Blutige Allianzen - Aleksei Bobrovnikov - E-Book

Blutige Allianzen E-Book

Aleksei Bobrovnikov

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Beschreibung

Der Journalist Aleksei Bobrovnikov berichtet für den Kiewer TV-Sender 1+1 über Geldwäsche und Heroinschmuggel im Donbass. Er reist ins ukrainisch-russische Kriegsgebiet, wo er Andrej, einen Informanten, treffen will. Doch wenige Stunden, bevor sie reden können, wird Andrej von einer Mine in Stücke gerissen. Es ist der Auftakt zu einer Serie von Morden, der mehrere von der Regierung beauftragte Korruptionsermittler zum Opfer fallen. Wer sind die Hintermänner? Wer die Verräter? Wer steht wo in diesem Krieg? Die Recherche wird zur Jagd. Bobrovnikov ist das Wild. Aber als Reporter mit Leib und Seele, frisch getrennt von seiner großen Liebe, hat er nichts zu verlieren. Er will die Wahrheit ans Licht bringen. Dabei gerät er immer tiefer in die tödliche Grauzone von Spionage, Machtgier und Betrug. "Blutige Allianzen" ist ein fesselnder Spionageroman, der vollständig auf Tatsachen beruht, eine atemberaubende Reise durch die dunklen Abgründe von Illoyalität und Profitstreben in Zeiten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Mit der kalten Präzision des Chronisten erzählt Bobrovnikov seine eigene Geschichte zwischen Freischärlern, Schmugglern und Warlords. Zugleich ist dies die Geschichte einer Liebe und einer Familie, die zwischen Krim-Annexion und Maidan-Protesten in einem totalitären Imperium überlebt. Der zweite Teil des Romans ist in Arbeit.

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Seitenzahl: 554

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Aleksei Bobrovnikov

Blutige Allianzen

Aus dem Russischen übersetzt von Franziska Zwerg

Mit freundlicher Förderung des PEN-Zentrums Deutschland und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7056-8 (E-Book)

ISBN 978-3-8012-0671-0 (Printausgabe)

Copyright © 2024 by

Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Covergestaltung: Ralf Schnarrenberger, Hamburg Unter Verwendung eines Bildes von Koba Samkharadze Satz: Jens Marquardt, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2024

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhalt

ZONE 1 Vorahnung

ZONE 2 Erster Tauchgang

ZONE 3 Blindkampf

ZONE 4 Einer flog über das Nest

ZONE 5 Flakrak

ZONE 6 Abchasisches Déjà-Vu

ZONE 7 Spielregeln

ZONE 8 Das Bankgeheimnis

ZONE 9 Der verrückte Gott

Nachwort

»I will have no man in my boat« — said Starbuck — »who is not afraid of a whale«

Herman Melville: Moby-Dick; or, The Whale

Pour en finir avec les »zones grises«, il faudrait établir des cartes complètes de la planète avec tous ces espaces hors contrôle.

François Thual: Géostratégie du crime

ZONE 1 Vorahnung

Juli 2015

Kiew

Die Kakerlake

»Auf deinem Kissen ist eine Kakerlake«, sagte Dascha, »hier übernachte ich nicht.«

Da war wirklich eine Kakerlake gewesen. Für mich hieß das Schlüsselwort »war«, für sie jedoch »Kakerlake«, die Anwesenheit dieses verdammten Insekts auf dem Kissen in meinem Schlafzimmer. Es konnte ja nicht zufällig dorthin geraten sein. Bekanntlich kommen solche Kreaturen selten allein. Und das bedeutete, sie oder ihr Bruder (Sohn, Neffe, Enkel, Ehemann) konnte jeden Moment zurückkehren – auch im allerungünstigsten.

Mein Satz »Beruhige dich, ich sperre sie in die Küche«, mit einem ironischen Lächeln ausgesprochen, verfehlte seine Wirkung, leider.

Sie winkte mir mit ihrer kleinen Hand zu und stieg schnell in ein Taxi.

»Ciao«, hatte sie noch auf der Schwelle gesagt.

An diesem Abend ging ich Wasserpfeife rauchen und schrieb an etwas, das ich aufgeschoben hatte.

Ein geschriebener Text war schon immer mein unentbehrlicher Helfer und meine wichtigste Waffe. Auch gegen Kakerlaken.

War das ein »Ciao« im Sinne von »Hallo«? Oder im Sinne von »Tschüss«?

Die weibliche Psyche ist ein Thema für sich. Bücher darüber schreibt besser jemand anderes.

Irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, an dem ich sie erschießen möchte, zusammen mit allen Kakerlaken, die ihr und mir durchs Hirn krabbeln.

Es wäre das erste Mal in meinem Leben (und das letzte), dass ich den klaren Gedanken hege, einen Menschen töten zu wollen, gefolgt von einem anderen, nicht weniger klaren Gedanken – nämlich diese Geschichten ein für alle Mal zu beenden. Wie Tau, der in der Julisonne verdampft, unbemerkt und spurlos.

Doch der erste wie auch der zweite Gedanke kamen mir erst viel später, unter ganz anderen Umständen. An jenem heißen Julitag, als wir durch die Stadt schlenderten und schließlich bei mir landeten, wäre er mir nie eingefallen.

Eine Woche später sollte ich Taufpate eines Mädchens werden, und damit automatisch Mitglied eines Clans kaukasischer Bergbewohner, für die die Bezeichnung »Pate« nicht nur symbolischen Wert hat, sondern Blutsverwandtschaft für mindestens sieben Generationen im Voraus bedeutet. An jenem Sommerabend hatten wir ein Geschenk für meine zukünftige Patentochter ausgewählt, waren lachend durch die Stadt spaziert und hatten abends Wein getrunken. Dann kamen wir in meine Wohnung. Anstelle von Kissen lagen türkische Teppiche herum, zusammengeballt und mit alten Jeans gestopft. Ich war erst kürzlich in meine Kiewer Wohnung zurückgekehrt und hatte begonnen, sie herzurichten für ein neues Leben zu Hause.

Anstatt also Sex zu haben mit meiner Geliebten, gab ich mich der Ausarbeitung eines anderen Themas hin, über das ich bald so viel erfahren sollte, dass ich giftig wurde wie eine ganze Insektenkolonie.

Juli 2015. Diesen Monat werde ich für immer so in Erinnerung behalten: Die Angestellte eines aggressiven Industriekonzerns, mit der ich über alles Mögliche spreche, nur nicht über ihre Arbeit. Türkische Teppiche anstelle von Kissen in meiner alten Junggesellenbude. Meine letzte friedliche Reise nach Georgien zur Taufe der Tochter meines Freundes. Und eine Beziehung, die nicht durch Mord oder Krieg beendet wurde, sondern durch eine Banalität, nämlich ein verdammtes Insekt, dessen Verwandtschaft ich einige Tage später ausrotten sollte.

Der Sommer 2015 war meine letzte ruhige und sorglose Zeit in dieser Stadt, in der ich geboren wurde, Kiew, wo meine Familie alles überstanden hatte – vom bolschewistischen Putsch 1917 bis zu den Repressionen der Stalinzeit und der Belagerung durch die Faschisten. Alles überstanden – nur nicht den September 2015, bis zu dem mir wenige Wochen blieben.

Was kann passieren, wenn man als Journalist von seinem Redakteur beauftragt wird, ein Gerücht über Drogenhandel auf einem Territorium zu überprüfen, wo es Militäreinsätze gibt, und man sich bereiterklärt, entsprechendes Material zu filmen und dabei nicht ahnt, wohin einen das führt?

Bevor ich anfing, dieses Buch zu schreiben, wechselte ich dreimal das Land. Ich durchforschte drei »Grauzonen«. Ich überwand eine Sucht und verfiel in gleichem Maße der Abhängigkeit von vietnamesischem »Pho« (in der Hanoi-Variante). Ich wurde Zeuge eines Mordes und zweier Selbstmorde. Ich half einem französischen Banker, eine große Bank zu kaufen, und hinderte Vertreter der alten kommunistischen Nomenklatur daran, die ihrige gewinnbringend zu verkaufen …

Bevor ich anfing, dieses Buch zu schreiben, verlor ich Hab und Gut in meiner Heimat, wurde vom ukrainischen Geheimdienst meines Archivs und meiner Bibliothek beraubt. Ich konnte ein wichtiges Dossier über einen ermordeten Informanten teilweise wiederherstellen. Ich wechselte zweimal die Kamera und wurde dreimal von Sicherheitsbehörden verhaftet. Ich zermörserte meinen Laptop, kam bei den Russen fast ins Gefängnis, dachte einmal an Selbstmord und verlor zwei Informanten, die getötet wurden.

Doch nie verletzte ich die journalistische Grundregel: Erzähle nur die Geschichten, die du dokumentieren kannst.

Das ist meine Geschichte.

Die Schwarzbrenner von heute

Der alte Keller war früher ein Lager für eine Buchhandlung oder etwas Ähnliches gewesen (was seine Umwandlung in das, was er wurde, übrigens nicht weniger aufwändig machte). Nun war er ein kleines Kammerrestaurant, wo einem auf ein Klopfen hin geöffnet wurde. Das Restaurant war alle Tage geschlossen, außer mittwochs und sonnabends. Dann richtete eine kleine Gesellschaft unter dem Schutz eines der bekanntesten Schmuggler von Alkohol und Lebensmitteln hier Partys für die eigenen Leute aus. Der Whisky, mit dem er handelte, war gut. Kostspielige Getränke wurden auf Kredit serviert.

Es war ein ganz gewöhnlicher Alkoholschmugglerkeller. Mit der vielleicht einzigen Besonderheit, dass im Land keine Prohibition herrschte. Das alles war nichts weiter als der Zeitvertreib eines ziemlich großen Schmugglers und die Spielerei einiger seiner Vertrauenspersonen. Im Allgemeinen nette und freundliche Kerle, die sehr patriotisch gestimmt waren.

Sie strotzten nur so vor antirussischer Rhetorik, trugen überall ukrainische Flaggen und waren bis an die Zähne bewaffnet mit tschechischen Jagdgewehren (legal importiert!). Sie tranken in dieser kleinen, privaten Flüsterkneipe ihren zollfrei eingeführten Scotch. Sie hinterzogen Steuern, wo sie nur konnten, und spendeten das gewonnene Geld an Freiwilligenstiftungen, die die Front unterstützten.

