Das Lied der Wächter - Das Gesetz - Thomas Erle - E-Book

Das Lied der Wächter - Das Gesetz E-Book

Thomas Erle

4,4

Beschreibung

Nach vielen Irrwegen glaubt sich Felix endlich am Ziel seiner abenteuerlichen Reise - er hat seine Eltern gefunden, die vor 16 Jahren bei einer Atomkatastrophe verschwunden sind. Doch die Rätsel des Waldes lassen ihn nicht los und so begibt er sich noch einmal auf die Suche nach Antworten. Was er unterwegs erlebt, erschüttert ihn derart, dass er kurz davor ist aufzugeben. Aber ein unerwartetes Wiedersehen zwingt ihn weiter voran. An den Hängen des mystischen Schwarzwaldbergs kommt es schließlich zu einer schicksalhaften Entscheidung, die sein Leben für immer verändern wird …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 571

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (9 Bewertungen)
6
1
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



THOMAS ERLE

DAS LIED DER WÄCHTER – DAS GESETZ

ROMAN

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Das Lied der Wächter – Der Gesang (2019); Das Lied der Wächter –

Das Erwachen (2018); Mörderisches Freiburg (2018); Hochburg (2017); Höllsteig (2015); Freiburg und die Regio für Kenner (2015);

Blutkapelle (2014); Teufelskanzel (2013)

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2019 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © hfox / fotolia.com

Das Gedicht auf Seite 7 stammt aus: Rilke, Das Stundenbuch – Das Buch vom mönchischen Leben, 1899.

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6044-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Was bisher geschah:

Seit einem verheerenden Atomunfall am Oberrhein vor 16 Jahren gilt der Schwarzwald als verstrahlt und unbewohnbar. Nach der Totalevakuierung der Bevölkerung haben die Behörden die gesamte Region zur Sperrzone erklärt. Am Tag seines 16. Geburtstages erfährt Felix von der Frau, die er für seine Mutter hielt, dass seine Eltern an jenem verhängnisvollen Tag auf einer Bergtour unterwegs waren und seither als vermisst gelten. Er fühlt sich getäuscht, ist wütend und verzweifelt. Doch das Testament seines verstorbenen Onkels weckt die Hoffnung in ihm, dass seine Eltern noch leben könnten.

Felix beginnt seine abenteuerliche Suche. Es gelingt ihm, in die streng bewachte verbotene Zone vorzudringen, wo er erfährt, dass die Regierung seit Jahren ein falsches Spiel spielt. Denn die Gefahr, die in dem verstrahlten Gebiet lauert, ist so viel größer, als sich die Menschen vorstellen können.

Die Natur und die wenigen überlebenden Menschen haben sich auf geheimnisvolle Weise verändert. Nach einem umfassenden Stromausfall ist überall die elementarische Welt erwacht. Die Wege sind nicht sicher. Und immer wieder begegnet Felix der unheimlichen Kraft, die niemand erklären kann und die alles Leben bedroht. Die unverhoffte Begegnung mit Chiara, einer mysteriösen jungen Frau, führt ihn in eine Welt, die ihn fasziniert und gleichzeitig seinen Verstand und seine Vorstellungskraft auf eine harte Probe stellt.

Als es Felix nach etlichen Irrwegen und Herausforderungen gelingt, seine Eltern zu finden, ist seine Suche noch nicht zu Ende. Das Rätsel der geheimnisvollen Macht zwingt ihn, eine Entscheidung zu treffen, die sein Schicksal für immer verändern wird.

Gedicht

»Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge zieh’n.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

und ich kreise jahrtausendelang,

und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm

oder ein großer Gesang.«

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926), österreichischer Erzähler und Lyriker

7. Kapitel

 

Das Gestrüpp aus Stechpalmen, Efeu und Schlingpflanzen wurde immer undurchdringlicher. Am schlimmsten waren die Brombeeren, in deren stacheligen Ranken er sich immer wieder verfing.

Felix fluchte. Je mehr er versuchte, sich von den holzigen Dornen zu befreien, die sich in seiner Kleidung verhakt hatten, desto mehr steckte er fest. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Barriere zu überwinden, gab er es auf. Es war sinnlos, die eingeschlagene Richtung beibehalten zu wollen. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, sich seitwärts dorthin zurückzuschlagen, wo die Büsche weniger dicht standen. Etliche schmerzhafte Risse und blutende Kratzer später hatte er sich endlich aus den Fangarmen der Ranken befreit. Schwer atmend ließ er sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder. Der Schweiß lief ihm in Strömen herunter. Sein Hemd klebte auf seiner Haut.

Wenige Augenblicke später war Leo an seiner Seite. Mit einem kräftigen »Wuff!« versuchte sein vierbeiniger Gefährte, Felix aufzumuntern.

»Ja, ja. Du warst natürlich wieder einmal schlauer als ich«, brummte Felix. Leos Fell glänzte so wie jeden Tag. Er hatte offenbar von vorneherein darauf verzichtet, ihm in das Gestrüpp zu folgen. »Kannst du mir vielleicht auch sagen, wohin es weitergehen soll?«

Felix kletterte auf den moosbewachsenen Stamm und sah sich um, so gut es ging. Das unvorhergesehene Hindernis hatte seiner Orientierung einen weiteren Dämpfer versetzt. Von seinem Platz aus sah er erst jetzt, wie groß und ausladend die Hecke war. Dahinter erhob sich zu allen Seiten eine abweisende Wand aus dicht aneinanderstehenden Bäumen.

Er zog den Kompass aus der Tasche, den er von Carlo zum Abschied geschenkt bekommen hatte. Doch er merkte schnell, dass ihm auch die Himmelsrichtungen wenig nutzten, solange er nicht wusste, wo er war.

»Tja, alter Junge. Es sieht aus, als hätten wir uns verirrt.« Felix legte den Kompass zur Seite und streifte den Rucksack ab. Dann fasste er seinen Hund hinter dem Kopf und streichelte ihn an der Stelle, wo es ihm besonders gefiel. Leos Schwanz bewegte sich kaum merklich. Mit großen Augen sah er zu Felix empor. Leo schien seine Ratlosigkeit zu spüren. »Jetzt heißt es, genau zu überlegen.«

Dabei hatte alles so gut angefangen. Er hatte sich ausführlich mit Tobias und Rainer, den Söhnen der Nachbarn in Menzenschwand unterhalten. Sie konnten sich noch gut an den Weg über Bernau ins Wiesental erinnern, den sie nach mehreren vergeblichen Versuchen entdeckt hatten. Allerdings hatten sie ihm mehr als deutlich von einem neuerlichen Versuch abgeraten. »Die Spinne hat uns fast verrückt gemacht. Ständig waren die Grenzen in Bewegung. Dazu das unheimliche Singen. Wir waren froh, als wir endlich zu Hause waren!«

Felix hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen. Nichts konnte ihn von seinem Vorhaben abbringen. Die unheimliche Kraft, die Spinne, der Gesang, der seltsame Wegweiser. »Ich muss wissen, was dahintersteckt. Eher finde ich keine Ruhe«, hatte er zu seinen Eltern gesagt.

Doch war es das wirklich, was er wollte? Er hatte das Ziel erreicht, weswegen er im Frühjahr in Freiburg aufgebrochen war. Er hatte seine Eltern wiedergefunden. Einen wunderschönen Sommer hatte er zusammen mit ihnen und seinen beiden jüngeren Schwestern verbracht. Sie hatten sich viel erzählt und viel miteinander gelacht. Er hatte schwer gearbeitet, war kräftiger und ausdauernder geworden. Dennoch war kaum ein Tag vergangen, an dem er nicht an die seltsamen Erlebnisse denken musste, die er in den Monaten zuvor gehabt hatte. Er hatte gelernt, mit der unheimlichen Kraft umzugehen und ihre Warnzeichen rechtzeitig zu deuten. Die Fragen waren dennoch geblieben. Woher kam das alles? Wer waren die Uralten? Wo konnte er den Fischmenschen wiederfinden?

Felix goss ein wenig Wasser aus seiner Flasche in die kleine Schüssel aus dem Rucksack und stellte sie vor Leo auf den Waldboden. Sofort begann der Hund gierig zu schlabbern. Normalerweise musste er sich nicht darum kümmern, wie Leo sich versorgte. Doch seit sie am Tag zuvor aufgebrochen waren, waren sie erst ein einziges Mal an einer Quelle vorbeigekommen, die zudem nur wenig Wasser geführt hatte. Er schüttelte die Flasche, um zu hören, wie viel er noch hatte. Dann nahm er einen kleinen Schluck. Er musste sparsam sein.

