Blutfelsen - Ju Honisch - E-Book

Blutfelsen E-Book

Ju Honisch

0,0

Beschreibung

Wenn dein Wissen zur tödlichen Waffe wird - Gegen jede Wahrscheinlichkeit gelangt Deruonn in den schwer zugänglichen Talkessel, in dem die Geheime Bibliothek Reyalun liegt, abgeschottet und verborgen vor der Welt. Nur einem einzigen Zweck ist sie gewidmet: alles Wissen zu bewahren, das im ewigen Krieg draußen verloren geht. Die junge Archivarin Shernay weiß, welches Schicksal einem Eindringling widerfährt, und gegen jede Vernunft beschließt sie, Deruonn zu retten. Als ihr Verstoß gegen das eherne Gesetz der Bibliothek entdeckt wird, bleibt Shernay keine Wahl, als mit dem interessanten Fremden durchs gefährliche Byarla-Gebirge zu fliehen. Die Welt außerhalb Reyaluns ist jedoch unberechenbar und brutal. Das Wissen in Shernays Kopf wird zur Ware und zu der Waffe, die jeder Seite den Sieg bringen könnte. Ein ganz anderes Leben führt Nimry, die junge Adelige, die - weil das politisch opportun ist - ungefragt und gegen ihren Willen an einen Warlord verheiratet wird. Ihre Reise in das Gebiet ihres ungewollten Gatten führt auch sie ins Byarla-Gebirge, wo Mörder, Verräter, Ungeheuer und nicht zuletzt ihr Gemahl ihr Schicksal bestimmen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 865

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



„Blutfelsen“

spielt ca. hundert Jahre vor

„Seelenspalter“.

Das Alte Reich ist längst untergegangen.

Krieg herrscht in den Acht Reichen.

INHALTSVERZEICHNIS

Kapitel 1-101

Der Pakt

Der Lauernde

Glossar – Personen, Dinge und Orte

Glossar – Flora und Fauna

Weitere Bücher von Ju Honisch

Englische Bücher von Ju Honisch

Die Autorin

Leseprobe „Seelenspalter“ (Die Geheimnisse der Klingenwelt, Band 1)

1

Schade, dass er sterben musste. Er sah so bemerkenswert aus, so … anders.

Er hatte nur einmal kurz die Augen geöffnet. Sie waren dunkel. Nicht schwarz. Shernay hätte es irritierend gefunden, wären die Augen komplett schwarz gewesen. Sie wusste, keine Iris sollte je schwarz sein – außer vielleicht bei Wesen, deren Studium sie eben erst begonnen hatte. Die hatten, so hieß es, seltsame Augen. Aber, soweit sie wusste, keine schwarzen.

Nein. Diese Augen waren dunkelbraun, fast ein wenig so wie die dunklen Streifen in den geschmeidig glatten Kratyniennüssen, die im Herbst in faustgroßen Igelfrüchten von den großen Bäumen fielen. Das Mehl der Früchte war Grundnahrungsmittel im Tal.

Genau solche Augen hatte der Mann, groß, braun und dunkel schimmernd.

Sie betrachtete ihn weiter, besorgt, doch auch mit der klinisch analytischen Betrachtungsweise, der sie als lebenslange Lernerin von Reyalun alles Neue unterzog. Betrachten. Prüfen. Merken. Aufzeichnen. Bewahren.

Nun hatte der Mann die Augen wieder geschlossen. Dichte, schwarze Wimpern warfen Schatten auf das dunkle, wettergegerbte Gesicht. So wie sein linker Arm an seiner Seite lag, schien er ihn sich beim Sturz verletzt zu haben. Schwer? Leicht? Sie würde es nachlesen müssen. Falls es noch relevant war.

Möglicherweise hatte er auch innere Verletzungen? Ein dünnes Rinnsal aus Blut aus einer Risswunde in der Kopfhaut lief zwischen seinen Locken hervor über das ausdrucksstarke, kantige Gesicht, das schwarze Bartstoppeln noch dunkler erscheinen ließen. Fremd wirkte es, so ganz anders als die gelassenen, weisen Gesichter der Talbewohner. Ein wenig verwittert, obgleich der Verletzte keinesfalls alt war. Er hatte sicher mehr erlebt, als nur in einem abgeschotteten Tal zu sitzen und zu studieren. Nicht, dass Shernay sich beklagte.

Die Haut des Mannes war viel braungebrannter als Shernays Teint. Niemand im Tal hatte solche Haut – wie dunkle Bronze. Alle waren sie hell, teigig fast, alle ähnlich in ihrer pastellenen Gleichförmigkeit.

Er hob sich ab. In Färbung und Typ. Sie versuchte, die Unterschiede analytisch zu erfassen. Die Analyse wich einer seltsamen Spannung, die sie zu ignorieren suchte.

Immerhin, bei dem Mann war trotz seiner Hautfarbe eine gewisse Blässe festzustellen. Wenn man die steilen Felsen herunterfiel, kam man nicht gesund an. Fallkraft – was oben war, fiel runter. Ein Grundsatz, auf den man sich getrost verlassen konnte.

Das war gut so. Denn Fremden war der Zugang zum Tal verwehrt. Sie durften es nicht finden, seine Existenz nicht erahnen, nicht einmal danach suchen wollen, und sollten sie sich dennoch nach Reyalun verirren, durften sie es nicht mehr verlassen.

Nicht lebend. Shernays Augenbraue zuckte.

Der Mann mit den schönen Augen würde also sterben. Von allein. Oder durch die Baumseidenschlinge der Bewahrer. Vielleicht, so er gesund genug war, würde man manchen Frauen gestatten, ihn vorher noch für eine Schwangerschaft zu nutzen. Frisches Blut in dem abgelegenen Tal war wichtig. Die Mütter wachten über die Blutlinien und versuchten, keine allzu nah verwandten Paarungen zu gestatten. Ein schwieriges Unterfangen, denn das Tal beheimatete nicht so viele Reyalunis, als dass man einen gewissen Grad der Verwandtschaft ausschließen konnte. Manchmal hatte das Folgen.

Shernay streckte zögernd die vierfingerige, rechte Hand nach ihm aus und berührte seine Finger. Er besaß eine kräftige Hand, sehnig und muskulös. Ihre eigene war viel kleiner, ein blasses, schmales Ding auf dieser dunklen Menschenpranke. Sie strich darüber, zärtlich, tröstend und – wie immer - wissbegierig. Unter ihren Fingerspitzen spürte sie die schwarzen Härchen, die aus seinem Handrücken sprossen. Garru hatte so etwas nicht. Seine Hände waren schmal und blass, so wie die ihren.

Der Mann würde also sterben.

Ihr Blick flog hoch, von ihm fort, vorbei an der Felsnadel, hinter der er zu liegen gekommen war. Unter ihr erstreckte sich schüsselgleich das weite Tal, grün und harmlos, mit Gärten und Feldern und Kratynienbäumen, die mit ihren hohen, wuchtigen Kronen wie die alten Skizzen urbaner Architektur wirkten.

Reyalun war komplett umringt von Bergen, deren eisige, fast lotrechte Felsspitzen sich in den Wolken verloren. Sie zu erklimmen und zu bezwingen, sollte unmöglich sein. Freilich gab es auch einen Tunnelausgang, doch der war nur den Ältesten und den Bewahrern bekannt. Und vermutlich jetzt diesem Mann, sofern er nicht über die Eishöhen geklettert war.

Doch das konnte nicht sein.

Oder doch?

Vereinzelt sah Shernay, wie ihre Talverwandten, denn als solche verstanden sich die Reyalunis, weit entfernt ihren Aufgaben nachgingen. Im Moment strebte niemand zielgerichtet auf die Felsen zu, die spitznadelig aus dem Tal der Bergwand entgegenwuchsen.

Die Bewahrer waren offenbar noch nicht auf dem Weg hierher. Vielleicht hatten sie den Sturz des Fremden und seine Ankunft nicht entdeckt, wussten nicht, dass er hier lag, etwas erhöht über der Talsohle und von den vorgelagerten Felsen verborgen: Der seltsame, dunkle Eindringling, den es zu entfernen galt.

Eine eigenartige Angst beschlich Shernay. Das Gefühl war neu, denn bislang hatte sie noch nie Furcht vor den Bewahrern empfunden, deren Aufgaben sie verstand und guthieß. Reyalun musste geschützt werden. Was dazu nötig war, musste getan werden. Die Gemeinschaft von Reyalun hatte das Recht, sich auf ihre gesetzmäßige Art zu verteidigen und zu bewahren. Sie war gegründet, weil sie alle einen Zweck erfüllten. Der Zweck war untadelig und hehr. Die Gemeinschaft bestand noch, weil sie sich an ihre eigenen Gesetze hielt. Ausnahmslos.

Dennoch hoffte Shernay, die Bewahrer würden diesen hier nicht töten. Nicht vor ihren Augen – und schon gar nicht, während sie sich den feigen Luxus des Wegsehens gestattete.

Shernay streckte zögernd die Hand nach der Schulter des Mannes aus und berührte ihn erneut. Auch seine Kleidung war ganz anders als die locker fließenden Stoffgewänder der Reyalunis. Steif schien sie und dick. Panzerartig fügten sich harte, dunkle Lederschuppen aneinander und hüllten Torso und Arme bis zu den Ellenbogen ein. Ein wuchtiger Gürtel mit Bandelier diente als Aufbewahrungsort unterschiedlicher Gegenstände, die meisten wohl Waffen. Es schien fast, als wären diese Teil von ihm und nicht so sehr transportiertes Beiwerk.

Nicht allzu weit entfernt sah Shernay einen Helm aus Leder und Metall liegen. Der Mann musste ihn beim Aufprall verloren haben.

