Blutkapelle - Thomas Erle - E-Book

Blutkapelle E-Book

Thomas Erle

4,3

Beschreibung

Eine tote Stadtführerin auf dem Grab von Goethes Schwester, kurz darauf ein Anschlag auf den beliebten Stadtarchivar! Und was verbirgt sich hinter den geheimnisvollen Hinweisen auf ein bisher unbekanntes Manuskript des Dichterfürsten? Für Lothar Kaltenbach, Weinhändler und Musiker, ist die Ruhe in seiner Heimatstadt vor den Toren Freiburgs empfindlich gestört. Eine erste Spur führt in ein Kloster, das es eigentlich nicht mehr gibt. Doch Kaltenbach ahnt nicht, dass er längst beobachtet wird ...

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Thomas Erle

Blutkapelle

Kaltenbachs zweiter Fall

Zum Buch

Goethe war gut … Der Weinhändler und Vespa-Liebhaber Lothar Kaltenbach übernimmt beim Goethe-Fest der Stadt Emmendingen den Weinausschank. Zur Vorbereitung nimmt er an einer Stadtführung teil, in der eine Schauspielerin Goethes Schwester Cornelia Schlosser verkörpert – und die kurz darauf ermordet aufgefunden wird. Kaltenbach ist schockiert, wollte er sich doch am nächsten Tag noch einmal mit ihr treffen. Wusste sie etwas über ein angeblich verschollen geglaubtes Goethe-Manuskript, über das hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird und als Weltsensation präsentiert werden sollte? Musste sie deshalb sterben? Für den Liebhaber edler Tropfen ist es keine Frage, der Ursache für ihren Tod auf den Grund zu gehen, auch wenn es scheint, dass jede Spur im Sand verläuft und ein Rückschlag den nächsten ablöst.

Thomas Erle verbrachte Kindheit und Jugend in Nordbaden. Nach dem Studium in Heidelberg zog es ihn auf der Suche nach Menschen und Erlebnissen rund um die Welt. Es folgten 30 Jahre Tätigkeit als Lehrer, in den letzten Jahren als Inklusionspädagoge. Parallel dazu entfaltete er ein vielfältiges künstlerisches Schaffen als Musiker und Schriftsteller. Seit über 20 Jahren lebt und arbeitet er in der Regio. In seiner Freizeit erkundet er mit Vorliebe den Schwarzwald.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Das Lied der Wächter – Das Gesetz (2019)

Das Lied der Wächter – Der Gesang (2019)

Das Lied der Wächter – Das Erwachen (2018)

Mörderisches Freiburg (2018)

Hochburg (2017)

Höllsteig (2015)

Freiburg und die Regio (2015)

Teufelskanzel (2013)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thomas Erle, Emmendingen

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-4472-2

Zitat

Könnte ich den gegenwärtigen Zustand meiner Seele vor ihnen ausbreiten, ich wäre glücklich, wenigstens verstünde ich dann was in mir vorgeht. Tausend demütigende Vorstellungen, tausend halb ausgesprochene Wünsche …

Cornelia Schlosser

Prolog: 1779 – Über den Dächern von Freiburg

»Weißt du, Bruder Johannes, was du da von mir verlangst?«

Unüberhörbarer Stolz lag in der Stimme des hoch aufgewachsenen Mannes. Er trug einen eleganten hellgrauen Gehrock mit Gamaschen und ein ebensolches Cape. Die Spitze seines silberbeschlagenen Spazierstocks wippte fragend in der Luft auf und ab.

Sein Gegenüber war ein eher unscheinbarer Endfünfziger, den man normalerweise für den Sekretär einer Tabakmanufaktur gehalten hätte. »Das ist mir wohl bekannt, Bruder Abaris.« Bei seiner Antwort lege er den Kopf beflissen ein wenig zur Seite, eine Geste der Konzilianz, wie es schien. Doch seine Stimme blieb klar. »Die Gemeinschaft erwartet es.«

»Aber das Manuskript ist bereits verkauft. Der Verleger wird schon ungeduldig.«

»Geduld ist eine Tugend, mit der sich nur wenige schmücken dürfen.«

Die Glocken vom Freiburger Münsterturm schlugen aus der Ferne. Für eine Weile schritten die beiden Männer schweigend nebeneinander her. Die Strahlen der Mittagssonne ließen die Dächer der Stadt golden aufleuchten. Kein Lüftchen regte sich in der Sommerhitze.

Schließlich begann der, der Abaris genannt wurde, erneut. »Es würde aber doch niemandem schaden?« Auch wenn sich der Mann der manierierten Sprache der gehobenen Stände befleißigte, war der hessische Tonfall unverkennbar.

»Schaden? Lieber Bruder, mir scheint, als befinde sich das Licht deines Grades noch in der Morgendämmerung.« Der Mann blieb stehen und wies mit einer weit ausholenden Geste auf die unter ihnen liegende Stadt.

»Wenn wir am Tempel der neuen Zeit bauen wollen, können wir uns nicht mit profanen Zielen zufrieden geben. Sicher, du bist wohlhabend. Du bist berühmt. Du wirst verehrt. Doch die vortrefflichste Eigenschaft dessen, der ein Meister werden will, ist die der Demut.«

Er ließ seinen Blick vom Münster über die dicht gedrängten Häuser der Stadt bis hin zu den prächtigen Toren gleiten. Zum Schönberg hin glitzerte das gewundene Band der Dreisam, das sich nach Westen hin am Horizont im Dunst verlor.

»Die Meister haben uns den Weg gewiesen. Es ist die liebende Sorge um den Nichtwissenden, die all unsere persönlichen Ziele zu eitel Tand verblassen lässt.«

Abaris blieb ruhig. Nur ein leichtes Zucken der kräftig geschwungenen Nasenflügel verriet, wie es in ihm arbeitete. »Was also erwartet der Meister von mir?«

»Die Genien haben dich reich beschenkt. Dein Werk wird eingehen unter die Großen in der Geschichte dieses Volkes, das dereinst ein einiges sein wird. Erhebe es noch einen Schritt weiter. Hilf, es von der Unvollkommenheit des Persönlichen zu befreien. Wer deine Geschichte liest, soll nicht sich am Ort ergötzen, nicht sich durch die Namen der Menschen stören lassen. Befreie dein Werk, und du befreist den Lesenden. Und die Idee wird desto klarer erstrahlen.«

»Erwartet der Meister, nach der Vollendung es zu sehen?«

»Er vertraut dir. Weil du weißt, was geboten ist, wirst du tun, was nötig ist.«

Der Mann wies auf den schmalen Saumpfad, der sich durch die Ruinen der ehemaligen Befestigung hinunter in die Stadt schlängelte. »Und nun lasst uns gehen. Wir wollen nicht länger säumen an diesem gottgeschenkten Sommertag. Wir wollen weiter bauen am Tempel des Großen Baumeisters.«

Abaris blieb noch einen Moment stehen. Entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit verwarf er den Gedanken, in einen Disput zu treten. Natürlich hatte sein Gegenüber recht. Er würde den Wunsch des Oberen zum Befehl veredeln. Schon schossen ihm die ersten Ideen durch den Kopf. Er kannte seine Qualitäten. Die Geschichte der beiden Liebenden würde noch mehr zum Meisterwerk werden, als sie es bereits schon war. Und keiner würde irgendetwas bemerken.