Das ist nur eines der hervorstechenden Beispiele dafür, wie sehr die Kiewer ihre Unabhängigkeit über alles stellen: die Unabhängigkeit von einem Staat, dem sie nicht trauen, und von Spielregeln, an deren Wirksamkeit und Berechtigung sie nicht glauben. Sie gründeten quasistaatliche Einrichtungen der Kranken- und Sachversicherungen, Fonds zur gegenseitigen Unterstützung, bewaffneten eine eigene Miliz und Bürgerwehr, schufen Ersatzregierungsstrukturen. Kurz, es war eine Anarchie à la Nestor Machno1 bei völliger Diskreditierung der vorhandenen staatlichen Institutionen. So entstand mitten in Krieg und Belagerung eine zweite ukrainische Republik. Sie war die Folge des Umstands, dass das Russische Reich erneut versucht hatte, sich seine rebellischen und unabhängigen Provinzen von früher zurückzuholen.

Wer war schuld daran? Das System, das über die Jahrzehnte vor uns geschaffen wurde? Oder sind vielleicht wir schuld daran, dass der Staat, den wir schützen wollten, in die »Grauzone« an der Grenze zum letzten totalitären Imperium Europas geriet?

Was war zuerst da: Das Huhn oder das Ei?

Das sind Fragen, die in einigen Jahrzehnten die Theoretiker der »Grauzonen« beschäftigen werden, wenn sie deren Aufstieg und Fall untersuchen. Ich bin ein Zeuge der Ereignisse, weshalb ich mir die Kühnheit erlaube, die ganze Geschichte zu erzählen.

Mit einer Gruppe von Kollegen und guten Freunden, die zu den Stammgästen dieser unauffälligen Schmugglerkneipe im Zentrum von Kiew zählten, bildeten wir die Kernzelle einer Selbstverteidigungsorganisation. Wir wollten verhindern, dass prorussische Kämpfer, die zu diesem Zeitpunkt bereits die Krim besetzt und auf den Straßen von Donezk, Luhansk, Charkiw und Odessa für Unruhen gesorgt hatten, auch in den Straßen unserer Stadt auftauchten.

Wir Kiewer besaßen legale Waffen und waren eher redselig als gefährlich. Aber dennoch: Wir waren da, mit gesträubtem Barthaar, die Gewehre im Anschlag und vor Patronengürteln strotzend. Wir zechten wie die Musketiere von Alexander Dumas auf den Ruinen von Fort La Rochelle und ärgerten mit unserer Anwesenheit die feindliche Seite, die beschlossen hatte, uns aus unserem vertrauten Nest zu werfen.

Wir waren Russen, Ukrainer, Juden, Tataren, Deutsche und Galizier. Halb Polen, halb Moskowiter, eine Melange in höchster Vollendung – wie Kiew selbst eine war, über dessen geschichtliche Pfade die Interessen des Byzantinischen Reichs, des Moskauer Zarenreichs und der Goldenen Horde Einzug gehalten hatten. Mit unserer Mischung von Blut und Schlauheit sorgten wir für Frieden auf eigenem Boden und verloren ihn jedes Mal aufs Neue, wenn ein Abenteurer aus Osten Richtung Europa oder, andersherum, einer aus Westen nach Moskau marschierte – über unser Ackerland, durch unsere Wälder und unsere Bergwerke.

Wir Überlebenden dieser jahrhundertelangen Metzeleien waren noch jung genug, um Widerstand zu leisten, und schon alt genug, um es mit Ironie zu tun.

Auf diese Weise begann für mich persönlich der zweite Krieg, dessen Zeuge ich wurde, und der erste Krieg, an dem ich selbst beteiligt war.

Ein Krieg um die Unabhängigkeit der Ukraine, der nach dem siegreichen Ende des Februar-Putsches 2014 begann, der den prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch ins Exil flüchten ließ und unseren Staat an den Rand eines Bürgerkriegs brachte.

Damals, zu Beginn des Jahres 2014, standen wir kurz davor, mehrere Provinzen und Städte zu verlieren. Einige von ihnen, so Charkiw, Dnipropetrowsk und Odessa, leisteten erbitterteren Widerstand als wir erwartet hatten. Jede Minute, jede Stunde rechneten die Einwohner Kiews mit etwas Ähnlichem auf ihren Straßen …

Ein Händler, der legal Waffen verkaufte, tauschte in jenem Monat seine alte Limousine gegen einen neuen, teuren Geländewagen. Viele von uns waren mit den warmen Strahlen der Frühlingssonne 2014 zu ihm gegangen, um sich zum ersten Mal ein Gewehr zu holen.

Ein anderer Typ, der Verwandte eines bekannten Oppositionspolitikers in der Ukraine, der später für die Präsidentschaftswahl kandidierte und noch wenige Wochen zuvor in direkter Verbindung zum ukrainischen Verteidigungsbusiness gestanden hatte, bot mir eine brandneue Tokarew-Pistole an, ohne Seriennummer und Vergangenheit, dazu einen Vorrat an Munition. Ich lehnte ab, stellte meine Zugehörigkeit zur Kaste der Journalisten über die Notwendigkeit, im Falle eines Krieges in der Stadt wehrhaft zu sein: eine richtige Entscheidung, wie sich später herausstellte.

Aber auch die Zahl der legalen Gewehre, die damals in Kiew verkauft wurden, war beeindruckend: Nach Angaben meines Waffenhändlers, bei dem ich einen tschechischen Karabiner für 7,62 x 39-Patronen erwarb (in diesem Teil der Welt die beliebteste Munition), befanden sich allein im ersten Jahr des Krieges, der im Osten ausgebrochen war, ungefähr 100.000 legale Schusswaffen auf dem Kiewer Markt, importierte wie inländische – von tschechischen und amerikanischen Gewehren für zivile Zwecke bis hin zu umgebauten Kalaschnikows, die keine Salven abfeuern konnten (aber das ließ sich leicht ändern).

So ging es zu in Kiew während der ersten Kriegsmonate – Kiew, meine Stadt, in die ich von Zeit zu Zeit zurückkehrte und wo wir uns jetzt alle auf die Selbstverteidigung vorbereiteten.

Zwischen meinen Fahrten als Journalist an die Front eines damals noch unblutigen und unerklärten Krieges ging ich oft in diese kleine Taverne, diese Gerüchteküche, wo sich ein lustiges Völkchen versammelt hatte.

»Unser Barkeeper war in ein Mädchen verliebt, mit dem ich immer hier war. Sie ist aus Armenien, die Tochter des hiesigen Botschafters. Später suchte er sie unter all meinen Freunden auf Facebook, fand sie aber nicht.«

»Diese Geschichte erzählst du schon zum zweiten Mal. Wozu?«

»Sie dämpft meine Eitelkeit, stärkt aber auch das Selbstwertgefühl vor neuen Herausforderungen des Schicksals.«

»Blinde und lüsterne Kreatur, so nannte dich unser verstorbener Freund. Du wirst noch zum Wiederholungstäter!«

»Ah ja, unser verstorbener Freund, der mir meine Exfrau ausspannen wollte und ihr erzählte, ich sei chronisch untreu. Dabei wusste der Ärmste nicht, dass es genau das war, was sie wollte …«

»Voyeur.«

»Kanaille.«

»Nörgler.«

»Wüstling.«

»Fickfrosch.«

»Pfui.«

»Wie pfui?«

»Ja.«

»Ach was!«

»He, Mädels! Streitet nicht!«, mischte sich ein Freund ein – ein bärtiger, untersetzter, mittelgroßer, teuflisch begabter Fotograf, der seine künstlerische Karriere gegen diese Schmugglerkneipe getauscht hatte und geblieben war, wahrscheinlich für immer, wie Kapitän Ahab an Bord seines Schiffes oder, genauer gesagt, wie Ahabs Prothese aus Fischbein, die ihre Furche und Vertiefungen auf der Kommandobrücke hinterlassen hat.

»Die Mädels streiten nicht, Kirill Borisowitsch, sie putzen sich gegenseitig das Gefieder.«

»Als erfahrene Nutte sehe ich alles.«

Wir lachten.

Eine junge Frau mit Wolfsaugen und einem ansteckenden Lachen war auch hier. Ich schaute zu ihr hinüber und wurde das Gefühl nicht los, in eine ausweglose Lage geraten zu sein. Oder täusche ich mich gerade mit dem Zeitpunkt? Tauchte sie erst später auf, 2015, kurz vor den Ereignissen, die mich zwangen, Abschied zu nehmen von meiner Heimatstadt und alles, was mir vertraut war, aufzugeben?

Aber eigentlich ist für diese Geschichte nicht wichtig, wann genau sie dort war oder wann genau ich sie dort bemerkte.

Für mich war sie immer da, als fester Teil des Lebens, an das ich gewöhnt war. Hier passt das gute alte Wort »Quintessenz«, das unverdienterweise verloren gegangen ist und seiner ursprünglich magischen Bedeutung beraubt wurde. Die Quintessenz war der Äther, der Extrakt aller Naturgewalten, das fünfte Element, vergleichbar der »mystischen Vereinigung des unlenkbaren Quecksilbers« – nach Überzeugung der Alchemisten der Geist aller Metalle und die ungestüme Energie des Schwefels –, woraus der Stein der Weisen hervorgehen sollte. Die Quintessenz eines beliebigen Ortes, Phänomens oder Ereignisses. Der Ursprung jeder Leidenschaft und Sympathie ist immer der erste Impuls, der aus dem Nichts entsteht, uns jedoch dazu treibt, die gesuchten Elemente immer und immer wieder zu mischen.

Feuer und Luft.

Schwefel und Quecksilber.

»Ich habe linke Ansichten«, hörte ich ihre Stimme am Nachbartisch.

Zwar gehörte ich nicht zum rechten Lager, empfand aber sofort das Bedürfnis, die giftigen Quecksilberdämpfe zu neutralisieren, die von der Frau mit dem ansteckenden Lachen ausgingen.

