Herzensgut - Silvia Kaffke - E-Book

Herzensgut E-Book

Silvia Kaffke

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Beschreibung

Der angebliche Suizid einer jungen Frau bringt Barbara Pross auf die Spur eines Serienmörders, der Kinder tötet. Die Profilerin aus Kaffkes Debütroman ›Messerscharf‹ ermittelt auf eigene Faust. Je tiefer sie gräbt, desto deutlicher wird, dass Mord nicht das Schlimmste ist, was einem Opfer widerfahren kann. Ein spannender Fall für die eigenwillige Heldin Barbara Pross. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 483

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Silvia Kaffke

Herzensgut

Roman

FISCHER Digital

Inhalt

Die Frau in der [...]Dies ist ein Kriminalroman. [...]123456789

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

Dies ist ein Kriminalroman. Fiktion. Deshalb taucht zum Beispiel ein Wäldchen mit einem Teich auf, das es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Aber ein Restaurant, das es gibt und das ich unbedingt empfehlen kann. Und ein paar andere erfundene und reale Orte.

Man findet in Büchern und Filmen oft den Satz: »Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.« Dies trifft auch auf dieses Buch zu. Die Kempener und sonstige Niederrheiner sind nette Menschen. Aber irgendwo musste die Geschichte ja spielen.

Ich habe leider die traurige Erfahrung machen müssen, dass meine Phantasie während der Entstehung meines Buches viel zu oft von der Wirklichkeit überholt wurde – wie im Fall Ulrike oder des kleinen Sedat. Jedem, der ›Herzensgut‹ liest, sollte das in Erinnerung bleiben.

Ich habe vielen Menschen zu danken – sie aufzuzählen würde den Rahmen des Buches sprengen –, und ich hoffe, ich kann das persönlich tun. Aber meine Eltern möchte ich doch nennen, denn sie haben sich viele Jahre Sorgen um mich und meine Zukunft gemacht (und tun das vielleicht jetzt noch).

Und zum Schluss noch ein Dank an Horst Eckert, der mir freundlicherweise seine wunderbare Kommissarin Ela Bach ausgeliehen hat. Wer mehr über sie und Thilo Becker erfahren möchte, sollte ›Finstere Seelen‹ und ›Die Zwillingsfalle‹ lesen, die im Grafit-Verlag erschienen sind.

Silvia Kaffke

1

Barbara hatte trotz des Nachmittagsstaus keinen Blick für die eindrucksvolle Kulisse zu beiden Seiten der A 59, die mit einer kilometerlangen Brücke den Süden Duisburgs mit dem Norden verband. Nur flüchtig fiel ihr Blick auf die bunten Bögen über der Ruhr und den Kanälen. Bald würde es dunkel sein. Sie erinnerte sich, diese Strecke schon einmal gefahren zu sein. Damals hatte Thomas ihr die Lichtkunst am Hochofen des alten Hüttenwerks im Landschaftspark Nord zeigen wollen. Auf den Hochofen waren sie nicht geklettert. Thomas wusste gut, wo seine Grenzen lagen.

Der Gedanke an Thomas ließ ihre Stimmung noch tiefer sacken. Was sie vorhatte, war Verrat, feige und unehrlich, und bis jetzt hatte sie immer noch keine Vorstellung davon, wie sie ihm das sagen sollte. »Thomas, ich suche mir eine Wohnung« wäre eine Möglichkeit gewesen. »Ich habe viele auswärtige Bewerbungen laufen, ich würde ohnehin weggehen …« war eine andere. Am liebsten hätte sie nur still und heimlich ihre Sachen gepackt und wäre verschwunden. Sie fürchtete den Schmerz in seinem Blick. Sie fürchtete, seinem schwachen Herzen zu schaden. Und am meisten fürchtete sie sein Schweigen.

Jetzt rollte sie im Schritttempo zu ihrer ersten Wohnungsbesichtigung. Auf Duisburg hatte sie ein Kommilitone aus dem Doktorandenseminar gebracht. Es sei billiger dort und längst nicht so hässlich, wie immer behauptet wurde. Vor allem im Norden. Nun, schön musste es auch nicht sein. Sie wollte nur ein Plätzchen, an dem sie die Ergebnisse ihrer Bewerbungen abwarten konnte. Eine Zwischenstation.

Endlich hatte sie die Abfahrt erreicht. Am nahen Horizont ragten Industrieanlagen auf. Aber die Nebenstraßen waren fast hübsch: sorgfältig renovierte Altbauten, Kinderspielstraßen mit Grünanlagen. Sie fand das Haus, der Vermieter war auch schon da, ein Yuppie-Typ mit Aktentasche.

»Sind Sie Frau Dr. Pross?«, fragte er. Barbara zuckte immer noch zusammen, wenn sie jemand mit ihrem frisch erworbenen Titel ansprach. »Brücker mein Name. Dann gehen wir mal rauf.«

Die Gardine im Erdgeschoss bewegte sich. Kaum hatten sie den Hausflur betreten, schoss eine ältere Frau aus ihrer Wohnung. »Herr Brücker, gut, dass Sie da sind. Ich hätte Sie sonst heute noch angerufen. Diese Katze, die Frau Wehling hält …«

»Wehling?«

»Sie wissen doch, die junge Frau im zweiten Stock. Sie hält eine Katze. Und die Hausordnung sagt klar, dass keine Haustiere …«

Brücker seufzte. »Ich werde mit ihr reden, Frau Reimer. Obwohl eine Katze …«

»Die Mülltonnen sind schon voll genug. Bei drei Babys im Haus fallen eine Menge Windeln an. Und dann noch die Katzenstreu!« Die Alte war ganz so, wie Barbara sich einen Hausdrachen vorstellte. »Und außerdem stinkt es seit Tagen bestialisch aus der Wohnung.«

»Ich werde mich darum kümmern, Frau Reimer. Wir müssen ja ohnehin in den zweiten«, sagte Brücker.

»Wissen Sie, die macht einfach nicht auf, wenn ich da anschelle. Egal zu welcher Tageszeit. Aber das kenne ich schon von ihr – selbst wenn das Radio läuft, tut sie so, als wäre sie nicht zu Hause …« Den letzten Satz rief die Alte hinter ihnen her, denn Brücker hatte es eilig, die Treppe hinaufzukommen.

»Diese Haustierregelung … wir wollen keine Hunde hier, das stimmt, die machen Lärm … aber gegen Katzen haben wir nichts.«

»Ich habe keine Haustiere«, sagte Barbara.

»Umso besser.«

Schon auf der Treppe zum zweiten Stock mussten sie aber feststellen, dass Frau Reimer Recht hatte. Irgendetwas stank hier. Es war noch nicht sehr stark, aber deutlich zu bemerken. Barbara blieb auf der letzten Stufe stehen. Das war ein Geruch, den sie nur zu gut kannte.

»Haben Sie starke Nerven, Herr Brücker?«, fragte sie.

»Starke Nerven … wieso denn?«

»Wir sollten diese Wohnung aufbrechen, und zwar sofort.« Sie ging zur Tür und besah sich das Schloss. »Nicht gerade der neueste Stand der Sicherheitstechnik. Können Sie mir einen Schraubendreher besorgen?«

»Aber …«

»Ich war früher bei der Polizei. Und ich weiß, was dieser Geruch bedeutet.«

Brücker sah sie entsetzt an. »Sie meinen …?« Er wurde blass. Barbara nickte. »Wir können natürlich auch den Schlüsseldienst …«

»Nein, ich frage Herrn Reimer nach dem Schraubendreher.« Er rannte fast die Treppe hinunter und stand wenige Minuten später mit dem Schraubendreher und Herrn Reimer vor der Tür. Frau Reimer war auf der Treppe stehen geblieben.

Reimer bestand darauf, die Schrauben des Schlosses selbst zu entfernen, wahrscheinlich traute er es einer Frau nicht zu. Dann war die Tür offen. Drinnen war der Geruch stärker.

Barbara trat in den Flur, Brücker und Reimer folgten ihr. Noch bevor Barbara ihn zurückhalten konnte, öffnete Brücker die Küchentür und schreckte zurück. In der Ecke bei den beiden Fressnäpfen lag eine verendete Perserkatze. Barbara ging näher heran und betrachtete sie genau. »Es wäre besser …«, begann sie.

»So eine elende Schweinerei«, fluchte Brücker, rannte mitten durch die Küche und riss das Fenster auf.

»… wenn Sie hier nicht so viel anfassen würden«, beendete Barbara ihren Satz. Die Katze musste sich in ihrer Todesangst wie tollwütig aufgeführt haben. Es gab tiefe Kratzer an den Schränken, jeder erreichbare Streifen Tapete war zerfetzt, die Gardinen zerrissen.

»Ich habe ja gesagt, die Katze …«, das kam von Frau Reimer, die in der Küchentür stand.

»Sie ist verhungert und verdurstet«, sagte Barbara. Sie beugte sich über das Tier. Es ging nur ein leichter Verwesungsgeruch von ihm aus. Sie schätzte, dass die Katze seit ein paar Tagen tot war. Und das erklärte nicht den Geruch im Hausflur.

Barbara ließ Brücker, der mit leicht grünstichigem Gesicht am Fenster nach Luft schnappte, stehen und ging zurück in den Flur. Hier hatte sich der Geruch regelrecht festgesetzt. Sie hatte den Eindruck, er wurde stärker, je weiter sie in die Nähe des nach hinten heraus gelegenen Schlafzimmers kam.

