war ein Weihnachtsgeschenk ihres Großvaters Eric, aber Smilla und Helena fanden das Ganze albern. Irgendwie übertrieben.

Aber da niemand dem Großvater widerspricht, verbrachten sie drei Tage auf einem Hof mitten im Nirgendwo. Sie erzählten ihren Freunden, dass sie zu einem Spa-Wochenende fahren würden, und verwandelten den Kurs in einen Insiderwitz, über den sie hinterher oft gelacht haben.

Jetzt versucht Smilla, sich daran zu erinnern, was sie dort gelernt hat.

Als Erstes muss sie herausfinden, wo sie sich befindet.

Ihre Hände tasten vorsichtig die Umgebung ab. Sie liegt auf einem Bett, unter ihr sind eine weiche Matratze und ein Kissen, auf ihren Beinen eine raue Decke. Am Kopfende und zu ihrer Rechten gibt es eine glatte Betonwand. Auf der anderen Seite Leere und Dunkelheit. Sie schwingt die Beine über die Bettkante und setzt sich auf.

Die Luft ist kühl, aber nicht kalt. Es riecht wie in einer U-Bahn-Station.

Außerdem erkennt sie noch etwas wieder. Die Art, wie ihr Rufen vorhin verhallte. Es wurde von einer dumpfen Stille verschlungen, die man förmlich hören kann, wenn man konzentriert genug lauscht. Und dann die Dunkelheit, diese absolut kompakte Finsternis, die es nur an besonderen Orten gibt.

Sie befindet sich unter der Erde.

Tief im Berginnern.

Gefangen.

Der Schrei, den sie zurückgehalten hat, seit sie aufgewacht ist, bricht schließlich aus ihr heraus. Ein paar schneidende Sekunden lang bleibt er im Raum hängen, bevor ihn die Finsternis verschlingt.

Dienstag

 

 

 

 

 

 

 

Asker

Es ist erst fünf Uhr morgens, aber Asker ist bereits hellwach und angezogen. Sie schläft selten mehr als vier, fünf Stunden, und wenn ihr so viele Gedanken durch den Kopf gehen, noch weniger.

Der Park, der zum Haus gehört, liegt im Dunkeln. Nur vom Golfplatz jenseits des Sees sind ein paar Lichter zu sehen. Der Nebel vom Vortag hat sich aufgelöst, stattdessen fällt ein leichter Herbstregen.

Sie hat den Inhalt ihres grauen Rucksacks auf dem Bett ausgebreitet.

Alles hat sie sorgfältig aufgereiht: die Taschenlampe, das dünne Nylonseil, das Brecheisen und das Multifunktionswerkzeug sind da, um sich befreien zu können.

Der Pass, die Kreditkarte, ein Bündel Scheine und das Prepaidhandy, um wegzukommen. Proteinriegel, Unterwäsche und Strümpfe sowie ein Waschbeutel für unterwegs. Sie sieht Prepper-Per vor sich, wie seine Hand zärtlich über die Gegenstände streicht.

Alles, was man für eine Flucht braucht, Leo. Ich habe alles genau ausgerechnet.

Zwei Minuten, mehr braucht man nicht, um zu verschwinden.

Sie weiß nicht recht, warum sie diese Scharade weiterspielt. Warum sie den grauen Rucksack im Garderobenschrank aufbewahrt und die Sachen mit begrenzter Haltbarkeit regelmäßig austauscht.

Prepper-Per ist schon lange nicht mehr Teil ihres Lebens, aber der Rucksack ist geblieben. Eine permanente Erinnerung an das, was war. Von der sie sich auch nach all den Jahren nicht frei machen konnte.

Der graue Stoff ist fleckig und mit geflickten Stellen übersät. Die Stiche an den ältesten sind schief und kindlich, aber nach und nach sind die Ausbesserungen gerader, haltbarer und effektiver geworden.

An die letzte erinnert sie sich noch gut.

Sie war sechzehn, sollte demnächst auf das Gymnasium wechseln.

