Blutleer - Silvia Kaffke - E-Book

Blutleer E-Book

Silvia Kaffke

4,2

Beschreibung

Hat der Frührentner Rudi Hirschfeld wirklich sechs Morde begangen? Entlang der S-Bahn-Linie 1, quer durchs Ruhrgebiet, von Dortmund über Bochum, Essen, Mülheim, Duisburg und Düsseldorf, an sechs völlig unterschiedlichen Menschen mit völlig unterschiedlichen Methoden? Barbara Pross, Ex-BKA-Profilerin und Polizeiberaterin und Ruben Jakubian, der "Neue" beim LKA, stehen mit ihrer Soko vor der undankbaren Aufgabe, Hirschfelds Geständnis für die Staatsanwaltschaft mit Beweisen zu untermauern. Da bleibt Barbara wenig Zeit, sich um ihre handfeste Ehekrise zu kümmern. Gerade, als ihr Zweifel an Hirschfelds Angaben kommen, geschieht das Unfassbare...

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Silvia Kaffke

Blutleer

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

TotenstillBlutleer

Silvia Kaffke, geboren 1962 in Duisburg, kam über Zeitschriften-Stories zum Krimischreiben. Ihre erste Romanveröffentlichung war MESSERSCHARF und wurde mit Ann-Kathrin Kramer und Peter Lohmeyer in den Hauptrollen für SAT 1 verfilmt. 2000 verlieh ihr die Stadt Düsseldorf den Kulturförderpreis für Literatur. Außerdem war sie mit MESSERSCHARF für den Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden nominiert. Im November 2002 erschien die Fortsetzung HERZENSGUT. Das auf diesem Stoff basierende Drehbuch von Mischa Bach und Silvia Kaffke wurde 2003 von der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen gefördert.

Silvia Kaffke

Blutleer

1. Auflage 20062. Auflage 2010

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-937001-74-6E-Book-ISBN 978-3-95441-045-3

Ich danke

Ruth Becker für die Übersetzung ins RussischeRudy Lück für seine Nachhilfe in Sachen Waffentechnikmeinen Testleserinnen Martina Peters undHeidrun Vierbaum

und ein besonderer Dank geht anH.P. Karr & Walter Wehner,die mir erlaubt haben, ihren legendären Videogeier »Gonzo«Gonschorek für einen kleinen Gastauftritt zu entlehnen undauch darüber gewacht haben, dass die Szene ein echter»Gonzo« geworden ist

Silvia Kaffke

1.

Endlich. Die letzten Meter bis zur Einfahrt der Hielmannvilla. Barbara seufzte. Sie hatte eine Horrorfahrt hinter sich von Berlin, wo sie an der Polizeifachhochschule ein einwöchiges Seminar gehalten hatte, bis zurück nach Düsseldorf. Sie hatte mehr als einmal darüber geflucht, dass sie ihre Rückreise ausgerechnet zum Sommerferienbeginn in Nordrhein-Westfalen geplant hatte. Es war eine anstrengende Woche gewesen, mit sehr aufgeschlossenen, aber auch sehr kritischen Beamten, bei denen es weniger um die Theorie als um die Einbindung von Profiling-Methoden und -Erkenntnissen in die normale Polizeiarbeit gegangen war. Die Zeiten, da ihr Fachgebiet als Schnickschnack abgetan worden war, waren glücklicherweise lange vorbei. Jetzt konnte sie sich vor Interessenten an ihren Kursen kaum retten. Regelmäßig gab es zu viele Teilnehmer, was zusätzlich Kraft kostete.

Zu den vollgepackten Wagen der Ferienreisenden, die gleichermaßen die Autobahn sowohl in Nord- wie auch in Südrichtung verstopften, gesellten sich um diese Zeit neben Berufspendlern auch noch Kurzurlauber, die ins Wochenende wollten. Ein schwerer Unfall mit Vollsperrung beider Fahrbahnen hatte Barbara zwei unwiederbringliche Stunden gekostet, die sie dem Chaos eigentlich hatte voraus sein wollen. Sie hatte sieben Stunden reine Fahrtzeit hinter sich für eine Strecke, die sie sonst in rund fünf Stunden bewältigte, und war entsprechend genervt und erschöpft.

Als sie jetzt in die Einfahrt einbog, stieß sie einen nicht salonfähigen Fluch aus. Vor der Tür stand ein leicht zerbeulter schwarzer Golf mit einem weißen Kotflügel: Özay. Der Detektiv und Gelegenheitsjournalist war ein Freund, aber nach so einem Tag war er nur schwer zu ertragen. Er lehnte an seinem Wagen und zu ihrem Erschrecken musste Barbara feststellen, dass er betrunken war.

»Deine Chwi … Chwi … Thomas’ Mutter wollte mich nich reinlassen«, begrüßte er sie.

»Woran könnte das wohl liegen?« Barbara stieg aus dem Wagen und nahm ihren kleinen Koffer. »Bist du etwa so gefahren?«

»Wie – so?«

»Du bist blau, Özay.«

Er stierte nachdenklich vor sich hin. »Ja, da hast du wohl Recht.«

»Und warum kommst du in diesem Zustand hierher?«

»Ich muss mit dir reden.«

Barbara kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sie ihn nicht loswerden würde, eher würde er vor der Tür übernachten.

»Dann komm rein. Ich mach dir einen Kaffee.«

Thomas war nicht zu Hause. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, seit der Herztransplantation war er vielbeschäftigt. Seine Aktivitäten als Privatdozent an der Uni hatte er mehr als verdoppelt, außerdem pflegte er engere Beziehungen zu seinen Studenten in mehreren Gesprächskreisen. Hinzu kam, dass er es genoss, endlich Sport treiben zu können. Er joggte leidenschaftlich, Barbara fürchtete, es könnte irgendwann einmal auf einen Marathon hinauslaufen. Sie selbst hatte Sport, mit dem sie sich in ihrer Zeit als aktive Polizistin hatte fithalten müssen, immer als notwendiges Übel angesehen. Seit sie nur noch an der Uni und als Beraterin arbeitete, hatte sie fast gar keinen Sport mehr betrieben. Glücklicherweise neigte sie von jeher eher zu Untergewicht.

Özay hatte sich an der Kochinsel Halt gesucht. Während Barbara, die ihren Koffer im Flur stehen gelassen hatte, zwei Espressos an der Maschine zapfte, sagte er kein einziges Wort.

»Ich denke, du willst mit mir reden.«

»Das is nicht so einfach.« Seine Aussprache war immer noch verwaschen, aber Barbara spürte, dass es hier nicht um die üblichen Özay-Themen ging – schnelles Geld, eine neue Frau. Irgendetwas machte ihm richtig zu schaffen.

»Vielleicht geht es hiermit besser.« Barbara reichte ihm den Espresso und goss noch zwei Gläser Mineralwasser ein.

»Können wir uns hinsetzen?«, fragte er.

Barbara deutete auf die Küchenbar, aber Özay schüttelte den Kopf. »Richtig hinsetzen, damit wir reden können.«

Er folgte Barbara leicht schwankend ins Esszimmer. Sie setzten sich an den Tisch.

»Was zum Henker ist los, Iskender? Warum hast du dich betrunken?« Beim Vornamen nannte Barbara ihn nur, wenn es ernst wurde. Sonst hatte er das Privileg, das eigentlich nur Polizeikollegen zustand – sie nannte ihn beim Nachnamen.