»Ich meine, ich bin ja gegen die Katze, aber so ein Tier verhungern zu lassen und sich einfach aus dem Staub zu machen!« Frau Reimer blickte angeekelt auf den Kadaver.

»Wenn sie weg ist«, sagte Barbara langsam.

»Wie meinen Sie das – wenn sie weg ist …?« Brücker wurde noch ein wenig blasser. »Sie … sie ist doch sicher auf und davon und hat die Katze …«

Barbara schüttelte den Kopf. Sie drehte sich zu Reimer und seiner Frau um. »Sie sollten jetzt besser gehen. Und fassen Sie bitte nichts an …«

Die beiden traten widerwillig den Rückzug an. Barbara zog ein Taschentuch heraus. »Ich werde allein dort hineingehen, Herr Brücker. Ich sehe so etwas nicht zum ersten Mal.«

»Was … was …« Brücker verstummte, denn Barbara öffnete, das Taschentuch in der Hand, die Schlafzimmertür. Dann presste sie es sich vor Mund und Nase und betrat den Raum.

Der Geruch war unerträglich, selbst durch das Taschentuch. Er schlug Barbara wie in einer Welle entgegen. Das Schlafzimmer war dunkel, das Rollo war heruntergelassen. Barbara zog ihren Sweatshirt-Ärmel über die Hand und drückte den Lichtschalter.

Christina Wehlings Leiche lag auf dem Bett, die Gesichtszüge, obwohl verschwommen durch die beginnende Verwesung, schienen entspannt zu sein. Auf dem Nachttisch stand ein Glas mit einem dicken weißen Bodenbelag, daneben lagen ein Tablettenröhrchen und eine Schachtel Valium. Barbara, das Taschentuch immer noch vor dem Mund, beugte sich herunter, um das Röhrchen näher zu betrachten, es war ein starkes Schlafmittel.

»Was ist?«, fragte Brücker mit gepresster Stimme aus dem Flur. »Der Gestank ist ja entsetzlich …«

Barbara kam zurück in den Flur und schloss die Tür hinter sich. »Sie ist tot. Schätzungsweise drei bis vier Wochen.«

»Woher …« Brücker hielt inne. »Ach ja, Sie sagten ja, dass Sie mal bei der Polizei waren. Und Sie haben so etwas schon öfter gesehen?«

»Ja. Leider.«

»Hat sie denn jemand umgebracht?«

Barbara schüttelte den Kopf. »Es sieht nach Selbstmord aus. Die Tabletten … Genaueres wird allerdings erst die Polizei sagen können.«

»Ist das denn nötig? Reicht nicht ein Arzt?«

Barbara schüttelte nur den Kopf und schob ihn aus der Wohnung. Die Tür lehnte sie an.

»Was für ein Gestank … Werde ich den je wieder aus der Wohnung bekommen?«

Ja, Brücker, du bist eine Seele von Mensch, dachte Barbara, machst dir Sorgen, ob du die Wohnung schnell wieder vermieten kannst …

 

Innerhalb der nächsten zwei Stunden rollte die gesamte Polizeimaschinerie in Meiderich an. Barbara hatte Brücker klargemacht, dass sie eine Weile dableiben mussten. Herr und Frau Reimer baten sie in ihre Wohnung. Dort musste Brücker sich erst einmal übergeben. Danach hatte er sein Handy gezückt und lautstark ein paar wichtig klingende Telefonate geführt. Als er in die Küche kam, wo Frau Reimer gerade Kaffee kochte (Viel Kaffee, hatte Barbara gesagt, die Jungs von der Spurensicherung, die ich kenne, leben davon.), saß Barbara bereits seit einer Viertelstunde auf der rustikalen Eckbank und betrachtete sich die übrige Einrichtung. Alles penibel sauber, alles ein bisschen altmodisch, bis auf die zahlreichen elektrischen Küchengeräte, die Barbara manchmal nicht einmal identifizieren konnte. Es gab Sandwich-Toaster, Waffeleisen, eine Joghurtmaschine und tatsächlich zwei Mikrowellengeräte.

Herr Reimer hatte sich verabschiedet und war in den Keller gegangen, wo er eine kleine Werkstatt unterhielt. Die Spuren seiner Arbeit konnte man in der ganzen Wohnung finden: überall merkwürdige Hakenkonstruktionen, Regale, Gestelle. Alles gut durchdacht, aber nicht gerade ansehnlich.

Frau Reimer redete ununterbrochen. Über Christina Wehling, die Katze und andere Nachbarn. Ihre direkte Nachbarin, die die Kleidung ihrer beiden Kleinkinder wusch und ständig den winzigen Trockenraum blockierte. Über die neuen Mieter im ersten Stock, die sich nicht der Sitte im Haus angeschlossen hatten, sie dafür zu bezahlen, dass sie den Hausflur putzte. »Jetzt putze ich im ersten Stock nur alle vierzehn Tage, aber denken Sie, die hat in der Woche dazwischen geputzt? Ich bekomme kein Geld mehr dafür, aber habe trotzdem die ganze Arbeit. Der müssen Sie mal einen Brief schicken, Herr Brücker.«

Abgesehen von den Klagen über die Katze, die sich ja nun erübrigt hatten, wusste sie erstaunlich wenig über Christina Wehling, und man merkte deutlich, dass sie das missbilligte. »Außer ›guten Tag‹ auf der Treppe wurde man von ihr nichts gewahr. Sie arbeitete, aber wohl nur halbtags. Der alte rote Golf da draußen ist ihr Auto, und meistens war sie unterwegs. Besuch bekam sie nur ganz selten. Frau Hellmich, die wohnt ja direkt unter ihr, die sagte immer, sie ist so ruhig, als wäre die Wohnung leer. Deshalb ist ja auch keiner auf die Idee gekommen, dass da etwas nicht stimmt.« Sie ging ins Wohnzimmer, um Tassen zu holen. Im Vitrinenschrank in der Küche stand zwar ein buntes Sammelsurium aus Resten alter Services, aber für Gäste mussten es die guten sein.

Brücker nutzte die Gelegenheit: »Nun, Frau Dr. Pross, ich nehme mal an, das Interesse an der Wohnung ist Ihnen vergangen?«

Barbara sah ihn erstaunt an. »Nein, wieso?«

»Na, eine Leiche direkt daneben …«

»Wie alt ist das Haus, Herr Brücker?«

»1889.«

»Glauben Sie, hier ist noch nie jemand gestorben? Vielleicht sogar in dieser Küche, wo wir gerade sitzen? Die Toten sind tot. Glauben Sie mir, ich weiß das sehr gut.«

Es klingelte an der Tür, und Frau Reimer öffnete und brachte den neuen Gast in die Küche. Es war ein großer jüngerer Mann mit halb langen dunkelblonden Locken und strahlend blauen Augen. Er trug Jeans und ein kariertes Hemd, das ihn noch breitschultriger aussehen ließ. Offensichtlich pflegte er ein sorgfältig kalkuliertes Abenteurer-Image. »Hallo. Ich bin Kriminalhauptkommissar Sven Heyer.« Sein Lächeln erinnerte Barbara an Werbespots für Rasierwasser. Allerdings trug er einen Dreitagebart.

»Kripo Duisburg«, fuhr er fort und wandte sich an Frau Reimer. »Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie vielleicht eine Kanne Kaffee für uns hätten – nach zwei Stunden außerhalb des Büros kriegen wir langsam Entzugserscheinungen …«

»Ja, sicher«, sagte Frau Reimer, nicht ohne Barbara anerkennend zuzunicken. »Ich habe hier schon eine Kanne vorbereitet.«

»Sie beide haben die Leiche gefunden?«, fragte er Barbara und Brücker. Die nickten.

»Ich werde gleich Ihre Aussage aufnehmen. Ich bringe den Kollegen nur schnell den Kaffee, dann bin ich wieder da. Schließlich wollen Sie nicht den ganzen Nachmittag hier vertrödeln.«

Frau Reimer gab ihm ein Tablett mit Tassen aus dem Küchenschrank. Fünf Minuten später war er wieder da.

»Sie haben also den Geruch bemerkt …«, begann er, und Frau Reimer mischte sich gleich ein.

»Das roch schon seit ein paar Tagen so, nicht sehr stark, aber deutlich. Ich habe ja gedacht, das ist die Katze …«

Heyer lächelte sie an. »Der penetranteste Kater könnte nicht so riechen, selbst wenn er die Wohnung komplett markiert hätte.« Er hätte Frau Reimer sonst etwas sagen können, bei diesem Lächeln schmolz sie dahin.

»Frau Dr. Pross hat den Geruch erkannt«, warf Brücker ein. »Sie sagte sofort, wir müssten die Tür aufbrechen. Sie war früher bei der Polizei.«

Heyer merkte sichtbar auf. »Ein Bulle mit Doktortitel?«

Barbara lächelte verlegen. »Der ist ganz frisch. Ich war bis vor drei Jahren beim BKA. Gruppe Becker.«

Heyer pfiff durch die Zähne. »Die legendäre Serienmordeinheit?« Er runzelte die Stirn. »Jetzt dämmert es mir. Sie … Sie haben Rottländer, den Düsseldorfer Serienmörder, gefasst, oder? Pross, Barbara Pross.«

»Ich weiß, wie ich heiße. Und wenn man es genau nimmt, war er es, der mich geschnappt hat.«

»Nun stellen Sie Ihr Licht mal nicht so unter den Scheffel. Das war tolle Arbeit. Ich habe damals alles gelesen, was ich über den Fall bekommen konnte.« Heyer schien richtig begeistert. »Und dann hieß es, Sie hätten alles hingeschmissen. Warum?«

Eigentlich wollte Barbara ihm freundlich sagen, dass ihn das nichts anginge, doch dann fand sie es unfair, seine Frage nicht zu beantworten. Er war offen und freundlich, warum sollte sie ihn vor den Kopf stoßen?