Noch einmal nahm er den Kompass zur Hand. Er drehte die Windrose so, dass sich die Nordrichtung mit dem Zeiger deckte. Die Sonne stand schräg über ihm. Nach seiner Schätzung musste es später Nachmittag sein. Nach den Erzählungen von Rainer und Tobi hätte er keine drei Tage bis ins Wiesental gebraucht. Doch daran war nicht zu denken. Im Gegenteil. Seit er am Rande des Bernauer Hochtales angelangt war, wurde er den Eindruck nicht los, dass er sich mehr und mehr von der vorgesehenen Richtung entfernte. Es gab Felsabbrüche, die so steil waren, dass er keine Möglichkeit sah hinunterzuklettern und er gezwungen war, einen anderen Weg zu wählen. An manchen Stellen schlug sein Wegweiser unvermutet an und zwang ihn zurückzuweichen. Sogar die Natur schien ihm dies verstehen zu geben. Eine Fuchsmutter hatte ihn so feindselig angebleckt, dass sogar Leo respektvoll zurückgewichen war. Die riesige Brombeerhecke, der er gerade mit Mühe entronnen war, breitete sich ausgerechnet in die Richtung aus, die er sich vorgenommen hatte. Felix hatte schmerzhaft erleben müssen, dass es keinen Sinn machte, etwas mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Er hatte seine Lektionen gelernt – das Bild des Soldaten am Fuße des Kandel, der von einem Moment auf den anderen zu einer willenlosen Marionette geworden war, hatte sich ihm tief eingebrannt. Die Mächte, die ihn umgaben, waren unangreifbar. Er hatte es beim vergeblichen Aufstieg an dem Wasserfall ebenso erfahren müssen wie auf der Straße vom Hexental hoch nach Sankt Märgen, als Lena ihn in letzter Sekunde vor dem Sturz in die Anderwelt bewahrt hatte. Es war besser, auf die Signale zu hören. Wenn er es nüchtern betrachtete, deutete alles darauf hin, dass der Weg nach Westen in Richtung Wiesental in diesem Teil des Schwarzwaldes für ihn versperrt war.

»Ich fürchte, wir müssen etwas anderes versuchen«, meinte er zu Leo. »Wenn wir nicht durchkommen, werden wir eben außen herumgehen.« Felix packte Schüssel und Wasserflasche wieder ein, steckte den Kompass in die Tasche und schulterte seinen Rucksack. Den Wegweiser nahm er in die Hand und hielt ihn leicht ausgestreckt vor sich, so wie er es schon oft getan hatte. Felix lief die Hecke entlang und wandte sich dabei ein Stück in südliche Richtung. Sogleich hatte er das Gefühl, besser voranzukommen. Der Wald wurde lichter, der Bewuchs unter den Bäumen spärlicher. Am Fuße eines kleinen Abhangs, der dicht mit Heidelbeerbüschen bewachsen war, gelangte er plötzlich ins Freie. Der Anblick, der sich ihm bot, war überwältigend.

Er hatte den Eindruck, am Ufer eines violetten Meeres zu stehen. Das offene Gelände, das sich vor ihm auftat, war über und über mit blühenden Stauden bewachsen. Zwischen großen grünen Blättern reckten Tausende von Lupinen ihre lang gestreckten, dicht mit kleinen lila Blüten bewachsenen Stängel dem Himmel entgegen. Felix kannte die Pflanze. Die Nachbarn in Herdern hatten eine von ihnen in ihrem Vorgarten, die allerdings weiß blühte. Verschiedentlich hatte er unterwegs einzeln stehende Büsche gesehen. Doch hier schien die Heimat sämtlicher Lupinen der Welt zu sein. Felix blieb ein paar Minuten stehen und genoss das unerwartete Schauspiel. Die in der Nachmittagssonne leuchtenden Farben wirkten wie Balsam auf seiner Seele und erleichterten ihm die düsteren Gedanken. Die Luft war frisch und nicht mehr so stickig wie im Wald unter dem dichten Dach der Bäume. Am freien Himmel über ihm kreiste ein Bussard. Bis zum gegenüberliegenden Waldrand waren es etwa 200 Meter. Nach rechts hin stieg die Wiese sanft zu einer Kuppe an, über die Felix von seinem Platz aus nicht hinübersehen konnte. Dafür entdeckte er einen schmalen Streifen, der sich durch das Blütenmeer schlängelte.

»Leo, das sieht nach einer Straße aus! Wenn wir Glück haben, geht es jetzt endlich voran.« Der Hund schien Felix’ Aufregung zu spüren. Er sprang hin und her, blieb jedoch an seiner Seite.

Vorsichtig bahnte sich Felix einen Weg durch die violette Farbenpracht. Er ging langsam und achtete darauf, möglichst wenig Blätter und Blüten zu verletzen. Es schien ihm wie ein unerlaubtes Eindringen in ein Paradies, das seit Anbeginn der Zeiten unberührt war. Er hatte richtig vermutet. Bald darauf stand er am Rand einer Straße. Die vielen Winter hatten den Asphalt an mehreren Stellen aufgebrochen. Zusätzlich war im Lauf der Jahre Erde von der Wiese herangespült worden. Überall wuchs Gras, dazwischen hatten sich ein paar zu stattlicher Größe herangewachsene Birken- und Ahornschößlinge angesiedelt. Lupinen wuchsen hier nur wenige. Es sah fast so aus, als scheuten sie sich, aus der großen Gemeinschaft herauszutreten.

Felix wandte den Blick zurück, von wo er gekommen war. Die Sonne stand schon tief und schickte sich an, hinter den Baumwipfeln zu verschwinden.

»Eine Weile wird es noch hell sein. Wir sollten die Zeit nutzen.« Leo hob die Schnauze und lief ein Stück die Straße entlang. Dann drehte er sich um und blickte Felix erwartungsvoll entgegen.

»Mit dir brauche ich keinen Wegweiser«, lachte Felix, als er Leos Eifer sah. Trotzdem sah er bei jeder Gelegenheit auf das vertraute Rindenstück. Er wollte keine unliebsamen Überraschungen erleben. Alles sah gut aus. Die irisierenden Farben bewegten sich ruhig und leuchteten kräftig.

Die ehemalige Landstraße erinnerte bis auf die Asphaltreste und vereinzelt am Rande umherliegende Leitpfosten in keiner Weise mehr an die Hunderte von Autos, die früher einmal täglich hier vorüberfuhren. Große und kleine Hindernisse gab es überall. Seit Felix zum ersten Mal die Sperrzone in Waldkirch betreten hatte, hatte er gelernt, sich auch in unwegsamem Gelände geschickt und rasch fortzubewegen. Die Sonne war inzwischen hinter den Bäumen verschwunden, als Felix die Kuppe erreichte. Kurz bevor er zum oberen Rand kam, hielt er inne und ging mit langsamen Schritten weiter. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er an solchen Übergangsstellen besonders vorsichtig sein musste. Doch der Wegweiser zeigte keinerlei Auffälligkeiten. Dafür änderte sich das Gelände. Der Weg führte nun abwärts, das Gelände wurde steil, der Bewuchs ging deutlich zurück. Lupinen gab es hier keine mehr. Stattdessen ragten nackte Felsen hervor, zwischen denen seltsam verdrehte, niedrige Fichten wuchsen. Ein paar Haselbüsche waren dicht mit Früchten besetzt. Dazwischen leuchteten gelbe und rosa Blüten von Blumen, die Felix noch nie gesehen hatte. Wohin die Straße führte, konnte er nicht erkennen. Von allen Seiten drängte nun der Wald heran und verwehrte den Blick zum Horizont.

Der Weg schien gefahrlos, dennoch behielt Felix seinen langsamen Schritt bei. Der Kompass sagte ihm, dass er sich in Richtung Südwesten vorwärtsbewegte. Wenn er Glück hatte, stieß er im Tal unter sich auf einen Bach oder einen Fluss, an dem entlang er weiter in Richtung Rhein gehen konnte. Irgendwo würde er schon eine Möglichkeit finden, in das westlich von ihm gelegene Wiesental vorzudringen.

Als Felix bereits nicht mehr damit gerechnet hatte, meldete sich der Wegweiser in seiner Hand. Die Reaktion der Farben auf dem Rindenstück ähnelte der, die er bei seinem ersten Zusammentreffen mit einer der verstrahlten Stellen beobachtet hatte. Die ineinanderfließenden Linien änderten unvermutet ihre Richtung, es tauchten Farben auf, die seltsam künstlich wirkten. Das Licht blieb zwar hell, doch es begann, wie bei einer alten Neonröhre, unruhig zu flackern. Felix wollte kein Risiko eingehen und verließ die Straße. Im Scheitelpunkt der Kurve bog ein kaum wahrnehmbarer Pfad nach links ab. Er war fast vollständig mit Gräsern zugewuchert, dennoch war der Boden so festgetreten, dass Felix in diese Richtung weitergehen konnte. Erneut gelangte er in ein Waldstück, wo er schon bald die vertrauten Wanderzeichen entdeckte. Unter den Bäumen war der Bewuchs nicht ganz so stark, sodass Felix gut vorankam. Zu seinem Ärger musste er feststellen, dass es wieder leicht bergauf ging und er dadurch von seinem geplanten Weg abkam.

Gerade als er sich mit dem Gedanken vertraut machte, die Nacht im Wald zu verbringen, gelangte er ins Freie. Schon in der nächsten Kurve merkte Felix, dass er gar nicht so weit vom Weg abgekommen war, wie er gedacht hatte. Ein schmales Tal lag direkt unter ihm, am Fuße duckten sich graue Hausdächer eng aneinander. Die Abendschatten hatten bereits den Talgrund überzogen, dennoch sah Felix deutlich die Straße, die durch den Ort führte, dicht daneben ein Fluss.