»Ich wollte mir nur ein wenig Mut antrinken. Und dann wurde es wohl ein bisschen mehr. Weil … weil ich sehr viel Mut dazu brauche.« Er schlürfte den Espresso, Schluck für Schluck, die ganze Tasse. Barbara wartete geduldig.

»Du … du bist eine Freundin, Barbara. Eine verdammt gute Freundin.«

Barbara runzelte die Stirn. Seit sie mit Özay einen Serienmörder zur Strecke gebracht hatte, hatten sie sich angefreundet. Manchmal hatte Barbara dem Detektiv einen Auftrag verschafft. Sie waren einander sehr sympathisch, auch wenn er Barbara manchmal nervte. Sie hatte den Verdacht, dass er nicht viele andere Freunde hatte.

»Unn weißt du, wenn Thomas nich wäre …«

Oh, nein. Das hatte ihr noch gefehlt. Eine Liebeserklärung von Özay war nicht das, was sie sich unter einem erholsamen Abend nach einem sehr anstrengenden Tag vorstellte. »Ich bin zwölf Jahre älter als du«, warf sie ein.

»Na und? Du bist attraktiv. Und klug. Und eine wirklich gute Freundin.«

»Das sagtest du schon. Bist du hier, um mir Komplimente zu machen?«

Er schüttelte den Kopf. »Das macht es nur so schwer. Ich … ich sollte es dir eigentlich nicht sagen, aber ich mag dich so gern und da …«

»Özay! Sag es einfach.«

»Es geht um Thomas.« Er machte eine Pause, und Barbara konnte ihm ansehen, wie er mit sich rang. »Er rief mich an, vor ein paar Wochen, als du weg warst, in … in …«

»In Bayern?« Das war vor vier Wochen. »Oder in Frankfurt?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht Frankfurt. Du warst für ’ne Woche in Bayern, und er rief an. Er hatte einen Auftrag für mich.« Er seufzte. »Er bot mir viel Geld, und ich war fast pleite.«

Das war für Özay nichts Neues. Aber dass Thomas ihn ohne ihr Wissen engagierte … Barbara spürte eine leichte Unruhe.

»Es ging um eine Studentin aus einem seiner Seminare. Sie war seit zwei Wochen verschwunden. Er wollte, dass ich sie suche. Und er wollte nicht, dass du das erfährst.«

Barbaras Herz begann zu klopfen. Was versuchte Özay ihr da zu erzählen?

»Ich bin ein guter Detektiv, das weißt du.«

Barbara nickte. Özay war ein Schnüffler mit Instinkt und Verstand, ein Wunder eigentlich, dass ihm beides zu fehlen schien, wenn es um sein Alltagsleben ging.

»Ich habe ein wenig herumgegraben in ihrem Leben. Schließlich brauchte ich einen Anhaltspunkt.« Er seufzte noch ein wenig tiefer. »Hätte ich bloß nicht dieses verdammte Geld gebraucht. Ich hätte diesen Auftrag nie annehmen dürfen.«

Barbara war drauf und dran, ihn zu schütteln, aber sie sagte nur leise: »Was hast du herausgefunden?«

»Er … er hat dich mit ihr betrogen. Und zwar schon länger. Ich fand eine enge Freundin, der sie alles erzählt hatte.«

»Nein.« In ihrem Kopf arbeitete es. Thomas – eine Affäre? Das konnte nicht sein. »Vielleicht hat das Mädchen sich in ihn verliebt und ihrer Freundin ihre Fantasien …«

Sie sah, wie Özay langsam den Kopf schüttelte. »Das dachte ich zuerst auch. Das Mädchen hatte viele Probleme, und du kennst ja Thomas.«

Ja, ich kenne ihn, dachte Barbara. Wenn er sich um jemand kümmern kann, dann ist er nicht zu halten. Sie war fast schon erleichtert. Thomas hatte den Samariter gespielt.

»Aber sie hat ihrer Freundin so viele Dinge über ihn erzählt. Von den Operationsnarben zum Beispiel.« Er hatte Schwierigkeiten, das Wort auszusprechen, aber seine Sprache wurde langsam wieder klarer. »Barbara, er hat mit ihr geschlafen, daran besteht wirklich kein Zweifel. Und nicht nur einmal. Sie … sie wohnte zeitweilig in Pempelfort.«

Thomas’ alte Wohnung – ihre gemeinsame frühere Wohnung, bevor sie vor drei Jahren in die Villa gezogen waren. Barbaras Kehle schnürte sich zu. »Seit wann weißt du davon?«

»Siehst du, deshalb wollte ich, dass wir uns setzen.« Özays Gesicht spiegelte die pure Verzweiflung wider. »Ich trag das jetzt schon ne Weile mit mir herum. Es ist gegen meine Prinzipien, den Auftraggeber zu verpfeifen. Aber … du bist doch meine Freundin. Und heute Abend …«

»Du wusstest, dass Thomas nicht hier sein würde.«

Er nickte bedächtig. »Er, ein paar Kollegen und ein paar Studenten bereiten etwas für das nächste Semester vor.« Özay hatte sich wirklich gründlich informiert. »Sie sitzen im Op de Eck, und die Stimmung ist ziemlich gut.«

Barbara starrte schweigend vor sich hin. Özay war zu gut, um sich in diesem Punkt irren zu können. Aber vielleicht gab es eine Erklärung. Sie würde mit Thomas reden, und alles würde sich aufklären, da war sie sich sicher.

In diesem Moment klingelte das Telefon.

»Warte hier«, sagte sie zu Özay. »Ich bin gleich wieder da.«

Sie ging hinüber ins Arbeitszimmer, wo Thomas das schnurlose Telefon wie gewohnt ordentlich in die Aufladeschale gestellt hatte. »Hielmann-Pross.«

»Guten Abend, Barbara.« Die Stimme erkannte Barbara sofort. Sven Heyer von der Kripo Duisburg. »Entschuldige bitte die späte Störung.«

»Das macht nichts, ich bin eben erst nach Hause gekommen. Worum geht es?« Ist es beruflich oder privat?, fügte sie in Gedanken hinzu. Beruflich, beantwortete sie sich die Frage. Der letzte private Anruf von Sven lag fast vier Jahre zurück. Sie waren nicht im Streit auseinander gegangen, aber wie er damals ihre Entscheidung zu Thomas zurückzukehren verkraftet hatte, konnte sie nur ahnen.

»Ich habe heute Bereitschaft. Und gerade wurde ich angerufen. Die Jungs von der Kriminalwache sind ziemlich aus dem Häuschen. Sie haben da jemanden sitzen, der behauptet, sechs Morde begangen zu haben.«

Barbara setzte sich augenblicklich auf ihren Schreibtischstuhl. »Sagtest du sechs?«

»Ja. Der Typ ist einfach in die Kriminalwache marschiert und hat sich der Morde bezichtigt.«

»Und jetzt möchtest du, dass ich mir den Mann ansehe.«

»Bevor ich das LKA benachrichtige und sich die Sache als Flop erweist.« Er stockte. »Weißt du, seit damals habe ich den Ruf weg, überall Serienmörder zu sehen.« Damals, das war, als er und Barbara eine Serie von Kindermorden aufgeklärt hatten, an die niemand glauben wollte. »Ich hab schon einmal falschen Alarm an das LKA gegeben, der Typ war ein Spinner.«

»Was ja eigentlich zu wünschen wäre«, warf Barbara ein.