»Profiling ist ein harter Job, und ich war emotional sehr angeschlagen. Eigentlich wollte ich schon vor dem Düsseldorfer Fall nicht mehr. Und dann … dann ergab sich ein Ortswechsel aus privaten Gründen …« Sie kam sich schäbig vor, ihre Liebe zu Thomas mit solch dürren Worten zu beschreiben. »Ich bin für kurze Zeit zum LKA in Düsseldorf gewechselt, bevor ich endgültig ausgestiegen bin. Ich wollte mich einfach nicht mehr mit diesen Psychopathen herumschlagen.«

»Das ist schade«, meinte Heyer. »Leute mit einem so guten Instinkt sind selten …«

»Instinkt? Instinkt ist eine Legende. Wir sind doch hauptsächlich damit beschäftigt, Methoden zu entwickeln, die Instinkt überflüssig machen.«

Heyer betrachtete sie genau, und sie wusste, er glaubte ihr kein Wort. Brücker und Frau Reimer hatten das Gespräch interessiert verfolgt. Barbara fragte sich, ob Brücker noch an ihr als Mieterin interessiert war, nachdem er wusste, womit sie sich so beschäftigte.

»Möchten Sie auch einen Kaffee?«, fragte Frau Reimer.

»Ja, natürlich, gern.«

Sie holte für Heyer noch eine gute Tasse.

»Profiling …«, sagte Brücker nachdenklich. »Da gibt es doch jetzt diese Serien im Fernsehen … ich dachte immer, das gäbe es nur in den USA.«

»Wir sind hier auch noch längst nicht so weit«, erklärte Barbara.

Frau Reimer kam mit der Tasse und goss Heyer ein.

»Dann haben Sie also in der Zwischenzeit studiert?«, fragte Heyer plötzlich, während er sich Zucker in den Kaffee häufte. Barbara zählte drei Löffel.

»Nein, ich hatte schon ein abgeschlossenes Studium. Ich hatte es abgebrochen, bevor ich zur Polizei gegangen bin, und habe es dann parallel zur Ausbildung für die höhere Laufbahn beendet – ich musste nur noch durchs Examen. Jetzt habe ich meinen Doktor gemacht.«

»Welches Thema?«

Barbara nahm einen Schluck Kaffee. »Beurteilung der Rehabilitation psychisch kranker Straftäter.«

Heyer pfiff durch die Zähne: »Die Wiederholungstäterproblematik? Und dann wollen Sie nichts mehr mit Serienmördern zu tun haben?«

»Ich wollte mir für die Doktorarbeit nicht ein Thema von null erarbeiten«, sagte Barbara mit einem Seufzer. »Aber vermutlich haben Sie Recht. So leicht lassen einen die bösen Jungs nicht los.«

Brücker sah plötzlich auf seine Uhr. »Ich will ja nicht hetzen, aber ich kann heute nicht noch einen Termin absagen. Und wenn Frau Dr. Pross die Wohnung noch besichtigen möchte …«

»Ja, beeilen wir uns«, stimmte Heyer zu. »Eigentlich haben wir Wichtigeres zu tun, als einen möglichen Selbstmord zu untersuchen. Seit gestern Abend wird ein Kind vermisst, acht Jahre alt, es wohnt ganz hier in der Nähe. Ich bin auch nur hier, weil ich gerade mit der Mutter sprechen wollte. Bei der Vermisstenstelle grassiert die Grippe, da helfe ich aus. Eigentlich bin ich bei den Tötungsdelikten, deshalb haben sie mich gleich hierher geschickt.«

»Ein Kind?«, fragte Frau Reimer neugierig.

»Ein kleines Mädchen, Jessica Wolter.«

»Die Jessica?« Frau Reimer wurde ganz blass und setzte sich. »Ich kenne die Kleine. Die Mutter arbeitet im Mehrmarkt gleich um die Ecke. Das ist ja furchtbar!«

Heyer nickte. »Ich hasse diese Fälle.«

Barbara wusste, was er meinte. Sie hatten noch heute und vielleicht morgen. Wenn sie Jessica dann nicht gefunden hatten, konnte man von einem Verbrechen ausgehen. Tote Kinder. Das Schlimmste, was einem Polizisten passieren konnte. »Sie ist gestern vom Spielen nicht nach Hause gekommen, und es fehlt jede Spur von ihr und ihrem Fahrrad.« Heyer seufzte, und dann begann er, seine Routinefragen an Brücker und Barbara zu stellen.

»Es sieht doch sehr eindeutig nach Selbstmord aus«, meinte er, als sie fertig waren. »Keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens, sieht man vom abmontierten Schloss ab.« Er zwinkerte Barbara zu. »Die Tabletten, das friedliche Bild der Leiche …« Er wandte sich an Frau Reimer: »Sie sollten Ihren Mann mal holen, wir brauchen seine Fingerabdrücke …«

Sie sah ihn entsetzt an: »Ja, denken Sie denn, mein Mann …«

Barbara lachte. »Herr Heyer braucht die Abdrücke, weil Ihr Mann die Tür aufgebrochen hat. Falls noch andere Abdrücke drauf sind …«

Frau Reimer sah erleichtert aus und ging, um ihren Mann aus dem Keller zu holen, aus dem die Geräusche einer kleinen Holzsäge tönten. Auch von Barbara und Brücker wurden Fingerabdrücke genommen, dann verabschiedeten sie sich von Heyer und stiegen noch einmal in den zweiten Stock, um die leere Nebenwohnung zu besichtigen. »Wir haben alles frisch renoviert, denn die Vormieter haben hier gehaust wie die Vandalen. Sie haben sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht, keine Kündigung, keine neue Adresse, nichts …«

Die Wohnung war um die fünfzig Quadratmeter groß, hatte eine geräumige Küche und zwei mittelgroße Zimmer. Das Badezimmer stammte aus den Siebzigern, doch die Badewanne war neu. Die ganze Wohnung war weiß gestrichen, und man hatte Laminat verlegt. Wenn Barbara sich hier hätte auf Dauer niederlassen wollen, hätte sich schon etwas daraus machen lassen. Das Schlafzimmer bot noch genügend Platz für einen Schreibtisch, und es gab einen hübschen kleinen Erker im Wohnzimmer. Ihre immer noch in Frankfurt eingelagerten antiken Schränke und die Sessel aus ihrer alten Wohnung hätten sich hier sicher gut gemacht. Aber sie hatte nicht vor, lange hier zu bleiben. Die Single-Miniküche aus dem Baumarkt mit zwei Herdplatten, einem Kühlschrank und – welch ein Luxus – einem kleinen Geschirrspüler, die sie sich vor kurzem angesehen hatte, würde in der großen Küche zwar etwas verloren aussehen …

»Ich nehme die Wohnung. 680 warm, hatten Sie gesagt?«

»Ja, 500 kalt plus 180 Nebenkosten. Wir hatten ja schon überlegt, ob wir mehr nehmen sollten, aber das ist hier nicht die Gegend dafür, und solange nicht ein neuer Mietspiegel kommt …« Brücker versuchte seit einer Viertelstunde vergeblich, seine von der Stempelfarbe schwarzen Finger abzuwischen.

»Wann kann ich hinein?«

Brücker überlegte kurz. »Heute haben wir Freitag … unser Büro ist nur donnerstags geöffnet. Kommen Sie doch am nächsten Donnerstag vorbei, unterschreiben Sie den Vertrag, und dann bekommen Sie gleich den Schlüssel. Die Miete berechnen wir ab dem Ersten.« Jetzt war Monatsmitte, und Barbara sah ihm an, für wie großzügig er sich hielt.

»Einverstanden«, meinte sie. Eine Woche … Eine Woche, bis sie Thomas endlich sagen musste, dass sie ihn verließ.

 

Die Wohnung an der Sternstraße in Düsseldorf hatte sich durch Barbaras Einzug vor drei Jahren kaum verändert. Lediglich das Gästezimmer war als Arbeitszimmer für sie hergerichtet worden. Sie hatte nur wenige persönliche Sachen und keine Möbel aus ihrer Frankfurter Wohnung mitgebracht, und es hatte sie auch nie gestört. Thomas’ Wohnung war so perfekt eingerichtet, dass jedes andere Stück die Harmonie nur gestört hätte. Allerdings war auf Barbaras Bitte hin der Totenschädel von der Truhe im Flur verschwunden. Thomas hatte stattdessen eine mittelalterliche Handschrift mit wunderschönen Miniaturen darauf ausgelegt. Von Zeit zu Zeit blätterten sie gemeinsam darin, um eine neue Seite aufzuschlagen. Ein Archivar hätte sich mit Grausen abgewandt, weil das wertvolle Stück so ungeschützt dort lag, aber Thomas hasste es, wenn Bücher nicht gelesen wurden, mochten sie noch so kostbar sein.