Für einen Moment befürchtete Felix, dass er auf Umwegen wieder nach Sankt Blasien gekommen sei. Sofort kamen ihm Erinnerungen an den verrückten Orgelspieler, der ihn tagelang in den Gewölben des Domes gefangen gehalten hatte. Doch die große Kuppel war nirgends zu sehen, ebenso wenig wie die Einkaufspassage neben der Alb. Dies musste ein anderer Ort sein, den er nicht kannte. Konnte es sein, dass er durch eine Verkettung glücklicher Umstände das Wiesental erreicht hatte?

Felix folgte der Straße, die in ähnlichem Zustand war wie die, welche er vor einer Weile verlassen hatte. Sie führte in weiten Serpentinen nach unten.

Er war etwa eine Viertelstunde gegangen, als er in einer Kurve ein Schild entdeckte. Ein paar Farbreste zeigten, dass es ursprünglich einmal grün mit gelbem Rand gewesen sein musste. Die Buchstaben waren verblasst, aber noch gut erkennbar. Die Aufschrift machte ihn neugierig. »Der Gute Weg – Seminare, Workshops, energetisches Arbeiten«. Den Namen, der darunter stand, hatte der Rost unleserlich gemacht.

Inzwischen war es fast dunkel geworden. Die Vorstellung, die Nacht in dem Dorf unter ihm zu verbringen, bereitete Felix Unbehagen. Er erinnerte sich an Lena, seine einstige Gefährtin, die ihn ein paarmal gewarnt hatte. »Es ist nicht sicher«, hatte sie gesagt. »Du weißt nie, was dich erwartet.«

»Der Gute Weg«. Es klang so, als habe er gefunden, was er brauchte. Spontan entschloss sich Felix, an dieser Stelle die Straße zu verlassen. Ein schmaler Fahrweg führte in ein paar Kurven durch den Wald. Nach etwa einem halben Kilometer sah er hinter einer Biegung das Haus vor sich. Felix war überrascht. Bei dem Namen hatte er ein heimeliges altes Schwarzwaldhaus erwartet, in dem stressgeplagte zivilisationsmüde Großstädter während eines Event-Wochenendes die Illusion nährten, zurück zur Natur zu kommen und sich dabei selbst zu finden. Stattdessen war dem Gebäude auch noch nach Jahren des Leerstandes anzusehen, dass es einst modern und großzügig konzipiert war. Der Stil mit umlaufendem Balkon und herabgezogenem Dach folgte der Tradition. Im Gegensatz dazu erstreckte sich direkt davor eine großzügige Veranda, die von einer niedrigen Mauer umgeben war. Stühle, Tische und Liegesessel, die kreuz und quer durcheinanderlagen, deuteten darauf hin, dass sie rege genutzt worden waren. Die Fenster zu den Räumen in beiden Etagen waren großzügig dimensioniert, auf dem Dach entdeckte Felix mehrere Sonnenkollektoren. Schräg nach hinten versetzt stand ein weiteres, deutlich kleineres Gebäude mit einem großen Tor, das halb offen stand. Das Ganze war von Bäumen umrahmt, die einst ausgesucht und gepflanzt worden waren, um das besondere Ambiente der Anlage zu unterstreichen. Bäume, die Felix eher im Freiburger Stadtpark als im abgeschiedenen Hochschwarzwald vermutet hätte. Die Anlage, soweit Felix sie in der einsetzenden Dunkelheit überschauen konnte, klebte am Hang wie ein Schwalbennest. Nur wenige Meter vor der Veranda fiel das Gelände steil ins Tal ab, hinter dem Haus stieg der Hang schroff an und verlor sich nach oben in der dunklen Kulisse des Waldes.

Der hintere Teil der Veranda wurde durch den breiten Balkon nach oben abgeschirmt. Das schien Felix der ideale Ort zu sein, seine Schlafsachen auszubreiten. »Leo, es sieht so aus, als hätten wir heute Nacht ein Sterneresort zur Verfügung.« Er ging langsam auf das Haus zu. Seltsamerweise sprang Leo nicht, wie er es von ihm gewohnt war, neugierig vorne weg. Stattdessen hielt er sich an seiner Seite und witterte aufmerksam.

Felix zögerte. Die Zeit mit seinem Begleiter hatte ihn gelehrt, dass Leo ein sehr feines Gespür für alles Außergewöhnliche hatte. Auch wenn Felix’ Sinne nach den vielen Monaten unterwegs überaus geschärft waren, übertraf ihn Leo immer noch mühelos. Er wollte vorsichtig sein. Felix streckte die Hand mit dem Wegweiser aus und betrachtete sorgfältig das Farbenspiel auf seiner Handfläche. Außer einem leichten Flackern war nichts Auffälliges zu erkennen. Nichts, was Grund zur Besorgnis gewesen wäre.

Felix blieb stehen und lauschte. In den Baumwipfeln rauschte es leise. Ein zartes Ächzen klang aus den Zweigen und Ästen, im Unterholz knackte es kaum hörbar. Aus dem Wald tönte ein unterdrücktes Zwitschern, irgendwo hinter dem Haus gluckerte es leise. Die Stimmen des Waldes bei Einbruch der Nacht. So wie Felix sie inzwischen schon oft erlebt hatte. Er schüttelte unwillig den Kopf und gab sich einen Ruck. »Genug. Es wird schon schiefgehen.«

Die Veranda war mit Natursteinplatten ausgelegt, zur Hauswand hin gab es einen niedrigen Absatz aus Holz. Neben der Eingangstür lagen die Überreste eines Sofas, das vollkommen zerfressen war und bei der ersten Berührung zusammenfiel.

»Das wäre zu schön gewesen. Komm, wir kuscheln uns dort in die Ecke.« Felix breitete seine Decke aus und holte etwas zu Essen aus dem Rucksack. Seine Mutter hatte ihm unter anderem zwei runde flache Brote mitgegeben, dazu aß er eine Karotte und etwas Käse. Leo hatte sich inzwischen beruhigt und lag zusammengerollt auf dem von der Mittagssonne noch warmen Holz neben ihm. Er hatte sich wie immer längst selbst versorgt. Trotzdem freute er sich, als ihm Felix zwischendurch ein Stückchen zusteckte. Nachdem er fertig gegessen hatte, verstaute Felix alles wieder sorgfältig. Wie er es schon oft getan hatte, baute er sich aus dem Rucksack und ein paar Kleidungsstücken ein Kopfkissen; den einfachen Schlafsack, den ihm Lenas Mutter genäht hatte, zog er über sich. Die Luft war immer noch angenehm warm. Nach wenigen Minuten fielen ihm die Augen zu.

*

Es war stockdunkel, als Felix aufwachte. Der Himmel war mit Wolken bedeckt, in Richtung Osten gab es keinerlei Anzeichen eines beginnenden Tages. Felix drehte sich zur Seite und versuchte, seinen Traum wiederzufinden. Er war mit seinen Klassenkameraden mit dem Fahrrad zum Opfinger Baggersee gefahren, auch Birte war dabei. Seltsamerweise sprach niemand mit ihm. Die anderen sahen durch ihn hindurch, als wäre er nicht da. Als Felix auf seine Hände sah, waren sie mit einer feinen Rinde überzogen, auf deren Oberfläche dünne Farblinien entlangliefen und ein schwaches phosphoreszierendes Licht ausstrahlten. Er wollte es Birte zeigen, doch auch sie schien ihn nicht zu bemerken, selbst als er sie an der Schulter berührte. Seine Hände gingen durch sie hindurch wie durch Nebel. Jetzt bemerkte Felix, dass auch die anderen nicht mehr waren, als flüchtige Schatten, auf deren Oberfläche Bilder schimmerten, Bilder von Menschen, die er einst gekannt hatte. Das spielerische Geplapper, das Necken und Scherzen vermischte sich und wurde zu einem leisen Rauschen, zum Umherfliegen brauner Blätter im Herbstwind. Das Flüstern wurde zu Stöhnen, das Stöhnen zu Wehklagen. Alle um ihn herum waren tot, und sie wussten es. Jetzt erst schienen sie Felix wahrzunehmen. Die weißen Schatten umringten ihn, kamen auf ihn zu, streckten sich aus, versuchten, ihn zu erreichen. Um ihn wurde es kalt. Sein Herzschlag verlangsamte sich, seine Lunge wurde eng.

Felix war starr vor Schreck. »Ich … bin … nicht … tot!« Seine Stimme war nicht mehr als ein müdes Krächzen, jede Silbe verlangte von ihm eine enorme Willensanstrengung. Es half nichts. Immer näher kamen die Gestalten, umhüllten ihn, saugten alle Kraft aus ihm heraus, den Rest Leben, den er noch in sich spürte …

»Nein!«, schrie er so laut er konnte. Gleichzeitig fuhr er hoch. Leo zuckte erschrocken zusammen und knurrte. Felix atmete schwer, seine Hände zitterten. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen.

Er stand auf. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er hatte das Gefühl, dass ein Stück seines Traumbildes zu ihm herüberreichte. Das Haus hinter ihm kam ihm mit einem Mal vor wie ein riesiges, gefräßiges Ungeheuer, das im nächsten Moment über ihm zusammenstürzen würde. Rasch suchte er seine Sachen zusammen und stopfte alles in seinen Rucksack. Er musste weg von hier, so schnell es ging.

Hinter den Wipfeln der Bäume schimmerte es hell. Felix schätzte, dass die Sonne in einer Stunde aufsteigen würde. Doch so lange wollte er nicht warten. Er trat an den Rand der Mauer, die die große Terrasse nach vorne begrenzte, und sah hinunter. Das Tal lag im Dunkel, über den Dächern hatte sich heller Nebelschleier festgesetzt. Im Wald waren die ersten Vögel zu hören.

