Totenstill - Silvia Kaffke - E-Book

Totenstill E-Book

Silvia Kaffke

4,4

Beschreibung

Zunächst glaubt Barbara noch an einen üblen Scherz, als pünktlich zu ihrer Vorlesung über den Serienmörder Kroll Schweinedärme in einer Uni-Toilette schwimmen. Doch dann tauchen Leichen auf, die wie bei anderen berühmten Fällen zugerichtet wurden. Barbara hat seit drei Semestern einen Lehrauftrag für Investigative Psychologie an der Uni, außerdem hält sie Vorträge an den Polizeifachhochschulen und wird des Öfteren als externe Beraterin zu schwierigen Fällen hinzugezogen. Ein solcher Fall eines Serienvergewaltigers führt sie zurück nach Burg im Kreis Dithmarschen, dem Ort ihrer schlimmsten Niederlage, dem Fall Schmidtmann. Noch immer wirft sie sich vor, damals das dritte Opfer nicht gerettet zu haben, weil sie ein falsches Täterprofil erstellt hatte. Barbara will nicht wahrhaben, dass es bei den neuen Morden um sie geht und entdeckt die Verbindung zu den Serienmorden der Vergangenheit erst, als es fast schon zu spät ist...

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Silvia KaffkeTotenstill

Bisher von der Autorin erschienene Titel bei KBV:

»Totenstill«»Blutleer«

Silvia Kaffke, geboren 1962 in Duisburg, kam über Zeitschriftenstories zum Krimi. »Messerscharf« war ihre erste Buchveröffentlichung und wurde für SAT1 verfilmt. 2002 folgte »Herzensgut«. Die Stadt Düsseldorf verlieh ihr den Kulturförderpreis für Literatur 2000. Außerdem war sie für den Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden nominiert.

Silvia Kaffke

Totenstill

1. Auflage 20052. Auflage 2008

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlagillustration: Ralf KrampISBN 978-3-937001-53-1E-Book-ISBN 978-3-95441-044-6

Für Uwe, er weiß, warum.

1. Kapitel

Sanft. Das war das einzig richtige Wort. Ihr Leben war sanft geworden.

Barbara hockte im warmen Jogginganzug auf der Terrasse der Hielmannvilla. Sie fröstelte. Es war Ende April, tagsüber kletterte das Thermometer mühelos über zwanzig Grad, aber jetzt, am frühen Morgen, konnte es noch empfindlich kalt sein. Der Garten stand in Frühlingsblüte, letzte Osterglocken, Hyazinthen und viele Tulpen leuchteten zwischen Sträuchern und Bäumen, die erste zarte Knospen oder Blätter zeigten. Hier und da strahlten Forsythien im schon verwelkenden satten Gelb, und Zierobstbäume schüttelten Blütenschnee auf den Rasen.

Sie hatte diesen wunderbaren Garten im letzten Sommer zu schätzen gelernt. Mit seinen wohlgeordneten Beeten, die sich mit kalkuliert wilden Flecken abwechselten, wo kleine verschwiegene Bänke oder Sitzgruppen einen Rückzugsort boten, entschädigte er für vieles. Vor einem Jahr waren Barbara und Thomas hier eingezogen.

Annette Hielmann hatte bereitwillig das untere Stockwerk der Villa für ihren Sohn Thomas und für Barbara geräumt, als klar wurde, dass Thomas auf Dauer die Treppen zu seiner Stadtwohnung im ersten Stock nicht mehr bewältigen konnte. Hier war an guten Tagen immerhin ein Ausflug in das Zentrum von Kaiserswerth oder ein Spaziergang am Rhein möglich. Und an schlechten waren es wenigstens ein paar Schritte im Garten.

Thomas trat leise neben sie und zog sich einen Stuhl heran. Er reichte ihr eine Tasse Tee.

»Danke.« Sie trank und dachte an das Ritual, mit dem er den Tee zubereitet hatte: Zwei Kannen wurden mit heißem Wasser vorgewärmt, in der einen zog dann der Ansatz exakt zwei Minuten, bevor er durch ein Sieb in die zweite gegossen und aufgefüllt wurde. Es war der feinste Darjeeling, den man in Düsseldorf kaufen konnte. Barbara blies in die dampfende Tasse und nahm einen Schluck. Er schmeckte einfach wunderbar.

Es war Montag, noch früh, kurz nach Sonnenaufgang. Sie schliefen selten länger. Das Tageslicht war zu kostbar, seit sie alles in gute und schlechte Tage einteilten. Heute war ein guter Tag, ein sehr guter, das konnte sie spüren.

»Lass uns heute Vormittag zum Carlsplatz fahren«, meinte Thomas. »Ich würde uns gern was Feines kochen.«

Barbara nickte und stand auf. Thomas saß auf dem eleganten Metallstuhl, den Bademantel offen über dem dunklen Pyjama. Er war weniger hager als früher, durch die Herzkrankheit kämpfte er immer häufiger mit Wassereinlagerungen. Seine Haare waren grauer geworden. Trotzdem wirkte er nicht krank oder schwach. Etwas hatte sich verändert: Die Einsamkeit, die ihn immer wie ein dunkler Mantel umgeben hatte, war verschwunden. Er war zufrieden, fast heiter. Barbara wusste, das war nicht immer so, sein Gesundheitszustand gab auch nicht viel Anlass zur Heiterkeit. Aber einsam war er nicht mehr. Sie waren beide nicht mehr einsam.

»Lass uns hineingehen, Thomas. Es ist kühl.« – Du darfst dich nicht erkälten, fügte sie in Gedanken hinzu.

Thomas seufzte und folgte ihr. Er schlang seine Arme um sie und küsste sie in den Nacken. Barbara blieb stehen und lehnte sich an ihn. Sanft. Zärtlich. So war ihr Leben mit Thomas. – Zerbrechlich, sagte irgendetwas in ihrem Kopf. Sie ignorierte es.

Sie hatten gemütlich gefrühstückt, gemeinsam mit Thomas’ Mutter Annette, deren Haushälterin liebevoll den Tisch gedeckt hatte. Es kam nicht oft vor, dass Annette mit ihnen zusammen war. Von Anfang an, seit sie eingezogen waren, hatte Annette sich bewusst zurückgezogen. Sie ahnte, dass es Thomas schmerzte, seine Stadtwohnung gegen die Villa eintauschen zu müssen. Er hatte es wie eine Niederlage empfunden, nach so vielen Jahren wieder in das Haus zurückzukehren, in dem er seine behütete, von der Herzkrankheit beherrschte Kindheit verbracht hatte. So viele Jahre nach der Operation, die ihm ein nahezu normales Leben eröffnet hatte, schlug die Krankheit nun zurück.

Barbara hatte nicht damit gerechnet, dass sich das Leben unter einem Dach mit Annette so problemlos gestalten würde. Sie fühlte sich endlich akzeptiert – nicht geliebt, aber immerhin. Sie trugen die Sorge um Thomas nun gemeinsam, teilten die Hoffnungen und Ängste. Seit er auf der Transplantationsliste stand, blieb eine von ihnen immer bei ihm.

Wie gewöhnlich kontrollierte sie nach dem Frühstück das Faxgerät in ihrem gemeinsamen Arbeitszimmer. Das Gerät blinkte und zeigte Papiermangel an. Ein Stapel Aktenkopien war angekommen – für sie. Sie füllte den Papiervorrat auf, und aus dem Speicher des Geräts wurden die letzten Seiten ausgedruckt.