»Ich hoffe«, versuchte ich die Frau unter einem Vorwand anzusprechen, »sie wollen in diesem Zusammenhang keinen Pass der Volksrepublik Donezk beantragen? Sie können sich hier immer noch nützlich machen.«

»Nützlich? Hier?«

Sie lächelte.

»Nützlich für sie?«, antwortete sie und ahmte meinen absichtlich höflichen Ton nach.

»Ja, ich kann nicht ausschließen, dass ich viel mehr will von Ihnen, als andere normalerweise von Ihnen erwarten«, erwiderte ich ebenso aufgesetzt ernst. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wir dieses Gespräch unter Zeugen führen sollten.« Lächelnd lud sie zum Tanzen ein. Die Wolfsaugen streckten mir eine Hand entgegen.

Die Schmugglerparty war in vollem Gange, und ich hatte keine Ahnung, wohin das alles führen würde.

Das Taufgeschenk

Ein paar Monate später (aus dem verrauchten Keller des Winters waren wir in die Sommersonne umgezogen) gingen meine neue Freundin und ich die Michajlowskaja entlang, eine lange, kopfsteingepflasterte Straße mit kleinen Cafés und Restaurants, die sich in die Souterrains und Erdgeschosse alter, vorsowjetischer Herrenhäuser zwängen.

Nur anderthalb Jahre zuvor waren hier über den steilen Michajlowskispusk die Leichen derjenigen zur Kathedrale hinaufgetragen worden, die in den letzten beiden Nächten der Februar-Revolution 2014 ums Leben gekommen waren. Seither erinnert nur noch das verkohlte Gewerkschaftshaus an diese Ereignisse.

Wir gingen langsam die Straße entlang, trafen Bekannte. Einigen zwinkerten wir zu, bei anderen gaben wir vor, sie nicht zu bemerken.

»Lass uns doch ans Meer fahren.«

»Dafür müsste ich mindestens drei Tage Urlaub nehmen, das Wochenende dazu.«

»Also fliegst du nicht mit mir nach Georgien?«

»Diesmal sicher nicht. Du fährst ja für zwei Wochen, mindestens. Und ich kann nur maximal fünf Tage freimachen, wenn ich rauskriege, wann der Chef seine Feiertage und ein Wochenende einlegt …«

Wir schlenderten durch die Stadt und dachten an den nahen August.

Was kann man schon in drei kurzen Urlaubstagen machen?

Odessa, ja, ganz sicher Odessa.

Was, wenn nicht Odessa?

Odessa war unser Rettungsanker, unsere Schatzinsel. Odessa war die letzte Zuflucht für Menschen, deren Urlaub nur wenige Tage maß und an denen sie nicht mit einem Jetlag oder dem Wechsel von Sprache und Klima experimentieren wollten.

Odessa – das ist wie ein kleines Restaurant in der Nachbarschaft. Das Besondere: dass dieses Restaurant direkt am Wasser liegt, und das Personal spricht deine Sprache, wenn auch mit einem ausgeprägten Akzent, den man allerdings nicht an der Aussprache hört, sondern am Humor, der durch jede noch so unbedeutende Floskel dringt.

Da geht man beispielsweise auf dem Bahnhof von Odessa zu einer Frau, die mit Zigaretten und Sonnenblumenkernen handelt und an einer verstaubten Kaffeemaschine steht. »Sagen Sie, geht die Maschine?«, fragt man sie.

»Nein, sie liegt noch im Bett«, kommt sofort die Antwort, ohne eine Sekunde nachzudenken oder sich von ihren Verrichtungen ablenken zu lassen oder so zu tun, als mache sie Witze.

Das ist Odessa.

In dieser Küstenstadt fühlt man sich zu Hause und hat sich dennoch um mehrere Breitengrade nach Süden verlagert, ans Meer, zu Köstlichkeiten, die nicht eingefroren sind, sondern frisch und kurz zuvor noch mit Schwänzen und Flossen geschlagen haben.

So planten wir unsere Augustferien, während wir durch Kiew flanierten und ein Geschenk für meine künftige Patentochter suchten. Es war ein langer Abend mit einem goldenen Sonnenuntergang, schallendem Gelächter und köstlichem Essen. Spazierengehen, Zärtlichkeiten, Gespräche und viele Pläne für gemeinsame Abenteuer mit dem Geschmack von Honig und Baklava zu den Klängen eines Capriccios von Gitarren.

Genau so war dieser Juliabend 2015. Oder so habe ich ihn jedenfalls in Erinnerung behalten.

Wir klapperten die kleinen Juweliergeschäfte in der Innenstadt ab, sichteten Kinderschmuck und wählten etwas, das nicht zu orthodox war (das reicht in Georgien), nicht offen katholisch (das verstünde Mama2 nicht) und gleichzeitig recht elegant für das georgische Mädchen. (Das sechs Monate alte Bündel, kreischend, sabbernd, würde sich ja sehr bald in eine junge Frau verwandelt haben, die diesen Schmuck tragen sollte.)

»Das ist es!«, rief Dascha.

Das war es wirklich.

Für Schmuck hatte ich nicht so ein Händchen wie sie. Das war es wirklich – schmal, elegant, teuer aussehend, aber keineswegs klobig. Das Kreuz war edel, fein und leicht verarbeitet, ohne traditionelle und langweilige Ornamente. Dieses kleine Stück Metall aus Gelb- und Weißgold war genau das, was ich brauchte. Auf die Handfläche gelegt, schien es weder zu klein für eine erwachsene Frau zu sein, noch zu plump für ein Baby.

Ich drehte das Stück Metall zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Das nehmen wir!«, platzte ich heraus.

Meine Begleiterin lächelte: »Du wolltest doch immer eine Tochter. Jetzt wirst du eine haben …«

Klatschmäuler und Klatschbasen

Eine Stadt wird eng, wenn man jahrzehntelang in ihr lebt, dort aufwächst, heiratet, sich wieder scheiden lässt, Orte und Wege wechselt, zurückkommt und wieder geht. Besonders eng ist eine Stadt aber, wenn man mit einer schönen Frau ausgeht und sich auf einmal erlaubt, mit ihr über diejenigen zu lachen, die weniger gutaussehend, selbstbewusst und kühn sind wie man selbst.

Kühnheit ist die Waffe der Lanzenkämpfer bei einem Ritterturnier. Doch während Kühnheit dort, wo das Turnier vor aller Augen stattfindet, gut und hilfreich sein mag, taugt sie bei Palastintrigen, die immer mit anderen Waffen und nach völlig anderen Spielregeln geführt werden, nichts.

»Ich möchte nicht, dass alle wissen, wie gut es uns geht.«

»Ich bin mir auch nicht sicher, ob jeder Troll diese Information haben sollte.«

»Die lassen einen nie in Ruhe. Nie.«

»Solche wie uns? Ganz sicher nicht.«

»Solche wie uns? Warum?«

»Weil wir nur das tun, was wir wollen. Wir laufen dort herum, wo es uns gefällt, und gehen keine Kompromisse ein«, sagte ich nachdenklich. »Ich denke, du solltest öfter aus deinem Hotel California ausbrechen.«

»Warum?«, fragte sie.

»Kannst du ohne die Leute da etwa nicht leben?«, fragte ich.

»Ohne andere Menschen kann ich schlecht leben.«

Damals wusste ich noch nicht, was das zu bedeuten hatte.

Es gibt niemanden, der gefährlicher ist als ein Mensch mit zerbrochenen Hoffnungen und zerstörten Träumen, der gerade seine Illusionen eingebüßt und den Kriegspfad betreten hat.

Wie Frauen sind auch Männer ganz schreckliche Klatschmäuler, dabei aber vielfach raffinierter, weil sie an dieser Front eine Art illegaler Existenz führen. Der Charakter des Klatschmauls (es gibt ihn, wie Shakespeare schrieb, für jedes »Lebensalter«: das des Soldaten, des Verliebten oder auch des gebrechlichen Alten) füllt der Gerechtigkeit »runden Bauch« und heizt den Herd des Verliebten, »der wie ein Ofen seufzt«. In jedem Alter des Mannes gibt es nach Shakespeare also ein solches Klatschmaul, sein inneres Altweiber-Ego, das an der Hintertür jenes Hauses mit geschlossenen Fensterläden lauscht, das wir die Seele eines verschlossenen Menschen nennen, und es plaudert aus, wer durch die Tür eingetreten ist und wer durch das verrammelte Fenster stieg.

So sind sie, Männer und Frauen. Doch während sich der Frauenklatsch nicht hinter der Fassade des Anstands zu verstecken sucht, brauchen Männer irgendeine Rechtfertigung für seine Existenz. Männlicher Klatsch ist wie die Verschwörung einer Minderheit im Angesicht eines großen, autoritären Reiches, wo anerkanntermaßen Frauen herrschen. Während männliche Tratschclubs Überlebensgemeinschaften im Untergrund sind, die sich vor neugierigen Blicken schützen und ihre Intrigen hinter der zerschlissenen und rissigen Fassade der Männlichkeit und Militanz mittelalterlichen Rittertums spinnen, sind die weiblichen wahre Königtümer vergifteter Pfeile! Und trotz der unterschätzten männlichen Meisterschaft im Getratsche, kann niemand von uns es in dieser Kunst mit einer Frau aufnehmen.

Das Auffälligste am weiblichen Klatsch ist die Fähigkeit zum gleichzeitigen Frontalangriff und Bajonettkampf, mit dazu subtil verborgenen Manövern im Hinterland des hybriden Informationskriegs, die von außen nicht erkennbar sind.

»Was findest du an dieser Schlampe?«, fragte mich eine gute Freundin.

Das hatte ich nicht erwartet. Wie viel Hass diese Frau in ihren Rivalinnen auslöste! Frauen, die andere Frauen hassen, sind meine Schwäche.

»Was findest du an dieser Schlampe?« war einer der schönsten Angriffe einer Schönen auf eine andere.

›Wie viele Männer hat Dascha ihr wohl ausgespannt?‹, dachte ich mit gewissem Stolz.

»Wir spielen in derselben Band«, antwortete ich, lächelte und zwinkerte meiner tratschenden Freundin zu, um keinen Zweifel daran zu lassen, wie dick meine Rüstung und dementsprechend sinnlos weitere Angriffe wären.