Er hob den Kopf. Ein Taubenpärchen flog mit eifrigem Flügelschlag über ihn hinweg. Seine Schwester. Ob sie es verstehen würde? Es war ihre Geschichte. Die Geschichte der Vertriebenen, die in der Fremde die Liebe gesucht hatte und den Tod fand. Allzu früh.

Er wandte sich um und folgte dem anderen auf den Pfad zur Stadt. Ars longa vita brevis. Auch in diesem Punkt hatte der Mann recht. Er durfte nicht säumen.

1. Woche

Wes das Herz voll ist des geht der Mund über

Matthäus 12, 34 (Goethe traditionell zugeschrieben)

Kapitel 1

»… war Emmendingen bis in die frühen Sechzigerjahre als Nadelöhr Europas bekannt und gefürchtet. Sämtliche Pkw, Lastwagen und Motorräder, die heute auf der A 5 Richtung Basel brausen, mussten hier durch.«

Lothar Kaltenbach und die übrigen Teilnehmer der Stadtführung ›Auf Cornelia Schlossers Spuren‹ betrachteten das Stadttor mit ehrfürchtigen Blicken. Kaum vorstellbar, dass sich hier, wo selbst der Stadtbus mit Vorsicht durch den engen Steinbogen kurvte, der gesamte deutsche Nord-Süd-Verkehr früher einmal durchgequält hatte.

»Da half natürlich auch der Schreckkopf nichts mehr, der im Mittelalter den Leuten unmissverständlich klar machen sollte, dass hier nur anständige Besucher willkommen waren.«

Wohlwollendes Gelächter erhob sich. Dabei sah der vergoldete Löwenkopf mit dem Ring im Maul alles andere als gefährlich aus. Schon eher die beiden als Drachenköpfe gestalteten Wasserspeier auf dem vorspringenden Dachgiebel, die aber erst in den Dreißigerjahren dazu gekommen waren.

Die Leiterin der Gruppe mühte sich geduldig. Die barocke Leibesfülle der Mittdreißigerin war in ein hellbraunes Kleid im Stil einer Dame des gehobenen Bürgertums aus dem 18. Jahrhundert gezwängt. Eine enorme Stoffmenge bauschte sich um Arme und Beine und gab nur am Hals und Dekolleté den Blick frei. Die Haare hatte sie aufgetürmt, kleine freche Löckchen ringelten sich neben golden blitzenden Ohrringen herab.

Die Frau, die neben ihrem Hauptberuf als Kleindarstellerin an einer der Freiburger Bühnen bei der Eventagentur ›History Today‹ ihre Brötchen verdiente, stellte Cornelia Schlosser dar, Goethes Schwester, die an der Seite ihres Mannes im 18. Jahrhundert einige Jahre in Emmendingen gelebt hatte.

Der Dichterfürst selbst hatte die Stadt nur zweimal besucht. Beim ersten Mal klagte sie ihm ihr Leid, weitab von den städtischen Zerstreuungen Frankfurts in dem damaligen Grenzstädtchen zu Vorderösterreich leben zu müssen. Ihr Bruder sprach ihr Trost zu und war in die Schweiz weitergefahren.

Beim zweiten Besuch blieb ihm nicht mehr, als an ihrem Grab zu stehen, nachdem sie sich von den Anstrengungen der Geburt ihres zweiten Kindes nicht mehr erholt hatte und schon mit 27 Jahren gestorben war.

All dies war ihren braven Mitbürgern im Nachhinein Grund genug, ihre Stadt als wichtigen Baustein im Leben ihres berühmten Bruders zu betrachten.

»Und die Buchstaben da? Is dat Tor von den Römern jebaut worden?«

Belustigte Blicke wandten sich zu dem Sprecher mit dem unüberhörbaren westdeutschen Zungenschlag. Der wohlbeleibte Rentner im sommerlichen Touristen-Outfit mit der obligatorischen Socken-Sandalen-Kombination schwitzte und strahlte über das ganze Gesicht. Er sah es offenbar als seine Aufgabe an, den akademischen Ernst der Führung mit gezielter rheinischer Fröhlichkeit aufzupeppen.

Cornelia Schlosser lächelte pflichtschuldigst. »Die Zahlen stellen natürlich das Jahr der Renovierung dar«, erläuterte sie charmant. »Wer weiß es als Erster?«

Ein Teil der Gäste begann tatsächlich, ihr lange verschüttetes Schulwissen über die großen Ms, Cs und Ls hervorzukramen.

Lothar Kaltenbach seufzte und sah wehmütig zu der nahe gelegenen Eisdiele hinüber. Ein paar Emmendinger hatten es sich in den noch spärlichen Strahlen der Aprilsonne an den wenigen Tischchen im Freien gemütlich gemacht. Der Duft von Cappuccino wehte herüber, eifrig wurde an Eisbechern herumgelöffelt.

»Ich weiß nicht, ob ich das noch lange mitmache«, raunte Kaltenbach seinem Begleiter zu, der sich während der ganzen Führung eifrig Notizen machte und gerade versuchte, mit seiner Nikon Stadttor und Touristengruppe bestmöglich abzulichten.

»Schadet dir gar nichts«, entgegnete er spöttisch, während er auf den Rand eines mit gelben und roten Tulpen bepflanzten Blumenkübels stieg. »Außerdem müssen für den Goethesommer Opfer gebracht werden.« Er sprang wieder herunter und kritzelte etwas in seinen Notizblock. »Von jedem.«

Kaltenbach verzog die Mundwinkel. Er konnte sich Besseres vorstellen, als zwei wertvolle Stunden bei bestem Wetter mit einer Gruppe Touristen durch die Stadt zu laufen und sich Geschichten aus längst verstaubten Zeiten anzuhören. Sein alter Kumpel Adi Grafmüller wurde wenigstens bezahlt dafür, dass er als Lokalredakteur der Badischen Zeitung berichtete. Seit er vor ein paar Monaten aus seinem unfreiwilligen Exil in Lörrach zurückgekehrt war, hatte er sichtlich Gefallen an seiner Heimatstadt wiedergefunden, was sich in seinen gut recherchierten und pfiffig geschriebenen Artikeln niederschlug.

Eben setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung. Die Anführerin wogte unter dem Stadttor hindurch in die Fußgängerzone Richtung Innenstadt.

Kaltenbach riss sich von dem Anblick der Eisdielenbesucher los. Grafmüller hatte recht. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seine persönliche Fortbildung, wie er es nannte, zum Abschluss zu bringen.

Seit letztem Jahr leistete sich die Stadt sogar einen hauptamtlichen Marketingmanager. Dr. Egidius Scholls Aufgabe war es, nicht nur den Bekanntheitsgrad der ›liebenswerten Kleinstadt vor den Toren Freiburgs‹ zu steigern, sondern natürlich auch für eine spürbare Umsatzsteigerung der örtlichen Geschäfte, Restaurants und der Hotellerie zu sorgen.