Das war der letzte Sommer, den sie mit Per verbrachte, und fast wäre es überhaupt ihr letzter geworden.

Sie kratzt sich unbewusst am linken Unterarm, bevor sie langsam alle Gegenstände wieder einpackt. Sie verstaut sie in der Reihenfolge, die Per ihr beigebracht hat. Das kann sie sogar mit verbundenen Augen.

Als sie fertig ist, stellt sie den Rucksack wieder ganz hinten in den Schrank und geht in die Küche. Sie lässt einen Espresso aus der Hightech-Kaffeemaschine laufen.

Zwei Minuten. Dann könnte sie für immer weg sein.

Eigentlich verlockend bei dem Gedanken, was sie tatsächlich erwartet.

Es hätte ihr schon klar sein müssen, als Hellman nach Stockholm versetzt wurde.

Aber sie war so erleichtert darüber gewesen, ihn los zu sein, dass sie sich mit dieser Lösung zufriedengab. Sie hatte vermutet, er wäre ein für alle Mal weg. Dass er sich anderen Interessen zuwenden und nie wieder einen Fuß nach Skåne setzen würde.

Assumption is the mother of all fuck-ups, hätte Prepper-Per gesagt.

Dann hätte er sie gezwungen, Liegestütze zu machen, die Toilette zu putzen, in Eiswasser zu baden oder sonst etwas Unangenehmes zu tun, um für ihren Fehler zu büßen.

Denn Jonas Hellman war genau das – ein Fehler.

Hellman war es gewesen, der sie eines Tages in die Abteilung für Kapitaldelikte geholt hatte. Er hatte ihr vieles von dem beigebracht, was sie heute konnte.

Alle mochten Jonas Hellman.

Schon bevor sie den Job hatte, begann er, mit ihr zu flirten. Sie muss zugeben, dass sie das spannend fand.

Und noch spannender wurde es, als er zu ihrem Gruppenleiter aufstieg.

Hellman hatte eine ganze Entourage um sich, die ihn bewunderte, die kleinste Anweisung befolgte. Manche von ihnen waren auserwählt, etwas Besonderes. Und sie war eine davon.

Eine Zeit lang hätte sie fast alles für ihn getan. Ein halbes Jahr lang gab es nur sie beide. Manchmal denkt sie noch daran. Vor allem an den Sex.

Wild, zügellos, berauschend.

Dann traf sie ihn zufällig in der Stadt mit Frau und Kind.

Natürlich wusste sie, dass es sie gab, seine Familie, aber bis dahin war es ihr gelungen, sie auszublenden. So zu tun, als sei sie nicht ihr Problem.

Sie sahen glücklich aus. Eine glückliche Familie, die sie mit zerstörte.

Selbstdisziplin bedeutet, niemals den leichten Weg zu wählen.

Noch eine von Pers Weisheitsperlen, die er gern verstreute.

Wobei er in diesem Fall sogar recht hatte.

Also beendete sie die Sache. Einfach so, von einem Tag auf den anderen.

Riss sich das Pflaster ab, schluckte Unbehagen und Schmerz hinunter, wie sie es gelernt hatte. Aber das Problem mit solchen Leuten wie Jonas Hellman – talentierte, erfolgsverwöhnte Menschen, die gern bewundert und verehrt werden – ist, dass sie meist nicht gut darin sind, abgewiesen zu werden.

Gar nicht gut.

Sie wusste das schon lange, bevor Jonas Hellman in ihr Leben trat.

Sie hatte diese Wahrheit auf härteste Art und Weise erfahren.

Wieder fällt ihr der Rucksack ein.

Prepper-Per.

Per Asker.

Ihr Vater.

Auf der Innenseite ihres Unterarms trägt sie eine Tätowierung, die sich von der Armbeuge bis fast zum Handgelenk erstreckt. Sie ließ sie an dem Tag stechen, an dem sie achtzehn wurde, obwohl ihre Mutter heftig protestierte.

Aber sie musste das tun. Sie musste sich daran erinnern, was sie durchgemacht hatte. Was es brauchte, um zu überleben. Ein Wort, neun pechschwarze Buchstaben, auf ewig in ihre Haut eingekapselt.