Barbara liebte die Wohnung. Es widerstrebte ihr, demnächst in fast leeren, kahlen, weiß gestrichenen Zimmern hausen zu müssen, selbst wenn es nur für kurze Zeit war. Du könntest einfach hier bleiben und gehen, wenn du einen Job hast, sagte eine böse kleine Stimme in ihr. Aber sie verletzte Thomas auch so schon genug. Sie wollte ihn nicht noch ausnutzen.

Wie üblich hatte er nicht auf sie gewartet. Wann sie kam und ging, war ihre Sache, er machte ihr da keine Vorschriften. Sie fragte manchmal, ob er etwas Besonderes kochen wollte, dann war sie pünktlich. Thomas war ein hervorragender Koch, und Barbara aß viel zu gerne gut, als dass sie sich ihre eigenen Kochkünste zugemutet hätte.

Barbara erzählte ihm nichts von der Leiche. Sie hätte zu sehr lügen müssen. Oder ihm gleich beichten, dass sie ausziehen wollte. Ich werde es ihm sagen, bald, aber nicht heute, dachte sie.

Sie saßen gemeinsam am Küchentisch und aßen Brot und ein wenig Salat. »Ich habe morgen einen Termin in der Klinik«, sagte er plötzlich und fügte gleich hinzu: »Die vierteljährliche Routineuntersuchung.«

»Ist irgendetwas zu befürchten?«, fragte Barbara.

Er schüttelte den Kopf. »Die Untersuchungen sind ganz früh. Wenn du lange schlafen möchtest, bringe ich Brötchen mit, und wir frühstücken zusammen.«

»Gute Idee.« Was sollte sie auch anderes tun, als lange zu schlafen – ohne Job oder irgendeine andere Aufgabe. Sie könnte sich höchstens um ein paar billige Möbel für die neue Wohnung kümmern: Tisch und Stühle für die Küche, ein Schlafsofa fürs Wohnzimmer, einen Kleiderschrank, vielleicht tat es eine Kleiderstange ja auch …

Sie bemerkte, dass Thomas sie ansah. Er registrierte ihre Abwesenheit, sagte aber nichts. »Möchtest du noch etwas Salat?«, fragte er.

Sie nickte. Es kam ihr vor, als müsse sie jeden Bissen genießen.

 

Barbara war noch nicht angezogen, als Thomas von der Untersuchung kam und die versprochenen Brötchen mitbrachte. Er hatte die Zeitung mit hereingebracht, und Barbara entdeckte, dass die Nachricht über das Verschwinden des kleinen Mädchens nun an die Öffentlichkeit gegeben worden war. Die Polizei bat Zeugen, sich zu melden.

Die kleine Jessica war abends gegen fünf noch gesehen worden, als sie auf dem wenig frequentierten Parkplatz des Mehrmarktes allein mit ihrem Rad herumfuhr. Das war nichts Besonderes, ihre allein erziehende Mutter war Kassiererin bei dem Discounter, und die Kleine spielte oft dort, bis ihre Mutter Feierabend hatte. Um halb sechs hatte es zu regnen begonnen. Die Mutter war auf den Parkplatz gelaufen, weil sie Jessica nach Hause schicken wollte, sie wohnten nur zwei Straßen weiter, und die Kleine war es gewöhnt, auch allein zu Hause zu sein. Sie galt ohnehin als sehr selbständig für ihr Alter. Und deshalb wunderte die Mutter sich nicht, als der Parkplatz leer war. Sie vermutete, dass Jessica bereits bei den ersten Tropfen nach Hause gefahren war. Umso größer war der Schock, als sie die Wohnung leer fand und auch Anrufe bei Freundinnen und Nachbarn nichts fruchteten. Jessica war verschwunden, und leider deutete alles auf ein Verbrechen hin.

»Ist irgendwas?«, fragte Thomas plötzlich. Er hatte bemerkt, dass Barbara schon eine ganze Weile nicht mehr von ihrem Brötchen abgebissen hatte und in die Zeitung starrte.

»In Duisburg ist ein Kind verschwunden. Es sieht nicht gut aus.«

»Du meinst, es ist nicht weggelaufen?«

Barbara schüttelte den Kopf. »Das wird in dem Artikel als sehr unwahrscheinlich angesehen. Und jetzt wird sie schon drei Tage vermisst. Das bedeutet selten etwas Gutes.«

Sie legte die Zeitung beiseite. »Du hast gar nichts über die Untersuchung erzählt.«

Thomas zuckte die Schultern. »Es war das Übliche. Und die Ergebnisse kommen noch.«

Barbara fragte nicht weiter. Thomas sprach nicht gern über seine Gesundheit. »Du behandelst mich dann immer gleich wie einen Invaliden«, pflegte er zu sagen. Und das war das Letzte, was er sein wollte.

 

Nachmittags wusste Barbara nichts Rechtes mit sich anzufangen. Sie hatte keine Lust, sich um die Ausstattung der neuen Wohnung zu kümmern, und Thomas arbeitete. Sie setzte sich an ihren PC und begann, im Internet zu surfen. Auf der Homepage des LKA suchte sie nach Informationen zu vermissten Kindern. Es gab noch nichts über Jessica. Aber sie kannte die Zahlen: Mehr als zweitausend Kinder galten in Deutschland als vermisst. In den meisten Fällen waren es Ausreißer im Teenageralter, die auf der Straße landeten. Bei kleineren Kindern gab es häufig Entführungen durch einen Elternteil, vor allem, wenn er anderer Nationalität war. Diese Kinder waren meist wohlauf und lebten bei der Familie des leiblichen Vaters oder seltener der Mutter.

Und dann waren da noch die anderen Fälle. Kinder, bei denen man davon ausgehen konnte, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen waren. Gerade war noch der Fall des kleinen Türken durch die Presse gegangen, dessen Mörder die Leiche fast ein Jahr lang in seiner Tiefkühltruhe aufbewahrt hatte.

Zwei Kinder auf der Internetseite des LKA erregten Barbaras Aufmerksamkeit. Es handelte sich um einen Jungen und ein Mädchen im Alter von sechs und neun Jahren. Barbara wusste: Die Wahrscheinlichkeit, dass auch nur eines dieser Kinder noch lebte, war sehr gering. Der sechsjährige Junge, Timo Kreisler, stammte aus Ostwestfalen, er war im Februar 1998 zuletzt auf einem Spielplatz gesehen worden. Das neunjährige Mädchen, Annika Mohr, war im November 1999 in Neuss auf dem Weg zum Martinszug verschwunden, die Mutter hatte sie nicht begleiten können, weil der Bruder der Kleinen krank war.

Es gab detaillierte Beschreibungen zu beiden Fällen, Fotos, Listen darüber, was die Kinder angehabt hatten, ihre besonderen Kennzeichen und Eigenheiten, es gab verdächtige Autos, nach denen gesucht wurde, und es waren Belohnungen ausgesetzt. Zwei ungelöste Vermisstenfälle – zwei ungelöste Kindermorde, dachte Barbara. Sie wusste, für die Eltern war es fast besser zu ertragen, wenn sie wussten, ihr Kind war tot. Die Ungewissheit, in der sie jetzt leben mussten, brachte manche von ihnen um den Verstand. Sie druckte die Seiten aus, verließ die Homepage des LKA und suchte nach den Tageszeitungen in den Orten. Alles, was sie in den Archiven zu den beiden Fällen fand, druckte sie aus.

Sie zuckte zusammen, weil Thomas plötzlich in der Tür stand. »Hast du noch eine Druckerpatrone?«, fragte er und kam herein.

»Sicher.« Sie öffnete eine Schublade im Rollcontainer, dann die nächste. »Ich weiß genau, dass ich noch eine habe …«, murmelte sie.

»Lass dir Zeit«, meinte er. »Ich wollte sowieso Pause machen.«

Als sie die Patrone endlich gefunden hatte, saß Thomas in der Bibliothek, die Augen geschlossen, als lausche er einer für Barbara unhörbaren Musik.

Sie störte ihn nicht und ging stattdessen in sein Arbeitszimmer, um die Patrone gleich einzusetzen. »Du kannst wieder drucken«, schrieb sie auf einen Klebezettel und pappte ihn auf den Bildschirm.

 

Eine Woche später hatte Barbara ihre Wohnungsschlüssel und war mit einem Klapptisch, zwei Stühlen und einer Kaffeemaschine in ihre neue Wohnung gekommen. Thomas wusste immer noch nichts von ihren Plänen, und sie hasste sich für ihre Feigheit. Irgendwann im Laufe des Vormittags würde die Miniküche angeliefert werden und später das Bettsofa. Sie hatte im Möbelhaus auch zwei Garnituren Bettwäsche und ein bisschen Geschirr und Besteck erstanden, außerdem ein paar Flickenteppiche.

Sie war noch ganz aus der Puste, als es an der Tür klingelte. Es war Frau Reimer. O Gott, hoffentlich wird sie hier nicht Dauergast, dachte Barbara.

»Es riecht gar nicht mehr«, sagte Frau Reimer mit einem Seitenblick zur Wohnungstür der Nachbarwohnung. Sie hatte Recht, doch Barbara war sich nicht sicher, ob man das vom Inneren der Wohnung auch sagen konnte.