Der eigens aus Stuttgart engagierte Werbefachmann hatte sich nicht lange mit Kleinigkeiten aufgehalten. Für dieses Jahr hatte er der Stadtverwaltung und dem Gewerbeverein einen Goethesommer vorgeschlagen. Das Leben und Sterben der Schwester des Literaten sei ein Alleinstellungsmerkmal, dessen historische Qualität man bisher sträflich vernachlässigt habe.

Kaltenbach war es recht gewesen, vor allem, nachdem seine Weinhandlung im Westend als eine von Dreien ausgewählt worden war, den Auftakt des großen Emmendinger Sommerereignisses zu begleiten.

Seit Tagen war er sein Sortiment feinster Kaiserstühler Weine und Französischer Spezialitäten durchgegangen und hatte entsprechend geordert. Doch so ganz zufrieden war er mit den Vorbereitungen noch nicht gewesen. Als ihn dann Adi auf die heutige Führung hingewiesen hatte, hatte er dies sofort als Möglichkeit gesehen, seine bescheidenen historischen und literarischen Kenntnisse aufzufrischen. Schließlich konnte es bei künftigen Verkaufsgesprächen nicht schaden, ein paar Anekdoten zu berühmten Persönlichkeiten der Stadt einzuflechten.

»Kommen wir nun zu etwas ganz Besonderem.« Cornelia Schlosser hatte die Gruppe am Rande des Marktplatzes an einem Brunnen versammelt. »Hier sind die drei berühmtesten Persönlichkeiten der Stadt geehrt!« Sie wies mit großer Geste auf die Figuren aus Sandstein, die in merkwürdiger Haltung stoisch vor sich hin blickten. »Allen voran natürlich der Dichterfürst selbst.«

Kameras klickten, eifriges Raunen zog durch die Gruppe. Hunderte Male war Kaltenbach hier vorbeigelaufen. Er musste sich gestehen, dass er bisher noch nie genau hingesehen hatte. Goethes Büste mit seinem typischen breitkrempigen Hut dominierte das Ensemble. Darüber stand mit aufrechtem Blick Carl Friedrich Meerwein, ein ehemaliger Beamter, der durch seine Flugversuche zumindest regional eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Der Maler Fritz Boehle war im Gegensatz zu den beiden anderen ziemlich klein geraten.

»Is dem Kleinen nich jut?« Die rheinische Frohnatur deutete auf die Boehle-Plastik. Der Maler beugte sich über eine offene Kugel. An der Seite floss Wasser heraus. Zwei Männer im Anorak stießen sich an, ein paar Damen kicherten.

Cornelia Schlosser ließ sich nicht beirren. Sie warf sich in Pose. »›Wes das Herz voll ist des geht der Mund über!‹ Ist es nicht ein treffender Spruch, den der Künstler zur Ausgestaltung dieses Brunnens gewählt hat?«

Da haben manche aber ein recht volles Herz, dachte Kaltenbach. Der Gedanke an den Goethesommer, der ganze Busladungen erlebnishungriger Touristen in die Stadt bringen sollte, war ihm mit zunehmender Dauer der Führung nicht mehr ganz geheuer. Und ob der Umsatz in seinem ›Weinkeller‹ sich spürbar verbessern würde, war noch nicht ausgemacht. Vielleicht sollte er eine Kombiführung mit anschließender Weinprobe anbieten. Er nahm sich vor, die Dame von ›History Today‹ zu fragen.

»Jetzt kommt natürlich noch die Geschichte von ›Hermann und Dorothea‹«, raunte Grafmüller ihm zu. »Hoffentlich verregnet es nicht den Rest!« Er wies auf den Himmel über dem Marktplatz.

Der Wind trieb bereits ein paar vereinzelte Regentropfen vor sich her. Von der Elz zogen dichte Wolken in allen Grautönen herüber. Kaltenbach wusste, was das bedeutete. In spätestens 20 Minuten würde es ein heftiges Aprilgewitter geben. Natürlich hatte er seinen Schirm wieder zu Hause vergessen.

Doch die Leiterin fuhr unbeirrt in ihrem Programm fort. Sie zog aus ihrer riesigen Lederumhängetasche ein Buch hervor und zeigte ein altes Schwarz-Weiß-Foto auf einer Doppelseite.

»Vergleichen Sie dieses Bild mit den Häusern vor Ihnen.« Sie tippte mit dem Finger auf ein kaum erkennbares Schild. »Das Gasthaus ›Zum Goldenen Löwen‹!«, intonierte sie bedeutungsschwanger. »Der Torbogen! Die Apotheke! Der Marktplatz!«

Kaltenbach wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Er sah nicht viel mehr als ein altes Pferdefuhrwerk vor einer der typischen ärmlichen Häuserfronten von vor hundert Jahren. Selbst der des Herzens Übervolle wusste nichts zu sagen. Lediglich zwei ältere Damen aus Emmendingen nickten sich wissend zu.

»So oder so ähnlich hat es hier ausgesehen, als mein lieber Bruder Johann Wolfgang mich besuchte. Er hat die Stadt in ihrem Liebreiz und ihrer Romantik kennen und so sehr schätzen gelernt, dass er sie literarisch für alle Zeiten verewigen musste … Ich lass das mal durchgehen.«

Sie drückte das Buch einem der Umstehenden in die Hand. Dann zog sie in vollendetem Gestus eine unscheinbare Schrift hervor und hielt sie weit über ihren Kopf.

»Hermann und Dorothea! Ein Schlüsselwerk der Romantik!«

Alle reckten die Hälse. Wieder klickten die Kameras. »Geschrieben zur Erinnerung an Emmendingen. Und an mich.« Sofort wurden die Stadtapotheke und das Modegeschäft daneben zu begehrten Motiven. Einige lichteten sich gegenseitig ab.

»Hab ich doch gesagt«, brummte Grafmüller. »Ohne den ›Hermann‹ geht gar nichts in Emmendingen. Schon gar nicht bei einer Cornelia-Schlosser-Führung. Ich sage dir, das wird noch ein ziemliches Theater in diesem Sommer!«

Kaltenbach hatte nicht allzu viel verstanden von dem, was er gerade gehört hatte. Sein Wissen über die Klassiker war schon während der Schulzeit bescheiden und hatte sich seither nicht spürbar vergrößert. Er hätte stattdessen ohne zu zögern sämtliche frühen Bluesbands mit Eric Clapton und John Mayall mitsamt ihren Londoner Lieblingsclubs aufsagen können.

Cornelia Schlosser drängte angesichts des rasch nahenden Gewitters zur Eile. Sie setzte ihre Leibes- und Stofffülle energisch in Bewegung. »Folgen Sie mir nun zum Höhepunkt meines Lebens in dieser schönen Stadt.«

Sogar Kaltenbach wusste, was jetzt kommen würde. Es gab keinen Stadtführer, in dem nicht auf den berühmten ›Honoratiorenwinkel‹ hingewiesen wurde, der spärliche Rest des alten städtischen Friedhofes am Rand der Bahnlinie.