»Komm, Leo, wir gehen. Je schneller wir von hier wegkommen, desto besser.« Wie schon bei ihrer Ankunft gestern Abend reagierte der Hund merkwürdig. Dieses Mal schien er Felix etwas zeigen zu wollen. Er sprang in die Richtung, wo Felix die exotischen Bäume gesehen hatte, kam zurück, knurrte und winselte leise. Dann wandte er sich um und sprang erneut davon.

Felix wurde neugierig und folgte ihm. Vielleicht hatte Leo einen Abstieg entdeckt, der von dem Haus direkt hinunter in das Dorf führen würde. Seine Augen hatten sich an das Schummerlicht gewöhnt, sodass er zumindest erahnen konnte, wie es einmal ausgesehen haben musste. Anscheinend hatten die Besitzer hinter dem Haus eine Art Park angelegt. Ein Kiesweg führte unter den Bäumen entlang zu einem kleinen Rondell, in dessen Mitte eine Skulptur stand. Was sie darstellte, konnte Felix nicht erkennen. Dafür sah er, dass in unregelmäßigen Abständen Bänke an der Seite standen. Überall wucherten Rosenhecken, deren Duft sich langsam ausbreitete. Dazwischen lagen mehrere Hügelbeete, die dicht mit Farn überwuchert waren. Felix ging an der Skulptur vorbei und folgte dem Weg, der zu seiner Enttäuschung nach etwa 20 Metern abbrach. Auch die beiden Abzweigungen führten ins Nichts. »Wir werden keinen Weg finden, Leo. Du hast dich getäuscht. Wir gehen zurück zur Straße.«

Doch Leo folgte nicht. Es sah so aus, als habe er zwischen den Hügeln etwas entdeckt. Er scharrte mit den Pfoten zwischen den Farnwedeln im Boden, dazwischen knurrte er und stieß ein leises Winseln aus.

»Du suchst dir wohl dein Frühstück? Mäuse hat es hier sicher genug.« Felix wollte sich eben abwenden, als er auf dem Boden ein Brett liegen sah, auf dem einige Buchstaben zu erkennen waren. Er hob es auf und hielt es so, dass er es lesen konnte. »Klaus, 32 Jahre.« Noch ehe er darüber nachdenken konnte, entdeckte er zwischen den Farnwedeln ein zweites Schild. Er wischte mit der Hand darüber, um besser lesen zu können. »Margarethe, 53 Jahre.« Leo hatte Felix’ Aufmerksamkeit bemerkt und schleppte nun seinerseits ein Stück Holz heran. Felix nahm ihm das Brettchen aus dem Maul. »Hanspeter, 48 Jahre.«

Je heller es wurde, desto mehr konnte Felix erkennen. Überall zwischen den Hügeln lagen große und kleine Bretter, manche waren in den Boden gesteckt, andere zu einem groben Kreuz zusammengefügt. Überall las Felix Namen. Sein Herz schlug schneller. Eine Ahnung stieg in ihm auf, die so ungeheuerlich war, dass er glaubte, wieder in seinen Traum zurückgefallen zu sein. Doch je mehr er unter den Bäumen umherlief, desto stärker wurde die Gewissheit. Dies waren keine Hügelbeete. Dies war ein Friedhof.

Noch während er mit offenem Mund das Gräberfeld betrachtete, spürte er, wie es sich um ihn herum zu regen begann. Die üppigen Farnwedel bewegten sich leise. Ein Flüstern hob an, aus der Tiefe tönte dumpfes Gemurmel. Wie zuvor in seinem Traum spürte Felix, wie ihn seltsame Wesen umringten, wie gestaltlose Finger nach ihm griffen. Doch dieses Mal reagierte er sofort. Mit einem Satz sprang er los, lief über den Pfad so schnell er konnte zurück zu der Veranda. Leo folgte ihm in großen Sprüngen. Er verschnaufte kurz, dann wandte er sich zu der Straße. Aber etwas hielt ihn zurück. Das unheimliche Gefühl war so rasch verschwunden, wie es gekommen war. Felix sah sich um. Es war inzwischen so hell geworden, dass das Haus und das Gelände gut einzusehen waren. In spätestens einer Stunde würden die Strahlen der aufgehenden Sonne die Sonnenkollektoren auf dem Dach zum Glänzen bringen. Die Bäume verbargen das Gräberfeld, alles sah friedlich aus. Was war das? Hatten ihm seine Nerven einen Streich gespielt? Oder war er inzwischen derart sensibel geworden, dass die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit ins Schwimmen geriet? Sein Blick fiel auf das Schild, das er als Erstes entdeckt hatte und das er immer noch in seiner Hand hielt. Klaus. Ein junger Mann, fast doppelt so alt wie er. Ein Schild mit seinem Namen. Viele Schilder. Was hatte das zu bedeuten? Felix atmete ein paarmal tief durch. Vielleicht bedeutete all das etwas völlig anderes. Einige der Namen klangen schweizerisch. Vielleicht hatten Klaus, Margarete, Hanspeter, Büdi und Christina den »Guten Weg« mit einer gehörigen finanziellen Spende unterstützt und dafür einen für jeden Besucher sichtbaren äußeren Dank erhalten.

Felix war unschlüssig. Die Bedrohung war verschwunden, doch das seltsame Gefühl klang in ihm nach. Wie so oft erwachte seine Neugier. Vielleicht fand er in dem Haus etwas, was ihm seine Fragen beantwortete. Er ließ den Rucksack am Rande der Veranda stehen, dann nahm er den Wegweiser und ging langsam die Front der Fenster ab.

Die Haupteingangstür war verschlossen. Sämtliche Fensterscheiben waren so beschlagen und milchig, dass er nicht nach innen schauen konnte. Endlich fand er eine Nebentür, die ein altes Schloss hatte und die er mit etwas Kraft aufdrücken konnte. Er fand sich in einem leeren Flur wieder. Durch ein paar Oberlichter an der linken Wand fiel spärliches Licht herein, nach rechts führten zwei Türen weiter ins Innere. Felix drückte bei der ersten die Klinke herunter, doch sie war abgeschlossen. Die zweite stand angelehnt.

Inzwischen war es hell genug, sodass Felix sich ohne Probleme zurechtfand. Die Zimmer im Erdgeschoss erinnerten an eine Jugendherberge. Es gab mehrere Abstellräume, mehrere Duschen sowie eine Küche. In der Mitte, direkt hinter der Haupteingangstür, war eine Art kleiner Empfangssaal mit mehreren Sesseln, Bänken und Blumenkübeln. Alles war mit einer dicken Staubschicht überzogen, dazwischen sah Felix Abdrücke und Spuren wie von Mäusen oder anderen kleinen Tieren. Nichts Auffälliges. Eine gut erhaltene Holztreppe führte hinter dem Empfang nach oben. Dort sah es etwas anders aus. Hinter dem Balkon, den Felix von unten gesehen hatte, führte ein langer Flur um das halbe Haus herum. Von dort gelangte man in Wohn- und Schlafräume. Jedes Zimmer hatte ein Waschbecken, Betten, Stühle, Schränke, ein paar Regale mit Büchern. Alles war schlicht gehalten und sah so aus, als sei es erst vor Kurzem verlassen worden.

Je weiter er vordrang, desto mehr machte sich in Felix Enttäuschung breit. Weder fand er etwas, was für ihn nützlich gewesen wäre, noch deutete irgendetwas darauf hin, dass dieses Haus etwas Besonderes gewesen war. Eine Begegnungsstätte, in der Menschen zusammenkamen, wo Vorträge und Seminare gehalten wurden. Vielleicht sogar eine Art Sanatorium für Kurgäste.

Er wollte eben zur Treppe zurückgehen, als er an eine Tür kam, die im Gegensatz zu den übrigen abgeschlossen war. Felix rüttelte an der Klinke, doch es regte sich nichts. Leo schnüffelte aufgeregt an der Ritze am Türrahmen, dann bellte er mehrere Male. Felix überlegte, ob er es mit Gewalt versuchen sollte. Aber die Tür sah äußerst stabil aus, ebenso das Sicherheitsschloss. Er sah sich um, und ihm fiel auf, dass der Flur genau an dieser Stelle einen Knick machte und um das abgeschlossene Zimmer herumlief, sodass die Fenster dieses Raumes nach außen zeigen mussten. Rasch hatte Felix den Ausgang zum Balkon gefunden. Er hatte richtig vermutet. Das Zimmer ging tatsächlich direkt auf den Balkon hinaus. Zu seiner Überraschung war die Balkontür nicht abgeschlossen. Vorsichtig drückte Felix sie nach innen auf. Er war auf vieles gefasst. Doch nicht auf das, was er jetzt sah.