»Guten Tag, Frau Reimer.«

»Ja, guten Tag. Sie senkte ihre Stimme und sah sich um, als müsse sie sichergehen, dass niemand lauschte. »Ich habe nur geklingelt, weil ich Sie mal was fragen muss.«

»Möchten Sie nicht hereinkommen?«, fragte Barbara. Frau Reimer folgte ihr in die leere Küche und starrte dann entgeistert auf das Klapptischchen.

»Ich hatte vorher eine sehr kleine Küche«, versuchte Barbara zu erklären.

Frau Reimer nickte. »Also, ich muss Ihnen was erzählen. Weil … weil ich nicht weiß, was ich da machen soll.«

»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte Barbara, aber Frau Reimer schüttelte den Kopf.

»Nein, ich habe nicht so viel Zeit, der Vatter kommt gleich aus dem Keller, dann will er sein Essen.« Sie senkte die Stimme wieder. »Also, ich war heute im Drogeriemarkt um die Ecke. Ich hab Bilder abgeholt, die der Vatter auf meinem Geburtstag gemacht hat. Die sind da nach Endnummern geordnet, aber die Namen und Adressen stehen drauf, für alle Fälle. Und wissen Sie, was ich da gesehen habe?« Jetzt flüsterte sie fast. »Drei Tüten. Christina Wehling. Thionville-Straße 15.«

»Warum haben Sie sie nicht mitgebracht?«, fragte Barbara.

»Na, hören Sie mal. Drei Tüten! Und wer weiß, ob die Polizei mir die bezahlt.«

»Das werden sie ganz sicher. Aber wenn es Ihnen lieber ist, werde ich die Bilder abholen. Wissen Sie die Nummern noch?«

Frau Reimer nickte aufgeregt. »Ich habe sie mir notiert.« Sie wühlte in der Tasche ihrer Kittelschürze und zog einen Zettel heraus. »752, 53 und 54 war das.«

»Gut, ich werde mich darum kümmern. Aber Sie können sich ruhig direkt an die Polizei wenden, wenn so etwas ist …«

»Ach, wissen Sie, mit der Polizei habe ich als anständige Frau nicht gern was zu tun. Ihre Vormieter, die hatten sie zwei- oder dreimal hier. Häusliche Auseinandersetzungen nennt man das wohl. Das war ein Pack.« Sie schüttelte vielsagend den Kopf. »Ich muss jetzt das Essen machen. Wiedersehen.«

»Wiedersehen.« Barbara brachte sie noch an die Wohnungstür.

 

Drei Stunden später stand die Miniküche fertig angeschlossen da. Barbara hatte das Geschirr eingeräumt, die Kaffeemaschine hingestellt. Der Raum schien auf saalartige Ausmaße anzuwachsen. Der Flickenteppich unter dem Klapptisch und den Stühlen machte es auch nicht erträglicher. Barbara überlegte, ob noch genug Zeit blieb, bis das Bettsofa angeliefert wurde, und entschloss sich, schnell zum Drogeriemarkt zu laufen. Sie musste wissen, was auf diesen Bildern war.

Sie fand die von Frau Reimer angegebenen Nummern und nutzte die Gelegenheit, sich rasch mit Duschgel, Zahnbürsten und Putzutensilien zu versorgen. An der Kasse beschlich sie ein unangenehmes Gefühl, so als könnte die Kassiererin sie jeden Augenblick darauf ansprechen, dass es nicht ihre Fotos waren, aber natürlich geschah nichts dergleichen.

Zu Hause stellte sie die Einkäufe ab, holte die Tüten mit den Bildern hervor und riss die erste auf. Die Fotos zeigten ein junges Mädchen in einer Stadt, meist von hinten. Das Mädchen, Barbara schätzte sie auf etwa fünfzehn oder sechzehn, machte einen ausgedehnten Bummel. Sie blieb an Kleiderständern vor Läden stehen, betrachtete Schaufenster, aß einen Hamburger.

Barbara öffnete die nächste Tüte – die Bilder unterschieden sich in nichts von den anderen. Auch auf dem dritten Film war dasselbe Motiv, aber ein paar Fotos waren anders. Es gab Bilder von einem Hauseingang, einem bestimmten Fenster desselben Hauses. Und dann zwei Großaufnahmen vom Gesicht des Mädchens. Auf den ersten Blick zeigten sie einen typischen Teenager: die Augen von dicken Balken umrahmt, die an die Sechziger erinnerten. Das Mädchen trug Piercings an der Nase, den Brauen und den Ohren, die Haare waren rot gefärbt. Auf den anderen Bildern konnte man ihre Kleidung sehen: ein bauchfreies T-Shirt, das ein Nabelpiercing präsentierte, die Beine steckten in einer Schlaghose, riesige Plateauturnschuhe ließen sie noch dünner erscheinen. Trotzdem hatte sie nichts von der Unbeschwertheit eines jungen Mädchens, selbst unter der Schminke wirkten die Augen teilnahmslos und irgendwie traurig.

Barbara verteilte die Fotos, sorgfältig Film für Film getrennt, auf dem kleinen Klapptisch. Alle waren mit mehr oder weniger starkem Teleobjektiv aufgenommen. Kein Zweifel: Christina Wehling – sofern sie die Fotografin war – hatte das Mädchen beschattet. Eine merkwürdige Beschäftigung für eine kleine graue Maus wie Christina Wehling.

Barbara überlegte, ob sie Heyer anrufen sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Der Film an sich war nicht interessant genug, zumindest gab er keine Anhaltspunkte, weshalb Christina Selbstmord begangen haben könnte. Andererseits – den Film zum Entwickeln zu geben war vermutlich eine ihrer letzten Handlungen vor ihrem Tod. Wenn sie herausfinden könnte, was Christina mit dem Mädchen auf dem Foto zu tun hatte, würde das vielleicht ein wenig Licht in die Angelegenheit bringen. Sie nahm eine der Großaufnahmen, griff sich die gerade erstandenen Gummihandschuhe und horchte, ob sie allein im Flur war.

Die Wohnung war nicht versiegelt und die Tür nur zugezogen worden, also hatte Barbara leichtes Spiel mit dem alten Scheckkarten-Trick. Der Leichengeruch war immer noch penetrant, obwohl in jedem Raum zumindest ein Fenster gekippt war. Die Wohnung musste komplett saniert werden, damit hier wieder jemand wohnen konnte. Barbara streifte die Gummihandschuhe über und begann, sich umzusehen.

Die Polizei hatte das Wohnzimmer zwar in Augenschein genommen, aber es war nicht systematisch durchsucht worden, was Barbaras geübter Blick anhand einer unversehrten dünnen Staubschicht erkennen konnte.

Sie sah sich um, entdeckte nach kurzer Zeit zwei Fotoalben und begann, darin zu blättern. Das erste enthielt Urlaubsfotos, Landschaften, Strandszenen. Das zweite war aufschlussreicher, genau danach hatte Barbara gesucht: Christina Wehlings Familienalbum. Die Großaufnahme hielt sie in der Hand, um sie mit den Bildern im Album zu vergleichen. Sie zeigten eine ganz normale Familie: Christina Wehling, vielleicht vierzehnjährig, Mutter, Vater und eine kleine Schwester, Barbara schätzte sie auf sechs oder sieben Jahre. Sie stutzte und sah sich das Bild näher an. Woher kenne ich dieses Bild?, dachte sie. Sie war sich sicher, dieses Foto schon einmal gesehen zu haben.

Die beiden Kinder waren völlig unterschiedlich: Christina hager, dunkelhaarig, ernst und irgendwie unansehnlich, die Jüngere hellblond, lebhaft und bildhübsch. Ein Kind, das in jedem Werbespot hätte auftreten können. Eine Seite weiter untermauerte die Aufnahme eines Profifotografen noch einmal diesen Eindruck, und jetzt dämmerte es Barbara. Sie wusste, woher sie das Bild kannte: Es war ein Fahndungsfoto gewesen, das wochenlang durch die Presse gegangen war. Der Name des Kindes war Jenny Reichert, es war damals spurlos verschwunden. Barbara versuchte sich den Zeitpunkt ins Gedächtnis zu rufen. Waren es sieben Jahre? Nach Jennys Verschwinden hielten vier weitere derartige Fälle die Polizei in Atem, bis man etwa drei Jahre später einen Mann praktisch auf frischer Tat mit einer Kinderleiche erwischte. »Heiner Grigoleit«, murmelte sie. Obwohl nur eine weitere Leiche gefunden wurde, gestand der Mann insgesamt fünf Morde, darunter auch den an Jenny. Es war einer der spektakulärsten Fälle in den Neunzigern gewesen.

Und nun stolperte sie hier über Jennys Foto, im Familienalbum von Christina Wehling. War Jenny Christinas kleine Schwester? Sie starrte auf das Porträt und stutzte. Am Hals des Kindes gab es ein kleines braunes Muttermal. Sie sah sich das Foto aus der Tüte noch einmal an. Es war an dieser Stelle schon ein wenig verschwommen, aber Barbara war sich sicher, dass der kleine dunkle Fleck da war. Das Mädchen auf dem Foto musste Jenny sein, die angeblich vor Jahren von Heiner Grigoleit ermordet worden war. Sie lebte. Und irgendwie wunderte sich Barbara auch nicht mehr, warum aus dem fröhlichen kleinen Mädchen ein frühreifer, trauriger Teenager geworden war.

Plötzlich hörte sie, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür drehte. Sie steckte das neue Bild weg, ließ das Fotoalbum aber liegen und duckte sich hinter das Sofa.