Auf dem Weg dorthin am historischen alten Postgebäude und am Finanzamt vorbei klappte einer nach dem anderen die Schirme auf. Wer keinen dabeihatte, schlüpfte bei einem Nachbarn unter oder zog eine Kapuze über, sofern vorhanden. Cornelia Schlosser spannte einen anmutigen, am Rand mit Rüschen besetzten Schirm auf.

Kaltenbach und Grafmüller duckten sich zusammen unter dem winzigen Herrenknirps des Journalisten.

»Das Grab ist am wichtigsten. Ein, zwei Bilder noch, dann verschwinde ich.«

Im Laufe der letzten Jahre war der alte Stadtfriedhof von allen Seiten eingezwängt worden. Die noch verbliebene Mauer bildete die Begrenzung zur Bahnlinie hin, ihr gegenüber wölbte sich groß und hässlich eine Betonbrücke. Schließlich war vor ein paar Jahren ein überdimensioniertes Einkaufs- und Bürozentrum hinzugekommen.

Der Friedhof lag dazwischen wie ein romantisches Relikt aus einer vergessenen Zeit. Die eigentlichen Gräber waren längst verschwunden. An ihrer Stelle wucherte kräftiges Grün, in dem sich Löwenzahn, Wiesenschaumkraut und Gänseblümchen abwechselten. Ein paar vereinzelte Grabsteine wirkten verloren unter den mächtigen Platanen, die nur wenig Schutz vor dem nun immer stärker einsetzenden Regen boten.

Die Gruppe versammelte sich dicht gedrängt um das einzige erhaltene Grab. Gelbe Stiefmütterchen und dunkelblaue Traubenhyazinthen kennzeichneten den Ort. An der rückwärtigen Friedhofsmauer hing eine Sandsteinplatte mit dem Profilrelief der Toten, ihrem Namen und einigen Buchstaben, die nur schwer zu entziffern waren.

»Komm mal mit rüber und halte den Schirm.« Der Journalist wies auf das Kriegerdenkmal, das von längst vergessenen Helden in längst vergessenen Kriegen zeugte. Sie stiegen nebeneinander auf den Sockel, und Grafmüller zückte die Kamera. Außer Schirmen und bunten Anoraks war allerdings kaum etwas zu sehen.

»Nein, das ist nichts. Komm, wir gehen ganz vor.« Die beiden Männer drängten sich an der Gruppe vorbei bis zur Mauer. Von hier aus hatten sie Cornelia Schlosser direkt vor sich. Grafmüller knipste eifrig drauflos.

»Hier liege ich nun seit fast 250 Jahren. Fern der Heimat.« Ihr gelockter Kopf neigte sich wie die tropfnassen Zweige ringsum. Einige der Anwesenden setzten ihr Beerdigungsgesicht auf. Andere schauten verständnislos drein. Die meisten fröstelten.

»Aber nicht vergessen: Er war hier! Hier an dieser Stelle stand er, mein geliebter Bruder. Im Schmerz gefangen, von Erinnerungen gequält.« Sie faltete die Arme vor der Brust. »Lassen Sie uns für einen kleinen Moment stumm verweilen.«

Die meisten Zuhörer nahmen ob der historischen Größe der Darbietung sichtlich Haltung an. Kaltenbach verzog den Mund. Das war nicht nur Edelkitsch, das war makaber. Allein der Gedanke, am eigenen Grab zu stehen und zu schwadronieren! Außerdem, als Goethe hier war, hatte es bestimmt nicht geregnet.

Ein kräftiger Donnerschlag zerriss das stille Gedenken. Den meisten schien erst jetzt bewusst zu werden, dass sich über ihnen ein heftiges Frühlingsgewitter zu entladen begann. Die Gruppe wurde unruhig, ein paar Teilnehmer sprinteten im Laufschritt davon.

Cornelia Schlosser versuchte, die Situation zu retten, doch ihr Hinweis auf das zarte Tropfen des dräuenden Lenzes fand kaum mehr Ohren.

»Des Lebens Ende … Ende der Führung … eine kleine Spende … morgen wieder begrüßen …« Dann lief auch sie mit wehenden Röcken in Richtung des Einkaufszentrums davon. Nur ein Rentnerehepaar blieb tief versunken alleine am Rande des Grabes stehen.

»Komm mit in die Redaktion, kriegst einen heißen Tee.« Grafmüller zog Kaltenbach mit sich. Durch die Sparkassenpassage gelangten sie zurück zum kleinen Marktplatz.

Dann stürzte der Himmel ein.

Kaltenbach saß am Tisch in seiner Küche in Maleck und faltete andächtig das feuchte Papier auseinander. Der erste Spargel vom Wochenmarkt! Er nahm eine der weiß glänzenden Stangen in die Hand und betrachtete sie liebevoll. Sie waren so, wie sie sein sollten, schön gerade, nicht zu dünn und nicht zu dick, die Köpfe fest geschlossen. Ein herrlicher Anblick!

Kaltenbach setzte einen Topf mit Salzkartoffeln auf und schaltete den Herd an. Dann holte er sein eigens am Nachmittag gekauftes Spargelmesser und begann, mit gleichmäßigen Bewegungen zu schälen. Schon nach kurzer Zeit türmten sich lange schmale Streifen vor ihm auf dem Tisch. Danach legte er die Spargel in einen Sud aus Wasser, Sahne und Gewürzen und stellte sie neben die Kartoffeln.

Während das Essen vor sich hin simmerte, deckte Kaltenbach den Tisch. Nach einem Blick in den Kühlschrank entschied er sich für einen Auggener Gutedel. Der leichte Weißwein hatte genau die richtige Temperatur. Er goss sich ein Glas halb voll, trat hinaus auf seinen kleinen Balkon. Er roch die unaufdringliche Blume und trank einen kleinen Schluck.

›Sürpfle muesch, nit suffe!‹ Er dachte an den alten alemannischen Genießerspruch, als die feine Säure sich wohltuend in seinem Gaumen ausbreitete.

Er genoss den Blick ebenso wie gerade zuvor den Schluck aus dem Weinglas. Direkt vor ihm lag die Ruine der Hochburg. Die hellen Steine der Burgmauer leuchteten, oben am Söller flatterte die Badenfahne. Den Schwarzwald entlang reihte sich die Kette der Vorberge als dunkelgrüne Kulisse, im Osten zwängte sich das Elztal dazwischen. Oben auf dem Kandel blitzten die Fenster des ehemaligen Hotels in der Sonne. Nur wenige Meter davon entfernt ragte die Teufelskanzel aus dem Meer der Fichten und Tannen.

Für einen Moment zog ein Schatten über Kaltenbachs gute Laune. Über ein Jahr war es bereits her, als die Ereignisse dort oben ihn in einen Strudel von Gefühlen und Gefahren gezogen und ihm fast das Leben gekostet hatten.

Und nun lag dieser Brief in seinem Wohnzimmer.

Er riss sich aus seinen Gedanken. Später.