Der Raum war leer bis auf ein Bett. Es war an die hintere Wand gerückt und stand so, dass es mit dem Fußende zum Balkon zeigte. Es war mit einem Laken bezogen, darüber lagen mehrere Decken. Auf dem Boden daneben lagen mehrere Mineralwasserflaschen, die allesamt leer waren. Die Gestalt auf der Matratze hatte den Oberkörper leicht aufgerichtet, der Kopf war zur Seite geneigt. Das Gesicht sah aus wie das einer ägyptischen Mumie. Die Augen waren geschlossen, die Wangen eingefallen. Der Kopf wurde umrahmt von einer Fülle langer brauner Haare. Eine Frau. Unter den Resten einer bunten Jacke erkannte Felix das, was übrig geblieben war. Graue, pergamentartige Haut spannte sich über dem Skelett. Schultern, Arme und Hände waren deutlich zu erkennen. Die Tote war so gut erhalten, dass er fast erwartete, dass sie sich im nächsten Moment bewegen würde. Felix schwankte zwischen Furcht und Neugier. Er trat näher heran und berührte den Arm. Die Haut war trocken wie Pappe, seine Fingerspitzen hinterließen keinerlei Abdruck.

Felix erinnerte sich an den schrecklichen Anblick der vielen Toten in den Eisenbahnwaggons am Bahnhof in Bärental. Dort war von den Gesichtern nichts mehr zu erkennen gewesen, nach 16 Jahren hatte der Zerfall ganze Arbeit geleistet. Hier war es anders. Sollte es möglich sein, dass die Frau erst vor Kurzem gestorben war?

Langsam ging Felix um das Bett herum. Beim Versuch, die oberste Decke ein Stück zurückzuschlagen, fiel etwas zu Boden. Sofort war Leo zur Stelle, doch Felix hielt ihn zurück. Er bückte sich und hob das Buch auf, das der Toten aus den Händen geglitten war. Es hatte keinen Umschlag, dafür einen festen Einband. Es war etwas größer als das Heft, das Anna ihm mitgegeben hatte und erinnerte Felix an ein Notizbuch. Er trat nahe ans Fenster und schlug die erste Seite auf.

»Die letzte Welt.« Felix las den Titel, der in großen Druckbuchstaben geschrieben worden war. »Aufgezeichnet von Regula Bernhardt.« Darunter stand kaum leserlich, so als sei es von einer alten Frau mühsam und zittrig hinzugefügt worden, »Am Ende aller Tage.« Dazu ein paar Worte, die Felix nur schwer entziffern konnte. Der Name eines Ortes? Eine Adresse vielleicht? Vorsichtig blätterte er die nächste Seite um. Vor ihm reihten sich in sorgfältiger Schreibschrift Wort an Wort, Satz an Satz. Die ganze Seite war eng beschrieben, ebenso die nächste und alle folgenden. Felix ließ die Seiten durch seine Finger gleiten. Etwa nach der Hälfte des Buches brachen die Aufzeichnungen plötzlich ab. Der Rest des Heftes war leer. Am liebsten hätte Felix sofort angefangen zu lesen. Doch es schien ihm unpassend, an diesem Ort neben dem Totenbett länger zu verweilen als nötig. Er zog die Decke über der Frau so weit nach oben, wie es ging. Ein Tuch, das an der Seite zu Boden gefallen war, breitete er sorgsam über den Kopf. Mit einem letzten Blick verabschiedete er sich, trat hinaus auf den Balkon und zog die Tür hinter sich zu. Dann ging er rasch denselben Weg nach draußen zurück, den er gekommen war.

Im Osten wurde es jetzt hell. Zwar war die Sonne noch nicht zu sehen, doch die Spitzen der Tannen und Fichten leuchteten bereits golden, der neue Tag schickte die ersten hellen Strahlen über die Terrasse. Hinter dem Haus erhob sich das Morgenkonzert der Waldvögel. Felix überlegte. Natürlich wollte er unbedingt wissen, was in dem Heft stand. Vielleicht fand er nicht nur die Erklärung für die seltsamen mit Namen beschrifteten Bretter, sondern Antworten auf die Geheimnisse, die ihn seit Wochen beschäftigten. Dennoch war ihm dieser Ort nicht geheuer. Sein inneres Auge nahm deutlich den düsteren, unheilvollen Schatten wahr, der über dem Ganzen lag.

Er trat an den Rand des Abhangs vor dem Haus und schaute nach unten. Das Dorf lag im Schatten, dennoch konnte er deutlich mehr Einzelheiten erkennen. Die Häuser fügten sich in ein schmales Tal, das sich vor seinen Augen nach Süden fortsetzte. Auf derselben Höhe wie »Der Gute Weg« sah er auf der gegenüberliegenden Talseite ein Gebäude, das von seinen Ausmaßen her überhaupt nicht an diesen Ort zu passen schien. Vielleicht ein Hotel? Ein Kurhaus? Deutlich sah er den Fluss. Er würde ihm nur zu folgen brauchen, um irgendwann einmal an den Rhein zu kommen, an das Ende der Sperrzone.

Leo zeigte Felix auf seine Weise, was er für die beste Entscheidung hielt. Immer wieder sprang er in Richtung der Zufahrtsstraße, bellte, rannte zu Felix zurück und stieß ihn sanft, aber deutlich mit der Schnauze ans Bein.

»Du willst los, nicht wahr?« Unschlüssig hielt er das Heft in der Hand. Was, wenn er darin etwas fand, was ihn dazu zwang hierzubleiben? Gab es ein verstecktes Geheimnis, eine Botschaft, die es zu entschlüsseln galt?

Er beschloss, zumindest die ersten Seiten gleich zu lesen. Die Terrassenmauer bildete an einer Stelle eine Ausbuchtung, in die eine steinerne Bank eingemauert war. Felix stellte den Rucksack ab, legte seine Decke auf den Sitz und ließ sich nieder. Leo bellte ein paarmal, dann trollte er sich und begann, das Gelände zu erkunden.

Schon nach den ersten Sätzen wurde deutlich, dass sie von der Frau stammen mussten, die auf dem Bett gelegen hatte.

»Ich habe mich entschlossen aufzuschreiben, was geschieht. Bevor alles vorbei ist. Ich werde das Buch versteckt halten. Man kann niemandem mehr trauen. Mit Patrick kann ich noch reden, wenn er seine lichten Momente hat. Er ist der Einzige, bei dem das Menschliche noch lebendig ist. Aber er wird mit jedem Tag schwächer. Er sagt, er will nicht mehr. Ein schlechtes Zeichen.

Seit 21 Tagen sitzen wir hier fest. Wir waren 18, dazu die Seminarleitung, Jochen und Bettina. Die Hauswirte waren zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Ich habe sie nicht wiedergesehen.

Ferdinand, der Briefträger, war der Erste, den es erwischte. Er hatte sich auf ein Gläschen überreden lassen, wie es hier üblich ist. Er blieb zu lange. Er fuhr mit seinem Wagen einfach geradeaus, über den Rand der Straße. Ich höre das Geräusch heute noch, als er unten aufprallte, dumpf, metallen, splitternd. Klaus und Mocki, der Spaßvogel, sprangen zuerst auf und rannten ihm nach, wir sahen von Weitem, was mit ihnen geschah. Es sah aus, als seien sie mitten in der Bewegung zu Eis erstarrt. Fast komisch. Für einen Moment schwankten wir zwischen Schrecken und Lachen. Dann kam die Angst. Die Ratlosigkeit. Das Chaos. Die Resignation.

Ferdinand, Klaus und Mocki waren die Einzigen, die wir nicht begraben konnten. Und natürlich diejenigen, die von sich aus das Ende suchten. Später. Als der Tod erstrebenswerter wurde als das Leben.«

Felix hielt inne. Die Worte tanzten vor seinen Augen. Eine Katastrophe. Und er wurde nach all den Jahren zum Zeuge.

»Am schlimmsten war die Ungewissheit. Telefon und Handys fielen innerhalb weniger Minuten aus. In den ersten Stunden funktionierte noch das Radio. Die Meldungen überschlugen sich. Dann war Stille.

Am selben Nachmittag sahen wir, wie sich unten in der Stadt die Menschen sammelten. Busse, Autos, ein Militärlaster. Fahrräder. Alle folgten der Straße nach Wehr. Wir versuchten, uns bemerkbar zu machen, wir schrien im Chor, so laut wir konnten, wir schwenkten Bettlaken und schlugen auf alles ein, was irgendwie Lärm verursachte. Es half nichts.

Ein paar von uns kletterten den Hang hinunter, andere versuchten es auf dem Zufahrtsweg. Alle hatten gesehen, was mit Ferdinand und den beiden Männern geschehen war, und waren deshalb vorsichtig. Nicht vorsichtig genug. Obwohl es ihnen gelang umzukehren, waren sie nicht dieselben wie zuvor.

In den nächsten Tagen versuchten wir herauszubekommen, was passiert war. Die letzten Meldungen, die wir über das Radio empfangen konnten, ehe es ausfiel, sprachen von einer Reaktorkatastrophe am Oberrhein. Der Schwarzwald drohte, radioaktiv verseucht zu werden, die Bevölkerung wurde evakuiert.

Jeder hatte Angst, dass es für uns zu spät sein konnte, wenn wir nicht sofort von hier verschwinden würden. Doch wir konnten nichts tun. Eine Weile hatten wir die Hoffnung, dass ein Suchhubschrauber auftauchen würde. Spätestens nach einer Woche wurde es auch dem Letzten klar, dass man uns vergessen hatte.«

Felix spürte, wie in seinem Hals ein Kloß aufstieg. Die Verzweiflung der Menschen musste unglaublich gewesen sein.