Wer immer gerade gekommen war, er ging schnurstracks ins Schlafzimmer. Dort hielt er sich eine Weile auf, verrückte mal einen Stuhl und öffnete die Schranktüren. Barbara verhielt sich ganz still und hoffte, der ungebetene Gast würde schnell wieder verschwinden. Doch er tat ihr den Gefallen nicht, sondern kam jetzt auch ins Wohnzimmer. Verdammt, dachte Barbara, er wird mich hier entdecken. Doch dann erkannte sie das Rasierwasser. Es war Sven Heyer. Sie stand auf, und er zuckte zusammen.

»Meine Güte, haben Sie mich erschreckt …«, meinte er. Er sah auf das Album. »Was machen Sie denn hier?«

»Was hatte Christina Wehling mit Jenny Reichert zu tun?« Barbara tat so, als sei es völlig normal, dass sie in der Wohnung der toten Nachbarin herumstöberte.

»Das haben Sie herausgefunden?« Heyers Blick zeigte mildes Erstaunen. »Sie war ihre Halbschwester. Das hat mich endgültig misstrauisch gemacht. Alle Fakten sprechen für Selbstmord. Aber die Katze …«

»Die Katze?«

»Überlegen Sie mal. Ein Haustier verhungern zu lassen, da gehört eine Menge dazu …«

Barbara überlegte einen Moment. »Sie hat ihre Katze geliebt. Sie hätte sie weggegeben oder mitgenommen«, murmelte sie. Heyer hatte Recht.

»Die Gerichtsmedizin war ganz erbost, weil ich wollte, dass sie sich auch die Katze ansahen, samt toxikologischem Befund.«

»Und?«

»Nichts. Nicht eine Spur von Gift. Sie ist verhungert.« Er hob hilflos die Hände. »Frau Pross, meine Vorgesetzten wollen, dass ich den Fall so schnell wie möglich abschließe, wir konzentrieren uns zurzeit sehr auf die Suche nach der verschwundenen Kleinen … Aber irgendetwas sagt mir, dass hier etwas nicht stimmt.«

»Sie könnten Recht haben.« Barbara zog das Foto aus der Tasche und warf es auf Jennys Porträt. »Ich bin deswegen hier. Sehen Sie genau hin.«

Heyer beugte sich über die Fotos. »Hmm … eine gewisse Ähnlichkeit ist da.«

»Achten Sie vor allem auf den Leberfleck. Und das Mädchen auf dem Bild könnte ungefähr sechzehn sein – so alt, wie Jenny heute wäre.«

Heyer hielt die Fotos nebeneinander: »Also da müssten wirklich Experten ran … Woher haben Sie das Foto?«

»Christina Wehling hat Bilder entwickeln lassen, dieses und andere – wahrscheinlich hat sie sie sogar selbst fotografiert. Sie muss das Mädchen regelrecht beschattet haben.«

»Und woher wissen Sie das?«, fragte Heyer mit einem Seufzer.

»Sie hat die Bilder nicht mehr abholen können. Frau Reimer von unten hat die Fototüten zufällig im Drogeriemarkt entdeckt. Sie wollte nicht selbst zur Polizei und hat es lieber mir gesagt.«

»Wo sind die anderen Bilder? Bei Ihnen drüben?«

Barbara nickte. »Ich wüsste nur gern, ob sie die Bilder wirklich selbst geschossen hat. Wir müssten uns nach einer Kamera umsehen.«

Im Schlafzimmer war das Bett bis auf den Rahmen abgeräumt worden, Matratze und Bettzeug hatte man zur Untersuchung abtransportiert. Barbara öffnete den Kleiderschrank – nichts. Heyer schloss die letzte Schublade der Kommode. »Also hier ist keine Kamera«, meinte er.

»Ich habe eine andere Idee.« Barbara ging zurück ins Wohnzimmer, und Heyer folgte ihr. »Ich habe einen Ordner mit Rechnungen gesehen. Sie scheint der Typ gewesen zu sein, der alle wichtigen Dinge sorgfältig und systematisch aufbewahrt.«

Barbara nahm den Ordner aus dem Regal. Nach einigem Blättern stieß sie auf die Rechnung einer teuren Kamera und eines noch teureren Teleobjektivs.

»Das ist eine richtige Profiausrüstung«, meinte Heyer. »Ich wäre froh, wenn ich so etwas hätte …«

»Aber wo ist die Kamera?«, fragte Barbara. »Sie hat sie erst vor ein paar Monaten gekauft.«

»Vielleicht hat sie sie verliehen, was weiß ich …«

Barbara holte die Quittungen aus dem Ordner und wollte ihn wieder ins Regal zurückstellen, da entdeckte sie plötzlich ein schmales Ringbuch, das hinter den anderen Ordnern quer ins Regal geschoben war. Sie zerrte es heraus. Es war angefüllt mit Material über Jenny Reichert – alle erdenklichen Presseberichte waren sorgfältig aufgeklebt, auch Berichte über Heiner Grigoleit, der den Mord an Jenny und vier weiteren kleinen Mädchen gestanden hatte.

»Das können wir uns auch bei Ihnen drüben näher ansehen«, sagte Heyer. »Ich brauche dringend einen Kaffee.«

»In Ordnung. Aber erwarten Sie kein ›Schöner Wohnen‹ …«

Barbara lächelte, als Heyer diesmal Christinas Wohnung sorgfältig abschloss. »Nicht, dass ich glaube, dass Sie nicht in die Wohnung hineinkommen könnten, wann immer Sie wollen …«, sagte er mit einem Augenzwinkern.

»Ehrlich gesagt, ich war froh, dass es mit der Scheckkarte geklappt hat«, sagte Barbara. »Ich halte mich nicht gerade für eine professionelle Einbrecherin.«

 

Während Barbara die Kaffeemaschine in Gang setzte, studierte Heyer die Fotos, die auf dem Küchentisch ausgebreitet waren. »Ich denke, Sie könnten Recht haben damit, dass Jenny Reichert noch lebt. Aber ich lasse das von einem Experten untersuchen. Der kann vielleicht herausfinden, wo die Fotos aufgenommen wurden.«

»Sie könnten auch noch einmal nach Fahrkarten oder Quittungen suchen.«

»Könnte ich, wenn ich Zeit dazu hätte.«

»Die kleine Jessica? Gibt es etwas Neues?«

Heyer schüttelte den Kopf. »Keine Spur. Wir haben den Vater in die Mangel genommen, nachdem er der Mutter übel zugesetzt hatte – und deren neuen Freund. Das Übliche halt.«

Barbara schob ein paar Fotos zusammen, um Platz für die Tassen zu machen. Inzwischen war auch der Kaffee fertig, und sie goss ein.

Heyer sah sie nachdenklich an. »Was geht Ihnen gerade durch den Kopf?«

»Das hier.« Sie deutete auf den Ringordner und blätterte zu den Berichten über die Verhaftung und den Prozess von Heiner Grigoleit. »Wenn Jenny noch lebt, warum hat er dann den Mord gestanden?«

»Also, so weit ich mich an den Fall erinnern kann, war der Typ ziemlich verwirrt. Er wurde für unzurechnungsfähig erklärt und in die Psychiatrie eingewiesen aufgrund der zwei Morde, bei denen die Leichen gefunden wurden – er wurde dabei gestellt, als er die letzte begraben wollte. Er hat den ermittelnden Beamten bereitwillig ein weiteres Grab gezeigt, aber bei den drei anderen, wozu auch Jenny gehörte, hat er sich stur gestellt. Das passte genau zu seinem übrigen Verhalten. Hat man das BKA damals nicht hinzuzogen?«

»Nein. Der Fall war ja auf Nordrhein-Westfalen beschränkt, und die hiesige Polizei hat ihn gelöst. Ich erinnere mich, dass ich damals den Prozess beobachten wollte, aber dann ist mir ein anderer Fall dazwischengekommen.« Barbara stockte. Schmidtmann. Schmidtmann war der Fall gewesen. »Die Genehmigung, Grigoleit im Landeskrankenhaus zu besuchen, habe ich nicht bekommen. Die Ärzte wollten ihn ganz für sich.«

Sie nahm geistesabwesend einen Schluck Kaffee. Ihr war beklommen zumute. Kindermorde waren ihr ganz persönlicher Albtraum. Da gab es den Mord an ihrer Freundin Ina, den sie als Kind mit angesehen hatte. Und da gab es den Fall Schmidtmann, für dessen letztes Opfer sie sich immer noch verantwortlich fühlte, weil sie zu spät geschaltet hatte. Aber wenn sie das alles hier zu Ende dachte, dann lief ein Serienmörder frei herum – einer, für dessen Taten ein vielleicht Unschuldiger in der Psychiatrie saß.