»Und ich wäre endgültig als Idiot entlarvt.« Svens Antwort klang resigniert.

»Wird denn zurzeit überhaupt nach einem Serientäter gesucht? Ich habe nichts gehört, aber meine Verbindungen zum LKA sind seit Heinz Werstens Pensionierung längst nicht mehr so gut. Ich erfahre eher etwas aus anderen Bundesländern als hier aus Nordrhein-Westfalen.«

»Nein, eben nicht. Deshalb bin ich ja so vorsichtig damit. Gefährlich scheint der Mann immerhin zu sein, er hatte ein Messer bei sich. Es wäre mir wirklich lieb, wenn du ins Duisburger Präsidium kommen würdest.«

Barbara seufzte. »Ich habe gerade sieben Stunden Fahrt hinter mir.« Und Özay hat mir gerade erzählt, dass mein Mann mich betrügt, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Bitte. Ich strapaziere unsere Freundschaft nur ungern.«

Er wusste immer noch genau, welche Register er bei ihr ziehen musste. Sie hatte ein schlechtes Gewissen wegen ihrer kurzen Affäre und dem anschließenden Schluss, der ihm gegenüber nicht sehr fair gewesen war. Ich war fair, dachte sie. Und Thomas? Wenigstens hatte sie sich damals von ihm getrennt, bevor sie in ein anderes Bett … Verdammt. Das hier war beruflich. Ihre privaten Probleme mussten warten. Und das war gar nicht so schlecht.

»Na gut, ich werde hinkommen Aber du bist sicher vor mir da.«

»Ich werde mit der Vernehmung auf dich warten. Das ist besser.«

»Bis nachher.«

Barbara legte das Telefon auf ihren Schreibtisch und ertappte sich dabei, froh zu sein, dass es etwas gab, das sie von Thomas und seiner Affäre – seiner angeblichen Affäre – ablenkte.

An der Tür des Arbeitszimmers kehrte sie um und nahm das Telefon mit. Während sie zurück ins Esszimmer ging, wählte sie die Nummer der Taxizentrale. »Ich habe dir ein Taxi gerufen, Özay.«

Er schreckte auf. »Aber …«

»In dem Zustand wirst du nicht selbst fahren. Du kannst den Wagen morgen hier abholen.«

Er setzte ein charmantes Lächeln auf, das bei seinem Alkoholpegel leicht entgleiste. »Kannst du mich nicht fahren, Barbara?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss nach Duisburg. Sven Heyer hat angerufen.« Als sie Özays Blick bemerkte, lachte sie. »Dienstlich. Er hat dienstlich angerufen.«

Urplötzlich wirkte Özay sehr viel nüchterner als noch vor ein paar Sekunden. Er arbeitete hin und wieder als freier Journalist, wenn es als Detektiv nicht lief. Oder war es umgekehrt? Und wenn Barbara zu einem Fall hinzugezogen wurde, dann bedeutete das immer eine große Story.

»Was ist denn in Duisburg passiert?«, fragte er.

»Ich weiß noch nichts Genaues. Sven möchte, dass ich mir etwas ansehe.«

»Weißt du, ich fühle mich nach dem Kaffee schon sehr viel besser, ich denke, ich kann doch selbst fahren.«

Barbara schüttelte grinsend den Kopf. »Du willst doch nur mit deinem Wagen den Duisburger Polizeifunk abhören. Das kommt nicht in Frage.« In diesem Moment klingelte es an der Tür. »Da ist dein Taxi. Und ich werde dich höchstpersönlich reinsetzen. Komm schon.«

Sie schnappte sich im Flur Schlüssel und Handtasche, zog Özay hinter sich her und übergab ihn dem Taxifahrer, dem sie seine Adresse nannte. Dann drückte sie ihm einen Fünfzig-Euro-Schein in Hand. »Fahren Sie ihn nach Hause. Fahren Sie ihn keinesfalls woanders hin, verstanden?«

Gerade als Özay in das Taxi kletterte, bog Thomas’ schwarzer Mercedes CLK in die Einfahrt. Er fuhr zur Seite, weil mehr als drei Wagen nicht vor das Haus passten und stieg aus. Aus sicherer Entfernung beobachtete er, wie das Taxi mit Özay davonfuhr.

Als er sah, dass Barbara in ihren Wagen steigen wollte, kam er schnell hinüber. »Das war doch Özay? Was wollte der denn hier?«

»Guten Abend, Thomas.«

»Entschuldige bitte. Guten Abend.« Er wollte Barbara küssen, aber die wich ihm aus.

»Ich muss nach Duisburg. Es kann spät werden. Warte nicht auf mich.« Sie schloss die Tür und fuhr los.

Den ganzen Weg in die Nachbarstadt über wog Barbara immer wieder die Fakten gegeneinander ab. Thomas hatte sie mit einer Studentin betrogen, da war Özay sich sicher, und der lag selten falsch. Thomas hatte sich wohl von seinem Helfersyndrom hinreißen lassen. »Nicht zum ersten Mal«, murmelte sie. Schließlich hatten sie beide sich genauso kennen gelernt. Aber war das schon eine Affäre?

Kurz bevor das Polizeipräsidium in Sicht kam, versuchte sie, die privaten Gedanken abzuschütteln. Jetzt war die Kriminalistin gefragt. Sie konnte verstehen, warum Sven erst sie konsultieren wollte. Verrückte gab es schließlich genug, die sich aller möglichen Taten bezichtigten. Merkwürdig war nur, dass das normalerweise passierte, wenn bereits nach einem Serientäter gesucht wurde. Hier gab es nichts, es gab nicht einmal eine Serie.

Sie betrat den hässlichen Backsteinbau, der ihr seit den Kindermorden 2001 vertraut war. Der Diensthabende winkte sie wortlos durch.

»Ist Heyer schon da?«

»Ja, in seinem Büro. Er wartet auf Sie.«

In diesem Moment kam Sven Heyer schon die Treppe herunter. Er begrüßte Barbara mit einer freundschaftlichen Umarmung. Zu ihrem Erstaunen entdeckte sie, dass er sein Haar inzwischen kürzer trug. Sie hatte seine langen, welligen Haare immer gemocht. Jetzt wirkte er wie ein Yuppie, zumal er eine Krawatte trug und das Hemd im Gegensatz zu früher in die Hose gesteckt hatte. Der Dreitagebart war auch verschwunden. Heyer war in den letzten zwei Jahren erstaunlich seriös geworden.

»Wollen wir?«, fragte er. »Die Jungs drüben sind sicher froh, wenn sie ihren Gast schnell loswerden.«

»Einen Moment noch.« Barbara wandte sich an den Pförtner. »Sie haben gehört, was los ist?«

Er nickte. »Die Kollegen von der Kriminalwache haben es mir erzählt. Der Kerl hat sechs Morde gestanden.«

Barbara sah ihm an, dass ihn diese Mitteilung doch erschüttert hatte. »Saßen Sie schon hier, als er hereinkam?«

Der Beamte nickte. »Das war so gegen neun. Er kam und erkundigte sich, wo er ein Verbrechen melden könnte. Ich schickte ihn zur Kriminalwache.«

»Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?«

Der Uniformierte überlegte kurz. »Ich erwartete so etwas wie Kleindiebstahl oder eine Nachbarschaftsstreitigkeit. Er war ein bisschen nervös, aber nicht mehr als die meisten braven Bürger, wenn sie zu uns kommen müssen.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Hoffentlich ist das nur so ein Spinner.«

Barbara konnte ihm da nur beipflichten. »Wie sah er aus?«, fragte sie weiter.