Hasenläufe für den Jagdhund

Wie fing das alles an?

Beim einen fängt es an mit dem ersten Blick. Wer aber mit Texten arbeitet, bei dem kommt zu diesem Blick immer noch ein Wort hinzu.

Aber dieses Wort ist so wenig druckreif, dass es in der Alltagssprache normalerweise nicht vorkommt.

»Du weißt ja, was ein Hasenlaufschnitt ist«, sagte sie.

Das war eines der Zauberwörter aus ihrem Vorrat an Begriffen.

Jeder von uns hat Codewörter, die perfekt zu einem Glückshormon passen (genau so, wie das LSD-Molekül mit dem Serotonin-Molekül übereinstimmt und sich perfekt in das Gehirn, das auf seine Portion Serotonin gewartet hat, einpasst).

Jeder hat solche Stellen im Hirn: ich, wir alle.

Damit ist kein geschlechtsspezifisches Vorurteil oder irgendein sexuelles Spiel gemeint.

Es handelt sich um einen Charme ganz eigener Art. Seine Wirkung setzt ein wie die der allerstärksten Psychedelika, mit einem Wort, das die ursprünglichsten Kindheitserinnerungen weckt und jene Bereiche des Gehirns stimuliert, wo sie abgespeichert sind, zusammen mit den Erinnerungen an die ersten Gerüche und ersten Wörter, die wir in jenen unbewussten Jahren hörten.

»Wir sind keine Bauern, mein Sohn. Wir sind Jäger«, pflegte mein Großvater immer zu sagen. Er nannte mich Sohn, weil er sein Wissen aus jener in der Lethe versunkenen, vom Wind der Zeit fortgerissenen Epoche, in der wir, ehemalige Biberjäger (der Name Bobrovnikov bedeutet genau das), ein einflussreicher Clan waren und über Wälder und Ländereien bei Kiew verfügten, an jemanden weitergeben musste. Diese Ländereien waren einst unser Jagdrevier.

»Wir sind Jäger, keine Bauern« – das ist so ein Ausdruck aus der Kategorie »Laufschnitt«. Ich schluckte den Köder. Sein Haken blieb mir sofort irgendwo in der Speiseröhre stecken. Danach konnte ich für viele Monate keine Nahrung mehr zu mir nehmen.

Dascha Jussupowa hatte kalte Wolfsaugen, ähnlich wie die von David Bowie in der Bildbearbeitung für das Cover der Zeitschrift »Esquire«. Und sie sprach ausgezeichnet Russisch. Das sowie das Wort »Laufschnitt« entschieden schließlich den Ausgang des Zweikampfes. Sie hatte es im Finale der Schlacht abgeworfen wie Streumunition auf die Köpfe von Rebellen, die sich in den Bergen verschanzt und einen solch mächtigen Artilleriebeschuss nicht erwartet haben.

Wir stammten beide aus guten Familien, die durch die sowjetische Besatzung zerstört worden waren: Familien, von deren ehemaliger Größe nur der Name geblieben war. Dieser Name erinnerte an Heldentaten, Offenbarungen und Gräueltaten der Vorfahren, an übermäßige Ambitionen, leere Brieftaschen und einige Wörter, die im Vokabular des gewöhnlichen Homo sovieticus nicht vorkamen.

So lässt sich ganz grob das Porträt der jungen Frau zeichnen, mit der ich eine Beziehung hatte, die gewissermaßen das ganze weitere Geschehen bestimmte. Wäre sie nicht gewesen, hätte ich wahrscheinlich nie meine Sachen gepackt, wäre Ende August 2015 nicht an die Front gegangen, um mich von Kiew fernzuhalten und nicht an die glücklose Jagd auf diese wilde Kreatur denken zu müssen. Stattdessen tauchte ich so tief wie möglich in die Geschichte der »Grauzone« ein, von deren Existenz ich damals nur eine sehr vage Vorstellung hatte.

Ein Hase ohne Balg (Fehlschuss!) und eine Kakerlake (Bravo, Volltreffer Maestro!). Gern würde ich diese Kakerlake jetzt zeichnen, damit sich der Leser und die Leserin die Situation in ihrer ganzen Groteske vorstellen können. Doch ein glaubwürdiges Porträt dieses Individuums anzufertigen ist nicht mehr möglich. Die Kakerlake lag auf dem matten, abgenutzten Boden meines Schlafzimmers, als die unerbittliche Sohle eines Mokassins sie zu einem weißen, milchigen Brei zermalmte. Ein Knirschen, in Agonie strampelnde Beinchen, zitternder Schnurrbart.

Glaubte man an die Überzeugungen des Buddhismus, so war dies vielleicht der erste Todesfall in einer längeren Reihe, die eine große Zahl von Menschen an den Endpunkt ihres Lebens führte, nicht nur den Wechsel des Wohnorts zur Folge hatte, sondern auch der Zeitzone und, in gewisser Weise, der Lebensbedingungen für eine ganze Bevölkerung. Vielleicht war es dieser Tod, der alle anderen nach sich gezogen hatte?

Eine Kakerlake, die einem Journalisten und einer schönen Frau den Sex vermasselt hatte, eine Kakerlake, die in den Monaten meiner Abwesenheit Zutritt zu einer komfortablen Unterkunft und die Möglichkeit zur unbegrenzten Fortpflanzung hatte – sie wurde in gewisser Weise zur Ursache für alles, was danach geschah.

Juli 2015

Kiew

(Zwei Wochen vor den beschriebenen Ereignissen)

Stadt im Hinterland

Wir tranken Wein in der kleinen Bar einer gemeinsamen Freundin.

Dort spielte Segovia etwas von Francisco Tárrega. Oder hatte ich selbst meine Lieblings-CD des Gitarrentrios mitgebracht, eine Aufnahme aus der Zeit, als ich selbst noch ein schreiendes Bündel war wie dieses Kind, für das wir ein Geschenk ausgesucht hatten?

Es war so ein Abend mit funkelnden Lichtreflexen, wenn auf allen Saiten der Seele ein »Capricho árabe« oder »Mediterranean Sundance« erklingt.

Es war bereits spät, als wir in der kleinen Weinstube in einem Torweg am Michajlowskispusk unser Glas herben Weins austranken.

»Ich habe einen Vorschlag für dich, unglaublich in seiner Neuheit«, sagte sie auf einmal. Sie sagte es laut, aber so, dass niemand sonst es hören konnte.

In fünf Metern Entfernung von den übrigen Leuten konnten wir sogar fast schreien, ohne befürchten zu müssen, dass man uns hört. Junge Frauen in teuren, sackartigen, schrecklich modischen Kleidern. Männer, die sie mit vorgetäuschter Gelassenheit begleiteten. Ein einsamer Trinker, der im hinteren Teil des Vorgartens an einem Tisch saß: War die Wirtin unabkömmlich, dann wurde ihm, der unbeweglich dasaß wie eine Statue, vom Lokalchef oder einem der Kellner ein neues Glas Wein gebracht, alle fünfzehn Minuten.

Unter den Frauen war so manche, mit der ich einmal geschlafen hatte. Zumindest eine – lachlustig, mit wunderschönem Busen. Ich erinnerte mich kaum an sie, und sie machte mit einem distanzierten Lächeln und Nicken deutlich, dass sie mich trotzdem erkannte hatte.

Eindringlicher und lauter als bei den anderen klirrte das Glas eines etwa vierzigjährigen Mannes, der zusammen mit einer jungen Frau in einem weißen Spitzenkleid und mit schmachtendem Blick einen Tisch umrundete. Er hatte eine künstliche Bräune, war mager, grauhaarig, kleiner als der Durchschnitt, und er trug eine teure Hornbrille. Sie wirkte noch sehr kindlich, hatte rührende Rehaugen, wie es der Lyriker Gumiljow ausgedrückt hätte.

»Ist er nicht ein bisschen alt, um sich in so eine zu verlieben?«, fragte ich meine Begleiterin.

»Wer? Der da?«, fragte Dascha. Tausend klingende Glöckchen über einem lachenden, nach hinten geworfenem Kopf mit hellbraunem Schopf: »Gott bewahre. Er ist bekanntermaßen schwul.«

»Übrigens, unsere Wirtin ist ein bisschen zu fröhlich heute. Aufgesetzt und viel zu offensichtlich«, merkte ich nachdenklich an.

»Ihr Bärtiger verlässt sie. Er schläft mit dieser kleinen Maus, mit der da-a-a«, sagte sie und brach erneut in ihr typisches Gelächter aus.

»Und?«, lächelte ich. »Ist die Kleine hier, um der ehemaligen Geliebten des Bärtigen ihre Unverwundbarkeit zu demonstrieren? Und die schmeißt zu ihren Ehren eine Party, um sich dabei wie ein Pfau zu spreizen?«

»Sowas in der Art … Nur weiß die Gastgeberin noch nicht, wie sie sich verhalten soll. Da wurde zu viel in dieses Projekt investiert, um die Illusion einfach aufzugeben …«

Ihr strohblondes Haar roch nach Tabak. Gern hätte ich meine Nase in die Fältchen ihrer Armbeuge versenkt.

Wir beide verströmten den Geruch von Wein und waren elektrisiert von jeder Berührung. Ihre Haut roch nach Julisonne.

»Hey, behave yourself. Schau sie dir nur an. Die verspeisen uns zum Frühstück …«

Ich ließ ihren Unterarm los und nahm mein Glas.

»Darf ich dich um etwas bitten?«, sagte ich diesmal ernst.

Dascha nickte zustimmend.

»Lass uns etwas vereinbaren: Was dir über mich auch erzählt wird, du als kluges Mädchen hörst dir das natürlich alles an, aber bevor du es glaubst, fragst du bei mir nach. Einverstanden?«

Sie nickte.

»Ich bitte dich um genau das Gleiche …«, sagte sie nachdenklich.

Hinter ihr rief jemand ihren Namen und unterbrach das Gespräch.

»Darling! Das musst du dir anhören! Das musst du einfach!«, unsere Gastgeberin, die zwischen all den Paaren herumhetzte, verlangte sofortige Aufmerksamkeit.