Als sie die Tasse wieder absetzte, sah sie Heyer direkt ins Gesicht. »Können Sie mir die Akten besorgen? Es war doch die Duisburger Staatsanwaltschaft, die ermittelt hat, oder?«

»Ja, das war ein Duisburger Fall.«

»Besorgen Sie mir die Akten?«

Heyer runzelte die Stirn. »Was versprechen Sie sich davon? Der Fall ist doch lange abgeschlossen – und selbst wenn nur zwei Leichen gefunden wurden, an Grigoleits Täterschaft besteht nicht der geringste Zweifel.«

Barbara tippte heftig auf die Fotos. »Wenn das hier Jenny ist, dann hat er gelogen – vielleicht bei den anderen Mädchen, deren Leichen nicht gefunden wurden, auch? Wo sind diese Mädchen dann? Und dann sind wir nicht weit davon entfernt, dass Grigoleit Morde gestanden haben könnte, die er nicht begangen hat.«

»Er wurde erwischt, als er eine Leiche verschwinden lassen wollte. Eindeutiger geht es doch wohl nicht.« Heyer sah Barbara an und seufzte: »Aber wenn es Sie glücklich macht, werde ich Ihnen die Akte besorgen – ich habe ja guten Grund, sie mir wieder anzusehen.«

Er stand auf und raffte die Fotos auf dem Tisch zusammen. »Um diese Sache hier werde ich mich kümmern. Mir tun Christinas Eltern so Leid. Vielleicht ist es wenigstens ein kleiner Trost, wenn sie Jenny zurückbekommen.«

»Wollen Sie sie gleich aufsuchen? Ich meine, wer kann sie besser identifizieren?«

Heyer schüttelte energisch den Kopf. »Ich werde erst zu ihnen gehen, wenn wir ganz sicher sind. Stellen Sie sich doch einmal vor, wir haben uns geirrt, Christina hätte sich geirrt. Und wir wühlen die ganze Sache auf …«

»Das kann doch aber sehr lange dauern …« Barbara wusste, sie war zu ungeduldig.

»Ich werde die Eltern in ihrer Trauer um Christina jetzt nicht aufstören.« Heyers Ton ließ keinen Zweifel, dass dies sein letztes Wort zu dem Thema war.

»Kann ich Christinas Ordner hier behalten?«, fragte Barbara.

»Vorläufig schon. Ich werde mich melden, wenn ich ihn brauchen sollte.«

Heyer verabschiedete sich und ging. Als Barbara zurück in die Küche kam, fiel ihr die Papiertüte auf, die unter den Tisch gerutscht war – eine der Filmtüten. Und darin waren noch alle Negative. Sie griff nach ihrer Jacke. In der Innenstadt gab es einen Laden, der Fotos innerhalb von zwei Stunden entwickelte. Denn sie war ganz sicher, dass Heyer das Fehlen der Negative rasch bemerken und ganz schnell wieder vor ihrer Tür stehen würde.

 

Barbara hatte die zwei Stunden, die der Fotoladen für die Entwicklung gebraucht hatte, in einem Internet-Café verbracht und hatte versucht, etwas über Heiner Grigoleit zu finden. Aber sie kam nur quälend langsam vorwärts, und als die Zeit um war, hatte sie gerade zwei Zeitungsartikel gefunden, die sie natürlich genauso gut in Christinas Mappe hätte nachlesen können.

Sie brachte die Tüte mit den Negativen im Duisburger Polizeipräsidium vorbei. Heyer war nicht da, aber man versprach ihr, ihm die Tüte zu übergeben. Obwohl sie nie dort gewesen war, kam ihr das Präsidium merkwürdig vertraut vor. Diese alten Backsteinbauten waren irgendwie alle gleich. Das war die Luft, die sie immer geatmet hatte, viele Jahre lang.

Sie fuhr nach Hause – nach Düsseldorf. Bis jetzt hatte sich das Gefühl, in der Sternstraße zu Hause zu sein, noch nicht verändert.

Thomas arbeitete an seinem neuen Buch, und seit einer Woche tat er das mit einer Verbissenheit, die Barbara lange nicht mehr an ihm gesehen hatte.

»Magst du einen Tee?«, fragte sie. Vielleicht könnte sie ihm bei einer ruhigen Tasse Tee endlich sagen, dass sie ihn verlassen wollte.

»Gern.«

Sie füllte den Wasserkocher, klemmte einen Teefilter in den Halter und zählte sorgfältig die Löffel ab.

Thomas kam herein. Sein Blick stellte ihr eine deutliche Frage. Wo warst du? hätte sie lauten können. Oder: Was hast du den ganzen Tag so gemacht? Aber wie üblich schwieg er, und Barbara wusste auch nicht, wie sie anfangen sollte mit ihrer Beichte.

Bis das Wasser heiß war und Barbara es in die Kanne goss, schwiegen sie. Urplötzlich beschlich Barbara ein Anflug von Vertrautheit. Wie viele verschiedene Gefühle für sie mit diesem Schweigen verbunden waren! Sie konnte sie kaum benennen. Lange war es ein Zeichen der wachsenden Nähe zwischen ihnen gewesen, der Fähigkeit, einander ohne Worte zu verstehen. Später beschlich Barbara der Verdacht, dass Thomas es sich mit seinem Schweigen sehr leicht machte. Und mit der Zeit hatte sie es gehasst, nicht einfach mit ihm reden zu können. Sie sprachen schon miteinander – über ihre Arbeit, über Menschen, sogar manchmal über ihre, Barbaras, Befindlichkeit –, aber Thomas selbst und ihre Beziehung war nie ein Thema.

»Da ist heute ein Brief für dich gekommen. Aus München. Bewerbungsunterlagen?« Thomas ließ sie nicht aus den Augen.

»… Ja …«

Thomas holte den Teefilter aus der Kanne und goss für beide ein. Barbara fühlte sich gezwungen, unbedingt etwas sagen zu müssen, ein Gefühl, dass sie hasste. Sie wusste, er wollte mehr wissen, aber er fragte nicht. Er wartete einfach ab und gab einen Löffel Zucker in den Tee.

»Ich habe mich auch anderswo beworben. Hamburg zum Beispiel. Auch im Ausland.«

Ein Beobachter hätte an Thomas keine besondere Regung entdeckt, aber Barbara bemerkte sofort, dass ihm diese Nachricht ganz und gar nicht passte. Es war nur eine kleine Falte, die sich bei dieser Andeutung von Stirnrunzeln ein wenig vertiefte, während er den Tee umrührte. »Und – wie stehen deine Chancen?«

»Na ja. Ich habe mich auf Forschungsjobs beworben, mit meinem Background und dem Thema der Doktorarbeit will mich in der Therapie ohnehin niemand haben. Vielleicht habe ich das alles damals etwas überstürzt in Angriff genommen.«

Er hörte auf zu rühren und sah ihr direkt ins Gesicht: »Und was ist mit der Polizei, dem BKA? Hat dich das Jagdfieber noch nicht wieder gepackt?«

Barbara schüttelte den Kopf. »Ich habe gekündigt, da ist es unwahrscheinlich, dass sie mich wieder einstellen. Und inzwischen bin ich längst nicht mehr so unentbehrlich wie damals – wenn ich das je war. Es gibt jetzt einige sehr gute Profiler beim BKA und bei den LKAs. Das Klassifizierungssystem wird endlich eingeführt … da bin ich ganz überflüssig.«

Thomas hatte sie unverwandt angesehen. Jetzt blickte er in seine Teetasse, als würde er seine Frage dort ablesen. »Aber was willst du?«

Barbara überlegte einen Moment, dann meinte sie: »Ich weiß nicht, ob ich diesen Sachen noch gewachsen bin. Das kleine Mädchen zum Beispiel, das verschwunden ist. Das geht mir sehr nahe – zu nahe für einen Polizeijob, wenn du mich fragst. Zumal es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass die Kleine noch lebt.«

»Kindermord solltest du vielleicht nicht als Maßstab für deine Widerstandsfähigkeit nehmen.« Thomas begann, seinen Tee zu trinken. Er hatte versucht, sie zu überreden, wegen ihrer als Kind ermordeten Freundin Ina eine Therapie zu machen, aber Barbara hatte sich geweigert. Damals, nachdem sie ihren Nervenzusammenbruch wegen des Kindermörders Schmidtmann hatte, war sie eine Zeit lang zu einem Psychiater gegangen, doch das hatte sie nicht davor bewahrt, vollends depressiv zu werden. Sie war der Meinung, dass sie sich nur selbst helfen konnte. Thomas hatte ein- oder zweimal versucht, sie zu überzeugen, und dann nicht mehr darüber gesprochen. Aber wenn die Rede auf dieses Thema kam, konnte ein einziger Blick von ihm in Barbara seine komplette Argumentation wachrufen.

»Um Kindermord unerträglich zu finden, muss man nicht dasselbe durchgemacht haben wie ich.« Barbara konzentrierte sich auf ihren Tee.

Plötzlich sah sie auf und blickte ihm direkt in die Augen. »Warum fragst du mich eigentlich nicht danach, warum ich mich außerhalb bewerbe? Ich meine, du hast doch verstanden, was das bedeutet?« Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Fragen wie ein Angriff klangen.

Aber Thomas sagte nichts, senkte nur den Blick.

»Ich werde ausziehen. In den nächsten Tagen«, sagte sie leise.

»Dann hast du also einen Job?« Thomas sah wieder hoch.

Barbara schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Aber … ich will dich nicht ausnutzen.«

Von einem Moment zum nächsten wurde Thomas kühl. Sie wusste, er hatte kein Verständnis für ihre Skrupel, sein Geld anzunehmen. Es war für ihn immer selbstverständlich gewesen, sowohl sie als auch die wenigen Freunde, die er hatte, großzügig zu unterstützen. Dieses Thema war dann auch eines der wenigen, um die sie sich jemals wirklich gestritten hatten. Geld hatte für Thomas einfach nicht die Bedeutung, die ihm alle anderen zumaßen. Für einen Mann seines Reichtums lebte er bescheiden, aber wenn er etwas ausgeben wollte, dann tat er es, ohne lange zu überlegen.