Ein zweites Fax erinnerte an die Gesellschafterversammlung der Hielmann GmbH. Seit einiger Zeit nahm Barbara die Interessen der Familie Hielmann allein wahr, Thomas und Annette hatten ihr eine Vollmacht erteilt. Barbara seufzte. Sie verstand ebenso wenig etwas vom Geschäft wie die beiden. Aber sie hatte ihnen gern den lästigen Termin abgenommen. Die regelmäßigen Treffen in der Firma mit dem Geschäftsführer Reitker und der übrigen Geschäftsleitung waren nicht gerade ein Vergnügen für sie. Sie wollte nicht einfach nur Entscheidungen abnicken, sondern wirklich im Sinne von Thomas und Annette und der Firmentradition handeln. Lange schon beabsichtigte sie, sich mehr in Firmenangelegenheiten hineinzuknien, doch ihr neuer Job als Lehrbeauftragte für Investigative Psychologie, der von den Fachbereichen Psychologie und Jura gemeinsam ins Leben gerufen worden war, hatte ihr wenig Zeit dazu gelassen. Jetzt, in ihrem dritten Semester, kam zwar langsam Routine auf, aber nun gab es häufig Anfragen für Vorträge an den Polizeiakademien der Länder, und zudem wurde sie immer wieder zu schwierigen Fällen als externe Expertin hinzugezogen.

Sie las das Anschreiben von Kriminalhauptkommissar Wolfgang Freitag von der Kreispolizei Heide, der sie als Beraterin angefordert hatte. Er rechnete bereits am Mittwoch mit ihrem Besuch. Die Gesellschafterversammlung war für Donnerstag angesetzt. Sie würde absagen müssen.

Der Fall, bei dem Freitag ihre Hilfe benötigte, lag ihr schwer im Magen: ein Serienvergewaltiger, dem im Kreis Dithmarschen bereits zehn Frauen zum Opfer gefallen waren. Ein Geoprofiler hatte versucht, den Täter räumlich einzugrenzen, um die Kandidaten für einen Speicheltest auf eine vernünftige Zahl zu bringen. Die Tests waren jedoch ergebnislos verlaufen, und nach weiteren zwei Monaten stand die Soko aus LKA und örtlicher Polizei wieder vor dem Nichts.

Aber nicht die Taten waren es, die Barbara beunruhigten. Das alles wäre Routine für sie gewesen, wenn nicht eine bestimmte Stadt unter den Tatorten aufgetaucht wäre – Burg. Sie hatte keine gute Erinnerung an diesen Ort.

Thomas kam ins Arbeitszimmer. »Bist du fertig? Können wir los?«

»Los?« Barbara war noch ganz in die Faxe vertieft.

»Der Markt. Weise kommt gleich mit dem Wagen.«

»Ja sicher.« Sie legte die Papiere hin und holte ihre Jacke. Als sie zurückkam, sah sie, wie Thomas einen Blick darauf warf.

»Ich werde Reitker bitten müssen, die Gesellschafterversammlung zu verschieben. Ich muss nach Schleswig-Holstein – nach Heide.«

»Du musst nach Burg.« Thomas’ Blick sagte ihr, dass er genau wusste, was los war. »Vielleicht sollte jemand anderes dorthin fahren.«

Barbara schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt sieben Jahre her.«

»Und Schmidtmann ist seit drei Monaten tot.« Er lächelte. »Du hast es mir nicht erzählt, ich weiß es von Heinz.«

Schmidtmann, der Kindermörder, der Barbara fast aus der Bahn geworfen hätte, hatte sich Ende Januar in seiner Zelle erhängt. Hinterher war bekannt geworden, dass er von seinen Mitgefangenen psychisch und physisch gepeinigt worden war. Kindermörder und Kinderschänder hatten es nie leicht im Knast, aber einer wie Schmidtmann, ein wohlhabender, gebildeter Mann von kleiner, fast zarter Statur, still und introvertiert, war den Repressalien noch weniger gewachsen gewesen. Zudem hatte er keine Chance gehabt, jemals wieder in Freiheit zu kommen, denn nach Abbüßung von fünfzehn Jahren, die eine lebenslange Haftstrafe mindestens dauerte, war Sicherheitsverwahrung angeordnet worden. Und Schmidtmann war bereits über siebzig gewesen.

Die Zustände in der JVA Kiel mussten besonders schlimm gewesen sein. Zurzeit gab es noch eine Untersuchung, die die Rolle der Gefängnisleitung und des Personals in dem Fall klären sollte. Barbara war sicher, dass der Selbstmord des kleinen alten Mannes noch hohe Wellen schlagen würde.

»Warum musste ich es von Heinz erfahren?«, hakte Thomas nach.

Barbara seufzte. »Eigentlich sollte ich darüber hinweg sein. Aber …«

Thomas nahm sie in den Arm. »Du wirst den kleinen Jungen nie vergessen können, ich weiß.«

Es war eine Schuld, die Barbara bis heute mit sich herumschleppte. Sie hatte sich geirrt, ihr Profil hatte einen jüngeren Täter beschrieben, Schmidtmann, der damals vierundsechzig war, wurde laufen gelassen. Und dann hatte er wieder gemordet.

Thomas kontrollierte seine Medikamente und zog seine Jacke an. Weise, sein Fahrer, brachte den Rollstuhl in den Wagen. Zu einem ausgedehnten Bummel fehlte Thomas die Kraft, der Rollstuhl war eine gute Alternative, auch wenn es eine Weile gedauert hatte, bis Thomas sich endlich dazu durchgerungen hatte. Seitdem hatte sich der Radius ihrer Aktivitäten wieder erweitert.

Ruhig und bedächtig machte sich Weise mit den beiden auf den Weg in die Innenstadt. Früher war Barbara seine zurückhaltende Fahrweise oft auf die Nerven gegangen, aber inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Weise fuhr so, wie Thomas gefahren wäre.

Er setzte sie direkt am Carlsplatz ab und Barbara schob Thomas durch die bunten Reihen der Marktstände. Thomas prüfte hier und da sorgfältig die Ware und kaufte die Zutaten für sein geplantes Essen: Pilze, Kräuter, frische Pasta, ein paar Vorspeisen, Ziegenkäse. Von allen Seiten stiegen Barbara die Düfte in die Nase. Sie genoss den Einkauf in vollen Zügen. Auch Thomas schien froh, der Villa eine Weile entkommen zu sein, obwohl er sich nie beklagte.

»Möchtest du noch einen Kaffee trinken?«, fragte er, als sie zum Abschluss an ihrem Stammblumenstand teure Duftrosen erstanden hatten – je einen Strauß für Annette und sich und einen ganz kleinen für Weises Frau.

»Gern.«

Sie ließen Weise kommen, der die Einkäufe einlud, und verabredeten sich mit ihm in einer Stunde am Café.

Inzwischen war es warm genug, um draußen sitzen zu können, und Barbara und Thomas nahmen einen Tisch direkt am Markt. Barbara bestellte einen Latte Macchiato, Thomas nahm Tee. Es war schön, hier in der Sonne zu sitzen. Barbara dachte plötzlich daran, wie sehr diese Art von Normalität sich schon aus ihrem Leben verabschiedet hatte, seit es Thomas immer schlechter ging.

»Reitker braucht die Gesellschafter-Versammlung nicht zu verschieben«, sagte Thomas plötzlich in das Schweigen hinein. »Ich werde diesmal selbst hingehen.«

»Wenn es dir nicht zu viel ist …«

»Ich hatte ohnehin vor mitzukommen. Denn ich habe mich entschlossen, die Firma zu verkaufen.«

Barbara nahm diese Nachricht mit gemischten Gefühlen auf. »So plötzlich?«

Er lächelte nur. Nein, es war nicht plötzlich. Vom geschäftlichen Standpunkt her war es die einzig richtige Lösung, das hatte selbst Barbara erkennen können, seit sie sich um die Firma kümmerte. Nach dem Tod von Thomas’ Bruder Wolfram vor sieben Jahren war es kontinuierlich bergab gegangen, und die Konjunkturflaute in der Baubranche tat ihr übriges. Auf Anraten der Finanzberater war die Gesellschaftsform direkt nach Wolframs Tod von einer KG in eine GmbH umgewandelt worden, was das private Vermögen der Hielmanns strikt vom Firmenvermögen trennte und sie von der Haftung weitgehend befreite. Trotzdem hatten Annette und Thomas erst vor einem Jahr eine große Summe aus ihrem Privatvermögen der Firma überlassen, um während eines Kreditengpasses die Gehälter zahlen zu können. Andererseits war die Firma, auch wenn Thomas nie für sie gearbeitet hatte, ein Familienunternehmen, ein Stück Hielmann seit über hundert Jahren. Es aufzugeben tat sehr weh. Barbara wusste plötzlich, dass Thomas über den Verkauf nachdachte, seit es ihm immer schlechter ging. Er brachte seine Angelegenheiten in Ordnung. Er wollte ihr und seiner Mutter nichts hinterlassen, was sie belasten könnte. Barbara hasste diesen Gedanken.