»Eigentlich ist mir nichts Besonderes aufgefallen. Er war sauber gekleidet, wirkte aber ärmlich. Wie ein Sozialhilfeempfänger, der peinlich darauf bedacht ist, sich sorgfältig zu kleiden. So ein völlig unauffälliger Typ. Ihm fehlte ein Schneidezahn.« Er machte eine Pause, dann fuhr er fort. »Gepflegt stimmt zwar. Aber das ist so einer, wissen Sie, der kann sich täglich dreimal duschen und die Kleidung wechseln, der wirkt immer irgendwie schmierig. Starke Geheimratsecken, schwarz gefärbte Haare, er benutzt Pomade oder so was, um sie nach hinten zu kämmen.«

Barbara nickte. »Vielen Dank.« Sie wandte sich an Heyer. »Dann lass uns mal rübergehen.«

In den Räumen der Kriminalwache herrschte eine gespannte Atmosphäre, in die hinein eine heisere, unangenehme Stimme sprach. Der Mann lispelte, Barbara dachte an die Zahnlücke, die der Beamte draußen beschrieben hatte. Er hockte, die Hände mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt, auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch eines der Beamten. Er wandte ihnen den Rücken zu, Barbara und Sven hatte er noch gar nicht bemerkt. Er sprach ununterbrochen.

»Nun schreiben Sie das schon auf. Ich stach mit dem Messer auf sie ein, zuerst in den Unterleib, dann in den Brustkorb und den Hals. Und dann nahm ich mir ihren Kopf vor, dabei brach die Messerspitze ab.«

Barbaras Blick fiel auf das Messer, das auf dem anderen Schreibtisch lag. Es war braun von eingetrocknetem Blut, nicht nur die Klinge, auch der Griff waren völlig verschmiert.

Der Beamte, dem der Mann das grauenvolle Diktat gegeben hatte, sah auf und erhob sich. »Frau Pross!« Er war groß und dunkelhaarig. Offensichtlich kannte er Barbara. Und im Moment verspürte sie wenig Lust, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass sie inzwischen einen Doppelnamen trug.

»Guten Abend.« Sie sah zu den beiden Beamten. »Wenn ich Sie beide kenne, dann muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich Ihre Namen vergessen habe.«

»Gunter Reitze«, stellte sich der Große vor. »Und mein Kollege war damals noch nicht hier.«

»Frank Schmitz.« Der andere war klein und rund, ein spärlicher Haarkranz zeigte ein dunkles Blond. »Wirklich gut, dass Sie jetzt hier sind.«

Der gefesselte Mann wandte sich um und musterte zuerst Sven und dann Barbara. Er hatte helle, aber sehr tiefliegende Augen, die sie aus einem faltigen, verlebten Gesicht anstarrten. Der Beamte draußen hatte ihn treffend beschrieben, seine Kleidung war sauber und gepflegt, aber der Anzug, den er trug, war schon seit Jahren aus der Mode. Es schien, als habe er sich für seinen Auftritt hier fein gemacht.

»Ich kenne Sie aus dem Fernsehen«, sagte er zu Barbara, aber Sven unterbrach ihn.

»Ich bin Kriminalhauptkommissar Sven Heyer und werde Sie jetzt weiter vernehmen. Frau Dr. Hielmann-Pross wird als Beobachterin an dem Verhör teilnehmen. Kommen Sie bitte.«

Der Mann stand langsam auf. Sven packte ihn am Arm und dirigierte ihn in Richtung Tür. »Barbara?«

»Geh nur. Ich komme gleich nach.«

»Gut. Wir sind in meinem Büro, du kennst dich ja aus.«

Den beiden Beamten war die Erleichterung anzusehen, dass sie den Mann jetzt los waren. Barbara deutete auf das Messer. »Das sollten Sie besser eintüten.«

Schmitz sprang auf. »Ich mach das sofort.« Er ging zu einem Schrank und suchte dort nach einer Tüte.

Währenddessen fragte Barbara: »Als der Mann hier hereinkam, welchen Eindruck machte er auf Sie?«

Schmitz sah Reitze, der immer noch hinter seinem Schreibtisch stand, an, und der nickte aufmunternd. »Gunter war mal kurz um die Ecke. Der Typ spazierte hier herein, trat an die Theke und sagte, er wolle ein Verbrechen melden. Wissen Sie, genauso wie jeder, der eine Anzeige machen will. Ich holte ein Formular. Dann fragte ich nach seinem Namen und den anderen persönlichen Angaben, um sie dort einzutragen. Er wirkte ein wenig ungeduldig, so als wollte er sein Anliegen unbedingt loswerden, aber das ist auch nichts Ungewöhnliches.«

»Als ich dann von der Toilette zurückkam«, fiel Reitze ihm ins Wort, »da sagte er gerade ›mein Name ist Rudi Hirschfeld, geboren am …‹ – na, ja, das steht ja auf dem Formular, jedenfalls 1952 – ›und ich habe sechs Menschen umgebracht‹.«

»Ich war so perplex, dass ich gar nicht auf die Idee kam, er könnte gefährlich sein«, fuhr Schmitz fort, und Barbara merkte, dass es ihm schon ein wenig peinlich war. »Aber im nächsten Moment holte er das Messer aus der Tasche.«

Reitze ballte seine Fäuste. »Ich habe ihn dann an die Theke gedrückt und ihm Handschellen angelegt. Die Durchsuchung ergab keine weiteren Waffen.«

»Und das war dieses Messer dort?«, fragte Barbara.

Schmitz hatte endlich die Plastikbeutel gefunden, kam zu seinem Schreibtisch und tütete das Messer fachmännisch ein. Dann zeigte er es Barbara.

»Ja. Und sehen Sie, die Spitze ist abgebrochen. Genauso etwas sucht die Mordkommission im Fall Julia Janicek.«

Barbara überlegte. Julia Janicek war eine Sechzehnjährige gewesen, die man vor etwa drei Monaten aus dem Duisburger Hafen gefischt hatte. Sie hatte unzählige Stichverletzungen, ein paar sogar im Kopf. Dabei war die Messerspitze abgebrochen, man hatte sie im Schädel der Toten gefunden. Trotzdem gab es bisher keine heiße Spur, man hatte sich sogar an Aktenzeichen XY gewandt, um das Messer zu suchen. Besondere Empörung in der Öffentlichkeit hatte die Tatsache ausgelöst, dass das Mädchen gehörlos war. Sie besuchte das Berufskolleg für Hörgeschädigte in Essen und war nachts auf dem Rückweg von einer Schulfeier verschwunden.