Shernay prägte sich alles ein. Es war ihre Aufgabe, sich stets alles einzuprägen. Das war ihrer aller Aufgabe, Tag für Tag und Stunde um Stunde, von klein auf, denn sie waren die Lerner, die Ewigen Archivare von Reyalun. Sie lernten das Wissen der Welt und schrieben auf, schrieben ab und diskutierten über das Gelernte, damit es nicht der Zeit zum Opfer fiel oder den Feinden der Menschen. Das war es, was sie taten, von Jugend an, bis sie dereinst starben.

Freilich hatten sie auch Aufgaben, die das Überleben der Gemeinschaft sicherten. Diese waren streng reglementiert, ebenso wie die Verantwortlichkeiten und die Partner, mit denen man den Fortbestand der Reyalunis sichern sollte. Garru. Der blasse, schüchterne Garru, war ihr auserkoren. Nett und harmlos.

Dieser Mann war anders. Nicht harmlos. Ein Kämpe. Kräftig. Muskulös. Sehnig.

Sie hoffte, er würde gesund genug sein, um die Blutlinien zu erfrischen. Sie stellte sich etwas verschämt vor, wie dieser große, breite Mensch an den Stellen gebaut sein mochte, die man unter seiner Kleidung nicht sehen konnte, blickte auf den Ort, an dem ein lederner Genitalienschutz seine Teile beschirmte und doch betonte.

Sie grübelte, wie eine Nacht mit dem Fremden wohl wäre. Sie rief sich die Zeichnungen und Beschreibungen der medizinischen Archive ins Gedächtnis. Sie hatte noch mit niemandem geschlafen, denn es hatte sie bislang nicht gereizt.

Theoretisch wusste sie alles darüber. Praktisch stand ihr nur Garru zu. Garru – Garru war eben nur Garru. Eher so etwas wie ein hochgeschätzter Bruder als ein Liebhaber, nachdem man sich verzehrte.

Nicht, dass es angemessen war, sich zu verzehren. Sie waren die Hüter des Wissens, waren ihrer Intelligenz verpflichtet, nicht ihrer Geneigtheit oder gar ihrer Lust. Da verzehrte man sich nicht. Es geziemte sich nicht.

Sie zuckte zusammen, als die große Hand des Fremden mit einem Mal nach der ihren fasste und diese umschloss. Er hatte sie fest im Griff. Schwäche war nicht zu erkennen. Eben hatte er noch ausgesehen, als könnte er sterben. Nun schaute er sie direkt an.

Die braunen Augen blickten fordernd und so gar nicht ängstlich. Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem ganz leichten, etwas schmerzhaften Grinsen. Er hatte regelmäßige Zähne.

„Deruonn“, sagte er, und seine Stimme war tief wie die Höhlen im Berg. „Ich bin Deruonn. Wer bist du, Schöne?“

Garru hatte sie noch nie Schöne genannt, obgleich sie unter den jungen Frauen Reyaluns vermutlich eine der schöneren war. Nicht, dass das in irgendeiner Weise wichtig schien oder sie derlei Komplimente erwartet hätte. Körperliche Schönheit war Schall und Rauch.

Bei dem Gedanken an Schall und Rauch stellte sie fest, dass ihr die Sinne summten und sie kaum atmen konnte. Ein seltsamer Sinnesreiz in ihrem Magen schien ihr vorschreiben zu wollen, was sie zu fühlen hatte, ohne ihr allzu klare Anweisungen dazu zu geben. War er daran schuld? Nein, wohl eher sie selbst.

Sachlich betrachtet kam ihr das ausnehmend albern vor. Sachliche Betrachtung wurde vielleicht doch überschätzt.

„Shernay“, antwortete sie verhalten. Dann räusperte sie sich, versuchte sich zu fassen und eine gewisse Klarheit der Gedanken zu erreichen wie ein rettendes Ufer. „Mein Name ist Shernay. Ich bin Lernerin des dritten Grades. Du darfst hier nicht sein.“

Er nickte nahezu beiläufig. Als sei das Verbotene ihm alltäglich.

„Sehr geheim“, sagte er. „Ihr habt euch gut versteckt. „Kommt der Krieg nie zu euch?“

„Niemand kommt zu uns, und falls doch, so geht keiner wieder.“

„Weil es hier so friedlich und schön ist?“, fragte er, und kleine Lachfältchen bildeten sich um seine Augen.

„Weil … weil es so ist. Niemand darf über uns berichten. Deshalb geht keiner mehr.“ Sie hielt kurz inne, ein wenig beschämt, dass sie weniger als die Wahrheit bot, wenngleich sie auch nicht gelogen hatte. „So heißt es wenigstens. Ich habe noch nie einen Fremden gesehen. Es ist lange her, dass der letzte uns gefunden hat.“

„Was ist mit ihm geschehen?“

Shernay wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Wahrheit, Teilwahrheit, Lüge? Gar nichts am besten. Jetzt war es an der Zeit, die Bewahrer zu holen und ihn zu übergeben. Dann würde sie den Braunäugigen vielleicht nie wiedersehen.

Seine Frage stand immer noch unbeantwortet zwischen ihnen. Was geschah mit Fremden?

„Er hat unsere Blutlinien bereichert und lebt in den nächsten Generationen fort.“

Seine Augenbraue zuckte.

„Ich finde das Leben in just dieser Generation durchaus reizvoll, schöne Shernay.“

Sie lächelte unwillkürlich und konstatierte sodann, dass sie keinen Grund dazu hatte. Schöne Shernay. Eine sachliche Bewertung? Ein höfliches Kompliment? Eine manipulative Schmeichelei? Es fehlte ihr an Übung, das zu bewerten. Nicht einmal die Liebesdichtungen des längst vergangenen Hofes von Cahersyg halfen dabei, und die konnte sie auswendig. Alles konnte sie auswendig.

Schöne Shernay. Worte wie Sonnenstrahlen im wolkenschattigen Tal.

Sie sah an sich herunter. Ihr weiter, knielanger Kaftan bedeckte und umspielte sie. Bauschige, knöchellange Strauchwollhosen reichten daraus hervor. Ihre Füße steckten in gestrickten Socken und darüber in groben Flechtsandalen. Draußen in der Welt trugen die Menschen vermutlich viel prächtigere Gewandungen. Draußen in der Welt herrschte freilich auch Krieg. Es war nur wichtig, angezogen zu sein und vor Kälte geschützt.

Alle Reyalunis – Männer wie Frauen, Junge wie Alte - trugen in etwa die gleiche Kleidung. Die Farben waren wie die Menschen pastellblass, denn es gab nicht viele Färbepflanzen im Tal. Zwiebelgelb. Wodblau. Grooblumenrötlich. Ansonsten gab es Naturweiß.

Deruonn hob plötzlich die Hand und griff in ihr Haar, das wie ein Schleier von ihrem Kopf strömte. Peinlich. Sie hatte es nicht geflochten und hochgesteckt. Manchmal erlaubte sie sich solche Eskapaden sinnloser Freiheit. Der Mütterrat belächelte sie, duldete sie aber.

„Heller als Weizen“, sagte er. „Wie die Strahlen des Mondes in der Nacht.“

Errötet war sie schon lange nicht mehr. Richtig heiß war ihr Gesicht.

„Deine Augen sind wie das Meer“, fuhr er fort. Shernay hatte das Meer nie gesehen. Doch sie hatte selbstverständlich darüber gelesen. Sie hatte Zeichnungen gesehen und Karten. Wegbeschreibungen und Wetterberichte. Sie wusste also, wie das Meer war.

Theoretisch.

Sie musste nun aufstehen und die Bewahrer holen. Sie war kein dummes Kind, das die Regeln nicht kannte oder nicht verstand. Sie sah den Mann an, fasziniert von seinen Augen und seiner fremden Art.

„Hier ist eine Höhle ganz in der Nähe. Wir lagern dort minder wichtige Dinge. Vielleicht kommt ein paar Tage niemand dort hin“, sagte sie, und Schuld überspülte sie wie eine kochende Welle. Sie wusste, sie tat gerade etwas Undenkbares. Sie hatte nicht ausreichend darüber nachgedacht, denn sonst wären ihr all die guten und logischen Gründe eingefallen, nicht so zu handeln.

Sie wollte keine logischen Gründe. Auch das war ein Novum.

„Meinst du, du kannst ein wenig gehen und klettern?“, fragte sie. Wenn er sich nicht bewegen konnte, war der Vorschlag hinfällig. Fast hoffte sie es. Dann wäre ihr die Entscheidung genommen.

Er schmunzelte etwas schmerzhaft.

„Es wird schon gehen. Hilfst du mir?“

Wenn sie jetzt ja sagte, war das eine weitreichende Entscheidung. Sie blickte ihn noch einmal an. Seine braunen Augen waren – sachlich gesehen – nicht im Mindesten einen Verrat wert.

„Komm!“, sagte sie. „Siehst du den Schatten im Fels dort oben? Da müssen wir hin.“

„Vergiss den Helm nicht“, mahnte er, dann drehte er sich langsam um, unterdrückte ein Ächzen, stöhnte ganz leise, kroch los. Dabei blieb er lautlos, nur sein Gesichtsausdruck zeigte dann, dass ihn die Bewegung schmerzte.

Was immer er auch vorhatte, er würde wohl noch etwas warten müssen. Er brauchte Medizin, Essen und Trinken. Das musste sie organisieren.

Man würde sie erwischen – sie konnte ihn nicht lange verstecken. Das Tal war wirklich groß, aber doch zu klein, um längerfristig etwas zu verbergen, und sie konnte ihn nicht nach draußen in die Welt bringen. Sie kannte den Weg nicht. Das Wissen stand ihr nicht zu.

Zudem wäre es der ultimative Verrat, ihn durch den einzigen Weg zu schleusen, den es gab. Das würde sie nicht tun. Nie.