»Mach dir nichts vor, Barbara. Wenn ich morgen tot wäre und du hättest die Firma am Hals …«

»Du bist nicht morgen tot.«

Wieder lächelte er geduldig. »Es hat keinen Sinn, es zu ignorieren, Liebes.«

Sie rührte heftig in ihrem Kaffee, bis der Milchschaum zusammengefallen war. »Ich ignoriere es nicht«, sagte sie leise, ohne aufzusehen. »Aber du bist nicht morgen tot.«

»Du hast Recht. Trotzdem ist es die richtige Entscheidung, die Firma jetzt zu verkaufen. Nach der letzten Finanzspritze aus unserer Privatschatulle geht es ihr ganz gut, und eine neue Leitung könnte vielleicht die Arbeitsplätze retten.« Er seufzte. »Manchmal wünschte ich, ich hätte mich früher mehr damit befasst, dann würde ich mir jetzt nicht so unfähig vorkommen.« Er nahm einen Schluck Tee. »Letzte Woche bekam ich die Broschüre einer Unternehmensberatung, die sich auf solche Verkäufe spezialisiert hat – Familienunternehmen ohne Nachfolger vom kleinen Handwerksbetrieb bis zum größeren Mittelständler wie Hielmann es ist. Das klang sehr gut, sehr professionell. Wir sollten uns mit ihnen treffen.«

»Woher wissen die von der Situation?«

Thomas zuckte die Schultern. »Es ist doch allgemein bekannt. Hielmann ist eine Größe in Düsseldorf, einer der letzten größeren Mittelständler, die noch in Familienbesitz sind. Und es hat immer Kaufangebote gegeben.« Er stellte die leere Teetasse hin. »Ich finde, dieser Prospekt kommt gerade zur richtigen Zeit. Ich habe keine Ahnung, wie man einen Käufer findet, der die Firma in unserem Sinne weiterführt – die anscheinend schon.«

»Und weiß Annette von deinen Plänen?«

»Ja.«

»Und was sagt sie dazu?«

»Sie steht voll dahinter. Für sie ist die Firma auch nur noch Ballast.«

»Hat sie sich so ausgedrückt?«

Thomas schüttelte den Kopf. »Sie mag sehr traditionsbewusst sein, aber für sie war die Firma auch immer eine Konkurrenz in der Beziehung zu Vater. Er hat sich für das Unternehmen aufgerieben und ist viel zu früh gestorben. Jedenfalls hält sie die Entscheidung für gut und unterstützt mich.«

Jemand versuchte sich an den beiden vorbeizuzwängen und bekam einen roten Kopf, als er gegen den Rollstuhl stieß. Thomas lächelte ihn freundlich an. »So oder so, du hast natürlich auch ein Mitspracherecht. Schließlich gehören dir fünfundzwanzig Prozent.«

Die Hälfte von seinem beträchtlichen Vermögen. Die Hälfte seiner Firmenanteile. »Du hättest einen Ehevertrag abschließen sollen.« Barbara konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Über dieses Thema hatten sie sich sogar gestritten. Irgendwie war ihr sein Geld immer noch unheimlich, und jetzt besaß sie die Hälfte davon.

»Hättest du mich dann geheiratet?«, fragte er mit seinem bezauberndsten Lächeln zurück.

»Niemals.« Das war ein Scherz, aber Barbara wurde den Verdacht nie los, dass auch ihre Heirat zu den Angelegenheiten gehörte, die er ordnen wollte.

Es wurde ein schöner Abend. Thomas hatte sich nach dem Bummel ausgeruht, dann gingen sie gemeinsam ans Kochen. Barbara war keine große Köchin, allenfalls eine Küchenhilfe, aber es machte ihr Spaß, gemeinsam mit Thomas am Herd zu stehen. Er zauberte wunderbare Pasta mit Pilz-Kräutersauce, die jedem Restaurant zur Ehre gereicht hätte. Das Aufräumen überließen sie der Haushälterin. Gewöhnlich war Thomas nach dem Kochen und Essen sehr müde. Er hatte sich ein Glas Rotwein gegönnt. Den Cognac hatte er inzwischen aufgegeben, und eigentlich war auch der Rotwein nicht gut für ihn, aber er wollte und konnte nicht auf alles verzichten.

Er zog sich aus, Barbara wusste, er würde heute nicht mehr aufstehen. Aufmerksam beobachtete sie seinen Körper, doch sie entdeckte keine Schwellungen von Wasseransammlungen oder ähnliche Warnzeichen. Es ging ihm wirklich gut heute, auch wenn er sofort einschlief.

Barbara legte sich neben ihn aufs Bett, lauschte seinen Atemzügen in der Stille. Sie genoss jeden Moment der Nähe. Früher wäre ihr nie in den Sinn gekommen, Nähe so sehr zu suchen, im Gegenteil, sie hatte ihr Angst gemacht. Aber jetzt war ihr Zusammensein wie tägliche Nahrung für sie und sie wurde nie satt davon.

Sie dachte an manch mitleidige Blicke von Kollegen oder Bekannten, die sie bedauerten, dass sie mit einem schwerkranken Mann lebte. Selbst ihre Eltern fragten oft danach, wie sie es aushielt. Aber Tatsache war, dass es nicht Thomas war, der sie brauchte. Natürlich half sie ihm, stand ihm zur Seite, wenn es ihm nicht gut ging. Natürlich war der Gedanke an seinen drohenden Tod nur schwer zu ertragen. Aber eigentlich war sie es, die ihn brauchte, jemanden, der sie besser kannte als sie sich selbst, der ihr half, mit den psychischen Belastungen – neuen und alten – aus ihrem Polizeiberuf fertig zu werden. Er war kein Pflegefall, er war die Mitte ihres Lebens.

Es war fast neun, als Thomas noch einmal munter wurde. Barbara hatte schon eine Zeit lang wach neben ihm gelegen. Eine Weile kuschelten sie sich nur aneinander, küssten und hielten sich. »Mehr?«, fragte er leise.

»Fühlst du dich denn danach?«

»Heute ist ein wirklich guter Tag.« Er ließ sie seine Erektion spüren.

Sie nahmen sich viel Zeit. Sex brachte ihn nicht um, aber die Anstrengung war groß. Oft schliefen sie nicht mehr miteinander, umso mehr Zärtlichkeiten tauschten sie aus. Barbara erwischte sich in letzter Zeit häufiger dabei, dass sie seine Hand hielt oder ihn unbedingt berühren musste. In der sanften Umschlingung beider Körper und dem sachten Auf und Ab lag nun für sie die höchste Erfüllung. Barbara hatte das nicht als Einschränkung empfunden, im Gegenteil, sie hatte sich nie befriedigter gefühlt.

Thomas schlief bald darauf wieder ein, sichtlich erschöpft. Barbara zog die Decke über ihn und stand noch einmal auf.