Jetzt wollte er zuerst den Spargel genießen. Er schnitt aus einem Blumentopf ein paar Schnittlauchhalme ab und ging zurück in die Küche, in der es bereits verführerisch duftete. Kaltenbach schaltete den Herd aus. Er schüttete die Kartoffeln ab und stellte sie auf den Tisch. Ein prüfender Druck mit der Gabel zeigte ihm, dass auch die Spargel so weit waren. Es war wichtig, den richtigen Moment nicht zu verpassen, ein zu weich gekochtes Gemüse war nur das halbe Vergnügen. Bevor er sich setzte, hackte er den Schnittlauch klein und streute ihn über das Essen. Vier Sterne!

Während sein Lieblingsgitarrist im Hintergrund seine gefühlvollen Melodien erklingen ließ, dachte Kaltenbach zurück an die gestrige Stadtführung. Er schmunzelte, als er sich an die Anekdoten der Führerin erinnerte.

Das heutige Emmendingen war nicht mehr zu vergleichen mit der Stadt vor über 200 Jahren. Die Schlosser musste sich vorgekommen sein wie am Ende der Welt. Ein kleiner abgelegener Ort weit im Süden des badischen Herzogtums. Wer nach Freiburg wollte, musste über die Grenze nach Vorderösterreich, oben im Schwarzwald begann das Herzogtum Württemberg und ein paar Kilometer im Westen lag über dem Rhein der damalige Erzfeind Frankreich.

Kaltenbach schnupperte an den letzten Bissen und zerdrückte das feine Gemüse genießerisch mit der Zunge. Dann leerte er mit einem Schluck sein Glas und lehnte sich zufrieden zurück.

Die kleinen Freuden des Alltags. Für ihn waren sie wichtig, für ihn machten sie das Leben lebenswert. Das Leben der Cornelia Schlosser klang dagegen eher nach Depressionen. Der Ehemann in rastloser Arbeit unterwegs, keine standesgemäßen Ansprechpartner in der Stadt, ab und zu ein Brief von ihrem Bruder. Kein Telefon, keine E-Mail, keine SMS, noch nicht einmal Fernsehen und Radio. Schwer vorzustellen.

Von Goethe wusste er, dass er kein Weinverächter war. Vielleicht hatte sich auch seine Schwester auf diese Weise einigermaßen bei Laune gehalten?

Kaltenbach räumte den Tisch ab und spülte das wenige Geschirr. Danach goss er sich ein Glas Rosé vom Kaiserstühler Weingut seines Onkels ein und ging ins Wohnzimmer. Es war der Ort, an dem er am besten zur Ruhe fand, an dem er nachdenken konnte.

Und wo er Musik hörte. Sein Blick glitt über die Reihe von Regalen, die fast die ganze Zimmerwand einnahmen. Die riesige Plattensammlung war sein ganzer Stolz. Als Anfang der Neunziger die CDs auf den Markt kamen, hatte er sich von der Werbung nicht beeindrucken lassen und war bei den großen Vinylscheiben geblieben. Es bereitete ihm immer noch jedes Mal einen nahezu sinnlichen Genuss, die zu seiner Stimmung passende Scheibe auszuwählen, herauszuziehen und die Nadel des Plattenspielers aufzusetzen.

Nach Peter Green entschied er sich für Morna-Musik von den Kapverden. Ein wenig exotischer Schwermut konnte nicht schaden.

Der Brief. Seit zwei Tagen befand sich seine Gefühlswelt in Unordnung. Mindestens zehnmal hatte er die Doppelkarte aus dem Umschlag herausgenommen und immer wieder zurückgelegt.

Er hatte Luise seit über einem Jahr nicht gesehen. Sie war nach Berkeley in Kalifornien gegangen, mehr wusste er nicht. Sie wolle ›etwas mit Kunst‹ machen, hatte er von ihrer Mutter erfahren. Und um Abstand zu gewinnen von den schrecklichen Ereignissen um ihren Bruder.

Wieder zog Kaltenbach die Karte heraus. Eine Einladung zu einer Vernissage in Freiburg, eine Adresse in der Altstadt. Ob sie wohl wieder in ihrem Haus in St. Georgen wohnte? Das Haus, in dem er gespürt hatte, dass sie mehr für ihn bedeuten könnte, als er sich selbst zugestehen wollte.

Sein Blick fiel auf die kleine Statue auf der Kommode, die sie ihm damals zum Dank geschenkt hatte. Eine elfenhaft zarte Figur, einer Tänzerin gleich, die kaum den Boden berührte und doch eine harmonische Kraft ausstrahlte, die ihn seltsam berührte. Genauso war es ihm mit Luise ergangen, seit er sie im schneebedeckten Geröll am Fuße des Kandelfelsens zum ersten Mal gesehen hatte.

Seine Augen wanderten zurück zu dem Foto auf der Einladung. Auch hier war eine Plastik abgebildet, doch deutlich anders. Kräftiger, klarer, auch etwas kantiger.

Und da gab es noch eine Kleinigkeit, die Kaltenbach keine Ruhe ließ. Neben Luise stand ein zweiter Name auf der Einladung. Jamie Granger. Eine gemeinsame Ausstellung mit einem Amerikaner.

Kaltenbach holte die Roséflasche aus der Küche und schenkte sich sein Glas erneut voll. ›Desgosto de amor‹ sang Cesaria Évora.

Dass er sich damals in Luise verliebt hatte, war ihm erst so richtig klar geworden, als sie sich bereits nach Kalifornien verabschiedet hatte. Was hatte er tun können? Ihr nachfliegen? Anrufe und Mails hinterherschicken? Und wie hätte sie überhaupt reagiert?

Er hatte außer einer Ansichtskarte mit der obligatorischen Golden-Gate-Brücke nichts mehr von ihr gehört. Letztlich hatte er es als Wink des Schicksals gesehen. Das Leben war weitergegangen, und er hatte versucht, sie zu vergessen.

Und nun war diese Einladung gekommen. Zusammen mit Jamie Granger. Alles brach wieder auf. Die Fantasien. Die völlige Unsicherheit.

Das Telefon riss ihn aus seiner selbst verordneten Melancholie.

»Was ist los? Bist du ins Sonntagsgemütlichkeitsloch gefallen? Schau mal auf die Uhr!« Sein Gegenüber klang nicht gerade erfreut.

Grafmüller. Kaltenbach murmelte ein paar entschuldigende Worte. So ein Mist. Er hatte ihre Verabredung völlig verschwitzt.

»Zehn Minuten!«, stieß er hervor und legte auf. Hastig zog er Schuhe und eine Jacke an und stolperte die Treppe hinunter. Die Sonntagsspaziergänger im Brandelweg schüttelten unwillig die Köpfe, als er mit seiner Vespa an ihnen vorbei in Richtung ›Krone‹ düste, doch das war ihm egal. Grafmüller hasste es, wenn er warten musste.

Dabei war es nach dem ins Wasser gefallenen Ende der gestrigen Stadtführung Kaltenbachs Vorschlag gewesen, sich noch einmal ausführlicher mit der Dame im Gewand der Cornelia Schlosser zu unterhalten.