»Ich nehme an, das war der Moment, in dem Sie Sven Heyer anriefen.«

Schmitz nickte. »Das Problem war nur, Hirschfeld wollte nicht warten mit seinem Geständnis. Wir erklärten ihm, dass er Heyer alles noch mal erzählen müsste, aber das war ihm egal. Er beschrieb uns in allen Einzelheiten, wie er Julia Janicek in seine Gewalt gebracht hat. Den Höhepunkt haben Sie ja eben mitbekommen.«

»Davor sprach er noch über einen Mann in Mülheim. Der wurde ebenfalls erstochen. Ich habe nachgesehen, man hat ihn Ende letzten Jahres in Styrum gefunden, der Fall ist bisher nicht aufgeklärt.« Reitze hatte sich endlich wieder hingesetzt.

»Sonst noch was?«

»So weit waren wir noch nicht. Er hat sich sehr am Fall Janicek aufgehalten.«

»Ja, und genau das macht mir Sorgen«, meinte Barbara. Der Fall war so groß durch die Presse gegangen, dass ein Trittbrettfahrer sich einiges für eine plausible Geschichte daraus zurechtzimmern konnte. Selbst das Messer könnte präpariert worden sein.

»Gott sei Dank ist das Ihre Aufgabe, die Wahrheit herauszufinden.« Schmitz sagte das ganz ohne Schadenfreude. »Wir hier befassen uns lieber mit den kleinen Fischen.«

»Danke, meine Herren.« Barbara nahm die Papierbogen vom Schreibtisch. »Kann ich die haben?«, fragte sie und ging zur Tür.

»Sicher.«

»Sorgen Sie noch dafür, dass das Messer ins Kriminallabor kommt – am besten als Beweisstück im Fall Janicek. Und die sollen vorrangig testen, ob das Blut wirklich von ihr stammt.«

Reitze nahm den Telefonhörer und winkte ihr zu.

Hirschfeld saß immer noch in Handschellen vor Heyers Schreibtisch in dessen Büro, vor ihm ein Diktiergerät. Er drehte sich um, als Barbara eintrat.

»Herr Hirschfeld hat mir gerade von dem Mord an Gerhard Herborn erzählt.«

»Der Mord in Mülheim-Styrum!« Sie sah Heyers erstauntes Gesicht und lächelte. »Nein, ich kann immer noch nicht hellsehen. Gunter Reitze hat ihn gerade eben erwähnt.«

»War es der erste, Herr Hirschfeld?«, fragte sie und zog sich einen Stuhl heran.

Hirschfeld schien überrascht, dass sie ihn direkt ansprach. »Nein.«

»Immer vorausgesetzt, du bist einverstanden, Sven, hätte ich gern zunächst einen Überblick, bevor Sie uns Einzelheiten zu den Taten schildern.«

Sven nickte. Ihm war klar, dass Barbara vor allem eines feststellen wollte: Ob es Morde gab, die bisher nicht bekannt waren.

»Also, da ist die kleine Janicek, das habe ich denen unten ja schon erzählt. Und dieser Herborn, das war vorher. Und kurz davor in Düsseldorf die Rebecca Langhorn.«

Barbara kannte den Fall. Eine erfolgreiche Werbetexterin, deren Leiche mehrere Wochen nach ihrem Verschwinden auf dem Gelände des Bilker Güterbahnhofs Nähe Werhahn gefunden worden war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass hier ein Messer im Spiel gewesen wäre.

»Das waren Rasierklingenschnitte, oder?« Sven verriet nichts mit seiner Frage, das hatte in der Zeitung gestanden.

»Na ja, ich mach es nicht immer auf dieselbe Weise. Deshalb ist mir ja auch niemand auf die Schliche gekommen.« Hirschfeld rollte die Schultern. »Können Sie mir die Dinger nicht abnehmen? Ich bin ja freiwillig hier, ich hau schon nicht ab.«

Sven griff zum Telefon. »Jemand soll hochkommen und sich vor die Tür stellen.« Er vergewisserte sich noch, dass seine Waffe unter Verschluss lag, und legte seine Schere in die Schublade, dann nahm er Hirschfeld die Handschellen ab.

»Die Kleine in Dortmund vor drei Wochen, das war ich auch. Der habe ich mit einem Schnitt die Kehle durchgeschnitten«, sagte Hirschfeld völlig unvermittelt, nachdem er es sich auf dem Stuhl richtig bequem gemacht hatte.

Barbara seufzte unhörbar. Auch dieser Fall war weit über Dortmund hinaus durch die Medien gegangen. »Fehlen noch zwei«, sagte sie.

Hirschfeld setzte ein überlegenes Lächeln auf. »Ja, die habe ich mir aufgespart. Bis jetzt glauben Sie mir doch kein Wort, oder?«

»Bis jetzt ist auch das einzig Neue, dass die besagten vier Fälle von einem Täter begangen worden sein sollen«, meinte Sven.

»Von mir. Ich habe sie umgebracht.« Hirschfeld schien das sehr wichtig zu sein. »Aber ich sagte ja, es sind sechs Morde. Und von den anderen beiden werden Sie noch nichts gehört haben. Das ist schon ein bisschen her. Und die Leichen sind gut versteckt. Kann ich vielleicht ein Glas Wasser haben?«

Sven seufzte, stand aber auf, um am Waschbecken ein Glas zu nehmen und es zu füllen. Er stellte es vor Hirschfeld auf den Tisch. Dieser nahm einen langen Schluck und genoss es, Barbara und Sven auf die Folter zu spannen.

»Ich habe eine alte Frau erwürgt. In Bochum.«

»Wann war das?«, fragte Sven.

»Letztes Jahr im Frühjahr. Am 10. April, um genau zu sein. Die Leiche habe ich auf einem brachliegenden Bahngelände versteckt.«

»Wissen Sie, wie sie hieß?«

»Das habe ich erst aus der Vermisstenmeldung in der Zeitung erfahren.«

»Der Bochumer Lokalzeitung?«, fragte Barbara.

Er nickte. »Ich komm viel rum. Ich habe freie Fahrt, nen Schwerbehindertenausweis. Und ich wollte ja auch wissen, ob sie jemand vermisst. In dem Alter könnte es ja auch sein, dass ihr Verschwinden gar nicht auffällt. Sie hieß Anna Koslinski.«

Sven griff zum Telefon und bat Reitze, die Vermisstendateien zu checken.

»Dann möchte ich, dass Sie mir jetzt ganz genau beschreiben, wo Sie sie versteckt haben.«

»Kann ich machen. Aber da ist es so dunkel, da könnte es sein, dass Sie sie nicht finden.«

»Das lassen Sie mal unsere Sorge sein.«

Hirschfeld beschrieb das Bahngelände, die Stelle, wohin er die Frau verschleppt und wo er sie dann erwürgt hatte. »Ich hatte nichts bei mir, da musste ich es eben mit den Händen machen.« Danach hatte er sie hinter ein verlassenes Gebäude geschleppt und einige leere Chemiefässer, die dort herumstanden, über ihr aufgetürmt. »Das ist ne geschützte Stelle, da weht der Wind nichts weg.«

Das Telefon klingelte. Es war Reitze. Barbara sah, was Sven notierte: Anna Koslinski, 68, wohnhaft auf der Fritz-Reuter-Straße in Bochum-Wattenscheid, verschwunden seit April 2004.