»Auch nicht emotional«, fügte sie hinzu und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme ein wenig zitterte.

»Wie lange planst du das schon?«

»Noch nicht sehr lange. Aber ich wusste auch nicht, wie ich es dir sagen sollte. Ich kann ja nicht einmal richtig erklären, warum ich wegmuss …«

Er nickte nur.

»Ich habe mir eine Wohnung gemietet. In Duisburg. Da sind die Mieten billiger. Ich werde ja nicht lange dort bleiben, da werden meine Ersparnisse schon reichen.«

Thomas runzelte die Stirn. »Habe ich dich je eingeengt oder dir Vorschriften gemacht, was du tun oder lassen sollst?«

»Nein.«

»Glaubst du, ich würde dich daran hindern, einen guten Job in Hamburg, München oder sonst wo anzunehmen?«

»Nein.«

»Warum dann diese Trennung? Ich meine, ich bin wirklich nicht erpicht auf eine Wochenendbeziehung, aber ich sehe ein, dass ein Job wichtig ist für dich.«

»Das hatten wir doch schon, Thomas. Damals, als ich nach dem Fall Rottländer wieder für das BKA gearbeitet habe …«

»Ich habe nicht verlangt, dass du den Job aufgibst und hierher ziehst.«

Barbara legte eine Hand auf seinen Arm. »Das ist sehr wichtig für dich, oder? Mich nie zu etwas zu zwingen.«

»Ich kenne dich, Barbara. Wenn du das Gefühl hast, dass jemand Druck auf dich ausübt …«

»Vielleicht übst du ja mehr Druck aus, als du denkst, auf deine sanfte Art.« Sie seufzte. »Ich will aber nicht unfair sein. Ich weiß, dass du das nicht absichtlich tust. Es liegt an mir. Ich fühle es einfach so. Vielleicht setze ich mich auch nur selbst unter Druck.«

»Und wenn du gehst, ist dieser Druck weg?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Ungewollt war Barbara laut geworden.

Er stand abrupt auf. »Ich habe noch eine Menge zu tun,« sagte er.

Barbara wusste, er wollte sich nicht streiten. In ihr kam etwas wie Wut hoch, zu oft hatte er sich aus drohenden Konflikten auf diese Art zurückgezogen. Es dauerte einen Moment, bis ihr einfiel, dass das jetzt wohl keine Rolle mehr spielte. Ich lebe bald nicht mehr mit Thomas zusammen, ging es ihr durch den Kopf. Und plötzlich kam ihr der Gedanke, dass sie kein Wort über Liebe gesagt hatten. Der Gedanke war ihr unangenehm, sie hatte ihn weggeschoben, seit sie sich entschlossen hatte, Thomas zu verlassen.

 

Später am Abend saß Barbara in der Küche und aß ein Brot. Thomas war seit ihrem Gespräch nicht mehr aus seinem Arbeitszimmer gekommen. Jetzt hatte er den PC ausgeschaltet und stand in der Küchentür.

»Wir sind wohl beide ziemlich festgefahren«, meinte er. »Warum bleibst du nicht einfach, bis du eine Zusage hast, und ziehst dann um?«

Barbara schüttelte den Kopf. »Ich muss irgendetwas tun, etwas ändern, sonst ersticke ich.« Sie sprach nicht weiter.

»Und deshalb recherchierst du Fälle von verschwundenen Kindern?«, fragte er in ihr Schweigen hinein. »Ich habe heute Mittag die Ausdrucke gesehen.«

»Das hat nichts damit zu tun. Ich bin da in etwas hineingeraten … Es ist nicht wegen der kleinen Jessica. Interessiert es dich?«

»Ja, sicher.«

Barbara holte die Fotos von Jenny Reichert und erzählte von ihrer Entdeckung. Als sie zu dem Leichenfund in der Nachbarwohnung kam und ihm ganz ruhig und sachlich den Zustand der Leiche beschrieb, huschte ein kleines ironisches Lächeln über sein Gesicht.

»Was?«, fragte Barbara ungeduldig.

»So ganz entwöhnt bist du wohl noch nicht.« Er sah wieder ganz ernst aus, und Barbara fuhr mit ihrem Bericht fort.

»Ich kann mir nicht helfen – mir geht nicht aus dem Kopf, dass der Falsche in der Psychiatrie sitzt«, schloss sie.

»Aber dieser Polizist meint, es sei eindeutig erwiesen, dass dieser Grigoleit die beiden Kinder, deren Leichen gefunden wurden, auf dem Gewissen hat, oder?«

Barbara machte eine hilflose Geste. »Natürlich ist es ein erdrückender Beweis, wenn jemand ertappt wird, während er eine Kinderleiche vergräbt. Aber, Thomas, ich weiß doch, wie damals, vor fünf Jahren, noch gearbeitet wurde. Selbst heute würde keiner auf die Idee kommen, in einer solch eindeutigen Situation einen Profiler oder Psychologen hinzuzuziehen. Wozu auch?«

»Gehörte Grigoleit zu denen, die du für deine Doktorarbeit interviewt hast?«

»Nein. Er gehörte zu einer anderen Kategorie Täter – fast debil, völlig unfähig zu einer geplanten Tat.«

»Also ganz anders als die intelligenten Täter, die auch fähig sind, einen Psychiater zu täuschen …«

»Ja. Aber einen Täter wie Grigoleit zu verhören ist noch schwieriger. Er folgt keinerlei Logik, seine Motive sind kaum nachvollziehbar. Weißt du, dass Täter, die ohne Plan vorgehen, im Schnitt zwei bis drei Jahre später gefasst werden als die intelligenten?«

»Ja, das hast du mal erwähnt.«

Barbara musste lächeln. Thomas hatte sich, höflich wie er war, das »mehrmals« verkniffen. »Aber ich werde mir den Fall noch näher ansehen. Heyer will mir die Akten besorgen«, meinte sie.

»Das ist schon verrückt …«, sagte Thomas plötzlich. Er hielt eines von Christina Wehlings Fotos in der Hand.

»Was?«

»Nun, ich spiele schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, etwas über vermisste Kinder zu schreiben oder, vielmehr, über ihre Angehörigen. Ich habe sogar schon einmal mit meinem Verleger darüber gesprochen.«

Barbara war verblüfft. Die Themen von Thomas’ Sachbüchern waren weit gestreut, hatten aber doch meistens etwas mit seinen Fachgebieten Germanistik und Altphilologie zu tun. Als sie ihn kennen lernte, schrieb er zum Beispiel über Hexenverfolgung und hielt gleichzeitig an der Uni ein Seminar über Friedrich Spee, der dagegen kämpfte. »Habe ich dich inspiriert?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf: »Ehrlich gesagt, nicht sehr. Ich werde es dir vielleicht mal erzählen.«

Barbara fragte nicht weiter. Er würde nicht mehr zu dem Thema sagen, dazu kannte sie ihn gut genug.

Thomas stutzte plötzlich und betrachtete das Foto, das er immer noch in der Hand hielt, genauer. Er deutete auf eine Spiegelung in einem Schaufenster. »Ich glaube, das ist Brügge«, sagte er. »Sieh her, dieser Turm … das ist der Campanile. Brügge, ich bin mir ganz sicher.«

»Brügge …«, murmelte Barbara. Belgien wäre nicht unwahrscheinlich als Ziel einer Verschleppung, nach allem, was durch die Dutroux-Affäre ans Tageslicht gekommen war. »Ich werde das nachprüfen lassen. Aber Heyer muss sich erst einmal von den Spezialisten bestätigen lassen, dass dieses Mädchen hier wirklich Jenny Reichert ist. Das kann ewig dauern.«

In Thomas’ Mundwinkeln erschien ein kleines Lächeln. »Es hat dich also doch wieder gepackt.«

»Mag sein«, gab Barbara zu. »Aber die Sache ist so ungeheuerlich, der muss ich einfach nachgehen. Die Polizei wird kaum Zeit haben, einen abgeschlossenen Fall neu aufzurollen.«

»Ich könnte dir helfen …«

»Und das neue Semester?«, fragte Barbara.

»Ich habe mein Seminar gestrichen. Hatte ich das nicht erzählt?«

Barbara schüttelte den Kopf.

»Das Thema war ohnehin so exotisch, dass sich nur zehn Studenten gemeldet hatten. Die Vorlesung wird wahrscheinlich auch kein Renner. Also habe ich Zeit genug.«

»Willst du mir helfen oder willst du mich hier halten?«, fragte Barbara.

»Es ist nur ein Angebot. Du musst es nicht annehmen.«

Ich kenne deine Angebote, schoss es Barbara durch den Kopf. Eines dieser Angebote hatte sie zusammengebracht. »Sie können hier wohnen, solange Sie wollen«, hatte er damals gesagt, an dem Morgen, nachdem er Barbara in der Kneipe an der Grupello-Straße aufgelesen hatte. Sie war depressiv, hungrig und völlig durchnässt gewesen, und er hatte ihr ein Essen bezahlt und einen Schlafplatz angeboten. »Sie können hier wohnen, solange Sie wollen.« Jetzt wollte sie nicht mehr.

»Ich denke, ich werde heute Nacht auf dem Klappbett schlafen«, sagte sie leise.

Thomas schwieg.

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