»Das glaubst du nicht! Kannst du dir vorstellen, wie alt sie ist, das hätte ich nie gedacht!«

Sie fingen an zu flüstern und blickten unverhohlen zu dem unerwarteten, aber überaus willkommenen Gast, taten dabei so, als hätten sie gerade erst die wichtigsten Nachrichten erfahren, die sie nun in einer aufgesetzt nachlässigen, spielerisch ironischen Manier von Salonlöwinnen besprachen.

»Was du nicht sagst, das kann nicht sein!«, erwiderte meine Freundin mit einem lauten Lachen das Flüstern der Gastgeberin.

Geheimnisse, von denen Frauen Kenntnis erlangen, geraten immer in die Schlagzeilen: Ob nun auf Zeitungspapier gedruckt oder als homergleiches Epos – das spielt dann kaum noch eine Rolle …

Hinter der Herrin des Etablissements, die mit dem Recht der Gastgeberin in die Intimsphäre jedes Gastes eindrang, kam der Mann, um den die Miniaturfrau im Spitzenkleid herumscharwenzelte und dessen Womanizerausstrahlung, die er so angestrengt zu erzeugen versuchte, von meiner Begleiterin gerade zerstört worden war.

Mir fiel auf, dass er genau in dem Moment auf uns zukam, als die Gastgeberin unsere freiwillige Isolation durchbrach. Jeder von ihnen – der Mann mit der Hornbrille oder die Herrin des Etablissements – hätte der Mittelpunkt eines eigenen, kleinen Kreises sein können. Aber keiner von ihnen ließ sich die Möglichkeit entgehen, auf meine Begleiterin zuzugehen, ihre Wange mit den Lippen zu berühren, ein Gespräch zu beginnen oder einfach begeisterte Aufmerksamkeit zu signalisieren.

Die Gäste pendelten zwischen den Tischen hin und her. Sie zwinkerten einander zu, berührten sich mit den Ellbogen, den Rändern der Gläser, Wangen, Lippen, Fingerspitzen: Der laue Juliabend war auf seinem Höhepunkt.

Das Aneinanderstoßen der Gläser wurde immer schwungvoller. Wein floss reichlich. Der Klang war sanft bis beharrlich – Aufmerksamkeit fordernd oder einschmeichelnd und mit stummer Bitte nach einer Reaktion auf die Berührung.

Lauter, leiser, beharrlicher, piano, forte, zechendes fortissimo.

Andrés Segovia in seinem fernen Jahr 1960 beendete das arabische Capriccio mit dem Zupfen dreier Saiten.

»Und ja, übrigens«, drehte sie sich mit einem Lächeln zu mir um, als der hartnäckige Besucher mit der Hornbrille uns endlich in Ruhe ließ und zu seinem Kreis zurückgekehrt war. »Ich habe einen Vorschlag für dich, unglaublich in seiner Neuheit.«

Ich lächelte zurück und sah sie fragend an.

»Was hältst du davon, wenn ich bei dir übernachte?«

Mission: Impossible

Und da war dann diese Kakerlake. Ja, es war ausgerechnet eine Kakerlake, deretwegen ich beschloss, über die Schmuggelkorridore im Osten des Landes zu recherchieren.

Wie viele Dramen und geopolitische Konflikte unterschiedlichen Ausmaßes und unabschätzbarer Folgen (vom Trojanischen Krieg bis heute) hätten vermieden werden können, wenn stets alle ihre Häuser rechtzeitig desinfiziert und das unkontrollierte Auftauchen von Parasiten auf dem eigenen Territorium verhindert hätten (jegliche politische Analogien halte ich in diesem Zusammenhang für überflüssig).

Es ergab sich, dass die Presse genau zu diesem Zeitpunkt erstmalig erfuhr, dass es in den von Russland besetzten Gebieten und weiter Richtung Westen, durch die gesamte Ukraine, nach Ungarn, Rumänien und Polen, über das Schwarze Meer Richtung Bulgarien, Türkei und Bessarabien einen riesigen Schmuggelkorridor gab.

All diese Informationen wollte ich überprüfen und ausgerechnet in der Zeit damit anfangen, als mich eigentlich etwas völlig anderes interessierte als die globalen Fragen zum Schwarzmarkt, zur Geldwäsche und zur Zusammenarbeit der ukrainischen Armee und ukrainischer Geheimdienste mit dem FSB-GRU im Donbass.

Anfang August erhielt ich von der Redaktion einen Auftrag, der auf den ersten Blick nicht sonderlich realistisch wirkte, den ich aber sofort annahm. Er war nicht einmal als Auftrag formuliert, sondern eher als Frage, die in der Luft hing. Schließlich war ich der Einzige in der Redaktion, der die Hand hob und murmelte: »Gib her.«

Robert, mein Redakteur, ein mittelgroßer, kahlköpfiger, cholerischer, aber professioneller Fernsehmann mit einer leicht oligarchischen Neigung, aber soliden Erfolgsbilanz und einem passablen Talent zum Manager, sah mich nachdenklich an.

»Bist du dir sicher?«, fragte er.

Als ich begriff, dass ich einen Monat Außendienst an vorderster Front schon in der Tasche hatte, fügte ich dem mündlich vorgebrachten Redaktionsauftrag ein paar gewichtige Sätze hinzu, die diese Aufgabe festzurrten und meine Zukunft auf unerwartete Weise einzementierten.

»Du verstehst doch sicher, dass das kein Thema ist, das sich in einer Woche erledigen lässt. Ich brauche mindestens zwei, um überhaupt zum Kern des Geschehens vorzudringen«, sagte ich.

Robert nickte.

»Zwei Wochen sind viel …«, fügte er hinzu und schrieb etwas in sein Notizbuch.

Der Satz »zwei Wochen sind viel« bedeutete eigentlich Folgendes: »Falls du diesen Beitrag nicht innerhalb einer Woche fertig hast, dann sind vielleicht auch zwei Wochen zu wenig, und ich muss danach das Sendeloch flicken. Überzeuge mich.«

Ich kenne dieses Flirtspiel zwischen Redakteur und Reporter und hatte bereits einen Plan, wie ich ihn in diesem Fall überzeugen konnte, mir den Job zu geben.

»Zwei Wochen sind tatsächlich zu wenig …«, stimmte ich zu.

Robert sah mich fragend an. Er hatte von mir keine so schnelle Kapitulation erwartet.

»Zwei Wochen sind ganz entschieden zu wenig, aber nach zwei Wochen kriegst du auf jeden Fall zwei Beiträge«. Damit sprach ich das Argument aus, das kein Redakteur widerlegen kann.

Robert erwartete eine Erklärung von mir.

»Jetzt schau mal«, mit diesen Worten begann ich, etwas auf ein Blatt des Notizbuchs zu zeichnen, ein kreisförmiges Objekt mit zwei Halbkugeln – es war sicher nicht die beste geometrische Figur, die ich je malte, aber sie gab doch ziemlich genau wieder, worum es mir ging.

»Also, ich brauche zwei Wochen, um Durchblick zu bekommen. Mindestens fünf Tage zum Erschließen und Eingewöhnen … aber!«, da zeichnete ich mit dem Textmarker auf einem der Halbkreise einen massiven Punkt, der einem Muttermal ähnelte. »Also, zuerst kommt mein Beitrag darüber, dass die Richtlinien zur Vorbereitung der Soldaten auf die Verwundetenversorgung im Gefecht nicht eingehalten wurden. Das ist so eine Richtlinie, nach der Militärpersonal von NATO-Staaten eine Ausbildung in Erster Hilfe auf dem Schlachtfeld bekommen müssen. Unsere Leute wissen das theoretisch alles, aber in der Praxis – nein … Und genau darüber, wie bei uns die Erste Hilfe organisiert ist, drehen wir einen von der Produktion her günstigen, ersten Beitrag … Das ist es, was ich an Produktivem für die Redaktion leisten kann, während ich nach Informanten zum Thema Schiebereien suche. Während ich die Geschichte drehe, bekomme ich Zugang zu neuen Gruppen und sehe, womit da wirklich gehandelt wird … vielleicht auch mit Drogen«, fügte ich hinzu.

Robert nickte zufrieden.

Jetzt wusste er sicher, er bekommt Material. Was es enthalten würde, interessierte ihn nicht weiter. Für mich ist das die ideale Beziehung zwischen Redakteur und Reporter. Er stört mich nicht bei der Arbeit, und ich bringe ihm einen Leckerbissen.

Unser unausgesprochener Nichteinmischungspakt war der Garant für eine komfortable Synergie. Dafür mochte ich diese Redaktion.

Der ursprüngliche Auftrag bestand darin, den Gerüchten über einen Heroinschmuggelkanal durch die von Russland besetzten Gebiete der Ostukraine nachzugehen, die in der russischen Presse über den Chefredakteur des Radiosenders »Echo Moskau«, Alexej Wenediktow, durchgesickert waren. Schon einige Zeit redeten die Moskauer Journalisten von einem Drogenkanal durch die Ukraine. Neu war jedoch die Spezifizierung der Ware – Heroin.

Nun war diese Information als Gerücht bereits gestreut worden. Aber es ist eine Sache, Angaben auf dem Niveau von Vermutungen zu veröffentlichen (die ganz offensichtlich auch noch mit dem Zutun feindlicher Geheimdienste durchgesickert waren), und eine andere, konkrete Fakten und fassbare Beweise zu liefern.

Die Kriegsmaschinerie der Massenpropaganda lief auf Hochtouren, und selbst der liberalen Moskauer Presse konnte man nur mit Vorbehalt trauen. Sämtliche Details mussten mehrfach überprüft werden. Die Geschichte sah glaubwürdig aus, aber entsprach sie auch der Wahrheit?

Solche Themen, erklärte ich, können Monate oder sogar Jahre an Arbeit fordern. Ich empfahl der Redaktion, sich auf die Erstellung einer Landkarte mit den wichtigsten Schmuggelströmen in der Region zu konzentrieren, um wenigstens das ungefähre Ausmaß der illegalen oder halblegalen Wirtschaft des kriegsführenden Donbass einschätzen zu können und, so weit wie möglich, Wenediktows Information über den Schmuggelweg russischer Drogen von Mariupol über das Schwarze Meer hinaus zu prüfen.