Vielleicht kannte er diesen Weg ohnehin besser als sie? Denn wie war er sonst hierhergekommen?

Sie musste die Bewahrer holen, ehe er den Krieg zu ihnen trug.

Später. Jetzt würde sie ihn erst einmal verstecken.

2

Garru mochte das Gesprächsthema nicht, doch es zeichnete sich kein Entrinnen ab, keine Möglichkeit, sich unauffällig abzusetzen – etwas, worin er ansonsten brillierte.

„Es ist an der Zeit, dass ihr euch erklärt!“, meinte Nuria, die Klügste der Mütter. Sie trug diesen Titel, weil sie ihn verdiente. Sie war auch die Sturste und die Unnachgiebigste der Mütter. Meist hatte sie zudem auch noch recht, was die Sache nicht besser machte.

„Shernay ist noch nicht so weit“, murmelte er und schraubte sanft und behutsam an den Stimmknöpfen seiner Harfe. Es war leichter, über Shernays mangelnde Bereitschaft zu sprechen, als über sich selbst.

„Ihr seid einander versprochen, seid beide volljährig, und Reyalun braucht Nachwuchs.“

„Reyalun braucht immer Nachwuchs.“ Er sagte es leichthin, als würde es damit weniger relevant.

„Reyalun wird aufhören zu existieren, sollte kein Nachwuchs mehr geboren werden! Wir sind das Wissen der Welt. Du kannst nicht wollen, dass das Wissen der Welt ausstirbt.“

Er strich etwas unwirsch über die Saiten. Das Instrument sang. Das Gute an Harfen war, sie klangen auch noch schön, wenn man sie gerade nicht mit Hingabe und Talent spielte. Dudelsäcke teilten diese erfreuliche Eigenschaft nicht, weshalb er lieber Harfe spielte, obgleich er auch noch andere Instrumente perfekt beherrschte, Flöten, Psalter und Leiern. Manchmal baute er sogar neue. Das irritierte hier alle, denn Neues war im Grunde nicht vorgesehen. In Reyalun wurde die Überlieferung des Dagewesenen zelebriert.

„Niemand will, dass das Wissen ausstirbt, Klügste“, beschwichtigte er. „Und wenn wir aussterben, gibt es immer noch die Bücher. Höhlen um Höhlen voller Bücher. Berge voller Wissen, Gang um Gang ins Byarla-Gebirge getrieben. Und die Bibliothek der Abschriften hier im Zentrum des Tals. In allen Acht Reichen zusammen gibt es vermutlich nicht so viele Bücher und Schriftrollen wie hier in diesem Tal – immer vorausgesetzt, es gibt nur dieses eine Archiv.“

Es war eine weitverbreitete Theorie, dass Reyalun nicht das einzige Wissensarchiv der Welt sein mochte. Doch wenn Reyalun darauf Wert legte, für die Außenwelt nicht existent oder zumindest unauffindbar zu sein, mochte es ein weiterer Wissenshort durchaus genauso halten.

„Deine Antwort ist patzig und deiner nicht würdig, Barde!“, mahnte Nuria.

„Verzeih mir, Klügste.“ Wie oft hatte er diesen Satz schon gesagt? Bedeutete er noch etwas? Er sollte ein Lied darüber schreiben.

Verzeih mir, Klügste, dass ich der Dummheit fröne,

Verzeih, dass ich mich wenig würdig wähne,

Verzeih mir, dass ich mit dem Herzen denke,

Um dann mit Denken wieder jenes Herz zu lenken.

Ja. Das könnte ein Lied werden. Es verlangte ihn danach, die Zeilen aufzuschreiben.

„Du kennst unsere Gesetze.“ Nurias Stimme riss ihn zurück ins Gespräch. „Sie haben sich bewährt. Paare, die vom Stammbaum her zusammenpassen, fügen sich zusammen. Niemand zwingt euch, ein Leben lang in holder Zweisamkeit zuzubringen, wenn ihr euch zu wenig versteht, aber es ist doch wohl nicht so, dass du Shernay nicht magst.“

Warum seine Finger just einen Moll-Akkord griffen und noch dazu einen verminderten, vermochte Garru nicht zu sagen. Er mochte Shernay. Durchaus. Sehr. Sie war, wie er ganz sachlich fand, die schönste Frau des Tales. Ihre Augen waren ausdrucksvoll und groß, blau wie der Himmel im Sommer, der sich wie ein Zelt über die abgeschlossene Welt des Tales spannte, während Wolkennebel in weitem Kreis von den das Tal umgebenden Berggiganten flossen. Sie strahlten, diese Augen, und bargen mindestens ein Geheimnis, auch wenn er nicht wusste, welches.

Shernays Gestalt war schlank wie die eines Byrchenbaums im Wind. Garru wusste nicht, wie es sein konnte, dass die lockeren Stoffe der pastellenen Gewänder, die sie alle in ähnlicher Form trugen, just an ihr so besonders schön aussahen. Sie verbargen ihren Körper auf eine Weise, die ihn grübeln ließ, was unter den losen Stoffen sein mochte. Er musste dabei nicht einmal raten. Viele Geheimnisse gab es nicht im Tal, wo sich alle kannten und alle sich stets nahe waren. Eine der warmen Quellen im Zentrum war Badegelegenheit für alle. Dünne Kanäle leiteten das Wasser durch das gesamte Tal, von den Wasserfällen im Osten, durch die Gebäude bis hin zum Sickergrund, wo das Wasser wieder in den moosüberzogenen Fels verschwand, als wäre es nie dagewesen.

Shernay. Wenn sie lächelte, musste er keine Schriften darüber lesen, wie schimmernde Perlen des Meeres aussahen.

Unwillkürlich ertappte er sich dabei, wie er ein Liebeslied angestimmt hatte. Nuria sah ihn beinahe mitleidig an.

„Sie mag deine Musik, Garru.“

„Jeder mag meine Musik.“ Er sagte es ganz sachlich, ohne Überheblichkeit. Er war nicht der erfahrenste Musiker des Tales, doch schon jetzt der beste. Sein Studium der alten Schriften war auf alles konzentriert, was mit Musik und Dichtung zu tun hatte. Und obgleich es primär seine Aufgabe war, das Althergebrachte darzustellen, war es ihm ein besonderes Anliegen, Neues daraus zu erdenken.

Die Ältesten waren durchaus gespalten in der Beurteilung der Frage, ob das schlecht war oder vielleicht sogar gut. Ihre Aufgabe war es, das Bestehende zu bewahren. Doch manche waren der Meinung, dass das Überlieferte ein eigenes Leben erhielt, so man es in Neues wandelte – dass das Weitergeben der Flamme so wichtig war wie das Bewahren der Asche.

Aber darüber dachte Garru nicht nach. Er hörte auf zu spielen und blickte auf die blasse, etwas runzelige Hand dieser Mutter, wie sie sich auf seine Schulter legte. Die Hand hatte, wie Shernays, nur vier Finger. Garru hoffte, seine eigenen Kinder würden genug Finger haben, um Instrumente spielen zu können – wenn er denn je Kinder haben würde. Ein irgendwie ferner Gedanke, wie die unbekannte Welt jenseits des Bergrunds.

„Zeig ihr, dass du sie magst!“

„Das weiß sie.“

„Hast du es ihr gesagt? In Worten? In mehr als nur Noten?“

Er schüttelte ihre Hand ab.

„Ich bin nicht gut mit Worten.“

„Wir Frauen mögen Worte.“

„Dieses Tal ist randvoll mit Worten. Unsere Köpfe bersten fast unter ihrem Ansturm. Wir fressen sie in uns hinein, schreiben sie ab, diskutieren sie und legen sie jeder nachkommenden Generation ans Herz, in der Hoffnung, dass dieses Wissen ihnen die Gemüter nicht verstopft, bis sie platzen.“

Ihre Hand krallte sich einen Augenblick lang fest in seine Schulter.

„Du bist verwirrt, und das macht dich ungerecht.“

Er nahm seine Hände in einer bewussten Geste vom Instrument.

„Ich will Wanderer sein, für drei Sommer und drei Winter – so, wie es gestattet ist“, verkündete er und wusste, man würde seine Absicht im Moment nur als Flucht verstehen.

Vielleicht war sie das. Doch das Recht stand ihm zu. Wanderer – Lernende ab dem vierten Grad - durften das Tal verlassen. Sie durften in der Welt draußen, im Krieg und in der rauen Wirklichkeit, ihr Können darstellen, ihr Wissen behutsam verteilen und neues Wissen ansammeln.

Nicht alle versuchten es. Das Leben war sicherer und bequemer in Reyalun als in den kriegsgebeutelten Acht Reichen. Das berichteten alle, die - oft genug krank oder verkrüppelt an Leib und Seele - zurückkamen. Es gab auch welche, die gar nicht zurückkamen. Niemand glaubte, dass diese einfach fortblieben. Es war wahrscheinlicher, dass sie dem endlosen Krieg draußen zum Opfer fielen.

Nuria musterte ihn.

„Du willst aufbrechen, bevor du dich Shernay näherst?“

„Wäre das nicht sinnvoll?“

„Nein. Es wäre feige, und das weißt du auch.“

Er senkte den Kopf, wusste nichts darauf zu sagen. Das bedeutete mit ziemlicher Sicherheit, dass Nuria recht hatte. Sie fuhr fort: „Du darfst gehen – nachdem ihr Reyalun bereichert habt. Die Welt wird sich freuen, einen begnadeten Musiker wie dich zu hören. Du wirst dich freuen, neue Lieder zu lernen und dabei Wissen zu streuen wie ein heimlicher Sämann. Ich hoffe, die Welt bringt dich nicht um. Es ist eine furchtbare Welt dort draußen.“

„Mein Wissen über die Welt ist so groß wie das über ihre Lieder“, sagte er.