Er brauchte noch ein paar Anregungen für seinen Laden. Vielleicht könnte er sie sogar für eine Weinpräsentation gewinnen. Grafmüller hatte sich sofort angeboten, dabei zu sein und erste Probeaufnahmen zu machen.

Kaltenbach nahm den Weg über den Brandel. Nur kurz streifte sein Blick von Windenreute hinüber zur Freiburger Bucht und zum Kaiserstuhl. Wie gestern schob der Wind dicke graue Wolken auf dem Weg vom Elsass herüber in den sonnigen Frühlingstag. Der April spannte noch einmal kräftig seine unvorhersehbaren Wettermuskeln. Kaltenbach unterdrückte einen Fluch. Sein Regenkombi hing noch vom letzten Gebrauch zum Trocknen zu Hause in der Garage. Er stellte den Roller in der Innenstadt vor dem Haus Leonhardt ab.

Grafmüller erwartete ihn bereits ungeduldig am Brunnen vor der Redaktion. »Höchste Zeit! Hoffentlich wartet die Dame auf uns.« Er trug Jeans, ein grob gewürfeltes rotes Holzfällerhemd und eine Art Beuys-Jacke mit unzähligen Taschen. Er warf sich seine Kameratasche über und stapfte los. Sie hatten verabredet, sich nach der heutigen Führung am Schlossergrab zu treffen, wo laut Grafmüller einige vielversprechende Motive zu entdecken waren.

»Sieh mal, da vorne!« Grafmüllers überraschter Ausruf riss ihn aus seinen Gedanken. Vor ihnen lag der alte Friedhof, den sie gestern fluchtartig verlassen hatten. Unter dem Bogen der Brücke standen zwei Polizeiautos mit blinkenden Lichtern. Polizisten liefen hin und her, ein rot-weißes Absperrband wurde ausgerollt.

»Da ist etwas passiert!«

Grafmüller hatte bereits seine Kamera aus der Tasche gezogen und schraubte im Laufen ein Objektiv auf. Einer der Polizisten kannte ihn und ließ ihn ungehindert passieren, Kaltenbach hielt sich dicht daneben. Im Hintergrund ertönte die Sirene eines Rettungswagens.

Dann sah er das Grab. Kaltenbach war schon bei einigen Beerdigungen dabei gewesen. Das Hineinsenken des Sarges in die Grube, das Anhäufen mit Erde, die Bepflanzung – all das waren Zeichen des Endgültigen, Schritte des Verstorbenen auf dem Weg vom Leben in die Erinnerung.

Doch was er hier vor sich sah, ließ ihn schwindeln. Die Zeit hatte sich gedreht, die Vergangenheit war zurückgekommen. Ein hellbraunes Kleid im Stil einer vornehmen Dame des 18. Jahrhunderts, ein züchtiges, rüschenbesetztes Dekolleté, aufgetürmte Haare mit kleinen frechen Löckchen, die sich neben goldblitzenden Ohrringen herabringelten.

Cornelia Schlosser, die Schwester des Großen Dichterfürsten, lag tot auf ihrem eigenen Grab.

Die Polizei ging ohne große Umschweife von Fremdverschulden aus. In der Normalsprache hieß das, dass die Tote auf dem Friedhof ermordet worden war, mit größter Wahrscheinlichkeit durch Erdrosseln. Genaueres würde man erst erfahren, wenn die Leiche in der Freiburger Rechtsmedizin untersucht worden war.

Tagelang füllten Fotos und Berichte die Schlagzeilen. Grafmüller war begeistert. Konnte er doch mit zeitnahen Exklusivbildern aufwarten, die der BZ einen spürbaren Auflagenschub bescherten. In der Öffentlichkeit war von der erstaunlichen Spürnase des Lokalredakteurs zu lesen, der bereits am Tag vor dem schrecklichen Ereignis ›eine Ahnung‹ gehabt habe.

Natürlich redeten sich die Emmendinger den Mund fusselig. Ein so spannendes Ereignis hatte es in der Stadt lange nicht gegeben. Auf dem Markt und an den Stammtischen blühten fantasievolle Spekulationen zu Tathergang und Motiv. Dazu gab es die üblichen Empörungen über die mangelnde Sicherheit in der Stadt.

Die Betroffenheit der Emmendinger hielt sich jedoch in Grenzen. Die Tote war keine Einheimische, die man kannte, sondern eine Schauspielerin aus Norddeutschland, die seit einigen Jahren in Freiburg wohnte und arbeitete.

Einigen zaghaften Stimmen, die dafür plädierten, den Emmendinger Goethesommer aus Pietätsgründen zu verschieben oder gar ganz zu streichen, trat Dr. Scholl, besagter Marketingleiter, entschieden entgegen. Nachdem der erste Aufruhr abgeklungen war, gab er die Parole ›Jetzt erst recht!‹ aus. Auch wenn es ihm persönlich sehr leid tue, dürfe man sich keineswegs der Gewalt beugen. Außerdem stehe die Tat in keinem Zusammenhang mit den Plänen der Stadt.

Im kleinen Kreis, so erfuhr Kaltenbach über mehrere Ecken, hatte Scholl nicht ohne Befriedigung bemerkt, dass das überregionale Medieninteresse, nicht zuletzt befeuert durch Grafmüllers stimmungsvolle Fotos, eine ideale Steilvorlage für seine Kampagne sei.

Auch in ›Kaltenbachs Weinkeller‹ hatte es in den ersten Tagen nur ein Thema gegeben. Es hatte sich herumgesprochen, dass er einer der Letzten war, der die Tote lebend gesehen hatte. Doch Kaltenbach gab sich wortkarg und verwies auf Grafmüller und die Zeitung.

Am Abend der offiziellen Eröffnung des ›Ersten Emmendinger Goethesommers‹ war das Interesse der Leute schließlich so weit abgeklungen, dass er sich in Ruhe seinen Aufgaben widmen konnte. Von den geladenen Gästen, die sich im ehemaligen Sitzungssaal des Alten Rathauses versammelt hatten, kümmerte sich keiner um ihn, als er mit seinem Mitstreiter einen letzten prüfenden Blick in die Runde warf.

»Eigentlich ist der viel zu schade für die!« Karl Duffner, Weinhändler wie Kaltenbach und stolzer Inhaber von ›Duffners Weindepot‹ in der vorderen Lammstraße, schimpfte grummelnd vor sich hin. Er hielt eine Flasche Mundinger Spätlese in der Hand und musterte das Etikett. »Die meisten können doch nicht einmal einen Riesling von einem Silvaner unterscheiden!«

»Unsre schon. Nun sei mal nicht so streng!« Kaltenbach nahm ihm die Flasche aus der Hand und stellte sie zurück. Der weiß gedeckte Tisch mit den Weinspezialitäten war ebenso festlich geschmückt wie der gesamte Saal im Obergeschoss des Alten Rathauses. Die goldenen Kronleuchter spiegelten sich in blitzblank polierten feinen Gläsern, die mit rotem Samt bezogenen Barockstühle waren akkurat um das Rednerpult gruppiert. Überall standen frische Blumen. Der Duft von Flieder mischte sich mit dem Schweiß der Gäste.