Hirschfeld sah ihn erwartungsvoll an. »Na, wollen Sie denn niemanden anrufen?«

»Wir sind ja noch nicht fertig«, meinte Barbara. »Eine Leiche fehlt noch.«

»Tja, das war die zweite, im Herbst 2004. Ne junge Frau, ne Hübsche. Das war ne Russin oder Tschechin. Wie sie hieß, weiß ich nicht, es stand auch nichts über sie in der Zeitung. Sie war ne Nutte.«

»Eine Illegale?«, unterbrach ihn Sven.

»Möglich. Der habe ich mit so einem kleinen Hammer den Schädel zertrümmert.«

»Wo war das?« Sven hatte die Notizen über den möglichen Fundort in Bochum beendet, er wollte nicht warten, bis er das Band abhören konnte.

»In Duisburg. Aber sie kam aus Essen. Ich sagte ja, ich komme viel herum.«

»Und wo genau liegt die Leiche?«

»Das ist schwierig. Ich habe sie vergraben. Damals wollte ich sie noch verstecken, wissen Sie?«

Barbara entschied, dass das eine wichtige Information war. Offensichtlich hatte er – vorausgesetzt er sagte die Wahrheit – sich von irgendeinem Zeitpunkt an entschlossen, die Leichen nicht mehr zu verstecken. Das konnte zweierlei bedeuten: zum einen den Drang, erwischt zu werden, um nicht mehr weitermorden zu müssen. Zum anderen, mit seinen Taten in die Medien zu kommen, um zweifelhafte Berühmtheit zu erlangen. Beides war wohl schief gegangen. Die Serie war nicht als Serie erkannt worden, es wurde nach einzelnen Tätern gesucht. Aber immer noch war es möglich, dass Hirschfeld sich nur für einen Serientäter ausgab.

»Da werden Sie ganz schön suchen müssen. Das war ein Firmengelände im Gewerbegebiet Hochstraße in Duisburg-Rheinhausen. Die Firma hat Pleite gemacht. Da gibt es so einen großen, umzäunten Platz, der ist von vorne nicht einzusehen, nur von einer Seite, vom Gelände einer anderen Firma. Aber nachts war da ja keiner, bloß ein großer Hund. Der hat auch ganz schön Krach gemacht, aber niemand hat darauf reagiert. Ich habe sie irgendwo am hinteren Ende verscharrt. Wenn ich die Stelle sehe, dann kann ich bestimmt sagen, wo genau.«

»Na, so weit sind wir noch nicht«, meinte Sven. »Ich denke, wir fangen mal mit der Bochumer Leiche an, weil die leichter zu finden ist und sehen dann weiter. Sie kommen jetzt in unser Gewahrsam, morgen führen wir Sie dem Haftrichter vor. Ich muss Ihnen leider wieder Handschellen anlegen.«

Er fesselte ihn wieder und rief dann den Beamten vor der Tür herein. Als der mit Hirschfeld das Büro verlassen hatte, ließ sich Sven mit der Bundespolizei in Essen verbinden, zu deren Bezirk Bochum gehörte. Wenn das Gelände, wo Hirschfeld angeblich die Leiche der alten Frau abgelegt hatte, noch Bahngelände war, war sie und nicht die Ortspolizei zuständig.

Es dauerte eine Weile, bis er dem Beamten am anderen Ende verständlich gemacht hatte, um was es ging, doch dann versprach dieser, sofort jemanden dorthin zu schicken.

»Er hat das Gelände aus den Beschreibungen heraus sofort erkannt. Er meinte zwar auch, dass das im Dunkeln schwierig werden könne, aber sie fahren mit Kollegen aus Bochum raus und sehen sich die Sache an.«

Er lehnte sich zurück und seufzte. »Nun, was hältst du von der Sache. Ist Hirschfeld echt?«

Barbara runzelte die Stirn. »Ein Teenie, zwei junge Frauen, eine alte Frau, ein älterer Mann und ein Kind. Ein Hammer, Messer, Rasierklingen.«

Heyer nickte. »Ich weiß, was du meinst. Da gibt es keine wirklichen Gemeinsamkeiten. Wie Julia Janicek zugerichtet war, weißt du. Gerhard Herborn trug einen Strick um den Hals, mit dem er vermutlich bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt wurde. Dann wurden ihm die Schlagadern an den Armen und den Beinen geöffnet, und er wurde regelrecht ausgeblutet. Und der kleinen Fatma in Dortmund wurde die Kehle durchgeschnitten – ein einziger Schnitt, wie Hirschfeld betont hat. Rebecca Langhorn war mit Rasierklingenschnitten übersät.«

»Bei all diesen bekannten Fällen floss ungewöhnlich viel Blut, nicht war?« Barbara hielt einen Moment inne.

»Ja, aber was ist, wenn in Bochum und bei dem anderen Duisburger Fall gar keines geflossen ist?«

»Wenn in Bochum eine Leiche gefunden wird, sollten wir das LKA einschalten. Egal, ob Hirschfeld unser Mann ist oder nicht. Die Fälle sind über das ganze Ruhrgebiet verstreut. Das kann nicht mehr Sache einer Ortspolizei sein.« Sie lächelte Sven an. »Ich glaube nicht, dass du befürchten musst, dich lächerlich zu machen, Sven.«

»Gut, aber warten wir die Nachricht aus Bochum ab.« Er blickte sie direkt an. »Du siehst wirklich müde aus, Barbara.«

»Ich sagte doch, ich war sieben Stunden auf der Autobahn heute.« Und außerdem kann es sein, dass mein Mann mich betrügt, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Vielleicht solltest du nach Hause fahren. Ich habe deine Zeit wirklich genug in Anspruch genommen.«

Nach Hause. Es war jetzt kurz nach elf. Das bedeutete, dass Thomas auf jeden Fall noch wach war. Und sie hatte nicht die geringste Lust, ihm heute Abend noch zu begegnen.

»Nein, erst will ich wissen, ob wir es hier wirklich mit einem Serienmörder zu tun haben könnten. Hast du einen Kaffee?«

»Ich könnte einen kochen oder wir ziehen einen am Automaten. Ist aber nur zu empfehlen, wenn du wirklich schnell Koffein brauchst.«

Barbara schüttelte den Kopf. »Mach lieber hier einen.« Sie erinnerte sich noch gut an die Automatenbrühe.

»Wie geht es dir?«, fragte sie Sven, der an der Kaffeemaschine herumhantierte.

»Gut. Sehr gut. Ich bin seit anderthalb Jahren geschieden und werde in einigen Wochen wieder heiraten.« Er drehte sich um und lächelte sie strahlend an. »Wir erwarten im November unser Baby, weißt du. Es wird wohl ein Junge.« Sven hatte aus erster Ehe zwei Töchter, die bei der Mutter lebten. Er hatte es also geschafft. Er hatte wieder eine Familie. Barbara wurde klar, warum er sich so lange nicht bei ihr gemeldet hatte. Eine Familie war alles, was er sich immer gewünscht hatte. Als er sich in sie verliebt hatte, hatte er vergeblich gehofft, dass er mit ihr eine gründen könnte. Schon allein das war für Barbara ein Grund gewesen, die Flucht zu ergreifen und die kurze Affäre zu beenden.

»Schön für euch. Ich freu mich.«

»Und du und Thomas? Er ist jetzt wieder gesund, habe ich gehört? Ich habe neulich mal Heinz Wersten getroffen.« Er fügte das fast entschuldigend hinzu. Heinz, der pensionierte LKA-Beamte, war einer von Thomas’ und Barbaras engsten Freunden.