„Ja. Doch dein Wissen über die Lieder ist nicht nur theoretisch.“

„Ich habe auch gelernt zu kämpfen.“

„Unsere Verteidigungskunst ist eine sanfte. Ein Trupp bewaffneter Söldner wird dich dennoch besiegen. Sie brauchen sich nicht auf Armeslänge zu nähern, und sie kennen keine Ehre.“

„Nuria, Klügste der Mütter! Willst du mir verwehren, die Welt zu sehen, um mein Wissen – und ihres – zu bereichern?“

„Nein. Aber nicht, bevor du hier fertig bist. Du schuldest es deiner Begabung, etwas von dir zurückzulassen, das weiterlebt.“

Er seufzte.

„Ich weiß.“

„Geh zu ihr. Jetzt. Weißt du, wo sie im Moment ist?“

Er nickte.

„Ungefähr.“ Es war, als könne er das Band zu Shernay spüren. Irgendwie war er meist imstande, sie zu finden. Nun, das Tal war groß, aber nicht endlos.

Vielleicht war das das Schlimmste, was man über das behütete Leben hier sagen konnte. Die stete Grenze, die einen nicht nur schützte, sondern auch immer das Ende der Möglichkeiten aufzeigte. Die Wand in den Himmel, die einen umschloss.

Er setzte die Harfe ab und stand auf.

„Ich gehe sie suchen“, sagte er, damit endlich Ruhe war. Wenn er sie gefunden hatte, würden sie über das Wetter reden. Über den Regen, der die gelben Großwayzfelder begoss, und über den blauen Himmel, der so aussah wie Shernays Augen. Danach würden sie sich wieder ihren Aufgaben zuwenden, sie mit einem leicht abgelenkten und er mit einem unsicheren Lächeln.

Er musste hier weg.

3

Orstyn trug gerne kräftige Farben. Purpur stand ihm nicht zu, doch leuchtend dunkelblau durfte er anziehen. Er war alt genug und zudem wichtig.

Seine weiten Ärmel waren geschlitzt, wie es der neuesten Mode der Soldaten entsprach, nur feiner. Hier hatte kein zufälliger Schwerthieb einen kecken Schlitz in das Gewand geschlagen. Alles war akribisch zusammengestellt und ordentlich vom besten Schneider zu Jorgvil, der Hauptstadt Kahsells, genäht. Orstyn erfreute sich daran. Die Eleganz seines Auftretens war einer der Vorteile seines Lebens bei Hof.

Es gab auch mannigfaltige Nachteile. Diese konnten einen umbringen.

Er jedoch lebte. Mit Anfang Fünfzig war er noch kein Greis, doch in einer Welt, in der die Mehrheit der Menschen an den Schlachten, den politischen Verstrickungen oder den Entbehrungen des endlosen Krieges schon jung verstarb, galt auch dieses Alter schon als Errungenschaft. Wenn man ihn also nicht ermordete, so sollte er noch einige gute Jahre haben. Er war kräftig und gesund, auch wenn er sich beim Gehen auf einen Stock stützte. Weite Wanderungen machte er nicht mehr. Vom Nordturm, in dem sich seine Wirkungsstätte befand, bis zum Ratssaal war die Strecke, die er zumeist zurücklegte, und diese Strecke war nicht kurz, einerlei ob einen allgemein bekannten oder einen geheimen Weg nahm.

Die Burg zu Jorgvil war sein Terrain. Sie wahrlich groß genug, gigantisch beinahe, und für weitere Strecken hatte er ohnehin - seine Leute. Er lächelte geheimnisvoll.

Er gehörte nicht zum Adel, hatte aber dennoch die Stelle eines Beraters und obersten Wissensverwalters am fyrsthlichen Hofe zu Kahsell inne. Weil er weise war, hatte er diese Position er- und gehalten – bis jetzt über ein Vierteljahrhundert lang. Als weise zu gelten, war schwieriger als einfach nur adlig zu sein – der übliche Hauptgrund für viele der anderen Positionen in der Fyrsthenei Kahsell. Adel war einem in die Wiege gelegt. Man musste ihn nicht beweisen.

Weisheit hingegen musste stets aufs Neu bewiesen werden. Weise war man, solange dem Herrscher das gefiel, was man sagte, und es sich nicht hinterher als Fehler erwies. In dem Fall mochte es einerlei sein, ob es vorher dem Herrscher gefallen hatte.

Orstyn hatte einen Titel. Ein Titel war etwas Feines. Doch selbst sein Titel war kein Geburtsrecht und nicht vererbbar. Er war 'Großmeister der Historien, Denker des Reichsherrn und Sinne des Fyrsthen'. Seine Anrede war 'Weisester'. Das war nicht nur ein Lob, sondern auch erheblich kürzer als der Rest. Abgesehen davon, dass der längere Titel nicht viel bedeutete, wenn man ihn in seine Bestandteile zerlegte: Ein Großmeister stand gemeinhin anderen Menschen vor und nicht geschichtlich relevanten Schriftrollen und alten Büchern. Reichsherr war eine Bezeichnung, die nach dem Untergang des Reiches keinem der acht Fyrsthen, die stetig um die Vorherrschaft Krieg führten, zustand, und die Sinne des Fyrsthen zu sein, kam ihm angesichts der ausgeprägten Sinnlichkeit des Mannes als nicht erstrebenswert vor.

Er sah auf, als jemand an der Tür kratzte.

„Tretet ein!“

Früher hätte er zunächst nachgefragt, wer auf der anderen Seite der schweren dunklen Kassettentür etwas von ihm wollte. Heute tat er das nicht mehr. Als Sicherheitsvorkehrung hatte es sich nicht bewährt. Wer lügen wollte, log. Wer kommen wollte, ihn zu töten, würde nicht ankratzen. Vielleicht nicht einmal durch diese Tür kommen, sondern über die Balustrade des Turmbalkons oder aus den dunklen Gängen, die die verworrene Architektur dieses uralten Gebäudeflügels durchzogen und unerwartet hier und dort Öffnungen in Räume brachten wie plötzlich sich auftuende Wunden.

Er hob den Kopf, als die Tür sich öffnete. Zum einen wollte er bereit sein, sich sofort zu erheben, falls tatsächlich ein Höhergestellter eintrat. Zum anderen lohnte es sich immer, auf der Hut zu sein, selbst wenn es unter den Höflingen in letzter Zeit kaum unerklärliche Todesfälle gegeben hatte. Eine gewisse Ruhe war eingekehrt, die manche beruhigte, Orstyn jedoch nervös machte. Er wartete auf den Sturm.

Er lebte nun schon so lange hier. Sein Amt war ehrenvoll, aber vielleicht nicht gar so lukrativ wie andere Posten. Zudem hatte es den Nachteil, dass es Belesenheit, emsigen Fleiß und kundiges Wissen in vielen Bereichen voraussetzte. Sich zu einem der höheren Posten des Militärs hochzubrüllen war da einfacher.

Die Edle Nimry trat ein, ein Bild in Weiß und Seidenbronze. Der Faltenwurf ihres Gewandes umschmeichelte ihre freundlich runden Formen. Ihr goldbraunes Haar war mit Bronzefäden geflochten und fiel in einem dicken Zopf über eine Schulter. Ihre Augen schienen von der gleichen hellen Goldbronze wie ihr Haarschmuck. Orstyn erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde.

Sie war vermutlich zu jung, um nach seinem Posten zu gieren. Als Nichte dritten oder vierten Grades des Fyrsthen war sie auch zu hochgestellt, um sich eine Aufgabe zu suchen, die sie die meiste Zeit ihres Lebens in Papieren herumsuchen lassen würde, um dann wohldurchdachte Ratschläge zu erteilen, auf die Fyrsth Ryckden vermutlich weit weniger geben würde, als auf die Orstyns.

Man konnte Fyrsth Ryckden nicht vorwerfen, er konsultiere vor seinen Entscheidungen niemanden. Er sammelte Meinungen und Ratschläge wie eine Küchenmagd Kräuter. Und dann tat er meist das, was er vermutlich vorher schon für sich beschlossen hatte. Daraufhin verneigten sie sich alle und schritten halb rückwärts aus dem Ratssaal. Es ziemte sich nicht, bei solchen Gelegenheiten noch einmal auf der eigenen Meinung zu beharren oder den Fyrsthen nachträglich umstimmen zu wollen.

Es war auch nicht sonderlich angebracht, hinterher zu sagen, man hätte wohl doch recht gehabt. Das Kriegsglück war eine launische Hure, hellsehen konnte niemand, und der Satz „Das habe ich doch gleich gesagt“ mochte einem im Hals stecken bleiben wie ein vergiftetes Stück Kuchen; eine Analogie, die keine war.

Immerhin, Orstyn konnte loben, schmeicheln und Andeutungen machen, die in zunehmendem Maße zielführend waren. Die hohe Kunst der Verständigung. Er beherrschte sie gut.

„Hochgemeite Nimry“, grüßte er. Er stand. Seine Verbeugung war langsam, würdevoll und von eher knapp bemessenem Winkel. Ehre, wem Ehre gebührte – und ihm selbst gebührte nicht wenig davon. Mehr als ihr, deren Geburtsrecht den Makel elterlichen Versagens trug. Orstyn konnte sich noch daran erinnern, wie die Köpfe ihrer Mutter und ihres Vaters vor ungefähr vierzehn Jahren auf Spießen über dem Burgtor gesteckt hatten. „Wie kann ich helfen?“

„Weisester Kahsells.“ Das Mädchen klang unschlüssig. Möglicherweise kaute sie noch an dem Wort „hochgemeit“ herum, das Orstyn aus den alten Gedichten des Vergangenen Reiches kannte und am Hof eingeführt hatte. Nur zwei Menschen hatten ihn je gefragt, was es hieß. Alle anderen hatten sich lediglich darüber gefreut, eine neue Anredeform zur Verfügung zu haben, die das Wort „hoch“ enthielt und nicht direkt einen bestimmten Rang ausdrückte. Ränge waren heikel, da kam es bisweilen zu peinlichen Fehlern. Doch hochgemeit konnte man einfach so sein, ohne weitere Rangfestlegung.