Sie tat die Dinge, die sie für den gemeinsamen Tag mit Thomas liegen gelassen hatte. Ein guter Tag war viel zu kostbar, um ihn mit Arbeit zu verbringen. Viel zu oft fehlte Thomas die Kraft, um mehr zu tun, als das Bett kurz zu verlassen und gegen das Sofa einzutauschen. Die mittelprächtigen Tage verbrachte er meist mit Arbeiten, immer noch schrieb er Sachbücher, aber er ließ sich viel mehr Zeit damit als früher. Dann kam Barbara natürlich dazu, ihre Seminare und die Vorlesungen vorzubereiten oder einen Fall zu studieren, zu dem man sie hinzugezogen hatte.

Morgen war Dienstag, ihr Uni-Tag, und am Mittwoch würde sie nach Dithmarschen fahren und dort bis Freitagabend bleiben.

Ihre Vorlesung über Serienmörder und Profiling war ein richtiger Straßenfeger. Ihr war schon klar, dass etwa zwei Drittel der jungen Leute, die ihr Woche für Woche zuhörten, weder der psychologischen noch der juristischen Fakultät angehörten. Serienmord war spannend, exotisch, aufregend und eklig zugleich. Und obwohl sich Barbara bemühte, das Thema eher trocken und vollgespickt mit Fakten zu präsentieren, war sie sich ihrer Rolle als Entertainerin durchaus bewusst.

In ihrem Seminar lagen die Dinge anders, der Zugang war beschränkt auf dreißig Teilnehmer, fachfremde Zuhörer waren dort nicht erlaubt. Im Hörsaal aber wartete die Meute auf die realen Hannibal Lecters. Barbaras Spezialität waren die Anpassung der FBI-Methoden an europäische Verhältnisse. Damit hatte sie sich inzwischen einen guten Namen gemacht.

Für alle, die ihre Vorlesung bereits besucht hatten, galt der Abschnitt über den Duisburger Serienmörder Joachim Kroll als ein Highlight. Er war in den 70er Jahren gefasst worden und für acht Morde verurteilt. Gestanden hatte er mehr, aber längst nicht jeder war ihm auch nachzuweisen, und er widerrief zwischenzeitlich dieses Geständnis. Es hatte viele Pannen rund um diesen Fall gegeben, er hätte bereits Jahre früher gefasst werden können, aber niemand kam auf den unauffälligen, unterdurchschnittlich intelligenten kleinen Waschkauenwärter. Erst eine durch menschliche Gedärme verstopfte Toilette in seinem Mietshaus brachte die Beamten auf seine Spur. Weitere Reste seines letzten Opfers, eines kleinen Mädchens aus der Nachbarschaft, fand man in der Tiefkühltruhe und in einem Topf köchelnd auf dem Herd.

Barbara demonstrierte an diesem Fall, dass nicht die intelligenten, sorgfältig planenden Täter, die ein beliebter Gegenstand von Filmen und Literatur waren, der Polizei bei der Aufklärung Probleme bereiteten, sondern gerade die spontan mordenden, nicht planvollen Mörder wie Kroll.

Der Fall würde sie mehrere Vorlesungstage beschäftigen, denn sie beleuchtete jeden Aspekt aus der Sicht heutiger Profiler und Fallanalytiker.

Das Telefon klingelte.

»Hielmann-Pross.«

»Frau Pross, mein Name ist Iskender Özay …«

»Sie sind der Journalist, der mir eine Interview-Anfrage im Auftrag des Rhein-Blitz geschickt hatte.«

»Sie haben nicht geantwortet.« Das klang beinah vorwurfsvoll.

»Nein, weil ich keine Interviews gebe. Ausnahmen sind lediglich Fachzeitschriften.«

»Aber Ihr Fachgebiet ist doch von allgemeinem Interesse. Sehen Sie, der Rhein-Blitz plant eine Serie über große Verbrechen in der Region …«

Barbara unterbrach ihn: »Ihre Zeitung ist ein Boulevard-Blatt übelster Sorte. Ich bediene nicht die Sensationsgier der Leute. Dazu ist das Thema viel zu ernst.«

»Ich versichere Ihnen, ich werde das Thema und ganz bestimmt auch Sie mit Respekt behandeln. Auch bei uns gibt es seriösen Journalismus. Lassen Sie sich doch nicht von Vorurteilen beeinflussen.«

Barbara seufzte: »Das sind keine Vorurteile. Ich habe genügend Erfahrungen mit Blättern wie Ihrem gemacht. Und oft genug haben sie unsere Arbeit in meiner aktiven Zeit sehr behindert. Ich unterstütze das nicht. Das ist mein letztes Wort.«

Sie wollte auflegen, aber Özay sprach hastig weiter: »Hören Sie, Frau Pross, ich habe noch immer meine Story bekommen. Und wenn sich jemand so unnahbar gibt wie Sie, dann stachelt das erst recht meinen Ehrgeiz an. Und da bisher niemand an Sie heran…«

»Sie sagen es. Niemand. Wenn Sie über große Kriminalfälle schreiben wollen, machen Sie Ihre Hausaufgaben und recherchieren Sie sie in den Archiven. Schönen Abend noch.« Damit legte Barbara auf. Als es nochmals klingelte, ignorierte sie es. »Geier«, murmelte sie und wandte sich wieder Joachim Kroll zu.

Barbara betrat den Hörsaal am nächsten Morgen pünktlich um 10.15 Uhr. Wie gewohnt war er bis auf den letzten Platz besetzt, und wo immer man sonst noch sitzen oder stehen konnte, drängten sich die Studenten.

Sie ging zum Pult und sah für einen Moment in die Menge. Dann fiel ihr Blick in die dritte Reihe. Dort saß er. Er war ihr schon bei den letzten beiden Vorlesungen aufgefallen, aber heute erst wurde ihr klar, dass er der Journalist sein könnte, der sie angerufen hatte. Er war jung, wenn auch älter als die Studenten, dunkelhaarig, ziemlich eindeutig ein Türke wie ihr Anrufer. Auf dem Tisch vor ihm lag eine teure Digital-Kamera, er machte aber keine Anstalten, sie zu benutzen.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, begann Barbara. »Heute und in den beiden kommenden Vorlesungen werden wir uns mit dem Fall Joachim Kroll befassen – sozusagen Serienmord gleich um die Ecke, in Duisburg nämlich. Um Ihre Sensationslust gleich zu Anfang zu befriedigen: Ja, es ist derjenige, der aufflog, weil die Gedärme des Kindes, das er getötet und zerstückelt hatte, die Toilette seines Nachbarn verstopften.«

Für einen Moment genoss Barbara die Stille im Hörsaal. Jetzt hatte sie die volle Aufmerksamkeit. Und das blieb so bis zum Ende ihrer Vorlesung.

Wie üblich drängten sich, nachdem sie geendet hatte, noch Studenten um sie, die Fragen hatten. Auch der Journalist kam zum Pult.

»Sind Sie Iskender Özay?«, fragte Barbara ihn ohne Umschweife.

»Ja. Ich wollte noch mal persönlich mit Ihnen reden …«

»Ich habe Ihnen bereits am Telefon alles gesagt. Sie bekommen keine Story von mir. Das ist mein letztes Wort.«

Özay machte eine bedauernde Geste und zog sich ein Stück zurück, um den Studenten den Vortritt zu lassen. Interessiert hörte er zu.

Barbara beendete nach etwa zehn Minuten die Fragestunde. »Tut mir Leid, aber das Seminar fängt in ein paar Minuten an und ich würde mir noch gern einen Kaffee holen.« Sie schlüpfte zwischen den Wartenden hindurch in Richtung Ausgang. Özay folgte ihr.

Barbara blieb vor dem Aufzug stehen, drehte sich zu ihm und betrachtete ihn. Ja, Özay war der Typ, der sich an eine Sache hängte und sich darin festbiss. »Sind Sie wirklich so schwer von Begriff?«, fragte sie.