Und er spürte etwas anderes. Er hatte sich oft mit seinen Eltern darüber unterhalten, wie sie die ersten Tage und Wochen nach dem Auftreten der unheimlichen Kraft erlebt hatten. Das, was er hier las, war eindeutig. Die Hausgemeinschaft war im Netz der Spinne gefangen gewesen.

Felix wurde unruhig. Offenbar hatte die Spinne inzwischen den Ring um das Haus gelöst, sonst wäre er nicht hierhergekommen. Er hatte keine Anzeichen von Gefahr bemerkt, weder über den Wegweiser noch von Leos Witterung. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Was war, wenn die Spinne zurückkam? Es konnte schnell gehen. Schneller, als er reagieren konnte. Felix beschloss, keine Zeit zu verlieren. Er steckte das Heft in seine Jacke, stopfte die Decke unter den Rucksackdeckel und lief los. Sofort jagte Leo neben ihm her und eilte mit großen Sprüngen auf die Zufahrtsstraße. Noch einmal drehte sich Felix um. Die Sonnenstrahlen krochen nun rasch von der Terrasse über die Vorderseite des Hauses nach oben. Die Fenster hinter dem Balkon leuchteten auf. Deutlich sah er das Zimmer, in dem er die Frau gefunden hatte. Bis zuletzt hatte sie diesen Anblick vor sich gehabt. Das Tal, die aufgehende Sonne. Bis zum Ende.

Er drehte sich um und hastete den Weg unter den Bäumen entlang. Kaum zwei Minuten später hatte er die Kehre der Straße erreicht. Leo sprang bereits ein Stück abwärts voraus. Auch wenn dies normalerweise darauf hindeutete, dass keine Gefahr drohte, blieb Felix vorsichtig. Immer wieder schaute er auf den Wegweiser, immer wieder blieb er stehen, ob er nicht die Anzeichen des Gesanges hörte, den er so fürchtete. Doch alles ging gut, nichts geschah. Ein paar Kurven weiter kam er direkt an die große Straße, die er von oben gesehen hatte. An der Kreuzung gab es ein Café mit einer Terrasse und dem vielversprechenden Hinweisschild »Durchgehend warme Küche – Bikers Welcome«. Darüber hingen die kläglichen Reste einer Markise, Tische und Stühle standen und lagen überall verstreut. Mehr noch interessierten Felix die Straßenschilder. Die Straße, die er heruntergekommen war, führte nach Sankt Blasien. Rechts ging es nach Todtnau und Freiburg, links das Tal abwärts. Nach Wehr waren es 17 Kilometer, nach Bad Säckingen 30. An der Abzweigung in den Ort hinein sah er endlich, wo er sich befand. Todtmoos, Landkreis Waldshut. Felix versuchte sich zu erinnern, was er bei seinen Gesprächen in Menzenschwand gehört hatte. Von Todtnau war die Rede gewesen, ein Ort, durch den Tobi und Rainer gekommen waren. Dazu Todtnauberg, ein weiteres Dorf in der Nähe. Aber Todtmoos? Seine Richtung war klar, dennoch würde er sich sicherer fühlen, wenn er sich besser orientieren könnte. Eine Karte. Er brauchte eine Übersichtskarte.

Felix überquerte die Landstraße und ging weiter in Richtung Dorfmitte. Die beiden Supermärkte und die Tankstelle am Ortseingang ließ er unbeachtet. Er wusste, dass nach 16 Jahren dort nichts Brauchbares mehr zu finden sein würde. Außerdem hatte er in seinem Rucksack das Nötigste dabei. Das Essen, das er von seiner Mutter mitbekommen hatte, würde bei gutem Einteilen noch mindestens vier Tage reichen. Was er suchte, war ein typischer Souvenirladen. Die ehemalige Fußgängerzone musste früher einmal sehr hübsch gewesen sein. Links und rechts einer gepflasterten Straße reihten sich Geschäfte und Läden, die allesamt dazu gedient hatten, Touristen ebenso wie Tagesbesuchern ein Gefühl zu vermitteln, hier ein Stück Schwarzwaldromantik mit nach Hause nehmen zu können. Oder zumindest das, was sie dafür hielten.

Durch manche der Schaufenster konnte Felix ins Innere sehen. Es gab Holzschnitzereien in allen Größen und Geschmacksrichtungen, Trachtenpüppchen, Teddybären, Honiggläser und Kirschwasser ebenso wie Schafsfelle, Wanderstiefel, Walkingstöcke und Bollenhüte für Kinder. Für Schwarzwälder Thaimassage wurde ebenso geworben wie für Tagesbusreisen nach Basel, zum Rheinfall nach Schaffhausen oder auf die Insel Mainau an den Bodensee. Zwischen den Läden gab es Cafés, Eisdielen, ein Hotelrestaurant und zwei Pizzerias. Das alles erinnerte Felix an Hinterzarten und Sankt Blasien. Die Schwarzwälder hatten das Beste aus dem gemacht, was ihnen möglich war.

Schon im zweiten Souvenirladen fand Felix, was er suchte. Eine große Auswahl an Wanderkarten. Er entschied sich für eine Karte, die von Todtmoos bis ins Wiesental und im Westen bis zum Belchen reichte. Wichtig war, dass die Flüsse und Bäche möglichst genau eingezeichnet waren. Zurück auf der Straße fand er eine Bank, auf der er die Karte ausbreitete. Der Fluss, der von hier aus zum Rhein floss, war die Wehra. Er konnte ihr bis Wehr folgen und von dort aus versuchen, den Bergrücken zu umgehen, um über Schopfheim und Zell ins Wiesental zu gelangen. Er faltete die Karte sorgfältig zusammen und steckte sie in eine der Außentaschen des Rucksacks. Mehr brauchte er nicht. Wenn alles gut ging, konnte er bis zum Abend in der Nähe des Rheins sein.

Er ging weiter die Straße hinunter und hatte schon bald das Ortsende erreicht. Rechts über sich am Hang sah er jetzt deutlich das große Gebäude, das er heute Morgen von Weitem gesehen hatte. Eine Straße bog von hier aus ab, die Schilder wiesen darauf hin, dass dort oben eine Kurklinik war. Felix wandte sich dagegen nach links. Nach wenigen Schritten erreichte er eine Brücke. Am Rand der Wiese dahinter führte die Straße nach Süden. Die 17 Kilometer bis Wehr waren ein gutes Stück zu gehen. Aber besser ein Umweg, als wieder ziellos durch den Wald zu irren. Noch einmal drehte Felix sich um. Über dem Dorf sah er deutlich das Haus, bei dem er die Nacht verbracht hatte. Von Weitem sah es aus, als ob das Gebäude auf einem Felssporn über das Tal ragte. Felix schluckte. Es musste eine schreckliche Situation gewesen sein. Die Menschen standen auf der Terrasse und sahen alles zum Greifen nah – das Dorf, die Straßen, die Geschäfte. Märkte mit Lebensmitteln. Und doch hatte keiner von ihnen die Möglichkeit, die kurze Distanz zu überwinden. Felix wandte sich ab und ging los. Er konnte nichts tun. Das Haus zum »Guten Weg« würde für immer Friedhof bleiben. In ein paar Jahren würden die Gräber endgültig dem Waldboden gleich sein. Und die tote Frau in ihrem Bett, die bis zum Ende alles aufgezeichnet hatte …

Die verfluchte Spinne! Die unsichtbare Kraft hatte sich um das Haus gelegt wie eine gläserne Glocke. Niemand hatte eine Chance. Eine Insel der Todgeweihten. Felix spürte, wie der Zorn in ihm hochkam.

Warum?

Felix kam allmählich zu Bewusstsein, dass er sich diese Frage noch nie gestellt hatte. Was wusste er eigentlich? Seit dem Reaktorunfall hatte sich der Schwarzwald verändert. Es war, als sei etwas wach geworden. Etwas, was von da an die Herrschaft des Menschen abgelöst hatte. Das stärker war als Elektrizität und Radioaktivität. Etwas, was unberechenbar war. Aber war es das wirklich? Konnte es sein, dass hinter all dem eine Absicht steckte? Wer war der wirkliche Herrscher? Felix hätte viel dafür gegeben, endlich eine Erklärung zu finden. All die Menschen, die er bisher getroffen hatte, hatten ihm nicht wirklich weiterhelfen können. Sie hatten sich eingerichtet, sie hatten gelernt, mit den Auswirkungen und Gefahren umzugehen. Doch darüber hinaus gab es nur Vermutungen. Chiara hatte ihm ein Tor geöffnet. Doch die Bilder waren vage geblieben. Der Fischmensch hatte sich ihm entzogen. Hatte es überhaupt einen Sinn, die Antworten in der Anderwelt zu finden? Was, wenn die Uralten den Kontakt mit ihm und anderen Menschen überhaupt nicht wollten?