„Ja, mein Kind?“ Er fühlte sich nicht im Mindesten väterlich, doch die Anrede legte eine Rangfolge fest, die ihm mehr behagte als die der noblen Geburt.

„Euer Bibliokant – ich habe ihn schon länger nicht gesehen.“ Sie versuchte herablassend zu klingen. Es gelang ich nicht. Sie war zu jung, zu unbedarft und möglicherweise tatsächlich zu nett.

Orstyn hatte mehr als einen Bibliokanten. Die emsigen Aspiranten auf spätere Weisheit – und hoffentlich ein geregeltes Einkommen innerhalb sicherer Mauern – entstaubten, räumten und lasen. Ihr Curriculum zusammenzustellen oblag Orstyn, dem die Kahsellsche Bibliothek unterstand, und er tat es mit zielgerichteter Akribie. Jeder forschte zu einem anderen Gebiet. Putzen und räumen konnten sie freilich alle.

„Welchen Bibliokanten, Kind?“

„Der …“ Sie verstummte und errötete. Etwas verschämt senkte sie den Blick, als habe eine Eigenheit im sternförmigen Bodenmosaik plötzlich ihre Aufmerksamkeit erregt.

Orstyn wusste, die kunstvoll bunten Keramik-Steinchen hatten nicht zu Nimrys Verstummen geführt. Ihm war klar, wen sie suchte – den letzten, der zu Orstyns Gruppe von Nachwuchsbücherwürmern hinzugestoßen war: Gemryn. Eine untypische Wahl für einen Gelehrtenanwärter. Die anderen Bibliokanten hatten es nicht verstanden. Niemand hatte das. Mit mindestens Ende zwanzig er war viel zu alt. Er wusste ein Schwert weit besser zu führen als ein Archivregister. Er war in den Kriegen gewesen. Er hatte sie überlebt.

Fyrsth Ryckden hatte eine Art Hybriden schaffen wollen: einen Kämpfer, der die Weisheit der Schriften verstand. Orstyn hatte das für eine gute Idee gehalten. Es mangelte der Fyrsthenei an übergreifendem Wissen. Jeder war nur in seinem eigenen kleinen Bereich versiert.

Allerdings erforderten beide Berufungen eine Lebenszeit an Lernen. Zwei Lebenszeiten, um genau zu sein. Insofern mochte der neue Bibliokant nie besonders hoch im Rang der Gelehrten aufsteigen, sofern er sich Konkurrenten nicht mit der Klinge vom Hals schaffte. Doch vermutlich hatte Gemryn auch nicht vor, den Weisesten in seiner Position zu beerben.

„Er ist nicht da“, sagte er Nimry.

„Wo ist er?“

Es ziemte sich nicht, dass sie das fragte. Sie war längst einem Graaven versprochen – eine gute Partie. Einem Bibliokanten mit mehr als zweifelhafter Vorgeschichte sollte sie gewiss kein Interesse entgegenbringen. Orstyn hob tadelnd eine Augenbraue, ein Zugeständnis an die väterliche Rolle, die er sich angemaßt hatte. Tatsächlich war es ihm einerlei, welches hübsche Fyrsthinchen sich mit welchem gut bestückten Kämpen vergnügte.

„Er wollte mir etwas beibringen!“, verteidigte sich die junge Frau, und setzte Worte gegen gehobene Augenbraue.

„Gewiss.“ Orstyn konnte sich gut vorstellen, was genau das Lernziel gewesen sein mochte. „Doch er ist nicht - präsent. Man hat ihn mit einem diplomatischen Auftrag entsandt.“ Das war beinahe wahr. „Es gibt Verhandlungen mit Passagur.“ Das war allbekannt.

Helle Augen wurden feucht.

„Wann kommt er wieder?“

„Vielleicht nie.“ Orstyn zuckte mit den Schultern.

„Aber …“

„Auf ihn zu warten wäre töricht, Kind. Doch wenn Ihr kamt, etwas zu lernen, so können ich oder einer der anderen Bibliokanten Euch gerne unterweisen. Welches Fach interessiert Euch?“

Einen Augenblick lang wechselten sich Panik und Verzweiflung in den schönen Augen ab. Dann war es, als legte sich ein plötzlicher Schleier darüber. Ihr Blick wurde seltsam neutral.

„Gift“, sagte sie. „Ich wüsste gerne mehr über Gift.“

4

Das Byarla-Gebirge war riesig. Es erstreckte sich aus dem Süden von der Asche spuckenden Nohrwähr-Landzunge bis fast nach Holtur, der Fyrsthenei, die nördlich an Kahsell grenzte. Östlich fielen die Berge steil zum Meer hin ab. Jorgvil lag an den südlichen Ausläufern des Gebirges. Westlich senkte sich das Land abrupt in Richtung Wald-Makye ab, einer Art Stacheldschungel, in dem trockene Dornenbäume und -gestrüpp sich zu einem beinahe undurchlässigen Gespinst verwoben hatten und so dem Gebirge einen passenden tödlichen Rahmen gaben.

Auf ganz Predorenn gab es nur ein Gebirge, das noch höher war und noch unüberwindlicher: die Loryr-Berge weit entfernt im Südwesten. Doch das Byarla-Gebirge war hoch genug und schwierig genug, einsam genug – und wirklich groß. Es führten keine Straßen hindurch, bestenfalls Saumpfade. In den kluftigen Höhen konnte man nichts anbauen. Es gab keine Städte, keine Märkte, keine Felder oder Wiesen. Eine Handvoll Anmeldungen befanden sich am südwestlichen Rand des Gebirges. Danach waren Reisende auf sich selbst gestellt. Doch wozu sollte man weiter in die unwirtliche Felsenzone? Um Edelsteine im Gestein zu finden? Und dabei zu verhungern? Oder von der ansässigen Fauna verspeist zu werden?

Shernay wusste das alles. Ihr Kopf war angefüllt mit Fakten. Sie saß mitten in diesen Bergen in einem unzugänglichen Tal. Sie lebte. Sie war versorgt und umsorgt. Gehegt, gepflegt und über alle Maßen zivilisiert. Allerdings auch eingeschlossen in ihre Heimat, die sie liebte, bis zum Rund der sie umschließenden Berge und Wolken und – zumindest in Gedanken - auch darüber hinaus.

Sie kannte die gesamte Topographie ihrer Welt, hatte sie auf Karten studiert und verinnerlicht. Sie wusste, wo die alten Reichsstraßen verliefen, die niemand mehr instand hielt, wo die Häfen sich befanden und wo die Städte, die wie alles dem Zerfall preisgegeben waren, weil die acht Fyrstheneien sich nun schon seit Jahrhunderten in wechselnden Bündnissen bekriegten, während die Kenntnisse und Kunstfertigkeiten des Alten Reiches zusehends in Vergessenheit gerieten.

Reyalun war keine hundert Jahre nach der Erschaffung der Acht Reiche Predorenns entstanden. Cahersyg, die Hauptstadt der Welt, wie man sie kannte, war kaum mehr als ein halbes Jahrhundert errichtet gewesen. Die Räte Predorenns waren sich keinesfalls einig gewesen, ob es eine gute Idee war, Wissen aus dem Zentrum der Macht auszulagern – gewissermaßen zu verstecken.

Doch es war geschehen. Und es war gut so. Irgendwann war das Alte Reich untergegangen und Cahersyg zur Legende verkommen. Irgendwann hatte sich Reyalun abgeschottet. Nun war es vergessen. Kein Fremder durfte hinein. Um hinaus zu gelangen, bedurfte es eines Geheimrituals, eines Blutschwurs und mindestens der Erlangung des vierten Grades der Gelehrsamkeit.

Nichts davon hatte Shernay bislang erreicht. Mit ihren zwanzig Jahren war sie noch zu jung. Die Rechte der Reyalunis wuchsen mit deren Wissensgrad. Wissen erlangen zu wollen, das einem noch nicht zustand, galt als Frevel. Shernay wusste das. Die schiere Ungeheuerlichkeit ihres Fehltritts brannte in ihrem Magen und ließ ihre Hände und Knie zittern.

Sie sah sich vorsichtig um.

In diesem besonderen in den Felsen getriebenen Stollen hatte sie absolut nichts zu suchen. Es würde sie vermutlich nicht das Leben kosten, wenn man sie hier fand. Doch was es sie letztlich kosten würde, wusste sie nicht. Trotz der ehernen Regeln war die Rechtsprechung Reyaluns eher subjektiv ausgerichtet. Einem Dummen mochte man eine Verfehlung eher verzeihen als jemandem, der die Entschuldigung, in Unkenntnis gehandelt zu haben, nicht hatte.

Viele Gänge des Alten Archivs erstreckten sich direkt in den Fels. Vielleicht hätte sie noch nicht einmal wissen sollen, wo dieser hier sich befand. Ein weniger wissensdurstiger Mensch hätte es möglicherweise nicht herausgefunden, bevor ihm das Wissen nicht zustand.

Doch Shernay hatte immer mehr wissen wollen als das, was das Curriculum für ihren Grad hergab. Es war, als wäre sie ein offenes Buch, in das Wissen nur so einströmte und in dem Erkenntnis sich von fast allein bildete. Unter den Lernenden tat sie sich durch die Geschwindigkeit hervor, mit der sie sich neue Themen erschloss, neue Texte behielt und Schlussfolgerungen ziehen konnte. Menschen lernten unterschiedlich schnell, und selbst hier in Reyalun waren nicht alle gleichermaßen begabt.