Sie verbargen fast vollständig die blasse, ungleichmäßige Narbe darunter.

Sie lässt ihren Finger über die Buchstaben gleiten, spricht das Wort laut aus.

Resilienz.

Sie bezweifelt keinen Augenblick, dass Jonas Hellman sich an ihr rächen wird.

Sie muss bereit sein.

Asker

Gegen sieben lässt der Regen nach. Auf den Zufahrtsstraßen herrscht zähflüssiger Verkehr, der Zug ist voller Pendler, die auf ihre Handys starren, und einen Sitzplatz zu finden, ein Ding der Unmöglichkeit. Parfüm- und Aftershavedüfte mischen sich mit den Gerüchen von Coffee to go und Knoblauchatem.

Die Wohnung von Malik Mansur liegt einen kurzen Fußmarsch von der Polizeibehörde entfernt.

Seine Mutter wartet vor der Tür.

Die Polizeitechniker sind bereits da gewesen, haben Fotos gemacht und nach Blut und anderen Spuren gesucht. Aber Asker will sich selbst einen Eindruck verschaffen.

Maliks Mutter Hana ist um die fünfzig. Sie trägt ein Kostüm und ist stark geschminkt, um die Tränensäcke unter ihren Augen zu kaschieren. Sie spricht gut Schwedisch, allerdings mit deutlichem Akzent.

»Malik ist sehr in Smilla verliebt«, sagt Hana, ohne dass Asker danach gefragt hätte.

»Er ist hier geboren und aufgewachsen«, fügt sie hinzu, als wäre das von Bedeutung. »Ein tüchtiger Junge. Nett, gute Noten. Er will Architekt werden.«

Asker weiß, dass die Mutter Zahnärztin ist, der Vater Frührentner, beide stammen aus dem Irak. Malik ist ihr einziges Kind.

»Sehr verliebt«, wiederholt die Mutter.

Von der Wohnung aus fällt der Blick auf den St. Pauls Friedhof. Ein Gärtner harkt die Wege mit einem kleinen Rasentraktor. Er sieht nicht so aus, als hätte er es eilig. Hinter dem Gefährt hüpfen kleine Vögel her, die in der aufgelockerten Erde picken.

Asker blickt sich im Wohnzimmer um. IKEA-Möbel, in etwa so aufgeräumt, wie man es bei einem Zwanzigjährigen erwarten kann. An einer Wand hängt das vergrößerte Foto einer verfallenen Fabrik. Beton, rostige Treppen, die Wände voller Graffiti. Trotz des Verfalls haftet dem Bild etwas Schönes an.

»Smilla hat das Foto gemacht«, erklärt Hana. »Sie fotografiert sehr gut. Malik hat das Bild von ihr zum Geburtstag bekommen. Es ist die Kalkfabrik in Limhamn. Ich glaube, sie waren zusammen dort. Wobei ich das vielleicht nicht erwähnen sollte?«

Sie schlägt sich die Hand vor den Mund.

»Warum nicht?«

»Weil man nicht dorthin gehen darf. Wie sagt man? Eintritt verboten?«

»Zutritt verboten.«

»Ja.«

Die Frau scheint ihren Wortschatz gedanklich zu korrigieren.

»Sucht Malik häufiger verbotene Orte auf?«, fragt Asker.

Seine Mutter zögert, nickt dann aber.

»Warum?«

»Er möchte Architekt werden. Studiert in Lund.«

»Ja, das sagten Sie bereits. Hat sein Studium mit diesem Interesse zu tun?«

»Ich weiß es nicht.« Die Mutter zuckt niedergeschlagen mit den Schultern, aber dann scheint ihr etwas einzufallen, denn ihre Miene erhellt sich.

»Im Schlafzimmer hängt noch ein Foto.«

Sie geht voraus, zeigt Asker eifrig das Bild über dem ungemachten Bett. Es zeigt Smilla und Malik.

Er trägt einen Anzug, sie ein Kleid.