»Perlen vor die Säue!«

Duffner konnte es nicht lassen. Kaltenbach lachte still in sich hinein. Er wusste, dass er ihn nicht überzeugen konnte. Sein Nachbar aus dem Emmendinger Westend galt als anerkannter Weinkenner. Es bereitete ihm fast körperliche Schmerzen, wenn er zusehen musste, wie ein exzellenter Tropfen hinuntergeschüttet wurde wie billige Schorle.

Die beiden kannten sich seit Langem. Duffner, der mit seinen 64 Jahren ein gutes Stück älter als Kaltenbach war, hatte anfangs den Konkurrenten am örtlichen Weinmarkt misstrauisch beäugt. Doch das hatte sich bald gelegt, nachdem sie ihre gemeinsame Vorliebe für gutes Essen entdeckt hatten. Zumal eine geschäftliche Zusammenarbeit auch Vorteile haben konnte. Beide hatten sich gemeinschaftlich beworben, während der Veranstaltungen zum Goethesommer für die flüssige Verköstigung zu sorgen.

Kaltenbachs Blick glitt über die Anwesenden im Saal. Diejenigen, die er als ›unsre‹ bezeichnet hatte, waren nahezu vollständig vertreten. Allen voran der Oberbürgermeister, die Stadträte und der Kulturamtsleiter. Dazu die Vertreter des Gewerbes, der Kirchen und der Vereine und jede Menge Persönlichkeiten, die in der Stadt wichtig waren. Oder dies zumindest von sich glaubten.

Es gab aber auch einige Anwesende, die Kaltenbach noch nie gesehen hatte. Während der namentlichen Begrüßung versuchte er, sie der Gästeliste zuordnen, die er und Duffner ein paar Tage zuvor bekommen hatten.

Aus Stuttgart war eigens der Kulturstaatsminister samt Gattin angereist, neben ihnen saß ein Vertreter des Marbacher Literaturmuseums. Selbst die Freiburger ließen eine Grußbotschaft übermitteln.

Neben einigen überregionalen Pressevertretern war auch Grafmüller in Aktion. Kaltenbach sah ihn an der Seite unter einem der Ölporträts der wichtigen Persönlichkeiten früherer Zeiten knien. Die Kamera mit dem aufgesetzten Teleobjektiv hielt er abwechselnd auf den Rednerpult und die Zuhörerschaft gerichtet.

Marketingleiter Dr. Scholl war ein flotter Mittdreißiger mit modischer Brille und kühner Gelfrisur. Er ließ es sich nicht nehmen, die Hauptpunkte des geplanten Stadtereignisses persönlich vorzustellen. Kaltenbach hörte von Lesungen, zu denen bekannte Schriftsteller eingeladen waren, sowie von einem eigens neu geschaffenen Stadtplan, auf dem die Besucher auf den Spuren der Historie wandeln konnten. Zu einem mehrtägigen Symposium waren namhafte Goethekenner, Literaturwissenschaftler und Autoren eingeladen. Es gab den Plan, ein Goethedenkmal zu enthüllen, ein Bildband sollte erscheinen, in der Badischen Zeitung sollte es eine regelmäßige Literaturkolumne geben.

Dazu war natürlich das gesamte heutzutage übliche Vermarktungsprogramm vorgesehen, von diversen Preisausschreiben über T-Shirts, Poster und Kugelschreiber bis hin zu bedruckten Kaffeetassen.

Der erste Höhepunkt war bereits für das kommende Wochenende geplant. Am Samstagabend würde es einen großen Empfang mit einem Fest in der Steinhalle für die Bevölkerung geben.

Kaltenbach dachte mit gemischten Gefühlen daran. Die halbe Stadt war seit Wochen mit den Plakaten zugeklebt. Das bedeutete vollen Einsatz den ganzen Tag über. Gleichzeitig aber auch den Umsatz für zwei Monate. Duffner würde wieder dabei sein und zum Glück ein paar Helferinnen.

»Ich glaube, es ist so weit alles klar«, meinte er schließlich zu Duffner.

Um das Buffet musste er sich zum Glück nicht kümmern. Zwei große Tische mit Kanapees, Schnittchen, Häppchen und Teilchen warteten auf die Hautevolee, flankiert von zwei liebreizenden Hostessen, deren Rock, Bluse und Jacke in blau, gelb und rot, den Emmendinger Stadtfarben, gehalten waren.

Kaltenbach wies mit dem Finger zur Treppe. »Halt doch bitte die Stellung. Ich verschwinde noch mal kurz, ehe der Trubel losgeht.«

Die Toiletten in dem 1729 erbauten Gebäude lagen etwas versteckt im Untergeschoss hinter einem Restaurant. Kaltenbach huschte die enge Treppe hinunter, verlief sich prompt, als er den Lichtschalter nicht fand, bis er zu endlich die richtige Tür entdeckte.

Nachdem er sich erleichtert hatte, wusch er sich die Hände und betrachtete sich prüfend im Spiegel. Die ›vornehmen‹ Gelegenheiten, wie er sie selbst nannte, forderten ihm jedes Mal ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft ab. Erst heute Morgen hatte er seinen Wildwuchs im Gesicht auf ein annehmbares Dreitagebart-Niveau zurechtgestutzt. Bei seinem Stammfriseur war er gestern – kurz, flott, pflegeleicht. Die braunen Haare noch ohne graue Strähnchen, wie er befriedigt feststellte.

Er rückte sich den Kragen seines hell karierten Hemdes zurecht. Zu einer Krawatte hatte er sich nicht durchringen können. Duffner trug wenigstens einen Schlips, aber das ging gar nicht. Er hasste es, den Hals eingeschnürt zu haben. Eine Krawatte hatte er das letzte Mal bei seiner Abiturfeier getragen.

»… müssen jetzt sehr aufpassen. Du weißt, was das für uns bedeutet.«

»Ich werde wachsam sein.«

»Es kann sein, dass das nicht genügt!«

Durch das angelehnte Fenster zum Marktplatz drangen zwei Männerstimmen von draußen herein. Kaltenbach kannte eine davon, sie gehörte zu Gisbert Hertzog, dem Inhaber des größten Möbelgeschäftes der Stadt und gleichzeitig einer der führenden Köpfe des Gewerbevereins.

Die andere Stimme hatte er noch nie gehört. Anscheinend hatten die beiden eine außerplanmäßige Raucherpause eingelegt.

»… wenn es zum Äußersten kommt, wirst du einschreiten müssen!«

»Was meinst du damit?«

Hertzog klang aufgeregt. Kaltenbach wurde neugierig und versuchte, noch mehr von dem Gespräch zu erhaschen. Eigentlich konnte es nur ums Geld gehen. Bei Leuten dieses Kalibers ging es meist ums Geld. Oder um eine heimliche Geliebte.

»Am Samstag wird es öffentlich. Wir wissen nicht, wie viel er weiß. Aber wir wissen, dass es Grenzen gibt.«

Für einen Moment hörte Kaltenbach nichts mehr. Durch das Fenster waberte schwach der Duft von Zigarettenrauch. Hertzog schien in der Patsche zu sitzen. Vielleicht doch irgendwelche krummen Geschäfte?