Wieder sah sie sich nervös um. Sie lauschte. Wie tiefer, steter Atem strich ein Luftzug durch den Stollen, streichelte die Härchen in ihrem Nacken, als bliese ein Verfolger darauf.

Ein naher Verfolger?

Glühsteine erleuchteten den Weg. Man musste sie regelmäßig in die Sonne legen, deren Schein sie in sich aufnahmen und dann in der Dunkelheit wieder abgaben. Es war untersagt, sich mit offenen Flammen den geheimsten und wertvollsten Schriften zu nähern.

Die Steine beleuchteten den Boden des Ganges, entlang dem sie in festen Abständen gelegt waren. Sie saßen auch in den Felsnischen, in denen die Schriftstücke archiviert waren. Sie waren sie in einer Reihe auf Holzpulten angeordnet, an denen Lernende arbeiten würden, wenn sie tatsächlich dazu hierherkamen, anstatt in die wohlbewachte Abschriften-Sammlung im Zentrum des Tales.

Doch es war früh am Morgen. Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen. Die Regelmäßigkeit der Tagesabläufe im Tal legte die Hoffnung nahe, hier würde jetzt niemand sein.

Sicher konnte Shernay sich freilich nicht sein, denn da es in den Höhlen stets gleich dunkel war, mochte es einem Lernenden höheren Grades durchaus einerlei sein, zu welcher Tages- oder Nachtzeit er hierherkam. Sie konnte jeden Moment entdeckt werden.

Shernay versuchte, kein Geräusch zu machen. In ihrem Nacken kitzelte etwas wie Gefahr und Schuld. Ihr schlechtes Gewissen schien sie bremsen zu wollen, doch ihre Füße wurden von ihrem Willen getragen, und der sagte ihr, sie müsste herausfinden, wie Deruonn das Tal ungesehen verlassen konnte.

Sie hatte ihn verbunden, ihm Wasser gebracht, eine Decke, etwas zu essen. Sie hatte ihm geholfen, sich aus seiner Rüstung zu schälen, hatte sein Untergewand gewaschen – heimlich bei Nacht. Da hatte er sich nur mit Schmerzen bewegen können, und die prächtigen Muskeln seines narbenbedeckten und mit Blutergüssen dunkelfleckigen Körpers hatten bei mancher Bewegung gezittert.

Doch keine seiner Verwundungen war schwer gewesen. Er erholte sich schnell. Alsbald würde er wieder gerüstet und bereit sein - sie wusste nicht wozu. Zu tun, was nötig war, vielleicht. Er machte den Eindruck, als täte er immer das, was nötig war, mit der Zielstrebigkeit eines felsenharten Recken.

Doch da war mehr.

Er hatte ihre Hand genommen und sie mit seiner schwieligen Pranke festgehalten. Seine Haut war warm gewesen und seine Berührung von ungekannter Präsenz. Seine Zärtlichkeit war die wohlproportionierte Kraft. Es schien, als wäre er wirklicher als all die Menschen, die sie kannte. Opak in einer Welt diffuser Schemen. Sein Händedruck war ihr durch den ganzen Körper gefahren. Der Mann hatte sich angefühlt, als wäre er ein Teil von ihr.

Oder umgekehrt.

„Du hast mich nicht verraten“, hatte er verwundert gesagt und sie mit diesen unglaublichen, dunklen Augen angesehen.

„Nein. Habe ich nicht.“ Ihre Stimme hatte selbst in ihren Ohren resigniert geklungen. Es war die Resignation des besseren Wissens, gegen das sie das hier getan hatte. Sie hatte keine Zweifel, dass es im Licht der Gesetze Reyaluns falsch war. Doch sie zweifelte auch nicht daran, dass es nicht richtig war, diesen Mann einfach auszulöschen. Nur weil er das Tal gefunden hatte. Weil er sie gefunden hatte – und sie ihn.

Nun ging es ihm schon recht gut. Wenn er nicht doch noch sterben sollte, war es an ihr, ihm zur Flucht zu verhelfen. Entscheidungen brachten immer Verantwortung mit sich – selbst die fragwürdigen.

Sie erstarrte. Ein Geräusch aus einem Seitenstollen gefror sie gleichermaßen zu Eis. Da war jemand. Sie lauschte angestrengt. Nun hörte sie nichts mehr. Hatte sie sich getäuscht?

Minutenlang rührte sie sich nicht, bat nur die Schatten, sie einzuhüllen und zu verbergen. Ein unsinniger Wunsch, beinahe religiös. Sie war nicht gläubig. Niemand im Tal war es. Sie sammelten Götter und Religionen, Aberglauben und Legenden, wussten vielleicht mehr von ihnen als die jeweiligen Priester draußen in der Welt, doch sie glaubten nicht daran. Es war nur weiteres Wissen über die Abläufe in dieser Welt und deren vielschichtige Hintergründe.

Zum ersten Mal verstand sie, wie beruhigend es sein könnte, sich einer höheren Macht anzuvertrauen, die dann für einen agierte – oder nicht. Fast fühlte sie sich leer, da sie es nicht konnte. Reyalunis halfen einander. Sie überließen ihr Gemeinwohl nicht mythischen Größen und unsichtbaren Mächten. Sie fuhren gut damit.

Zumeist. Doch jetzt hatte Shernay Angst. Wie sie es gelernt hatte versuchte sie, die Angst wie alles Neue in die Bestandteile zu zerlegen. Wovor hatte sie Angst? Entdeckung? Darauf folgend Strafe? Oder doch eher die Peinlichkeit und Scham, die auf das Aufspüren ihres Fehlverhaltens folgten? Wie mochte die Strafe aussehen?

Sie listete Strafen in ihrem Kopf auf. Der Tod. Denkbar. Der Entzug der Lernerlaubnis. Das würde sie zur reinen Fronkraft machen. Pflanzen, ernten, kochen, putzen, pflegen – und sonst nichts. Keine Diskussion mehr über hochgeistige Themen. Kein Meinungsaustausch zu Fragen, die einem auf den Nägeln brannten. Keine Antworten.

Nie mehr lesen. Gewiss war das schlimmer als der Tod.

Für wen tat sie das alles? Für einen Mann, der sich bewegte wie ein Tänzer. Für einen Fremden, der ihr außer seinem Namen noch nicht viel von sich verraten hatte. Edelsteine hatte er gesucht. Die Byarla-Berge bargen Edelsteine, doch nicht überall und nicht offen greifbar. Dennoch waren Edelsteine einer der wenigen Gründe, sich überhaupt in die bergige Wildnis zu begeben, den harten Witterungsbedingungen ausgeliefert und fernab von Nachschub. Edelsteine waren ein Wert dort draußen in der Welt.

„Edelsteine?“, hatte sie gefragt. „Hast du welche gefunden?“

„Ich habe dich gefunden“, hatte er geantwortet.

So stand sie nun im dunklen Gang des Alten Archivs und riskierte alles, was sie hatte. Es gab keinen philosophischen Ansatz, der das sinnreich heißen könnte.

Sie war nicht allein. Sie wusste es nun genau. Ganz nah war noch jemand.

5

Es war nicht des Weisesten Orstyn Aufgabe zu beurteilen, was ein Mensch lernen wollte. Natürlich konnte er sich seine Gedanken darüber machen, wozu sie mehr über Gift zu erfahren suchte. Doch die Edle Nimry wusste, er würde nicht fragen. So viel Neugier stand ihm nicht zu.

Er tat, was man tat: Er verneigte sich und geleitete sie zu einem jener jugendlichen Bibliokanten, die Nimry nicht einmal voneinander unterscheiden konnte oder wollte. Sie alle hatten Tinte an den Fingern, waren ungepflegt, und selbst wenn man sich Mühe gab, würde man diesen nicht besonders aufregend finden. Er sah aus, als hätten zu viele Zahlen und Buchstaben ihm den Weg zur Realität verstellt.

Es gab nur einen unter Orstyns Männern, der die Bezeichnung Mann tatsächlich verdiente, und der war nicht da.

Warum nicht? Sie brauchte ihn!

Mit ein wenig Unbehagen stellte Nimry fest, dass die Strümpfe von Orstyns angeblich belesenstem, jungem Akolythen Löcher hatten, was umso deutlicher auszumachen war, als er sich der Geckenmode verschrieben hatte und die Pumphosen, die er trug, nur schenkellang waren. Dieses Kleidungsstück mochte sich unter den jungen Adligen als schick durchgesetzt haben, doch um es tragen zu können, sollte der Träger über gerade und möglichst muskulöse Beine verfügen – und über lochfreie Strümpfe, die um die Knöchel keine Falten schlugen. Nichts davon konnte dieser dürre … Junge für sich in Anspruch nehmen.

Nimry hörte Orstyn unterdrückt seufzen. Er selbst wirkte nie wie eine rohe Pastete, in die man zu viel Wissen hineingepresst hatte. Vielleicht war es das Alter. Oder es lag daran, dass er tatsächlich der Weiseste war. Außerdem war er Ratsmitglied. Da musste er repräsentieren und repräsentabel sein.

„Dies ist Bibliokant Berstel, Edle Nimry“, stellte er ihr den jungen Mann vor. „Er wird Euch eine Liste lesenswerter Literatur zum Thema Eurer Wahl zusammenstellen und Euch die Schriften an jenes Pult bringen. Dort könnt Ihr Euch entsprechend bilden.“

„Kann ich sie nicht mitnehmen?“ Nimry hatte wenig Lust, ihre Zeit im abgelegenen Nordturm zu verbringen - im Staub der Schriften, zusammen mit irgendwelchen unbeholfenen Hilfsgelehrten. Zumindest dieser hier konnte ihr nicht einmal in die Augen sehen und peilte stattdessen stetig ihre Brüste an. Es gelang ihr nicht, dies als Kompliment zu sehen.