»Sagen wir mal so: Entweder Sie sind kooperativ und ich bekomme mein Interview, oder der Artikel entsteht ohne Ihr weiteres Zutun, dann haben Sie aber auch keine Möglichkeit, Ihre Sichtweise einzubringen. Ich könnte Ihre Studenten befragen.« Er machte eine Pause und lächelte. »Oder Ihren Mann.«

Barbara holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu bleiben. »Mein Mann ist krank, Herr Özay. Und sollte ich Sie in der Nähe unseres Hauses sehen, oder sollten Sie auch nur versuchen, mit ihm zu telefonieren, werden Sie mehr Ärger bekommen als Ihnen lieb ist.«

»Es liegt in Ihrer Hand …«

Endlich ging die Fahrstuhltür auf. Barbara wollte gerade einsteigen, dreht sich aber noch einmal um. »Sie glauben allen Ernstes, Sie können mich erpressen?«

»In diesem Land herrscht immer noch Pressefreiheit und ob Sie wollen oder nicht, Sie stehen in der Öffentlichkeit. Ich sagte Ihnen ja, ich werde meine Story bekommen, so oder so …«

Er brach ab, denn plötzlich gellten hysterische Schreie über den Flur. Eine Studentin mit kurzen blonden Haaren rannte völlig aufgelöst auf sie zu. Als sie realisierte, dass es Barbara war, die vor ihr stand, stoppte die junge Frau. Sie zitterte am ganzen Körper.

Barbara hielt sie fest. »Beruhigen Sie sich. Was ist passiert?«

»Toilette«, stieß die junge Frau hervor. Sie schüttelte Barbaras Griff ab und deutete auf die Tür der Damentoilette weiter unten im Gang. »In der Toilette schwimmt was … was …« Und dann übergab sie sich direkt vor die Schuhe Özays, der entsetzt einen Schritt zurücktrat.

Barbara winkte einen Studenten heran und bat ihn, sich um seine Kommilitonin zu kümmern. Dann rannte sie in Richtung Toiletten. Özay und ein paar andere Studenten folgten ihr.

Vor der Damentoilette stoppte der Tross. Barbara betrat den Raum allein. Ein merkwürdiger Geruch hing dort in der Luft. Barbara drehte sich um und öffnete die Außentür wieder.

»Kommen Sie«, sagte sie zu Özay und zog ihn mit sich.

»Was soll ich denn …«

»Fotografieren. Sie sollen fotografieren, wenn es etwas zu sehen gibt. Sie wollen doch eine Story, oder?«

Widerwillig ging Özay mit. Es gab vier Kabinen und Barbara öffnete systematisch eine Tür nach der anderen. Bei der dritten wurde sie fündig. In dem hellrot gefärbten Wasser schwammen blassgraue wulstige Stücke. Gedärm. Die ganze Schüssel war voll davon, das Wasser lief schon über den Rand. Es stank bestialisch. Barbara ging fieberhaft ihre Anatomiekenntnisse durch. Konnte das von einem Menschen stammen?

Özay stand mit leicht grünstichigem Gesicht hinter ihr. »Nun machen Sie schon die Fotos, bevor Ihnen ganz schlecht wird«, fauchte Barbara ihn an.

»Das ist ja wie bei Kroll«, stammelte er, hielt dann aber tapfer die Kamera drauf. Hinter ihnen drängten jetzt einige Studenten in den Raum.

»Raus hier, nichts anfassen«, rief Barbara und alle gehorchten. Dann zückte sie ihr Handy.

»Ein Scherz«, sagte Hauptkommissar Lutz Kramer knapp. Er und Barbara kannten sich seit den Ermittlungen im Fall Rottländer vor rund fünf Jahren. Barbara hatte kurzerhand die Teilnehmer ihres Seminars in den Vorraum der Toilette beordert, damit sie zumindest aus einiger Entfernung die Arbeit der Spurensicherer miterleben konnten. Die Ausbeute an Fingerabdrücken war natürlich riesig. Die Herrentoilette nebenan war mit Studenten beiderlei Geschlechts bevölkert, die sich reihenweise übergeben mussten – selbst als feststand, dass es sich um Schweinedarm handelte. Jetzt hatte Barbara die Studenten nach Hause geschickt.

»Ein sehr geschmackloser Scherz.«

»Wussten Ihre Studenten, dass Sie heute über Kroll sprechen würden?«

Barbara nickte. »Ich halte seit drei Semestern die gleiche Vorlesung. Das Vorlesungsprogramm ist bekannt. Deshalb war es so voll heute. Kroll gilt als einer der Höhepunkte. Alle wussten es.« Sie lächelte ihn an. »Wir werden kaum jemand dafür belangen können, Schweinedärme in eine Toilette gestopft zu haben. Und in der Vorlesung sitzen Hunderte von Studenten.«

»Sie sind ein bisschen blass um die Nase. Lange keine unappetitlichen Tatsachen mehr gesehen, oder?«

»Nein. In der heutigen Zeit nicht einmal ungewaschene Studenten …«

Kramer lachte. »Können wir irgendwo einen Kaffee trinken?«

In der Cafeteria war der unheimliche Vorfall das Hauptgesprächsthema. Barbara wurde angestarrt, mal verstohlen, mal offen. Sie wartete auf Kramer, der sich angestellt hatte und nun mit zwei Bechern Kaffee an den Tisch kam.

»Und? Was tun Sie so zurzeit? Ich meine, außer Ihrer Lehrtätigkeit hier.«

»So einiges. Im Herbst gibt es wieder einen Kurs in Hiltrup, denselben werde ich auch in Bayern halten. Eine Woche praktische Fallanalyse. Und morgen geht es nach Schleswig-Holstein …«

»Auch ein Seminar?«

Barbara schüttelte den Kopf. »Beratung der Polizei in den Vergewaltigungsfällen.«

»Dann haben Sie es noch nicht bereut, der Polizei den Rücken gekehrt zu haben?«, fragte er.

»Nicht wirklich. Ich möchte auch möglichst viel Zeit mit meinem Mann verbringen, das hat absolute Priorität.«

»Wie geht es ihm?« Wie immer wurde Kramer leicht verlegen, wenn er nach persönlichen Dingen fragte. Er selbst hatte praktisch kein Privatleben, und es schien ihm immer peinlich zu sein, auf das anderer einzugehen.

»Fragen Sie nur so oder wollen Sie es wirklich wissen?« Barbara bemühte sich, den Satz nicht sarkastisch klingen zu lassen. Kramer sah sie nur kurz an. Sie seufzte. »Er steht seit zwei Monaten auf der Transplantationsliste. Sein Herz ist schwach, aber seit einiger Zeit ist es nicht schlimmer geworden. Es gibt Tage, da liegt er fast nur, an anderen machen wir kleine Spaziergänge oder er benutzt einen Rollstuhl und wir gehen bummeln. Wir sind dankbar für solche Tage und dankbar, wenn es noch ein Weile so bleibt.«

»Sie haben sich nicht unbedingt das leichtere Leben ausgesucht«, sagte Kramer knapp.

»So oder so, ich bin immer nah am Tod. Eigentlich sollte ich mich daran gewöhnt haben. Nur – bei Thomas gäbe es niemanden, den ich dafür verantwortlich machen könnte …« Sie lächelte. »Und nun weg mit den trüben Gedanken, Kramer. Freuen Sie sich, dass das hier kein Mordfall ist.«

»Das tue ich wirklich. Wir haben genug zu tun.«

Er verabschiedete sich, und Barbara ging zu ihrem Büro, das sie sich mit zwei anderen Lehrbeauftragten teilte, um ihre Sachen zu holen und dann auch zu gehen. Sie hätte schon vor drei Stunden zu Hause sein müssen. Als sie an den Toiletten vorbeikam – eine Tür sah hier wie die andere aus – schauderte sie plötzlich. Schweinedärme, ein Scherz. Was, wenn es kein Scherz war? Iskender Özay fiel ihr ein, der mit grünem Gesicht die Fotos geschossen hatte und später durchaus zufrieden weggegangen war. Jetzt hatte er seine Story und Barbara spielte eine Rolle darin. Hatte er vielleicht …? Und wenn nicht er, wer dann?