Man stimmte meinem Plan zu, und ich trat meine Dienstreise an.

Die ursprüngliche Idee war folgende: Ich sollte die »Grauzone« des Donbass umfahren von der Stadt Stschastje in der Region Luhansk aus – einem der wichtigsten Umschlagplätze für Kohle in der Region, wo ich damals die meisten Kontakte zum örtlichen Militär und zu Vertretern der Zivilverwaltung hatte.

Weiter wollte ich entlang der frontnahen Regionen nach Süden in Richtung Mariupol ein Netzwerk von Informationsquellen aufbauen und die Aktivitäten mobiler Anti-Schmuggel-Einheiten filmen, die einige Monate zuvor vom ukrainischen Präsidenten ins Leben gerufen worden waren und bereits ihre Arbeit aufgenommen hatten.

August 2015

Kiew-Sewerodonezk

Der Grashüpfer

Mit frechem Kino-Rock der frühen 1990er-Jahre, der aus dem Kassettenrekorder drang, fuhren wir über die lange, holprige Autobahn Kiew-Poltawa-Sewerodonezk. Wir scherzten und grölten die Lieder mit.

Durch das heruntergelassene Fenster kam ein Luftzug von 160 Stundenkilometern, mit denen wir zu den Klängen von »Aerosmith« über die Autobahn bretterten. Da flog ein Grashüpfer herein. Er klammerte sich mit all seinen Beinchen an den Stoff meiner Jeans, als wolle er niemals mehr weg.

»Lass mich hier. Hörst du, lass mich bei dir! Töte mich nicht und verjag mich nicht! Mach nicht die alten Fehler!«, schien mir das Insekt zu telegrafieren und weigerte sich kategorisch, seine Beinchen zu lösen.

»Verdammter Bastard«, sagte ich mit einem Hauch von Zärtlichkeit und ließ ihn bis zum nächsten Piss-Stopp mitfahren. Dann kickte ich ihn mit einem zielgerichteten Fingerschnipser gegen sein grünes Bäuchlein hinaus.

»I kept the right ones out. And let the wrong ones in. Had an angel of mercy to see me through all my sins«, brüllte Steven Tyler aus den Lautsprechern, wonach unsere ganze Reisebande mit knirschenden Stimmbändern heiser und falsch einstimmte … Jeder im Auto dachte dabei an etwas anderes.

Es war eine ganz gewöhnliche Dienstreise, die nichts Ungewöhnliches verhieß.

Die letzten Tage im August.

Auf uns warteten eine warme, wenn auch nicht mehr heiße Sonne, Fliegen, die an unter den Planenbögen der Zelte hängenden Fallen klebten, kühle Nächte und Frontruhe.

Ich reiste gen Osten mit einem Gefühl der Leere, Wut und totaler Müdigkeit.

Und ich wollte kein bisschen zurück.

Das Wildschwein

Diese Nacht verbrachten wir im Zelt, einem großen Soldatenzelt, das an einer Stelle in den Boden gegraben war, wo theoretisch ein Unterstand hätte sein sollen. Aber Unterstände wurden schon seit einigen Monaten von niemandem mehr gebaut. Alle waren faul und warteten auf eine Verlegung.

Die Einheit war etwas schlapp. Träge Flaksoldaten, die in diesem Krieg absolut nichts zu tun hatten. Sie standen nicht allzu weit im Hinterland für den Notfall bereit – oder einfach nur, um auf einen Befehl des fünfhundert Kilometer entfernten Hauptquartiers zu warten und ein Bäuchlein anzusetzen.

Die Position war dreißig Kilometer vor der Frontlinie. Fern, sehr fern, hörte man das Getöse der Kanonade. Hier im Hinterland gab es keine Gefahr, nur den Nachhall. Dort tobte vielleicht ein echter Kampf. Oder es war eine jener »Abschreckungsschießereien« für die OSZE-Mission, um deren Überwachungsgruppen davon abzuhalten, in einem Moment aufzutauchen, wenn beide Seiten nicht bemerkt werden wollten. In einem Moment, wo mit der »Gegenseite« rege gehandelt wird. Das weiß man nicht, solange man es nicht selbst gesehen hat. Dazu muss man dort sein, vor Ort, und nicht dreißig oder hundert Kilometer vom Geschehen entfernt.

Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was dort vor sich ging, und während ich dem fernen Kanonendonner lauschte, suchte ich im Internet nach Nachrichten über das, was sich nur wenige Dutzend Kilometer von mir entfernt abspielte.

Aber die Chroniken gaben nichts her.

Diese letzten Tage im August waren schrecklich langweilig, zum Gähnen. Aber was man direkt vor der Nase hat, kann auch manchmal Überraschungen bergen. Eine davon gab es zum Abendessen. Mein Kameramann war losgezogen, um sich in die »Raucherbox« zu hocken. So hatten wir diesen Ort getauft. Das Soldatenklo war luxuriös (immerhin das Hinterland). Über einer Grube, die im Sandboden ausgehoben worden war, befand sich ein Dielenboden mit Schlitzen, und über dem Kopf hing, falls es schneien oder regnen sollte, ein Sperrholzdach.

Hinter diesem Bau verlief die Grenze des Truppenstandorts – ein Schützengraben. Außerdem war da ein Minenfeld für den Fall einer möglichen Invasion. Allerdings glaubte hier niemand wirklich daran – der Wald wurde vor mehr als sechs Monaten vermint, als es in der Nähe des Städtchens, an dessen Rand wir uns befanden, noch Kämpfe gegeben hatte. Die Rückseite der »Raucherbox« war durch eine Sperrholzwand vom Wald getrennt. Vor sich hat man die Soldatenküche und die eilig getarnte Artillerie-Flakbatterie. Dementsprechend hatten jene, die gerade in der Küche waren, eine nicht weniger reizende Aussicht – auf die hockenden Raucher, den hinter ihnen beginnenden Kiefernwald und die goldenen Wipfel im Sonnenuntergang.

Ein großartiger Ort, von jedem einsehbar, worum sich jedoch kaum jemand scherte. Der Ort wirkte wie bei Remarque – eine Reihe von Klos, allerdings nicht mit Meerblick, dazu friedliches Hinterlandgerede über intime Dinge. Doch an diesem Abend, gegen 19.30 Uhr, waren die Gespräche zweier »Meditierender«, die nebeneinander über der Grube hockten, nur von kurzer Dauer. Der Vorgang wurde unerwartet durch einen »Weckruf« unterbrochen, wie der Kommandeur dieses Phänomen nannte.

Im Wald, hinter der Sperrholzwand unsichtbar, gab es eine laute Explosion. Alle zuckten zusammen, aber die Soldaten wandten sich sofort wieder dem Essen zu, und ich folgte ihrem Beispiel. Die beiden, die zweihundert Meter von uns entfernt über den Kiefernbrettern saßen, sprangen auf wie von einem Trampolin, zogen sich fieberhaft an und nahmen die Beine unter die Arme. Ihr Kommandeur prustete vor Lachen.

»Rekruten«, sagte er.

Ich hob fragend die Augenbrauen und nickte in Richtung Wald.

»Eine Mine?«, fragte ich.

»Ein Wildschwein«, sagte einer der älteren Soldaten.

»Ja, ein Wildschwein in einer Sprengfalle«, nickte der Offizier.

Ihr stellvertretender Bataillonskommandeur war ein prima Kerl, kurzer, grauer Schnurrbart, lächelnde Augen. Ein Geisteswissenschaftler. Im zivilen Leben arbeitete er als Psychologiedozent. Bei seiner Einberufung wurde er politischer Ausbilder. Kein Held, kein Haudegen, ein ganz gewöhnlicher Offizier im Hinterland. Ein gelassener, ironischer Westukrainer.

»Also deshalb steht die Latrine offen?«, fragte ich. »Damit man wie ein Wildschwein loshetzen kann, wenn plötzlich im Wald was explodiert?«

»Ja, man sollte die Tür am besten immer offen lassen«, lachte der Offizier. »Und der Hintern … Hauptsache, der Hintern ist mit Sperrholz verdeckt. Rein psychologisch.«

28./29. August 2015

Sewerodonezk-Stschastje

Region Luhansk

Schritt ins Graue

Wir machten einen Geländemarsch zwischen mehreren Städtchen, trafen Menschen, von denen die meisten einem Gespräch auswichen oder offen darum baten, dass das Gesagte nicht mit Hinweis auf sie veröffentlicht wird.

Einer von ihnen war, eigenen Angaben zufolge, ein Soldat. An einem Kontrollpunkt mit dem beredten Namen »Rodina« (Heimat) hatte er ein Auto mit einer ganz bestimmten Ladung angehalten, einer Tasche mit Bankkarten, die von der besetzten Seite in das von der ukrainischen Regierung kontrollierte Gebiet transportiert werden sollte.

Als dieser Soldat sich weigerte, den »Kurier« mit seinen Hunderten von Bankkarten seiner Kommandoleitung zu übergeben und stattdessen den Geheimdienst anforderte, in dessen Zuständigkeit solche Operationen zur »Finanzierung von Terrorismus« logischerweise fielen, machten die Militärbehörden regelrecht Jagd auf ihn – von der Inhaftierung am Wachposten bis zur strafrechtlichen Verfolgung.

Ich zeichnete das Interview auf. Aber schon nach wenigen Stunden rief dieser Mann mich unablässig an und wollte auf keinen Fall, dass es veröffentlicht wird. Angeblich sei schon alles geregelt, es gäbe keine Probleme mehr. Ich solle um Gottes Willen einfach schweigen und seinen Namen vergessen. In meinem zweiwöchigen Zeitplan zur Recherche über die »Grauzone« klaffte bereits eine mehrtägige Lücke. Ich musste dringend einen neuen Informanten zu den Wirtschaftsverbrechen an vorderster Front finden.

Ich fand ihn geradezu im nächsten Moment, als ich einen neuen Bekannten anrief, der die Generalstabsabteilung Zivile Angelegenheiten in dem Teil der Region Luhansk leitete, der noch unter ukrainischer Flagge geblieben war. Einige Wochen zuvor hatte Georgi Tuka die Ärmel hochgekrempelt (so schien es zumindest), um beim »Grauzonen«-Handelsmonopol, das entstanden war und Militärkommandanten zu Warlords werden ließ, durchzugreifen.