„Nein, Edle. Kein Schriftstück oder Buch verlässt die Bibliothek.“

Nimrys Muhme hatte einmal gesagt, dass es früher ganz normal gewesen war, seinen Lesestoff mit sich in seine Gemächer zu nehmen und dass in ihren Gemächern vermutlich irgendwo noch das eine oder andere Buch herumlag, das sie schon längst hätte zurückgeben sollen.

Also war anzunehmen, dass Orstyn diese Regel selbst eingeführt hatte, als ihm klar geworden war, dass die Kahsellsche Bibliothek über die Jahre nicht an Büchern zugenommen hatte, sondern vielmehr immer wieder welche verschwanden. Bücher waren alt. Viele neue wurden nicht geschrieben. Also musste man mit dem haushalten, was man hatte.

Lediglich der Fyrsth genoss Sonderrechte. Dafür war er Fyrsth.

Der Weiseste Orstyn warf Nimry noch einen Blick zu. Vielleicht versuchte er, ihren Rang einzuordnen. Ihr ganzer Name lautete Edle Nimry aus Kahsell. Edle bezeichnete den Adelstitel. Mit dem Namen der Fyrsthenei durften sich nur Adlige des Hofes, die mit der Fyrsthenfamilie verwandt waren, schmücken. Dann gab es auch noch den „kleinen Unterschied“: Die eigentliche Fyrsthenfamilie trug den Titel „von Kahsell“. Die weiter entfernten Vettern und Basen der Seitenlinien, die keinen Anspruch auf das Thronerbe hatten, waren „aus Kahsell“.

Dennoch stand sie im Rang höher als der Weiseste und reckte energisch ihr Kinn in die Höhe. Sie wusste, er war erstaunlich unbeeindruckt von Adelsrängen, als wäre das Wissen, über das er verfügte, eine stetig in die Höhe wachsende Stufe, mit der er alsbald alle überragen würde.

Nimry hatte man beigebracht, das anders zu sehen. Der Weiseste mochte über Wissen verfügen, doch die Herrschenden von Kahsell verfügten über den Weisesten. Er leistete gute Dienste, doch auch Pferdeknechte leisteten Dienste und waren bisweilen gut darin. Natürlich hob seine Ratsmitgliedschaft seinen Rang und machte diesen somit schwer einzuschätzen.

Nimry fragte nicht noch einmal nach Gemryn. Dabei hätte sie ihn dringend sprechen wollen. Seine Andeutungen waren zu vage gewesen, um ihr Einsicht zu vermitteln, gleichzeitig aber zu aufwühlend, um nichts zu tun. Warum hatte er sich bemüßigt gefühlt, sie zu warnen? Niemand sonst hatte das. Nicht einer.

Der Graav von Flynnt, hatte Gemryn gesagt, hatte bereits vier Frauen gehabt. Alle waren sie an seltsamen Krankheiten verstorben. Gift, hatte er geargwöhnt.

Sie würde an ihrem achtzehnten Geburtstag des Graaven fünfte Frau werden. Es war so besprochen. Natürlich nicht mit ihr. Ihr hatte man das nur mitgeteilt.

Der Graav war ein einflussreicher Mann, zumal er in den letzten Jahren durch Erbschaft seine Pfründe hatte erweitern können.

„Der arme Mann“, hatte ihre Muhme gesagt. „Er hat so ein Pech mit seinen Ehefrauen. Aber du bist ja gesund. Du wirst ihm Erben schenken.“

Nimry hatte den Graaven von Flynnt vor Jahren bei Hofe gesehen. Von weitem. Da war sie noch viel jünger gewesen. Er hatte ihr nicht gefallen, und sie wollte ihm nichts schenken. Schon gar nicht Erben.

Außerdem verfügte er schon über Erben. Die vier Ehefrauen waren immer erst verblichen, nachdem sie ihre Pflicht erfüllt hatten. Doch Kinder konnten sterben. Erfahrungsgemäß starb mindestens die Hälfte vor dem zwölften Lebensjahr. Man konnte zwar davon ausgehen, dass der Graav von Flynnt besser auf seine Nachkommen als auf seine Frauen achtgab, denn Frauen waren leichter zu ersetzen, doch die Gesundheit von einflussreichen Sprösslingen war eine zarte Sache.

Niemand hatte Nimry je gefragt, ob sie Graavessa von Flynnt werden wollte. Überhaupt fragte sie niemand, was sie wollte. Die Muhme, die sie nach dem sehr frühen und reichlich gewaltsamen Tode ihrer Eltern aufgezogen hatte, war streng und durchweg der Meinung zu wissen, was Nimry zu wollen hatte. Diskussionen halfen da wenig, und Aufmüpfigkeit wurde geahndet. Mädchen, fand der Fyrsth, hatten zu gehorchen. Nun, von Männern dachte er das gleiche, und die Muhme war ihm ergeben. Äußerst ergeben. Sie tat nichts, was ihm je missfallen könnte, und alles, ihm zu gefallen.

Einen widerwärtigen Graaven heiraten, ihm Kinder schenken und dann durch Gift sterben. Nimry konnte nicht aufhören, daran zu denken. Hatte Gemryn gewusst, wovon er sprach? Hatte er geraten? Geargwöhnt? Oder sich einfach vor ihr, der Edlen, wichtigmachen wollen?

Wie ein Wichtigtuer hatte er nicht gewirkt. Eher intelligent und informiert. Selbstsicher, stark und elegant. Gar nicht wie ein Bücherwurm.

Sie hatte der Muhme noch nichts von dem Verdacht erzählt, denn dann hätte sie die Quelle preisgeben müssen. Das wäre schlecht für Gemryn gewesen - und für sie, denn obgleich es kein Frevel war, mit einem angehenden Gelehrten zu sprechen, so war dieser doch anders als die anderen. Seine kriegerische Männlichkeit unterschied ihn – zum Beispiel von dem Jungen mit den löchrigen Strümpfen, der ihr just eine kurze Liste unter die Nase hielt. Er hatte sie fertig aus dem Fach unter seinem Schreibpult gezogen.

„Hier, Edle Nimry.“ Er verneigte sich linkisch. Dabei bemerkte er den Zustand seiner Strümpfe und versuchte, den linken mit einer Hand in Kniehöhe zu fassen und nach oben zu ziehen, während er das rechte Bein hinter dem linken zu verbergen suchte. Er wankte leicht. Es war ein unmögliches Betragen.

„Was ist das?“, fragte sie und wies auf das Blatt Papier.

„Die Literaturliste, die Ihr erbatet.“

Nimry blickte sich nach dem Weisesten um, sah ihn jedoch nirgends.

„Ich dachte, du müsstest sie erst schreiben!“

„Ihr seid nicht die Erste, die eine solche Frage hat. Gift interessiert viele.“

Natürlich. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Wie viele – und vor allem wer – hatte sich hier schon informiert? Wer hatte was gegen wen angewendet?

Sie versuchte, sich zu erinnern, woran in den letzten Jahren Menschen gestorben waren. Doch Menschen starben an so vielen Dingen. Wer konnte schon wissen, was eine Krankheit und was auf ein Pülverchen im Wein zurückzuführen war? Oder warum sich manch ein Kratzer entzündete, bis das Fleisch faulte, und andere Verletzungen einfach nur verheilten?

Nimry kämpfte einen Augenblick lang mit den Tränen, erlangte jedoch sofort ihre Fassung zurück. Nichts zeigen. Keiner Schwäche nachgeben. Der Bibliokant war wie ein Hündchen. Er sah sie treuherzig an, machte Männchen, wenn man es ihm sagte – und vielleicht biss er ihr in die Waden, wenn sie auch nur einen Augenblick in der Zurschaustellung ihrer Überlegenheit schwankte.

„Was wollt Ihr zuerst lesen?“, fragte er. Sie blickte ratlos auf die Liste. „Schnelle Gifte, langsame Gifte, Pflanzen und Gewürze? Unauffällige …“

„Wie man sich davor schützt“, herrschte sie ihn an.

Er nickte und legte die Liste wieder ab.

„Dann fangen wir hiermit an. Obwohl – sich vor Gift schützen, das geht im Grunde gar nicht.“

Er sah sie betreten an, merkte, dass er sie mit der Aussage tief getroffen hatte, und suchte mit den Augen nach einem anderen Ziel als ihrem Gesicht.

Sie zwinkerte die aufsteigenden Tränen fort.

„Obwohl …“, begann er erneut. „Wenn man weiß, was kommt … ist das schon besser. Gegen manches gibt es Antidote. Vielleicht hat der fyrsthlichen Alchemist eines. Manches Gift hat auch einen spezifischen Geschmack.“

Er kannte sich aus. Vielleicht sollte sie ihn in ihrer Entourage mitnehmen, wenn sie nach Flynnt ging. Hatte die Graavenburg überhaupt eine Bibliothek, die es rechtfertigen würde, dass sie einen Bibliokanten mitnahm?

Er würde es nicht mögen. Sie mochte es ja auch nicht. Niemand fragte sie. Die Graavschaft Flynnt war strategisch wichtig an der Nordgrenze zu Holtur. Den Graaven mit einer guten Heirat zu binden, war ein ganz normaler Vorgang. Der Graav brauchte gerade wieder eine Frau, und Nimry war jung, hübsch und dynastisch verfügbar.

Alles andere war dem Fyrsthen einerlei. Ihr Leben war ihm so unwichtig wie ihr Tod.