Am Ortsende bog eine Landstraße nach links ab. Herrischried, Görwihl, Rickenbach. Namen, die Felix noch nie gehört hatte. Wie es in diesen Dörfern wohl aussah? Dörfer, die weiter als Todtmoos entfernt waren von der Außenwelt, von Rettungstrupps, die damals unterwegs gewesen waren. An der Einmündung zur Hauptstraße waren im Lauf der Jahre große Mengen Erde und Geröll herabgespült worden und hatten sich ungehindert ausgebreitet. Felix musste sich durch ein wild wucherndes Gestrüpp kämpfen, ehe auf der anderen Seite der Weg wieder auftauchte. Direkt dahinter verengte sich das Tal. Straße und Fluss rückten aneinander, die Hänge wurden steiler, der Wald dahinter schwarz und abweisend. Felix kam nur langsam voran. Die Straße erinnerte ihn an das Stück bei Wildgutach, an dessen Ende er und Lena zur Hexenlochmühle gekommen waren. Sie war schmal und übersät mit Steinen, Felsbrocken und Geröll. Mehrere heruntergestürzte Baumstämme zwangen ihn zum Klettern oder zu Umwegen. Die meiste Zeit orientierte sich Felix an Leo. Nach dem düsteren Halt im Seminarhaus blühte er sichtbar wieder auf. Unaufhörlich zog ihn seine Nase vorwärts, vorbei an allen Hindernissen. Alle zwei, drei Kilometer kamen sie an einem Stück Wiese vorbei, dessen ehemalige Besitzer den wenigen Raum in einer Flussschlinge als karge Weide genutzt hatten. Vor einem ehemaligen Sägewerk lagen Bretter, sorgfältig gestapelt. Ein kaum mehr entzifferbares Brauereischild an einem völlig zerfallenen Holzhaus wies darauf hin, dass es hier einmal ein Gasthaus gegeben hatte. Eine winzige Kapelle mit zerschlagenen Scheiben und heruntergebrochenem Putz stand auf einer Anhöhe. Der Schwarzwald hatte es den Menschen nie einfach gemacht. Dennoch hatten die Siedler zu allen Zeiten versucht, ein Auskommen zu finden.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel und sandte ihre Strahlen bis hinunter in den Talgrund. Die wenigen Gräser und Stauden, die entlang der Wehra wuchsen, hatten ihre Blüten geöffnet. Bienen und Insekten schwirrten umher. Alle, die hier lebten, mussten die kurze Zeit des Jahres nutzen, die ihnen blieb, um ihren Fortbestand zu sichern. In unregelmäßigen Abständen hatten die Straßenbauer einen kleinen Teil des Waldabhanges freigeräumt oder Nischen in den Fels geschlagen, damit Fahrzeuge einander ausweichen konnten. An einem schattigen Stück entschloss Felix sich, eine Rast einzulegen. Das große »H« einer Bushaltestelle, eine verwitterte Schautafel und ein umgestürzter Pfahl mit etlichen Blechschildern erinnerten daran, dass dies früher wohl ein Wanderparkplatz gewesen war. Nach einigem Suchen fand er die Stelle auf seiner Karte. Hier hatte einst ein Wanderweg die Straße gekreuzt. Felix sah sich um. Wenn es jemals einen Pfad in den Wald hinein gegeben hatte, so war er längst verschwunden. Doch wichtiger war, dass er bereits gut die Hälfte des Weges geschafft hatte. Felix aß eine Scheibe Brot, füllte seine Wasserflasche auf und machte sich wieder auf den Weg. Er wollte das schöne Wetter nutzen und nicht zu lange verweilen. Schließlich hatte ihn die Erfahrung gelehrt, dass ihm unterwegs alles mögliche Unvorhergesehene passieren konnte.

Er mochte etwa eine weitere halbe Stunde gegangen sein, als er seine Befürchtungen bewahrheitet sah. Seit dem Parkplatz war die Schlucht enger geworden. Der Waldabhang war zu beiden Seiten schroffem Fels gewichen. An einer Stelle wurde es so schmal, dass die Straße keinen Platz mehr hatte und stattdessen wie ein Balkon halb über dem Flussbett hing. Ausgerechnet an der engsten Stelle hatte es einen Felssturz gegeben. Die riesigen Steinbrocken versperrten nicht nur den Weg, sondern hatten sich im Wasser so ineinandergeschoben, dass die Wehra an dieser Stelle zu einem See gestaut wurde. Das Becken war nicht sonderlich groß, natürlich hatte sich der Fluss längst neue Wege gesucht. Das Wasser reichte dennoch von einer Talwand zur anderen. Felix war ratlos. Verzweifelt irrte sein Blick über die Felswände an beiden Seiten. Sie waren so steil, das an Klettern nicht zu denken war. Die einzige Möglichkeit war der Felssturz selbst. Doch zwischen ihm und den ersten Steinen lagen mindestens 50 Meter Wasser. Wasser, das trotz des Sommers eiskalt war. Er spielte alle Möglichkeiten durch, die ihm einfielen. Er konnte versuchen, an den flacheren Stellen durch den See zu waten, er konnte schwimmen oder aus ein paar Baumstämmen ein behelfsmäßiges Floß bauen. All das würde bedeuten, dass er nass werden würde, vielleicht sogar sein Rucksack mit den Dingen, die er notwendig brauchte. Die Strömung sah nicht ungefährlich aus. Was, wenn er weggerissen wurde und sich so verfing, dass er nicht mehr freikam? Was war mit Leo? Konnte er sich in den Wellen halten, ohne weggedrückt zu werden? Felix sah nach oben. Noch war die Sonne zu sehen, doch spätestens in einer Stunde wäre sie so weit weitergezogen, dass es schattig wurde. Und damit kalt. Wenn er das Hindernis nicht auf Anhieb schaffte, stünde ihm eine äußerst unangenehme Nacht bevor. So sehr es ihn auch vorwärtsdrängte, entschied sich Felix zur Umkehr. Er musste einen anderen Weg finden. Der Wanderparkplatz! Er faltete die Karte auseinander. Der eingezeichnete Tourenpfad führte auf der Westseite der Schlucht oberhalb entlang der Wehra mehr oder weniger auf dem Kamm parallel zur Landstraße nach Wehr im Süden. Ihn musste er finden und hoffen, dass er einigermaßen begehbar war.

Zurück an seinem vorherigen Rastplatz begann er sofort, den Straßenrand abzusuchen. Im Gebüsch entdeckte er ein Schild »Schluchtensteig«. Leider war das Holz längst abgefault, sodass die ursprüngliche Richtung nicht mehr zu erkennen war. Trotzdem wurde Felix ermutigt weiterzusuchen. Mit beiden Händen bog er die tief herunterhängenden Zweige der dicht stehenden Hainbuchen und Haselbüsche auseinander. Wieder einmal war es Leo, der ihn die richtige Spur entdecken ließ. An einer Stelle, die Felix nicht bemerkt hatte, schlüpfte er unter das Gebüsch und verschwand. Sekunden später hörte er ihn kräftig bellen. Felix kroch ihm nach. Auf allen vieren zwängte er sich vorwärts. Wenn es hier jemals einen Pfad gegeben hatte, war er nicht mehr zu erkennen. Doch inmitten des wuchernden Grüns entdeckte Felix etwas anderes. Im Hang direkt vor ihm sah er eine Treppe. Obwohl es nur noch kümmerliche Reste waren, wusste Felix sofort, dass er den Weg gefunden hatte. Stück für Stück kämpfte er sich nach oben, bis er an einen Fels kam. In seinem Schatten stand eine Aussichtsbank, daneben erwartete ihn Leo, der freudig mit dem Schwanz wedelte.

Felix kraulte ihn an seiner Lieblingsstelle am Hals direkt hinter dem Kopf. »Gut gemacht, Alter! Du hast dir ein Leckerli verdient.« Er dachte an den Beutel mit Keksen, den ihm Chiaras Ziehgroßmutter mitgegeben hatte. Natürlich war längst nichts mehr übrig. Doch einen davon hatte Felix aufbewahrt. Er stellte den Rucksack ab, griff in eine der Seitentaschen und holte eine Papiertüte hervor. Der Hundekuchen war staubtrocken und steinhart. Leo schien zu ahnen, was Felix ihm reichte. Er schnupperte ausgiebig und stieß ein leises Winseln aus, ehe er ihn verschlang.

Einen Moment hielt Felix inne. Es war die letzte äußere Erinnerung gewesen, die ihn mit Chiara verbunden hatte. Außer Leo natürlich. Ob er das Mädchen jemals wiedersehen würde? Den Gedanken an eine Rückkehr zu Chiaras Familie hatte er noch immer nicht ganz aufgegeben. Doch das Haus der Kellers war unendlich weit entfernt. Felix wusste nicht einmal, ob er es finden würde.

Felix sah, wie Leo ihn erwartungsvoll anblickte. »Na dann los! Jetzt zeige, was du kannst!«

Mit einem Satz sprang Leo los. Es erwies sich, dass der Wanderpfad hier oben deutlich besser erhalten war. Bald schätzte Felix, dass er inzwischen die Stelle erreicht haben musste, an der der Felssturz ihm den Weg versperrt hatte. Für einen Moment erwog er, dahinter wieder abzusteigen und der Straße zu folgen. Solange sie so dicht entlang der Wehra lief, drohte ihm zumindest von der Spinne keine Gefahr. Zudem war eine mit Steinen übersäte Straße immer noch leichter zu gehen, als sich hier durch den Wald zu kämpfen.