Für den Moment ist es wichtig, Folgendes zu verstehen: Der ukrainische Geheimdienst, Erbe des sowjetischen KGB, wollte das neugebildete Kontrollmonopol des Militärs über Warenströme, die illegal durch die Kriegszone verliefen, bekämpfen. Für einen einzelnen Passierschein, mit dem ein Auto voller Waren in die »Grauzone« gelangen konnte, wurden oft 5.000 bis 10.000 Dollar gezahlt, was ungefähr dem halben Jahreseinkommen eines amerikanischen Rekruten oder fünfundzwanzig Monatsgehältern eines ukrainischen Soldaten gleichen Rangs entsprach. Manchmal erreichte die Gebühr für einen »Grauzonen«-Passierschein den Rekordwert von 20.000 US-Dollar, was dem Jahresgehalt von »Soldat James Ryan« entspricht.

Augenzeugen erzählten eine vielsagende Geschichte. Einmal wurde ein Soldat von seinem Kommandeur bei einem solchen Geschäft erwischt. Selbstbewusst, frech, aber mit unbeschreiblicher Traurigkeit sah er seinem Vorgesetzten in die Augen und antwortete auf die Frage »Was soll ich jetzt mit dir machen, was?!« ganz ruhig: »Erschieß mich doch, Genosse Oberst. Degradieren Sie mich. Machen Sie, was Sie wollen. Ich habe noch nie so viel Geld gesehen und werde es auch nie mehr sehen.«

Nur wenige der Kommandeure konnten dieser Versuchung selbst widerstehen. Ein beladener Lastwagen konnte einen Soldaten am Kontrollpunkt zu einem reichen Mann machen. Mit zwei solcher Lastwagen konnte er sich eine geräumige Wohnung in der Hauptstadt oder ein halbes Dutzend guter Häuser irgendwo in den agrarischen Provinzen des Landes kaufen. Gehandelt wurde mit allem: Coca-Cola, Alkohol, Babykauringen, Drogen und Dual-Use-Waren: Rohstoffe für Glasfasernetzwerke, sichere Telefone, drogenhaltige Medikamente. Selbstverständlich war dieser Handel nicht für Soldaten oder Unteroffiziere, sondern für Stabsoffiziere und höhere Ränge von Nutzen.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, der seine Vertrauten zwar auf den Leitungsposten der Generalstabsabteilungen Zivile Angelegenheiten installiert hatte, selbst aber im Schatten blieb, ließ dem illegalen Handelskrieg über seine Sprecher und seine informelle Agentur den Krieg erklären, um die Finanzierung des Terrorismus in den von Russland kontrollierten Enklaven zu stoppen.

Einige pensionierte Militärs und Geheimdienstagenten meldeten sich freiwillig, um die Überwachungsgruppen zur Bekämpfung dieser Operationen zu leiten. Sie waren die einzigen Kräfte, in deren Nähe ich meine Mission fortsetzen und mit offizieller Akkreditierung und bewaffnetem Begleitschutz an der Front entlangrollen konnte, um die Lieferkanäle zu eruieren und herauszufinden, in welchem Umfang und womit gehandelt wurde, einschließlich potenzieller russischer Drogen.

Interessanterweise bekam ich am Morgen des 28. August einen Anruf von meinem Redakteur. Das Gespräch war seltsam.

»Wie man hört, steckst du in Schwierigkeiten?«, sagte er.

»Wir haben keine Schwierigkeiten«, antwortete ich.

»Bist du sicher?«, fragte er.

»Ja, da bin ich mir absolut sicher.«

Die Antwort war ein langes Schweigen.

Ich trank Tee aus einem Metallbecher und streichelte die Katze, die sich der Flakbrigade hier, im nahen Hinterland, angeschlossen hatte.

»Und wer verbreitet solche Gerüchte?«, fragte ich.

Der Kollege am anderen Ende der Leitung stockte und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema.

»Trotzdem, sei vorsichtig da«, schloss er.

Gerüchte, dass meine Leute und ich angeblich in Schwierigkeiten steckten, verbreiteten sich schon in der Stadt, obwohl wir erst einen Tag später, ohne es zu merken, in diese Schmugglerhöhle gerieten. Erst da trat ich mit meinem neuen Informanten in Verbindung, traf ihn zu einer vereinbarten Zeit an einem vereinbarten Ort. Seine Gruppe befand sich in unmittelbarer Nähe vom Hauptquartier der Militärbrigade, in deren Einsatzgebiet die Anti-Schmuggel-Einheit ihre wilde Aktivität begonnen hatte. Dabei war sie unter Beschuss geraten. Davon sollte ich aber erst einige Stunden später erfahren.

Weder ich noch die Jungs, die unerwartet in den Hinterhalt geraten waren, konnten zu diesem Zeitpunkt wissen, dass wir wenige Stunden später eine Zusammenarbeit beginnen würden. Was manche Leute hingegen wissen konnten, war, dass ich mich um ein Treffen mit dem Anführer dieser Gruppe bemühte (von seinen Aktivitäten hatte ich schon gehört, kennen tat ich ihn aber nicht). Dabei rief ich pausenlos die Mitarbeiter des Präsidenten an, die sich um die Handelsblockade der russischen Enklaven kümmerten.

Die Gerüchte über meine Fahrt in den Sektor hatten mich also um genau einen Tag überholt. Jemand wusste bereits, dass ich die Bekanntschaft mit Andrej einem Mitarbeiter des Präsidenten und gemeinsamen Bekannten zu verdanken habe. Jemand wusste bereits, dass »wir in Schwierigkeiten steckten«, die uns, die wir noch gar nicht aufeinandergetroffen waren, zu einer Zielscheibe vereinten. Jemand erwartete uns bereits in Sektor »A«, wo wir noch gar nicht waren …

Am nächsten Tag erhielt ich vom Leiter der Generalstabsabteilung Zivile Angelegenheiten der Region Luhansk, Georgi Tuka, die Kontaktdaten eines Mannes, der »Andrew« gerufen wurde. Es war der 29. August 2015, um 8.53 Uhr morgens, nach diesem seltsamen Gespräch mit meinem Vorgesetzten, der bereits von einem Anschlag auf unsere Gruppe wusste, bevor dieser Anschlag überhaupt stattgefunden hatte. Wir zogen unsere Panzerwesten über und stiegen ins Auto, wo noch die Aerosmith-CD im Player steckte, die sich nicht mehr herausnehmen ließ.

»It’s amazing! With the blink of an eye you finally see the light!«, brüllte der Solist lauthals mit seinem prächtigen Hardrock-Tremolo aus den Lautsprechern unseres alten grauen Skoda. Wir rasten in Richtung Stschastje, um es rechtzeitig zum Beginn des Spektakels zu schaffen. Wir drohten uns zu verspäten.

* * *

»Wir sind schon da«, schickte ich eine SMS an meinen neuen Bekannten.

Andrej erhielt diese SMS am 29. August um 10.41 Uhr.

Der Mann, auf den ich wartete, hieß Galushchenko mit Nachnamen. Ein Freiwilliger in der mobilen Einsatzgruppe zur Bekämpfung des Schmuggels mit den besetzten Gebieten. Offizieller Mitarbeiter des Geheimdienstes, der seinen Posten erst zwei Wochen zuvor angetreten hatte. Ehemaliger Soldat, Absolvent der Suworow-Militärschule, Veteran der ersten Phase des russisch-ukrainischen Kriegs, vor einem halben Jahr in die Reserve zurückgetreten …

Das alles erfuhr ich jedoch erst später, als ich nach dem 2. September 2015 anfing, Beweismittel gegen ihn zu sammeln. Damals jedoch, am ersten Tag unserer Bekanntschaft, bekam ich eine äußerst schmeichelhafte Bewertung über ihn, von einem Mann, dem zu misstrauen ich keinen Grund hatte – dem Leiter der Generalstabsabteilung Zivile Angelegenheiten in dem von der Ukraine kontrollierten Gebiet. Er schien einen guten Job im Kampf gegen die Terrorfinanzierung in den vordersten Frontzonen zu machen.

Während wir warteten, saßen wir mehrere Stunden in der glühenden Sonne nahe der vordersten Front. In der Stadt war es erstaunlich ruhig. Der letzte Laden vor einer Brücke, die ins besetzte Gebiet führte, war eine Art informelles Hauptquartier. Ein Treffpunkt für Menschen verschiedener Gruppierungen. Der Laden, die Straße, die weiter in Richtung Luhansk führt, das Wärmekraftwerk, das beide Seiten des Flusses mit Strom versorgte – all das waren sozusagen unantastbare Objekte, viel sicherer als jedes Fahrzeug mit einem roten Kreuz. Schon komisch: Dieser Krieg, der viele Tausend Menschenleben gefordert und Dutzende von Dörfern zerstört hatte, ließ die Hauptobjekte der Energie- und Verkehrsinfrastruktur unversehrt.

Als wir ankamen, setzten wir uns auf die kugelsicheren Westen und erwarteten den Rest der Gruppe. An der Wand des Ladens hing eine nicht explodierte Artilleriegranate, sie war mit einem Bindfaden an den hervorstehenden Sparren befestigt. Einige Dutzend Meter entfernt, neben der Tür eines Hauses an der Straße, die direkt zur Front führte, blühten aschgraue Geranien friedlich in ihren Töpfen.

Es war kurz vor Mittag.

Ich trank die zweite Dose Cola.

Im Auto heulte die Musik.

Wir warteten auf die Jungs.

Sitzend rauchte ich eine Zigarette, trank Soda und blickte auf die Grenze. Vor uns lag die Brücke, bestückt mit sogenannten »Minenschranken« – Sprengstoffbarrieren in Mulden, die in den Asphalt gefräst wurden.

Später ging ich mehrmals über diese Brücke bei dem Versuch, unter irgendeinem Vorwand dorthin zu gelangen und die Gerüchte zu überprüfen, dass just diese Straße – eine direkte und äußerst bequeme Route ins russisch besetzte Luhansk – einer der Hauptkanäle der Schmuggler war.