Vielleicht hätten ihre Eltern damals nicht gegen ihn intrigieren sollen. Dann hätte sie jetzt noch Eltern mit Einfluss und nicht nur zwei Schädel, die man ihr vermacht hatte, als sie fünf war, und nicht nur die Muhme, deren Verwandtschaftsgrad verworren war und deren Loyalität nur dem Fyrsthen galt, weil sie ihn möglicherweise aus der Ferne mit einiger Verzweiflung liebte.

Oder vielleicht hätten ihre Eltern einfach klüger und erfolgreicher sein müssen. Dann wäre sie jetzt möglicherweise Fyrsthentochter und nicht Nichte vierten Grades.

Ob das etwas an ihrer derzeitigen Situation geändert hätte, war freilich ungewiss.

6

Es war mehr als nur Glück, dass sie gefunden hatte, was sie suchte. Man hatte sie nicht entdeckt, und das war noch viel größeres Glück. Dabei war Shernay sicher, dass sie nicht allein im Stollen war. Sie hörte keine Schritte, aber es schien ihr, als könnte sie Atem spüren. Direkt hinter ihr. Er hob ihr die Härchen im Nacken hoch und beugte sie wie Halme im Wind.

Doch wenn sie sich umwandte, war da niemand. Nur die weißen Steinlichter, die gleichmäßig ohne zu flackern leuchteten. Angst sollte ihr das nicht machen. Sie fürchtete sich dennoch. Es war ein durchaus neues Gefühl – zumindest in dieser Intensität. In der Gemeinschaft der Archivare von Reyalun gab es wenig, das man fürchten musste. Solange man sich an die Regeln hielt.

Bis jetzt hatte sie das stets getan, doch nun war Deruonn in ihr Leben getreten wie eine plötzliche Sternschnuppe, die scharf glühend und Neues verheißend vom Himmel gefallen war. Regeln waren nur noch Hindernis. Shernay musste die Information finden, die ihr nicht zustand. Dann konnte sie immer noch entscheiden, ob sie das Wissen wirklich verwenden wollte.

Alle Archivteile – in den Archivhöhlen wie in der Abschriften-Bibliothek - waren nach dem gleichen Schema organisiert. Es ging darum, etwas möglichst einfach wiederzufinden, nicht darum, etwas zu verstecken. Das ganze Tal war verborgen, da musste man nicht zusätzlich noch die Schriften durcheinanderbringen.

Sie machte sich keine Notizen. Sie hielt nur die brüchig aussehende Schriftrolle und mühte sich, deren Inhalt direkt in ihren Kopf zu klemmen wie Wäschestücke an die Leine. Eins nach dem anderen. Beschreibung, Zeichnung, Plan. Alles sank in ihren Sinn und verblieb dort. Es war eine Technik, die man ihr beigebracht hatte und die sie mit ihrem besonderen Talent, sich Dinge bildlich genau einzuprägen, Texte und Zeichnungen schnell verinnerlichen ließ.

Nun wusste sie, wie man aus dem Tal kam. Geographisch zumindest. Ihr war auch klar, dass der Ausgang bewacht wurde. Seltsam, dass ihr das noch nie aufgefallen war. Nichts war im Tal so abgelegen, dass man nicht schon viele Male einmal daran vorbeigegangen war.

Dass der Zugang zum Tal von außen versteckt war, leuchtete ihr ein. Von innen war er jedoch genauso gut verborgen. Was erwartete man? Flucht? Verrat?

Zu Recht, denn beides hatte sie vor: Verrat hatte sie begangen, indem sie einen Fremden nicht gemeldet hatte. Flucht – wenngleich nicht die eigene – würde sie diesem Fremden ermöglichen.

Er durfte nie darüber reden. Sie fragte sich, ob sie ihm das klarmachen konnte. Würde er ihr das schwören? Und – viel wichtiger – würde er den Schwur treu halten, oder würde ein solches Gelöbnis ihm nichts gelten als lediglich die Möglichkeit zu entkommen?

War sie nur naiv?

Sie schüttelte den Gedanken ab, und ihr ungeflochtenes, langes Haar bewegte sich um sie wie ein Schleier. Deruonn mochte ihr Haar. Seidengespinst hatte er es genannt. Wenn sie bei ihm war, griff er immer wieder in die vollen, mondhellen Strähnen, ließ sie durch seine sehnigen Finger rieseln wie Goldstaub. Dann überdeckte ein anderes Gefühl ihr schlechtes Gewissen. Sie mochte es nicht einmal definieren.

In Reyalun war immer alles bis ins Kleinste definiert. Gegenüber der Aufgabe und der in Generationen bewährten, stets gleichen Umsetzung waren persönliche Gefühle etwas, das zwar nicht an sich verpönt war, jedoch zumindest im Wohl und Wehe der Gesamtheit und der Gemeinschaft keine Priorität hatte. Nur für Deruonn war sie wichtig. Lebenswichtig.

Unerheblich jetzt.

Leise machte sie sich zum Ausgang des Alten Archivs auf. An den Schriftstücken und Büchern vorbei, an den gleichförmigen Lichtern, an den Stützbalken, die den Stollen hielten, der aus einer ursprünglich natürlichen Höhle ausgebaut worden war. Immer war da das Gefühl, sie würde beobachtet.

Sie merkte, dass sie zitterte. Sie biss sich auf die Lippen. Jetzt, genau jetzt sollte sie zu den Bewahrern gehen. Noch war es nicht zu spät. Deruonn ruhte in der Höhle, in die sie ihn gebracht hatte. Jeden Tag heilte er. Er heilte schnell. Seine Verletzungen waren nicht annähernd so schlimm, wie sie zunächst angenommen hatte.

Sie meinte, seinen dunklen Blick zu spüren, wenngleich der Mann nicht einmal in der Nähe war. Seine Augen hielten sie fest, machten sie unaufmerksam auf den letzten Schritten zum Ausgang des Tunnels. Draußen wurde es langsam hell.

„Was tust du nur, Shernay?“, fragte eine Stimme direkt neben ihr.

Es durchfuhr sie wie ein eiskalter Blitz. Fast schmerzhaft war der Schreck, der ihr im Herzen steckenblieb, so dass es fast bersten wollte.

Garru. Wieso war Garru schon so früh auf, und was machte er hier?

„Ich …“, begann sie und wusste dann nicht weiter.

„Du bist Grad drei. Du darfst hier nicht sein.“ Er stand neben ihr und sah sie nicht einmal an, versenkte seinen Blick nur in den Boden, so wie er seine schmalen Hände in den Taschen seines weiten, hellen Gewandes verbarg. Seine melodiöse Stimme klang fast ein wenig verzweifelt. „Die Weisen würden dich nicht lassen, so du sie fragtest. Noch dazu zu dieser Zeit! Was tust du, Shernay, und aus welchem nicht fassbaren Grund?“

Sie wusste nicht, wie sie das beantworten sollte. „Wirst du mich verraten?“, fragte sie nur und versuchte, nicht unsicher zu klingen.

Er zuckte mit den Schultern.

„Wenn ich wüsste, dass du einen guten Grund hast, fiele es mir leichter, nichts zu sagen. Menschen sind nicht perfekt. Wir alle begehen Fehltritte. Nicht jeder dieser Fehltritte betrifft die Gemeinschaft oder muss von ihr wahrgenommen werden.“

Sie sagte nichts, schielte ihn nur von der Seite an, wie er da stand, blond und blass. Er war gerade mal so groß wie sie selbst und schmal. Sein feines Haar hing ihm halb in das etwas zu lange Gesicht, mittelgescheitelt und brav. Seine Augen waren grau und groß, und seine Wimpern so hell, dass man sie kaum sah.

Unwillkürlich verglich Shernay den Mann, dem sie versprochen war, mit dem, der verbotenerweise in einer Höhle ihrer harrte. Sie mochte Garru. Wirklich. Sie hatte ihn immer gemocht, schon als sie noch gemeinsam gespielt und gemeinsam zu lernen begonnen hatten. Auch als ihre Spezialisierung sie unterschiedlichen Lernstoffen zutrug, hatten sie einander stets gut verstanden. Sie hatten gemeinsam in den Wasserfällen gebadet. Sie hatten gemeinsam jene allgemeinen Arbeiten verrichtet, die neben dem Lernen auch erledigt werden mussten, hatten für die Gemeinschaft gekocht, geputzt und gewaschen. Jeder war irgendwann einmal dran.

Immer häufiger hatte sie seiner Musik gelauscht. Viele Reyalunis spielten Instrumente oder sangen die alten Balladen. Keiner tat es wie Garru. Wenn er spielte und sang, war es, als wüchsen ihm Flügel. Wie ein Schein umflorte ihn die Schönheit seiner Musik.

Doch wenn er redete, biss er sich wie jetzt auf die Lippen, blickte unsicher an ihr vorbei, als wollte er sie nicht wahrnehmen. Als sie klein gewesen waren, war das nicht so gewesen.

Deruonns Augen trafen sie immer direkt. Wie Pfeile.

„Ich musste etwas eruieren.“

„War das Abschriften-Archiv dafür nicht gut genug? Alles, was in den alten Stollen ist, ist auch dort.“

„Aber man muss …“ Sie sprach nicht weiter.

„Man muss sich eintragen und den richtigen Grad nachweisen können“, ergänzte er und nickte. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis du den vierten Grad erreicht hast. Konntest du nicht warten?“

Sie antwortete nicht, zuckte nur mit den Achseln.

„Oder“, argwöhnte er jetzt, „hätte auch Grad vier nicht gereicht? Was um des Tales Willen hast du lernen wollen?“ Er sah nun noch besorgter aus als vorher.

Shernay wandte sich ihm zu, nahm ihn bei den schmalen Schultern und drehte ihn zu sich.

„Was soll das alles?“, fragte sie ärgerlich. Es war schwierig, vor Garru Angst zu haben. Sie hatten einander stets vertraut.

Er sah sie irritiert, aber nicht verunsichert an.