Felix entschied sich, zuerst eine kleine Pause einzulegen. Mit einem Seufzer ließ er sich nieder und streckte die Beine aus. Am liebsten hätte er ein wenig geschlafen, so müde war er. Doch er hatte nicht vor, die Pause zu sehr auszudehnen. Stattdessen zog er das Heft der Toten heraus und begann zu lesen. Während er las, spürte Felix, wie das Grauen in ihm aufstieg. Eine Gruppe Menschen, die von jetzt auf nachher auf engstem Raum leben mussten, ohne jegliche Verbindung nach draußen. Er ahnte, dass ihnen das Schlimmste noch bevorgestanden hatte. Die folgenden Seiten erzählten von den Versuchen, dem Gefängnis zu entkommen. Die Gruppe hatte alles unternommen, was möglich war. Ein paar hatten sich den Steilhang vor der Terrasse abgeseilt. Es war ebenso vergeblich gewesen, wie der waghalsige Aufstieg über den Fels hinter dem Haus. Dabei war es zu weiteren schweren Unfällen gekommen. Einen der Männer konnten die anderen nur noch tot nach oben ziehen, ein zweiter war den Fängen der Spinne zwar entkommen, doch er war völlig verwirrt, lag apathisch im Bett und starb zwei Tage später.

»24. Tag. Überall macht sich Resignation breit. Die meisten sitzen und liegen nur noch teilnahmslos herum. Auf die wenigen, die die Hoffnung auf Rettung nicht aufgegeben haben, hört keiner mehr. Günther, der Rechtsanwalt aus Lörrach, läuft stundenlang herum, schreit und schlägt auf alles ein, was er findet, bis seine Fäuste blutig sind. Dann sackt er zusammen und heult. Auch auf ihn achtet keiner. Ich bin mit Patrick die Essensvorräte durchgegangen, es sieht schlecht aus. Die Sachen aus dem Kühlschrank und aus der Tiefkühltruhe sind längst alle. Ich will gar nicht daran denken, was passiert, wenn die letzten Kartoffeln gegessen sind. Wenigstens ausreichend zu trinken gibt es. Das Wasser von dem kleinen Rinnsal, das vom Fels herunterkommt, scheint genießbar zu sein. Aus dem Hahn kommt nichts.

26. Tag. Günther ist verschwunden. Ein paar haben gehofft, dass er einen Durchgang gefunden hat und abgehauen ist. Den ganzen Tag war Bewegung in den Leuten. Patrick glaubt, dass er sich den Hang hinuntergestürzt hat und irgendwo im Wald liegt.

27. Tag. Die Leute werden aggressiv. Die zwischenzeitliche Hoffnung hat sie nur umso mehr zur Verzweiflung getrieben. Ich befürchte das Schlimmste.

30. Tag. Eine Katastrophe! Die drei jungen Männer aus Winterthur sind in die Vorratskammer eingebrochen und haben alle Reste an sich genommen. Als die anderen das gemerkt haben, begann der Tumult. Am Ende lagen zwei der Männer erschlagen am Boden. Jeder hat sich gerafft, was er irgend konnte.

31. Tag. Die Ordnung bricht völlig zusammen. Dafür haben sich kleine Gruppen gebildet. Alles, was zu finden ist, wird als Waffe benutzt.

34. Tag. In der Nacht hörte ich Schreie. Ich kann mir denken, was passiert ist. Aber ich will es mir nicht vorstellen. Es ist zu schrecklich.«

Felix atmete tief durch. Das Ganze kam ihm vor wie ein Film. Ein schlechter Film. Und doch war es geschehen. Er presste die Lippen zusammen und zwang sich weiterzulesen.

»35. Tag. Gegen Abend fiel plötzlich ein Reh die Steilwand herunter, prallte auf das Dach und blieb vor der Veranda liegen. Das Tier war noch jung, wahrscheinlich erst in diesem Jahr geboren. Es lebte noch, aber nicht lange. Die Leute waren nicht zu halten. Sie rissen es förmlich auseinander und stopften das rohe Fleisch in sich hinein. Es war das Widerwärtigste, was ich in meinem Leben bisher gesehen habe.«

Felix klappte das Heft zu und legte es zur Seite. Er musste aufhören. Seine Müdigkeit war völlig weggewischt. Die Bilder überwältigten ihn. Ängstlich sah er sich um. Es war nichts Auffälliges zu entdecken. Die Bäume, die am Hang etwas lichter standen, abgerissene Zweige, ein paar moosbewachsene Felsbrocken. Heidelbeerbüsche. Dennoch war es ihm, als habe sich der Schrecken, der von dem Bericht ausging, um ihn herum ausgebreitet. Als würde die Bedrohung durch die Spinne im nächsten Moment Wirklichkeit werden. Er stand auf und packte seine Sachen zusammen. Felix achtete nicht auf seine schmerzenden Füße und ging los. Er wollte nur rasch weg von hier. Wenige Schritte weiter zweigte ein schmaler Pfad nach links schräg den Hang abwärts. Felix überlegte nicht lange und bog ab. Er musste zurück zum Wasser. Es konnte nicht weit sein, bis er zurück zum Fluss kam.

Als er sich dem Talgrund näherte, stieß er auf einen befestigten Schotterweg am Rande eines großen Sees. Bis zum gegenüberliegenden Ufer mochten es etwa 200 Meter sein. Nur wenige kleine Wellen kräuselten die Oberfläche, auf der bereits die langen Schatten der Dämmerung lagen. Obwohl die Böschung zum Wasser hinunter steil war, fand Leo sofort einen Weg. Er trank ausgiebig, dann sprang er zurück zu Felix, der in der Zwischenzeit auf dem Boden die Karte ausgebreitet hatte. Wieder einmal war er auf einen der vielen Stauseen im Schwarzwald gestoßen. Er schloss den südlichen Ausfluss der Wehra ab, von hier war es nicht mehr weit bis zum Rhein.

Der Weg, auf dem Felix stand, schien den See zu umrunden. Als er sich nach rechts wandte, sah er bereits von Weitem die Staumauer. Sofort stiegen in ihm die Erinnerungen an den Schluchsee hoch. Ob die Streuner inzwischen Brunos Leiche geborgen hatten? Felix war gespannt, was ihn erwarten würde. Je näher er der Mauer kam, desto mehr Einzelheiten konnte er erkennen. Der Wasserstand war niedrig, der obere Teil der Staumauer war mit grauem Schmutz überzogen. Nur wenige Meter vom Uferrand entfernt sah Felix eine metertiefe Bresche, durch die das Wasser abfloss. Er ging ein paar Schritte die Straße entlang, die über die Deichkrone führte. Unter ihm setzte sich das Flusstal fort, die Wehra floss in sanften Windungen Richtung Süden. Kaum einen Kilometer weiter begannen die ersten Häuser des Ortes. Am Horizont erhob sich eine Bergkette, Felix vermutete, dass diese bereits zu den Schweizer Alpen gehörte. Ehe er sich weiter orientieren konnte, wurde Felix jedoch von einem unerwarteten Anblick gefesselt. Am schmalen Flussufer, direkt unterhalb der Lücke in der Staumauer, sah er etwas, das er zunächst kaum erkannte. Der ungeordnete Haufen erinnerte auf den ersten Blick an einen Schrottplatz. Verstreut lagen Metallgestänge, Blech und verbogene Eisenstücke, ein paar Schritte daneben ein Polstersitz inmitten von Glasscherben. Überall wucherten Brennnesseln. Erst allmählich wurde Felix bewusst, was er sah. Eines der seltsam verkrümmten Metallteile erinnerte an einen großen Ventilator. Es war unschwer zu erkennen, dass es sich um die Reste eines Rotors handeln musste. Der Heckrotor eines Hubschraubers. Blitzartig setzte sich das Bild vor Felix’ innerem Auge zusammen. Natürlich hatten die Behörden damals alles versucht. Wo es möglich war, wurden die Menschen aus der verstrahlten Zone evakuiert. Man wollte das Ausmaß des Unglücks rasch überblicken und entsprechend handeln können. Und vielleicht gab es einige wenige Überlebende, denen man helfen konnte.

»Eine Weile hatten wir die Hoffnung, dass ein Suchhubschrauber auftauchen würde.«

Die Erwartung der Menschen im Haus zum »Guten Weg« war nicht völlig abwegig gewesen. Doch niemand konnte ahnen, was damals wirklich geschehen war. Als die Elektronik plötzlich ausfiel, hatten die Piloten nur wenige Sekunden Zeit zu reagieren. Es war vergeblich. Die Menschen hatten keine Chance. Sie störten nur. Der Schwarzwald war erwacht und zeigte seine Macht. Wieder spürte Felix, wie das Grauen in ihm aufstieg. Er wünschte sich weit, weit weg – irgendwohin, nach Kanada oder in die Südsee. Was sollte ausgerechnet er, Felix, hier alleine ausrichten können? Was ergab es für einen Sinn, wenn er Antworten suchte auf Fragen, die er selbst nicht verstand? Warum setzte er sich freiwillig einer Gefahr aus, die nicht nur allgegenwärtig, sondern auch unberechenbar und gnadenlos war? Vielleicht war die Spinne schon hinter ihm her, vielleicht erwartete sie ihn an einem Ort, an dem er nicht damit rechnete. Er würde genauso hilflos sein wie die anderen vor ihm. Und genauso verzweifelt. Er sollte aufgeben. Von hier aus waren es nur wenige Kilometer bis zum Rhein. Er konnte sich bis in die Schweiz durchschlagen, und von dort aus über Basel zurück nach Freiburg gelangen. Er würde zu Tante Veronika zurückkehren, zurück in die Schule, zurück zu Birte. Er konnte ein ganz normales Leben führen wie alle anderen. Und er musste keine Angst mehr haben.