Momentan wusste ich kaum, was es mit dem »Grau« auf sich hatte, kannte nur unzusammenhängende Episoden, die sich in meinem Kopf noch nicht zu einem Gesamtbild fügten. Dieser Ort mit Namen »Grauzone« existierte für mich auf der Karte noch nicht, auch wenn ich ihn direkt vor meinen Augen hatte, nur einen Steinwurf entfernt.

Die Treiber

Andrej gefiel mir sofort. Er war hochgewachsen, hager, sehnig, kahlgeschoren, mit schnellem Reaktionsvermögen. Er sprach knapp, deutlich, militärisch.

Auch er war Soldat gewesen in seinem früheren Leben. Nach den ersten Kriegsmonaten quittierte er den Dienst, während sich die Kampfhandlungen fortsetzten, und kümmerte sich fortan um die Evakuierung von Zivilisten aus den umkämpften Gebieten. Dann schloss er sich dem Projekt zur Ermittlung in Sachen Schmuggel und Geldwäsche an.

Er nannte sich Mitarbeiter des Geheimdiensts, aber das war er streng genommen nicht: Weder sein Verhalten noch seine Arbeitsweise ließen einen Polizisten oder einen Offizier der »Firma« erkennen. Die »Pappe« vom Geheimdienst hatte er erst zwei Wochen zuvor erhalten.

»Sagen wir ›du‹?«, fragte er.

»Na klar«, antwortete ich.

Sie waren zu zweit: Andrej und sein Partner, ein richtiger Berufsoffizier. An diesem ersten Tag fingen wir gerade erst an, uns kennenzulernen und aneinander zu gewöhnen.

* * *

Alles, was man sich notiert hat, bleibt einem im Gedächtnis haften. Hat man keine Zeit dazu oder ist zu faul, dann weiß man später nicht einmal mehr, worum es überhaupt ging. Zerflossen ist der Geschmack im Mund, und der Magen wieder leer. Friss ihn, den neuen Tag, und mach dir keine Hoffnungen, dass deine Speicherplatte endlos ist. Gerät man ins Stocken, vergisst man etwas aus Faulheit oder Säumigkeit, dann sollte man einen Punkt setzen. Informationen und Emotionen sind wie der Arbeitsprozess einer Maschine oder eine Werkzeugkiste. Teile, die nicht in eine Kiste gelegt wurden, verschwinden oder finden keinen Platz in dem, was man später aus ihnen zusammenbauen möchte.

Ich erinnere mich an die Ereignisse jener Tage anhand der Skizzen und fragmentarischen Sätze, die ich in mein Notizbuch schrieb.

»Wir sind Treiber. Das sind wir. Wir sind nur Treiber.« Einer der Jungs hatte das in der »Grauzone« gesagt.

Ich schrieb den Satz auf.

Er hatte mir sehr gefallen.

Will man einen Treiber motivieren, muss man den Eifer der Jagd in ihm wecken. In der Ukraine gibt es viele anständige Fahnder, ich kenne Dutzende. Man gab ihnen den Befehl »Fass!« und teilte sie einem Tätigkeitsbereich zu. Dort sollten sie alles verfolgen und stoppen, was nicht über die Bahnschienen lief. Alles außer der Eisenbahn sollten sie anhalten und überprüfen. Sonst nichts. Aber mehr brauchte es auch nicht, um sie zu motivieren.

Jeder Fahnder muss Blut riechen.

Jeder, egal wie abgehalftert oder jung, spürt Begeisterung, wenn das Wort »Zugriff« fällt. Falls Sie mal gehört haben, wie ein Fahnder sagt »Wir sind los zum Zugriff« – das hat den Beiklang von Sex. Der Zugriff ist Sex in der letzten Phase. Der Genuss, wenn sich die Jagd dem Ende neigt. Nun wurden die ukrainischen Fahnder für Wirtschaftsverbrechen von der Leine gelassen und erhielten das Kommando »Fass!« in einer militärischen Kampfzone, die für Monate oder gar Jahre zur Ruhe gekommen war.

Der verirrte Panzer

Der erste »verirrte Panzer« tauchte Ende Juli 2015 im Kriegsgebiet auf. Als verirrten Panzer bezeichnet man mysteriöse Fahrzeuge, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen und wieder im Nichts verschwinden. Ein solcher »Panzer«, der sich zu einem für die Fahnder günstigsten Zeitpunkt materialisierte, war dann der höchste Richterspruch, die letzte Instanz des Rechtssystems, eine endgültige Entscheidung, gegen die kein Rechtsbehelf eingelegt werden konnte.

In der Regel war so ein »Panzer« aber nur ein schlichter Benzinkanister, dessen Inhalt von einem Draufgänger über ein mit Waren gefülltes Auto gegossen wurde, das sich hinter die Demarkationslinie verirrt hatte. Die Journalisten fuhren derweil immer weiter durch die Kampfzone und hofften, einen »verirrten Panzer« zu finden.

Für viele blieb das romantische Bild vom Panzer als Illusion einer Handelsblockade im Gedächtnis. Es gab ein paar solcher Fälle, aber das hörte bald auf.

Wenige Wochen später gab die Führung der Einheiten, die für die Treiber verantwortlich waren, keine Erlaubnis mehr dafür, dass am Ort eines Zugriffs ein »verirrter Panzer« erschien. Die Einschüchterungsaktion ging zu Ende, aber das wusste von den Treibern noch keiner.

* * *

Es war ein warmer Sommerabend, Vorgeschmack des Altweibersommers, der letzte Freitag im August.

Ich fläzte mich auf einer Soldatenliege in meiner Lieblingsstellung – mit den Füßen zum Fenster.

Wir waren gerade angekommen. Kameramann und Fahrer waren im Auto geblieben und meinten etwas naiv, sie könnten mich so zu raschen, logistischen Entscheidungen nötigen.

Aber ich hatte es nicht eilig.

In der Zwischenzeit waren Andrew und sein Partner, der SBU-Offizier mit dem Tarnnamen »Isja«, weggegangen, um etwas zu regeln. Ich hatte Andrews Bett eingenommen, um mich vor der nächtlichen Reise auszuruhen.

Am Morgen hatten wir in der Nähe ein paar Straßen abgefahren, einen kleinen Lastwagen verfolgt, der zuvor beim Transport von Waren direkt an die Front aufgefallen war, und noch andere Lkw in diesem Sektor beobachtet. Für Anfänger war das einer der langweiligsten Tage, die man sich vorstellen kann.

»Wir fahren die Separs ärgern. Kommst du mit?«

Der Eintretende war nicht besonders groß. Ein kräftiges Kerlchen mit gutmütigem Gesicht und dem Gehabe eines Polizisten. Wie ich später herausfand, hatte er den Rang eines Majors. Martyn war ein frecher, selbstbewusster, trinkfreudiger, unhöflicher und arroganter Offizier der Steuerpolizei.

Ich liebe solche Leute, weil ich gleich weiß, wie ich mit ihnen umgehen muss. Wir alle stammten aus Gangsterregionen, wo man sein Recht verteidigen muss, indem man genau wie Martyn war: frech und unverfroren. Nur zeigte er dieses Verhalten in seiner Kaserne, jemand anderes im normalen Leben in einem Viertel voller Halbstarker.

Martyn war ein verwegener Bulle mit echt ukrainischem Dünkel. Er trank gern, hatte aber seine Form und seinen Übermut noch nicht eingebüßt.

»Natürlich bin ich dabei. Und was machen wir?«, fragte ich.

»Baden«, lachte Martyn.

An diesem Abend badeten wir im Fluss Siwerskyj Donez. Im goldenen, sanften Sonnenuntergang. Das Wasser schien glatt zu sein wie Glas, es reflektierte jeden Schimmer, warf jedes Geräusch zurück, zerteilte und verstärkte es. Wir lachten laut und beschimpften die Russen und ihre Helfershelfer, die sich auf der anderen Flussseite verschanzt hatten. Der Siwerskyj Donez bildete nämlich die natürliche Grenze zwischen dem Territorium unter ukrainischer Flagge und dem von Separatisten besetzten Gebieten.

Drüben im Wald konnte überall ein Scharfschütze lauern. Wir aber planschten im Wasser, drehten unseren Rücken mit heruntergelassenen Unterhosen dem gegenüberliegenden Ufer zu und fluchten laut.

Zum anderen Ufer zu schwimmen und persönlich seine Referenz zu erweisen, wagte keiner von uns. Unser provozierendes Verhalten war eher wie ein Online-Gefecht von Bots und Trollen verschiedener Gruppierungen in den sozialen Netzwerken, mit dem Unterschied, dass unsere Ärsche eine bequeme Zielscheibe für die Kugel eines Scharfschützen waren. Schreiend zu ihren Ohren und Seelen hätten wir kaum durchdringen können.

Bei uns war ein hochrangiger Soldat: Er stand kurz vor der Demobilisierung und schlief mit seinem Maschinengewehr in den Armen. Er kam aus Ternopil, war hager, sehnig, ruhig, ein fünfzigjähriger Kämpfer mit dem Spitznamen »Opa«. An diesem Tag legte sich der Opa bei den letzten Strahlen der Sommersonne ins Wasser, schloss die Augen und murmelte: »Wieso Krieg. Wieso Krieg. Dafür ist es viel zu gut, das kann gar nicht sein. So gut …«

Unser Streich wäre ein Jahr zuvor, als dieses Gebiet noch hart umkämpft wurde, reiner Wahnsinn gewesen. Aber hier und jetzt war in der Region Luhansk im Sommer und Herbst 2015 nichts vom Krieg zu merken. Falls uns an diesem Tag wer beobachtete, dann schweigend.

Ein Jahr zuvor herrschte hier eine völlig andere Realität: ein phantomhafter Grabenkrieg, der in diesen Gebieten zu einem äußerst profitablen Geschäft geworden war.

Am nächsten Morgen gegen 6 Uhr gingen wir wieder zum Fluss, diesmal jedoch zu einem ganz anderen Zweck. Der Bootsübergang in der Nähe des Dorfes Lobatschewo war eine der wichtigsten Handelsrouten und Kanäle für den Austausch von Waren und Geld. Seltsame Charaktere nutzten ihn für den Transit. Er war eine Art Portal