»Ja, er hat ein neues Herz. Und bis auf einige Medikamente, die er schlucken muss wegen der möglichen Abstoßung und der Infektionsrisiken, ist er so gesund wie noch nie in seinem Leben. Er fährt wieder selbst Auto, unterrichtet ein volles Pensum an der Uni und treibt Sport.«

»Das ist ja schön für dich, dass du dich nicht mehr so um ihn sorgen musst.«

Nicht um seine Gesundheit, dachte Barbara zynisch. Aber sie wollte nicht, dass Sven merkte, dass es ihr nicht gut ging, sie wusste, er war sensibel genug, um zu spüren, dass etwas nicht stimmte. »Unser Leben hat sich wieder sehr verändert«, sagte sie deshalb leichthin. »Als er noch so krank war, verbrachten wir praktisch jeden Tag miteinander, wir wollten keine einzige Minute verschwenden.«

»So viel Nähe?« Sven klang ein wenig sarkastisch. Das war genau das, was Barbara ihm damals nicht zugestanden hatte.

Barbara wunderte sich ein wenig. Gerade eben hatte er noch von einer glücklichen, neuen Familie erzählt, und jetzt klang deutlich Bitterkeit durch.

»Wenn der Tod praktisch jeden Moment kommen kann, wirft man schon einiges an Überzeugungen über Bord«, sagte sie leise. »Aber jetzt lebt wieder jeder von uns sein eigenes Leben.« Sie wusste in diesem Moment nicht, ob ihr das wirklich gefiel. Und wenn Thomas’ neues Leben in der Affäre mit einer Studentin gipfelte …

Sie beschloss, Sven direkt zu fragen. »Du hast mir die Sache damals nicht verziehen, oder?«

»Nein, nicht wirklich.«

Seine einfache Antwort überrumpelte Barbara.

»Liebe hört nicht einfach auf, weißt du.« Er setzte sich hin, während die Kaffeemaschine unter lauten Geräuschen das gebrühte Wasser durchzog.

»Eben.« Barbara sprach von Thomas, und sie wusste, dass Sven das klar war. »Bist du glücklich mit deiner neuen Frau?«

Er zuckte die Schultern. »Wir verstehen uns gut. Sandra ist sicher ganz anders als Michaela und auch ganz anders als du. Sie ist erst zweiundzwanzig, und dann wurde sie schwanger.«

»Heutzutage muss man nicht wegen eines Kindes heiraten.«

Barbara sah ihn an. »Du hast sie dazu überredet, nicht wahr? Weil du unbedingt eine Familie haben willst. Ach, Sven.«

»Es geht dich eigentlich nichts mehr an, oder?«

»Da magst du Recht haben.«

Die nächsten Minuten verbrachten sie in quälendem Schweigen. Barbara schlürfte ihren Kaffee und vermied es, Sven anzusehen.

Das Telefon erlöste sie schließlich aus der peinlichen Situation. Barbara wartete, bis Sven das Gespräch beendet hatte.

»Sie haben sie am angegebenen Ort gefunden. Eine stark verweste Leiche, Kleidungsreste lassen darauf schließen, dass es sich tatsächlich um eine ältere Frau handelt. Der Fundort wird jetzt gesichert, morgen Früh rücken die Kriminaltechniker an.«

»Du solltest das LKA ebenfalls morgen so früh wie möglich einschalten«, sagte Barbara. »Vielleicht ist es besser, wenn Max Erhard das macht.« Erhard und sein Team waren die besten Kriminaltechniker des LKA, Barbara hatte oft mit ihm gearbeitet.

»Ja, gleich morgen früh um acht.« Sven sah auf die Uhr. Es war fast Mitternacht. »Machen wir Schluss für heute.« Er sah Barbara an. »Danke, dass du das gemacht hast.«

Sie nickte. »Ab morgen sind dann andere Leute an dem Fall. Das LKA hat eigene Fallanalytiker, die sich mit Hirschfeld befassen können.«

Er lächelte. »Die Beste bist immer noch du.«

Aber Barbara spürte deutlich Erleichterung, dass ihm solche peinlichen Momente wie eben wohl in Zukunft erspart bleiben würden. Sie verabschiedeten sich mit einem Handschlag.

Auf der Rückfahrt nach Kaiserswerth ertappte sich Barbara dabei, langsamer als gewöhnlich zu fahren. Zwar hatte sie die Hoffnung, dass Thomas vielleicht doch schon zu Bett gegangen wäre, doch sie kannte ihn gut genug. Je sicherer sie sich wurde, dass er zu Hause auf sie wartete, desto mehr schlich sie über die B 8. Erst als ein anderer später Autofahrer sie ziemlich riskant überholte, riss sie sich zusammen.

Während sie den Wagen vor der Villa parkte, sah sie den kleinen Lichtschimmer, der durch das Arbeitszimmerfenster fiel. Vermutlich wartete er im Wohnzimmer auf sie. Barbara seufzte und blieb noch einen Moment im Wagen sitzen.

Nein, entschied sie. Keine Diskussionen heute Nacht. Entschlossen stieg sie aus.

Thomas kam ihr im Flur entgegen. »Hallo, das hat ja wirklich gedauert.«

»Sie haben möglicherweise einen Serienmörder.« Barbara warf ihre Tasche in den Flur, und die Tatsache, dass der ordentliche Thomas darüber nicht die Stirn runzelte und nicht einmal eine Braue hob, zeigte ihr, dass er mit seinen Gedanken woanders war.

»Möglicherweise?« Er sah hinter ihr her, denn sie ging schnurstracks in Richtung Schlafzimmer.

»Jemand, der behauptet, sechs Morde begangen zu haben. Und es sieht so aus, als hätte er es wirklich getan. Sie waren nicht als Serie zu erkennen. Heyer informiert morgen Früh das LKA.« Barbara hatte schon begonnen sich auszuziehen und warf ihren Leinenpulli auf den Sessel neben der Tür.

»Barbara …«

»Ich muss sofort ins Bett, ich schlafe gleich im Stehen ein.« Sie legte ihre Hose auf den Sessel, holte sich ihren Pyjama aus dem Bett und verschwand im Badezimmer.

Fünf Minuten später kam sie abgeschminkt und im Pyjama wieder zurück. Thomas hatte ihre Sachen aufgehängt und saß noch vollständig bekleidet im Sessel. »Barbara, was hat Özay dir erzählt?«

»Das hat auch noch bis morgen Zeit.« Sie ging zum Bett, und irgendwie freute sie sich auf einmal diebisch, ihn so auf die Folter zu spannen.

»Ich finde wirklich, wir sollten das aus der Welt schaffen.«

»Ja. Morgen. Gute Nacht.« Barbara stieg ins Bett. Thomas stand auf und ging hinaus.

Das riesige Bett war groß genug, um sich darin für eine Nacht aus dem Weg zu gehen, jedenfalls hoffte sie, bereits eingeschlafen zu sein, wenn er ins Bett kam. Doch als sie nach langem Hin- und Herwälzen auf die Uhr sah, war es bereits halb drei, und Thomas war immer noch nicht da. Leise stand sie auf, um zur Toilette zu gehen, immer in Erwartung, dass er noch wach im Wohnzimmer säße und seine Aussprache fordern würde. Doch dort war alles dunkel. Schließlich fand sie ihn tief schlafend im Wintergarten auf der bequemen Lederliege, unter einer leichten Decke.