Energisch schüttelte sie den Kopf. Es gab keine Bedrohung. Da war nur eine Riesenschweinerei, die irgendein armer Hausmeister jetzt beseitigen musste.

Als sie in die Auffahrt der Villa einbog, sah sie gleich den fremden Wagen vor der Tür stehen – ein schwarzer 5er BMW. Im Wohnzimmer saß Thomas mit einem jüngeren Mann, Barbara schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er hatte welliges braunes Haar, trug eine extravagante Brille und war ausgesprochen attraktiv. Neben ihm wirkte Thomas ganz klein und grau. Barbara kniff die Augen zusammen. Es ging ihm nicht gut heute, das war oft die Quittung für einen guten Tag.

»Barbara, darf ich dir Andreas Petri vorstellen, er kommt von dieser Unternehmensberatung Heine Consult, von der ich dir erzählt habe.«

Petri schüttelte Barbara die Hand. »Ich war in der Gegend unterwegs und da Ihr Mann ohnehin ein Gespräch wollte …«

»Sind Sie schon lange hier?«, fragte Barbara, dann besann sie sich eines Besseren: »Ich meine, ich hoffe, ihr habt nicht auf mich gewartet. Ich wurde in der Uni aufgehalten.«

»Nein, wir haben schon ein paar Dinge besprochen. Ich muss es natürlich noch mit Mutter und der Geschäftsführung diskutieren, aber ich persönlich bin ganz zufrieden mit dem, was Sie hier präsentiert haben.« Thomas lächelte. »Das ist aber noch keine Zusage, Herr Petri.«

»Das habe ich auch nicht so verstanden. Auch von unserer Seite müssten noch ein paar Dinge geklärt werden.« Er wandte sich an Barbara. »Ich habe Ihrem Mann eben schon erzählt, dass wir eine Firma genau durchleuchten, bevor wir einen Käufer suchen. Und Sie sind auch einverstanden mit dem Verkauf?«

»Ich betrachte die Firma nicht als meinen Besitz, auch wenn das juristisch zu einem Teil so sein mag. Thomas und seine Mutter können damit machen, was sie wollen.«

Sie stand auf. »Herr Petri, bitte entschuldigen Sie, aber Sie müssen jetzt gehen. Mein Mann braucht dringend Ruhe. Ich schlage vor, wir vereinbaren in den nächsten Tagen einen Termin, an dem meine Schwiegermutter und ich auch teilnehmen, und Sie präsentieren uns Ihre Vorstellungen und Ihre Arbeitsweise noch einmal. Wir werden mit der Geschäftsführung sprechen, und dann sehen wir weiter.« Thomas protestierte nicht, und das zeigte Barbara, dass sie das Richtige tat.

Petri räumte ohne ein Anzeichen von Ärger seine Sachen zusammen und erhob sich. Er verabschiedete sich von Thomas.

»Ich bringe Sie noch hinaus«, sagte Barbara.

Sie gingen durch die kleine Vorhalle. An der Tür drehte Petri sich noch einmal um. »Ihr Mann ist wohl sehr krank, Frau Hielmann.«

Sie nickte. »Sonst würde ich Sie jetzt nicht hinauswerfen …«

Petri lächelte verständnisvoll. »Ich nehme Ihnen das doch nicht übel. Wir haben oft solche Fälle, manchmal noch schlimmere. Nicht immer können die Verkäufer das Ende der Transaktion noch erleben.«

Barbara spürte, wie sie die Farbe wechselte.

Er schien wirklich Routine zu haben, denn er blieb ganz ruhig. »Ich will damit nicht sagen, dass es bei Ihrem Mann so wäre. Sie können von mir und der Firma bei der ganzen Transaktion volle Rücksichtnahme erwarten und dann mit Ihrem Mann die neugewonnene Freiheit genießen.«

Barbara nickte. »Rufen Sie mich an wegen des Termins, hier ist meine Karte.«

Er warf einen Blick darauf. »Das werde ich tun, Frau Dr. Hielmann-Pross. Ich habe Ihrem Mann auch Material dagelassen, Referenzen und so weiter, das können Sie sich ja mal in Ruhe ansehen.«

Sie verabschiedeten sich. Barbara sah ihm noch nach, wie er in sein Auto stieg. Ein merkwürdiger Beruf für einen so jungen Mann, dachte sie. Wahrscheinlich ging er ebenso häufig mit dem Tod um wie mit aktiven, glücklichen Rentnern, die ihren Lebensabend genießen wollten.

Barbara ging zurück zu Thomas ins Wohnzimmer. Er schien regelrecht in sich zusammenzufallen und wirkte völlig erschöpft.

»Du musst dich hinlegen«, meinte Barbara. Thomas nickte nur, stand langsam auf, setzte sich aber gleich wieder.

»Ich helfe dir.«

Barbara stützte ihn, und so gingen sie ganz langsam zum Schlafzimmer. Noch vor wenigen Monaten hätte eine solche Schwäche bei Barbara Panik verursacht, inzwischen kam es so oft vor, dass sie daran gewöhnt war. Solange es eine Erklärung gab, wie den gestrigen Tag, an dem er sich offensichtlich übernommen hatte, und das lange Gespräch mit Petri, machte sie sich keine größeren Sorgen.

»Du hast dich doch schon heute Vormittag nicht gut gefühlt. Warum hast du ihn herkommen lassen?«

»Als er anrief, hatte ich gerade geschlafen und fühlte mich stärker. Ich dachte ja auch, du würdest bald kommen … Was war denn los an der Uni?«

Barbara hatte sich abgewöhnt, Dinge von ihm fernhalten zu wollen. Er merkte es doch, und trotz aller körperlichen Schwäche war er nicht so zerbrechlich, dass ihn eine Geschichte wie die in der Uni umwerfen könnte. Sie erzählte ihm, was geschehen war, verschwieg auch den Journalisten nicht.

Er hörte aufmerksam zu und sah sie dann forschend an. »Wenn das Ganze nur ein geschmackloser Scherz war, Barbara, warum beunruhigt es dich dann so?«

»Ich habe keine Ahnung, Thomas. Aber irgendetwas ist merkwürdig an der Sache – ich habe so ein ungutes Gefühl.«

»Vielleicht hat dieses Gefühl eher etwas mit deiner Reise nach Schleswig-Holstein zu tun.« Er ließ sich bereitwillig von ihr beim Ausziehen helfen, noch ein Zeichen dafür, dass es ihm gar nicht gut ging.

»Ja. Vielleicht sollte ich nicht fahren. Ich möchte dich eigentlich nicht allein lassen, wenn es dir schlecht geht.«

»Ach, was. Es ist die alte Geschichte. Ich habe gestern versucht Bäume auszureißen und bekomme heute sehr deutlich gezeigt, dass ich es nicht mehr kann.« Er streichelte ihr sanft über die Wange. »Komm schon, Barbara. Das ist unser Alltag.«

Ja, er hatte Recht. Das war ihr Alltag. Ihr Leben wurde bestimmt vom Auf und Ab seines kranken Herzens.

Er küsste sie, bevor er sich endgültig hinlegte. »Du musst dich sicher noch vorbereiten für morgen. Lass mich ein bisschen schlafen, dann geht es mir bald besser.«

Barbara gab ihm einen Kuss und verließ das Schlafzimmer.

2. Kapitel

Trotz der Sorge um Thomas genoss Barbara die Fahrt nach Norden. Sie war kurz nach zehn losgefahren in ihrem luxuriös ausgestatteten Jaguar-XK-Cabrio. Eigentlich hatte sie sich einen Golf kaufen wollen, ein richtig vernünftiges Auto, wie sie es immer gefahren hatte. Aber Thomas hatte sie zum Jaguarhändler geschleppt und sie regelrecht verführt, das teure Gefährt zu erstehen.

»Warum erfüllst du dir nicht ein paar Wünsche?«, hatte er sie gefragt.