»Der Auftrag der Oberen ist klar. Abaris ist viel zu wichtig, als dass wir hier nachlässig sein können. Es kann unsere Arbeit um Jahre zurückwerfen. Und ich spreche nicht nur von der Wahren Eintracht, sondern von der ganzen Gemeinschaft!«

Was war das nun? Die Weltverschwörung vor den Toiletten des Alten Emmendinger Rathauses? Ging es um irgendeinen Verein?

Zu seinem Bedauern musste Kaltenbach im nächsten Moment seine unfreiwillige Lauschposition aufgeben. Zwei weitere Gäste kamen herein und unterhielten sich lautstark über die alljährlichen Abstiegsnöte des SC Freiburg. Fast gleichzeitig verstummten die Stimmen vor dem Fenster. Kaltenbach zuckte die Schultern und ging zurück nach oben.

Duffner empfing ihn ungeduldig.

»Ich dachte schon, du hast dich verlaufen«, knurrte er. »Gleich geht’s los!«

Tatsächlich stand der formelle Teil des Empfangs kurz vor dem Abschluss. Neben dem Rednerpult hatten sich ein paar festlich gekleidete Musiker platziert. Was er hörte, klang für Kaltenbachs Ohren durchaus angenehm. Doch er hatte da wenig Ahnung, im Grunde beschränkten sich seine Klassik-Kenntnisse auf den Mozartfilm, den er vor Jahrzehnten einmal im Kino gesehen hatte. Er hätte nicht sagen können, ob der leicht beschwingte Stil mit Violine, Flöte und Cembalo überhaupt aus Goethes Jahrhundert stammte.

Aus den Augenwinkeln sah Kaltenbach wie kurz nacheinander die große Saaltür geöffnet wurde. Zuerst kamen die beiden SC-Fans, die sich sogleich an eines der Fenster lehnten, um den Rest des Musikstückes zu Ende zu hören. Gleich darauf kam Hertzog. Er blieb mit verschränkten Armen an der Wand hinter den Stuhlreihen stehen. Dabei wirkte er unruhig und schwitzte. Sein Gesprächspartner war nirgends zu sehen.

Nachdem die Musik verklungen war, wurde das Quartett mit höflichem Beifall bedacht. Dr. Scholl trat ein weiteres Mal ans Pult, bedankte sich und wünschte dem ›Ersten Emmendinger Goethesommer‹ ein gutes Gelingen.

Nach den erlösenden Worten, dass das Buffet jetzt freigegeben sei, gab es kein Halten mehr. Kaltenbach zog doch noch rasch das Jackett aus. Jetzt war er es, der ins Schwitzen geraten würde.

Kapitel 2

Es war halb sechs. Kaltenbach wurde zunehmend ungeduldig. Wieder und wieder sah er auf die Uhr. Wenn der Lieferant nicht in der nächsten halben Stunde käme, würde er in dieser Woche gar nicht mehr kommen. Und das wiederum würde bedeuten, dass die große Eröffnungsfeier am Wochenende ohne den feurigen Piemonteser auskommen musste.

Noch einmal ging er die Liste der Weine durch, die er für den morgigen Galaabend vorgesehen hatte. Den Grundstock bildete das Sortiment vom Weingut seines Onkels Josef vom Kaiserstuhl, das er hier im Geschäft ständig auf Lager hatte.

Das war Pflicht. Onkel Josef hatte ihm vor Jahren angeboten, den Laden im Emmendinger Westend einzurichten. Nach einigem Zögern hatte Kaltenbach zugestimmt. Der Markt für Lehrer war damals alles andere als rosig. Er hatte sich einige Zeit mit Musikunterricht, der Leitung von Sportgruppen und einigen Kursen an der Volkshochschule über Wasser gehalten. Als dann feststand, dass er nicht mit einer festen Anstellung rechnen konnte, war ihm das Angebot von Onkel Josef grade recht gekommen. Die Gegenleistung für die Anschubfinanzierung bestand nicht nur in der Namensgebung sondern natürlich auch in der Zusage, in erster Linie seinen Wein anzubieten. Die Anfangsjahre waren nicht einfach gewesen. Kaltenbach selbst war sich lange unsicher, ob er überhaupt zum Geschäftsmann taugte. Der Umgang mit Bilanzen, Buchhaltung und Steuererklärungen betrachtete er bis heute als notwendiges Übel.

Dagegen hatte es ihm von Beginn an Spaß gemacht, die Vielfalt der Weine zu erforschen, auszuwählen und anzubieten. Dies war Kaltenbachs einzige Bedingung an seinen Gönner gewesen. Ohne Italiener und Franzosen war für ihn eine moderne Weinhandlung nicht denkbar. Onkel Josef hatte grummelnd zugestimmt, nachdem Kaltenbach ihn überzeugen konnte, dass die ›Ausländer‹ keine Konkurrenz, sondern Bereicherung und Erweiterung waren.

Am meisten schätzte Kaltenbach die Gespräche mit den Kunden. Den meisten jedenfalls. Die Hälfte der Zeit belieferte er Abnehmer vor Ort. ›Kaltenbachs Weinkeller‹ hatte in kurzer Zeit einen guten Ruf erworben, sein Kundenkreis dehnte sich weit über die nähere Umgebung aus. Inzwischen hatte er Interessenten aus ganz Südbaden bis hinüber ins Elsass, in die Schweiz und in den Schwarzwald hinein auf seiner Liste. All das gefiel Onkel Josef wohl.

Eben sah Kaltenbach wieder auf die Uhr, als die Glocke über seiner Ladentür bimmelte. Erleichtert schaute er auf, doch es war nicht der ersehnte Lieferant. Dennoch hellte sich sein Blick auf, als er seine Besucherin erkannte.

»Sali, Lothar, wie goht’s G’schäft?«

Erna Kölblin gehörte zum Emmendinger Urgestein. Vom ersten Tag an, als Kaltenbach seinen Laden eröffnet hatte, hatte sie mit unverhohlener Neugier alles inspiziert und ihn mit größter Selbstverständlichkeit unter ihre Fittiche genommen. Fast täglich kam sie auf ihrer Runde durch die Stadt vorbei, immer auf der Suche nach Neuigkeiten, und vor allem stets bereit, diese mit entsprechenden Kommentaren wieder loszuwerden.

So auch heute. Sie wälzte ihre massige Gestalt schnurstracks zu dem alten Ohrensessel, den Kaltenbach als nostalgische Deko aufgestellt hatte, und ließ sich schnaufend hineinfallen.

»Hesch schu ghert, was morge isch?«

Natürlich wusste sie längst, dass Kaltenbach für morgen die Bewirtung übernommen hatte. Diese Art der Einleitung kannte Kaltenbach gut. Sie bedeutete, dass Frau Kölblin keine Antwort erwartete, sondern etwas loswerden wollte.

»Der Abend in der Steinhalle? Das wird eine ganz große Sache!«