Sie betrachtete ihren Mann mit merkwürdig gemischten Gefühlen. Dort lag der Mensch vor ihr, der ihr näher gekommen war als irgendjemand vor ihm, nicht einmal ihre Eltern hatte sie so nah an sich heran gelassen. Er kennt mich besser als ich mich selbst, dachte sie. Nicht zum ersten Mal. Das mochte auch immer noch so stimmen. Nur ob sie Thomas noch kannte, zwei Jahre nach der Transplantation, das konnte sie nicht mehr beantworten.

Zurück im Bett ließ die Erkenntnis, dass er nicht mehr kommen würde, sie vor Erschöpfung endlich fest einschlafen.

2.

Am anderen Morgen wurde sie von Kaffeeduft geweckt. Sie schlug die Augen auf und neben ihrem Bett stand ein Tischchen mit einem kompletten Frühstück. Thomas goss gerade den Kaffee ein. Er würde es ihr also nicht leicht machen.

Sie setzte sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Schon eine ganze Weile war es her, seit sie sich entschlossen hatte, sie wieder halblang zu tragen, wie früher zu BKA-Zeiten. Heute hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, dass die Haare sie störten.

»Ausgeschlafen?«, fragte Thomas. Sie versuchte die Zärtlichkeit aus früheren Tagen herauszuhören, fand sie aber nicht. Es war nur wenig mehr als eine nüchterne Frage. Du interpretierst zu viel hinein, dachte sie. Immerhin musste er sehr nervös sein.

»So ziemlich«, antworte sie und akzeptierte seinen Kuss auf die Wange, erwiderte ihn aber nicht.

»Wir müssen wohl reden«, meinte er leise. »Aber wenn du erst in Ruhe frühstücken willst …«

»Das würde ich gern, aber es ist wohl dir gegenüber nicht ganz fair.«

Er zog sich den Sessel heran. »Özay hat dir von Katharina erzählt.«

Barbara versuchte auf seinem Gesicht zu ergründen, was dieser Name ihm bedeutete. »Er sagte mir nicht, wie sie heißt. Nur dass du wohl mit ihr geschlafen hast. Du hast ihn in arge Gewissensnöte gebracht.«

Thomas seufzte. »Ich weiß, es war sehr dumm von mir, ausgerechnet ihn zu engagieren. Aber du sagst immer, er ist der Beste. Und ich wollte den Besten, um sie zu finden. Sie ist sehr labil und ich habe Angst, sie könnte sich etwas antun.«

»Weshalb sollte sie das?« Barbara beschloss, sich ein Brötchen zu schmieren, um ihn nicht die ganze Zeit ansehen zu müssen.

»Weil ich ihr gesagt habe, dass Schluss ist und ich bei dir bleiben will. Weil du die Frau bist, die ich liebe.«

»Aber vögeln musstest du sie vorher noch?« Barbara schreckte selbst zusammen vor der Schärfe, mit der sie das sagte.

»Das ist hier kein Polizeiverhör, Barbara.«

»Ja, ich vergaß. Ein so nobler Mensch wie du vögelt nicht.« Verbissen strich sie weiter Butter auf das Brötchen, so lange, bis Thomas ihr sanft das Messer aus der Hand nahm.

»Kannst du einen Moment zuhören? Du hast alles Recht, wütend zu sein, aber ich habe auch das Recht, dir zu erzählen, was passiert ist und vielleicht auch warum.«

Barbara brachte nur eine Geste zustande, die einladend wirken sollte, und warf das Brötchen auf den Teller.

»Sie kam im letzten Jahr zum ersten Mal in mein Seminar. Eine sehr hübsche, sehr kluge und sehr ehrgeizige Person. Sie glänzte immer mit ihren Beiträgen, nahm an den Gesprächskreisen außerhalb der Uni teil. Und dann kam sie plötzlich nur noch unregelmäßig, wirkte fahrig und ungepflegt. Irgendwann habe ich mir sie geschnappt und zum Reden gebracht. Sie hatte schlimme Depressionen, ein Wunder, dass sie es überhaupt noch vor die Tür schaffte. Ich schickte sie zu einem vernünftigen Arzt und hatte ein Auge auf sie. Und sie, kaum war sie aus dem Gröbsten heraus, verliebte sich.«

Barbara atmete tief durch. »Und das geschah natürlich ganz ohne dein Zutun.«

»Es war sehr schmeichelhaft für mich und … ich gebe ja zu, dass ich schon ein wenig – sagen wir – entwöhnt war. Wir sind jetzt acht Jahre zusammen, Barbara. Wir lieben uns, aber verliebt würde ich das nicht nennen.« Man konnte ihm ansehen, dass er das bedauerte. Aber Barbara musste sich eingestehen: Er hatte Recht.

»Wir sind ein altes Ehepaar, Thomas. Daran ist nicht zu rütteln.« Wir waren es nicht, als du lebensbedrohlich krank warst, fügte sie in Gedanken hinzu und erschrak fast darüber.

»Ja. Es ist keine Entschuldigung, aber doch eine Erklärung dafür, warum ich schwach geworden bin.«

Barbara schob das Frühstückstischchen beiseite, damit sie aufstehen konnte. »Du hast Recht, es ist keine Entschuldigung dafür.« Sie wünschte, sie hätte den Mumm, einfach mit der Faust auf das Tischchen zu schlagen und die Scherben des teuren Porzellans auf dem noch teureren Teppich zu verteilen, aber sie stand einfach nur auf und ging zur Tür. »Erklärungen, Thomas, Erklärungen gibt es eine Menge. Du hättest das nicht getan, wenn unsere Beziehung wirklich in Ordnung wäre. Und ich würde vielleicht eine Menge Erklärungen haben, wenn ich den Mann noch kennen würde, der da jede Nacht neben mir schläft. Aber das tue ich nicht. Und deshalb kenne ich auch den Mann nicht, der mich jetzt betrügt.«

»Und ich kenne dich immer noch gut genug, Barbara, um zu wissen, dass du jetzt weglaufen wirst.«

»Weglaufen?« Barbara drehte sich um. »Ja, das wäre vielleicht eine gute Idee. Aber das brauche ich gar nicht. Denn du bist ja kaum hier.«

Immer noch funktionierten die alten Mechanismen, die Thomas in den langen Jahren der Herzkrankheit seit seiner Kindheit entwickelt hatte. Barbara konnte Anzeichen erkennen, dass er wütend war. Aber er war niemals aufgeregt. »Dann wäre es dir lieber, wenn ich weiterhin hier zu Hause hocken würde, während du deiner Karriere nachgehst?«

»Es gibt auch Kompromisse.«

»Deine Fälle sind immer wichtiger als jeder Kompromiss. Und soll ich dir mal was sagen? Meine Forschungen, meine Seminare und meine Studenten sind auch wichtig.«

»Wolltest Du nicht sagen: Studentinnen?« Sie wandte sich zum Gehen.

Thomas packte sie sanft am Arm. »Wo willst du hin?«

»Ich werde duschen, Thomas. Nur duschen. Dann schreibe ich einen Bericht für Sven Heyer und bereite mein Seminar für Dienstag vor.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mich daran erinnern, dass du mir immer vorgeworfen hast, nicht zu kommunizieren.«