Jetzt genoss sie den Luxus und die Geschwindigkeit und freute sich darauf, später auf der Landstraße vielleicht mit offenem Verdeck fahren zu können, denn das Wetter war gut.

Bis Hamburg war die Strecke einigermaßen frei, am Elbtunnel gab es dann einen kleineren Stau, der Barbara aber nicht allzu lange aufhielt. Wenig später sah sie dann den imposanten Autobahnbuckel über den Nordostseekanal, der in der flachen Landschaft wie ein Fremdkörper wirkte, und entschied sich kurzerhand, eine Pause auf dem Parkplatz dort oben einzulegen. Tief unter ihr zog sich der Kanal entlang. Das letzte Mal hatte sie ihn vor sieben Jahren gesehen, von einer anderen Brücke aus. Wolfgang Freitag von der Kreispolizei in Heide hatte auf einer ihrer gemeinsamen Fahrten mit ihr dort gehalten. Damals hatten sie gerade Schmidtmann wieder auf freien Fuß gesetzt und Freitag hatte gemeint, ein bisschen frische Luft würde sie vielleicht in die Lage versetzen, die Tatsachen neu zu ordnen und so dem richtigen Täter auf die Spur zu kommen.

Barbara fröstelte plötzlich. Während sie mit Wolfgang Freitag auf den Kanal heruntergeblickt hatte, musste Schmidtmann gerade auf der Suche nach seinem letzten Opfer gewesen sein. Einen Tag später war der Junge tot; ein anonymer Anruf hatte die Polizei auf die Gartenlaube aufmerksam gemacht. Der sanfte Herr Schmidtmann, der Mann mit der dreißig Jahre zurückliegenden Vorstrafe wegen des Missbrauchs eines Jungen, war gerade damit beschäftigt, den toten Körper mit seinen selbstgezogenen Kamelienblüten zu schmücken. Er weinte dabei. Als Barbara und die anderen in der Laube ankamen, war der Körper noch warm. Schmidtmann ließ sich widerstandslos festnehmen.

Sie hatte sich täuschen lassen, täuschen von den üblichen Annahmen, mit denen Profiler arbeiten. Schmidtmann war trotz seiner dunklen Vergangenheit, dem Versteckspiel, das er um seine Homosexualität betrieb und seinen kleinen Verschrobenheiten ein denkbar untypischer Täter. Er war alt, mindestens zwanzig Jahre älter als die meisten Serientäter. Der Junge, für dessen Missbrauch er seine Vorstrafe bekommen hatte, war um die vierzehn und hatte dem Sexualverkehr zugestimmt, ein Stricher. Schmidtmann war niemals als gewalttätig aufgefallen, hatte keine Tiere gequält oder sich als Exhibitionist oder Voyeur betätigt. Die Spuren an den Jungenleichen sprachen jedoch eine andere Sprache: Sie waren nach allen Regeln der Kunst sexuell misshandelt worden.

Barbara atmete tief durch. Damals hatte sie als Mitglied der Gruppe Becker bereits zwei Serien aufgeklärt. Sie galt als der Star der Truppe, man hielt sie für unfehlbar.

»Ich hielt mich für unfehlbar«, murmelte sie jetzt vor sich hin.

Die Touristen neben ihr sahen sie merkwürdig an. Sie drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer. Nie wieder würde sie diese Erkenntnisse einfach als gegeben hinnehmen. Ihre Forschungsarbeit in den letzten Jahren hatte die Fallanalytik in Deutschland weitergebracht. Aber die wichtigste Lektion war und blieb: Nichts ist sicher, und der Verstand sollte sich nie irgendwelchen Regeln beugen.

Sie ging zurück zu ihrem Auto. Das konnte ja heiter werden. Wenn selbst der harmlose Blick auf den Kanal solche Gefühle in ihr auslöste, wie würde es erst werden, wenn sie nach Burg kam?

Etwa gegen vierzehn Uhr kam sie in Heide an. Wolfgang Freitag begrüßte sie herzlich. »Du hast doch sicher Hunger? Gehen wir ins Kotthaus.«

Barbara nickte und erinnerte sich an das gute Essen dort.

Das gutbürgerliche Lokal hatte sich um diese Tageszeit schon geleert.

»Hattest du Zeit, dir die Akten anzusehen?«, fragte Wolfgang zwischen Suppe und Hauptgang.

»Nicht so viel, wie ich mir gewünscht hätte. Es war ja auch ziemlich knapp von Montag bis heute.«

»Tut mir Leid. Aber ich habe ganz schön viele Leute bearbeiten müssen, damit ich dich herholen konnte.«

Der Kellner brachte ihnen ihre Steaks.

»Wie haben sie denn reagiert, als du ausgerechnet mich haben wolltest?«

Wolfgang lächelte. »Natürlich erinnern sich viele an den Fall Schmidtmann. Aber du hast nach wie vor einen Ruf wie Donnerhall, wenn es um Serientäter geht, und es wird langsam Zeit, dass wir Ergebnisse präsentieren können.«

»Und wie werden die Kollegen von damals reagieren, wenn ich ihnen begegne?«

»Mach dir keine Gedanken. Wir brauchen einfach deinen Rat, wir kommen nicht weiter.«

Barbara nickte. »Ich würde gern die Tatorte sehen. Und auch mit einigen der Opfer reden. Das Gutachten des Geoprofilers, aufgrund dessen ihr die Speicheltests durchgeführt habt, wäre auch nicht schlecht.«

»Der Kerl war sehr überzeugend. Aber letztlich hatte er wohl Unrecht. Meldorf ist nicht der Ort gewesen.«

Barbara schnitt ein Stück von ihrem ausgezeichneten Rumpsteak ab. »Habt ihr euch überlegt, kreisweite Speichelproben zu nehmen? Denn dass der Täter nicht von hier kommt, ist ausgeschlossen, dazu kennt er sich viel zu gut hier aus.«

Wolfgang schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Wir brauchen zumindest ein vernünftiges Täterprofil. In Meldorf haben wir alle Männer zwischen zwanzig und vierzig antanzen lassen. Blutproben, danach Speicheltests bei denen mit der passenden Blutgruppe. Wenn wir das kreisweit machen, kostet das ein Vermögen.« Er sah sie scharf an. »Denkst du etwa, dass wir keine andere Möglichkeit haben?«

Barbara zuckte die Schultern. »Ihr habt zehn Opfer und sieben unterschiedliche Phantombilder. Die Aussagen der Opfer weichen stark voneinander ab, nicht mal sein Vorgehen ist immer gleich, mal fesselt er sie, mal nicht, mal lässt er sie laufen, ohne sie zu vergewaltigen, dann wiederum tut er es zweimal … Die einzigen Übereinstimmungen sind das Verbinden der Augen und das Sperma, die DNA. Wenn das nicht wäre, käme ich nicht mal auf die Idee, dass zwischen den Fällen eine Verbindung besteht, trotz der räumlichen Nähe.«

Barbara schob den Teller weg. »Ich schlage vor, ich checke erst mal im Hotel ein und befasse mich noch mal genauer mit den Akten. Die vollständigen Akten wären übrigens ganz hilfreich, da gibt’s doch sicher noch mehr als diese Fotokopien, die du gefaxt hast.«

»Ich lasse sie dir ins Hotel bringen.«

»Und in der Zwischenzeit machst du für morgen und übermorgen Termine mit Zeugen und Opfern.«

»Und du meinst, du schaffst das bis Freitagnachmittag?«

»Ich muss, Wolfgang. Ich will nicht so lange von zu Hause weg sein. Mein Mann steht auf der Transplantationsliste. Schon die drei Tage hier machen mich völlig nervös. Wenn es plötzlich ein Herz für ihn gibt, dann muss alles ganz schnell gehen.«

Im Hotel stellte sie sich kurz unter die Dusche und zog sich danach etwas Bequemes an. Ein halbe Stunde später brachte jemand die Original-Akten. Barbara wusste, dass keine Zeit blieb, alles zu lesen, und das ärgerte sie. Die Möglichkeit, etwas Wichtiges zu übersehen, war groß. Denn nach ihrer Erfahrung waren es oft scheinbare Nebensächlichkeiten, die zur Aufklärung eines Falles beitrugen. Die Serie hatte vor rund zwei Jahren begonnen. Drei der Fälle, der erste, der vierte und der achte, geschahen auf Meldorfer Gebiet, weitere drei, der dritte, der fünfte und der neunte, in Burg. Die anderen verteilten sich auf andere Gemeinden im Kreis, Heide war auch darunter. Die bisher letzte Vergewaltigung hatte der Täter in Tellingstedt begangen.