»Ihr Abschlussball an der Schule«, sagt Hana stolz. »Sie sahen so schön aus.«

Sie schluchzt auf, und einen kurzen Augenblick lang befürchtet Asker, sie würde in Tränen ausbrechen. Aber die Mutter reißt sich zusammen und drückt den Rücken durch.

»Wir verstehen das nicht«, sagt sie. »Wir verstehen nichts.«

»Smilla hat die Beziehung mit Malik beendet, bevor sie nach Paris gegangen ist, richtig?«

Hana nickt.

»Er war sehr traurig.«

»Wütend?«

»Jungen erzählen ihren Müttern nicht so viel«, erwidert Hana ausweichend. »Aber … ja, er war wütend. Ich weiß, dass er Smilla ein paar dumme Sachen geschrieben hat. Aber er hat es sofort bereut und sich bei ihr entschuldigt. Und als sie zurückgekommen ist, war alles wieder gut. Sehen Sie selbst, sie hat sogar hier gewohnt!«

Die Mutter zeigt auf einen geöffneten Koffer. Am Griff hängt ein Adressschild mit Smillas Namen.

Die Kollegen haben ihn schon durchsucht, aber Asker macht es noch einmal.

Unterhosen, T-Shirts, ein paar Oberteile, eine Jeans.

In einem Seitenfach befindet sich eine Schmuckschachtel mit einer Kette darin.

»Von Malik«, sagt seine Mutter. »Er hat sie kurz vor ihrer Rückkehr gekauft. Weil er nicht genug Geld hatte, musste er sich etwas von mir leihen.«

Asker hält die Kette mit dem Anhänger hoch. Ein goldenes Herz mit den Initialen M und S. Sie macht mit ihrem Handy ein Foto davon.

»Wir haben am Wochenende mehrmals mit Smillas Eltern gesprochen«, berichtet Hana. »Sie waren genauso besorgt wie wir. Aber seit gestern gehen sie nicht mehr ans Telefon. Wissen Sie, warum?«

Asker vermeidet es, auf diese Frage zu antworten. Die Anwältin der Familie Holst hat ihnen vermutlich abgeraten, weiterhin Kontakt zu haben, da man Malik verdächtigt, mit dem Verschwinden zu tun zu haben. Bei der Anwältin handelt es sich außerdem um Askers Mutter, aber auch das kann sie nicht sagen.

Die Mutter macht Maliks Bett, was sie natürlich nicht müsste, aber dem Impuls, in all das Unerklärliche ein wenig Ordnung zu bringen, ist schwer zu widerstehen. Das weiß Asker aus eigener Erfahrung.

»Malik würde Smilla nie etwas tun«, murmelt Hana, während sie mit dem Bettzeug hantiert. »Das würde er nie, niemals! Lieber stirbt er.«

Asker ist sich nicht sicher, ob die Frau mit sich selbst spricht oder mit ihr.

»Wir ermitteln in alle Richtungen«, behauptet sie, hauptsächlich, weil sie sich dazu gezwungen fühlt.

Hana wendet sich ab, konzentriert sich ganz auf das Bett.

Asker durchquert das Zimmer.

Auf dem Nachttisch liegt ein zerlesenes Buch.

Vergessene Orte und ihre Geschichten.

Das Buch enthält ähnliche Fotos wie das an der Wand, gefolgt von einigen Seiten Text. An einigen Stellen, die offenbar besonders interessant sind, hat Malik ein Eselsohr hineingeknickt oder Anmerkungen dazugeschrieben.

Auf dem Deckblatt steht eine handgeschriebene Widmung.

Für meinen brillanten Studenten MM mit vielen Grüßen von Martin Hill.

Der Name lässt Asker zusammenzucken.

Rasch blättert sie nach dem Foto des Autors auf dem Schutzumschlag. Ihr Herz schlägt schneller. Er ist sechzehn Jahre älter und sieht deutlich gesünder aus, als sie ihn in Erinnerung hat. Aber es besteht kein Zweifel. Es ist ihr Martin Hill.

Was für ein seltsamer Zufall.