Der Geoprofiler hatte sich für Meldorf als möglichen Wohnort des Täters entschieden, weil sich die drei Taten hier in einem relativ kleinen Umkreis abgespielt hatten. Aber Burg kam nach Barbaras Erfahrungen ebenso in Frage. Sie wusste, nach dem Reinfall mit dem ersten Speicheltest würde es nicht einfach sein, einen weiteren in Burg anzusetzen. Aber das war der einzige gangbare Weg.

Am nächsten Morgen war das schöne Wetter umgeschlagen. Schon in der Nacht waren Wolken aufgezogen. Nun regnete es; ein stetiger, kräftiger Landregen. Die Temperaturen waren zum Glück noch angenehm. Wolfgang hatte Barbara im Hotel abgeholt und ihr Gummistiefel und eine Regenjacke mitgebracht. Sie war ihm dankbar dafür, denn sie wollten all die abgelegenen Wege, auf denen der Vergewaltiger sich seine Opfer gesucht hatte, und die noch versteckteren Orte, an denen er über sie hergefallen war, aufsuchen.

Waldgebiete oder auch größere Gebüsche waren die bevorzugte Umgebung des Täters. Es war der klassische Fall aus den Albträumen der Frauen: Er griff sich seine Opfer an einsamen Stellen, wo ihnen niemand zur Hilfe kommen konnte. Inzwischen wagte sich kaum noch eine Frau nachts alleine auf die Straße, und man hatte vor allem jungen Mädchen geraten, sich nur in Gruppen zu bewegen.

Barbaras Jeans war völlig durchweicht, als sie in Burg ankamen. Das trostlose Wetter tat sein Übriges, um ihre ohnehin nicht gute Stimmung auf den Nullpunkt sinken zu lassen. Dieser Ort war der letzte auf der Welt, den sie hatte wiedersehen wollen.

Immerhin hatte es aufgehört zu regnen. Sie wollten sich nicht nur die drei Tatorte ansehen, sondern auch zwei der Opfer treffen.

Der Weg in den Wald führte zwischen ein paar Häusern hindurch. Sie waren sehr gepflegt und hatten wunderbare Gärten. Barbaras Herz begann zu klopfen. Sie kannte diesen Weg, sie war ihn vor sieben Jahren gegangen, mehr als einmal.

Mitten zwischen den Wundern der Gartenpflege hatte sich die Natur ein großes Grundstück zurückerobert. Ja, das war die Rückseite von Schmidtmanns Haus und dort war das Gartenhaus, in dem man die Leiche des kleinen Jonas Grüter gefunden hatte. Es war fast völlig von Efeu überwuchert. Die Scheiben des nach außen bescheidenen Wohnhauses, in dem Schmidtmann ein versteckt luxuriöses Leben geführt hatte, waren eingeworfen und von innen mit Brettern vernagelt worden. Barbara atmete heftiger.

»Niemand will es kaufen. Und als er starb, haben seine Verwandten das Erbe ausgeschlagen«, sagte Wolfgang leise. Er war vor dem Garten stehen geblieben.

»Ich wusste nicht, dass er Angehörige hatte.«

»Eine Cousine zweiten oder dritten Grades und ihre Tochter. Sie wollten nie etwas mit ihm zu tun haben, wahrscheinlich schon allein deshalb, weil er schwul war und wegen der alten Vorstrafe – ein bigottes Pärchen.«

»Eigentlich schade um das Anwesen.« Schmidtmann war ein begnadeter Gärtner gewesen, mit dem richtigen Blick für die Gestaltung und die Perspektiven. Es hatte hier strenge Rosenbeete gegeben, Kräuter- und Duft-Karrees und kleine Flecken, die an Bauerngärten erinnerten – Blumen, die Barbara besonders mochte: Löwenmäulchen, Rittersporn. Ihr Blick kehrte in die Wirklichkeit zurück und blieb an einem Strauch mit wunderbaren roten Blüten hängen. Winterharte Kamelien. Schmidtmann hatte ihr sie bei ihrem ersten Besuch voller Stolz gezeigt, damals, im Sommer, waren sie längst verblüht, aber er hatte ihr ihre Blüten genau beschrieben, und jetzt erkannte sie sie wieder.

In dem neben dem Haus gelegenen Gewächshaus, von dem nur noch das halb eingestürzte Gerippe stand, hatte er alle möglichen Sorten von Kamelien gezüchtet. Irgendeine blühte immer. Barbara sah den gepflegten alten Mann vor sich, der ihr eine weiße Blüte hinhielt. »Nehmen Sie. Das ist meine Lieblingssorte, mein Prachtstück.« Kurz darauf hatte sie ihn verhaften lassen. Bei den Leichen waren genau diese Kamelienblüten gefunden worden.

»So ein Dorf vergisst nichts«, meinte Wolfgang und schreckte Barbara dadurch aus ihren Gedanken. »Das Beste wäre, das Haus abzureißen und das Gelände brachliegen zu lassen. Hier will niemand wohnen. Selbst die direkten Nachbarn sind nicht mehr dieselben.«

Sie gingen weiter in das Waldstück. Für einen Moment glaubte Barbara, eine sich bewegende Gardine gesehen zu haben, aber dann schrieb sie es ihrer Nervosität beim Wiedersehen von Schmidtmanns Haus zu. Sie fühlte sich hier in Burg wie in Feindesland.

Wolfgang zeigte ihr die Stelle, wo der Täter seinem Opfer aufgelauert hatte – der Weg war hier völlig einsam, selbst Schreie konnten kaum bis zu den ersten Häusern dringen. »Er hat sie dort hinter die Büsche gezerrt«, erklärte Wolfgang. »Da hätte jemand vorbeigehen können, wenn er sein Opfer ruhig stellen konnte, hätte der nichts gemerkt.«

Als sie wieder zurück zu ihrem Auto kamen, stand ein Mann neben dem Jaguar. Barbara erkannte ihn sofort. Frank Grüter, der Vater des letzten Opfers Schmidtmanns. Jetzt stieg aus einem zerbeulten Auto, das vor dem Jaguar geparkt war, auch eine Frau. Sie trug Jeans und einen alten Blouson, ihr Haar hing strähnig herunter. Barbara sah sie und erschrak zutiefst. Ellen Grüter schien um zwanzig Jahre gealtert seit ihrer letzten Begegnung. Das rote Gesicht und die aufgedunsenen Züge ließen vermuten, dass sie dem Alkohol mehr zusprach als ihr gut tat. Und auch jetzt war sie offensichtlich betrunken.

»Bleib im Wagen, Ellen«, herrschte ihr Mann sie an.

»Ich will das Weib sehen. Ich will sehen, wie es ihr geht, sieben Jahre, nachdem sie unser Kind auf dem Gewissen hat.« Sie trat an Barbara heran. »Sieh sie dir an, Frank. Gut schaut sie aus, nicht wahr? Und so einen protzigen Wagen fährt sie.« Sie stellte sich direkt an den Wagen und kratzte demonstrativ mit ihrer beringten Hand über den Lack. Eine hässliche Riefe blieb zurück.

Wolfgang wollte eingreifen, aber Barbara hielt ihn zurück.