Bock - Katja Lewina - E-Book

Bock E-Book

Katja Lewina

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Beschreibung

Männlichkeitsrituale, Potenzdruck, Übergriffigkeit – das Mannsein ist in die Krise geraten; das Schlagwort der »toxischen Männlichkeit« macht ebenso die Runde wie das des »alten weißen Mannes«. Katja Lewina wollte wissen, was mit dem Mann los ist, und vor allem: wie es ihm wirklich geht im Bett. Sie ist losgezogen und hat mit Männern über Sexualität, Sehnsüchte und Geheimnisse gesprochen, mit normalen Typen ebenso wie mit Experten: vom Orgasmus-Coach bis zum Priester, vom trans Mann bis zum Urologen, vom Paartherapeuten bis zum Philosophen. In ›Bock‹ zeigt sie, wie viele Ängste und Unsicherheiten mit dem Mannsein verbunden sind und wie Sozialisierung und gesellschaftliche Erwartungen das Leben der Männer beeinflussen. Das Ende des Patriarchats können die Frauen nicht allein ausrufen, deshalb ist es höchste Zeit für dieses Buch, das Stereotype zerschießt und Alternativen aufzeigt.

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Seitenzahl: 344

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Männlichkeitsrituale, Potenzdruck, Übergriffigkeit – das Mannsein ist in die Krise geraten; das Schlagwort der »toxischen Männlichkeit« macht ebenso die Runde wie das des »alten weißen Mannes«. Katja Lewina wollte wissen, was mit dem Mann los ist, und vor allem: wie es ihm wirklich geht im Bett. Sie ist losgezogen und hat mit Männern über ihre Sexualität, ihre Sehnsüchte und Geheimnisse gesprochen, mit normalen Typen ebenso wie Experten: vom Orgasmus-Coach bis zum Priester, vom trans Mann bis zum Urologen, vom Paartherapeuten bis zum Philosophen.

In ›Bock‹ zeigt sie, wie viele Ängste und Verunsicherungen mit dem Mannsein verbunden sind und wie Sozialisierung und gesellschaftliche Erwartungen das Verhalten der Männer beeinflussen.

Das Ende des Patriarchats können die Frauen nicht allein ausrufen, deshalb ist es höchste Zeit für dieses Buch, das Stereotype zerschießt und Alternativen aufzeigt.

© Lucas Hasselmann

Katja Lewina wurde 1984 in Moskau geboren, studierte Slawistik, Literatur- und Religionswissenschaften. Sie arbeitete als Lektorin und im Künstlermanagement. Heute ist sie freie Autorin für namhafte Medien. Bei DuMont erschien ihr SPIEGEL-Bestseller ›Sie hat Bock‹ (2020).

Katja Lewina

Bock

Männer und Sex

Von Katja Lewina ist bei DuMont außerdem erschienen:

›Sie hat Bock‹

eBook 2021

© 2021 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Zuerst erschienen als Hörbuch von Audible Original

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagmotiv: © plainpicture/Frank Muckenheim

Weitere Motive: Schattenriss: © plainpicture/Frank Muckenheim; Älteres Paar: © blackCAT/istockimages; Illustration Sexbrain: © fixer00/shutterstock; Einhorn: © Mayer/Adobestock; Banane: © blacksalmon/Adobestock

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7121-6

www.dumont-buchverlag.de

Für Edgar

Inhalt

Auftakt

Es ist ein Junge!

Das beste Stück

Wie die Nase eines Mannes oder warum Größe so ein Ding ist

Wann ist ein Mann ein Mann und was der Penis damit zu tun hat

Teen Spirit

Mütze-Glatze

Ich wichse, also bin ich (nicht)

Gute Seiten, schlechte Seiten – Warum Porno geil, aber manchmal auch kaputtmacht

Hetero, homo und alles dazwischen

Ein bisschen bi

Uuuhhh, sexy Body

Frisur, mon amour

Free Titty – wie normal ist die Brust?

Sex geht los

Gib Gummi

Unten ohne – Verhüten jenseits von Kondom

Eine Jungfrau ist kein Mann

Erfahrung ist alles

Orgasmus muss

Schluss mit Schnellschuss

Multiple Choice – Wie oft hättet ihr’s denn gern?

Mr.Lover Lover – Der Praxistest

Mit dem Mund

Im Allerwertesten

Liebe zu dritt

Fesseln, Hauen, Unterwerfen

Ankommen

Erobern für Anfänger

Beziehung? Nicht mit mir!

No more Sex – Ein Leben im Zölibat

Sex und Love auf lange Sicht

Vater werden ist nicht schwer

Kein Sex für Vati – Wie Elternsein die Leidenschaft killt

Rollen verhandeln – Was Care-Arbeit mit Sex zu tun hat

Was heißt schon treu?

Die Freiheit nehm ich mir – Was an gekauftem Sex besser ist als an kostenlosem

Alter weißer Mann

Die ganz normale Gewalt

Das Männlichkeitsdilemma – Warum Männer Frauen hassen

Über Konsens reden – geht beim Flirt, geht beim Sex

Silberrücken will’s wissen

Die Midlife-Experience

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat den Härtesten im ganzen Land?

Es noch mal krachen lassen

Ruhestand

Der alte Mann und der Sex

Das Ende vom Lied: Über Sex reden

Literatur

Auftakt

Berliner Luft. Zum Einatmen nicht unbedingt zu empfehlen, als Pfefferminzlikör auf Eis hingegen genau das Richtige nach einem langen Arbeitstag im Kreativhaus. »Und, woran schreibst du grade so?«, fragt Robi, dessen Studio direkt neben meinem Schreibraum liegt. »Über männliche Sexualität«, sage ich. Möglicherweise folgt meinerseits ein kleiner, Likör-geschwängerter Monolog darüber, mit wie vielen Klischees sich Männer in der Kiste rumschlagen müssen. Aber den brauchte es gar nicht. Robi hat auch so direkt die passende Story parat: wie er mal bei einem sturzbesoffenen One-Night-Stand keinen hochbekam und das einfach nicht auf sich sitzen lassen konnte. »Ich bin am nächsten Tag erst mal zum Fußballtraining gefahren, um mir den Kater wegzukicken. Und danach gleich wieder zu der Frau. Ich musste das zu Ende bringen, um jeden Preis.«

Nahezu jeder Mann hat solche Geschichten zu erzählen. Darüber, was es heißt, »seinen Mann zu stehen«, »es ihr besorgen« zu müssen. Und die abgrundtiefe Peinlichkeit, wenn es nicht gelingt. Kein Wunder, dass sich die meisten auf dem Markt befindlichen Bücher über Männer und Sex ums erfolgreiche Vögeln drehen. Wie kriege ich jede Frau rum? Was tun, um nicht zu schnell abzuspritzen? Wie bleibt der Penis länger hart? Wenn man sich im Internet durch solche Titel klickt oder sie gar in einer Buchhandlung erblickt, möchte man sowohl Autoren als auch Lesern schon fast zärtlich übers Köpfchen streicheln und »Armer Kleiner, ist schon gut« gurren.

Ja, Mannsein ist nicht leicht. Einen auf krassen Stecher machen, immer wollen, immer können, perfekt verführen. Klar, dass man sich angesichts solcher Erwartungen gern mal in die Hose macht. Warum aber überhaupt Normen hinterherjagen, die nur die wenigsten erfüllen können? Normen, die nicht nur Männer unter Druck setzen und sie der Freiheit berauben, die Person zu sein, die sie wirklich sind. Sondern die auch in Übergriffigkeit und sexualisierte Gewalt umschlagen können. Denn vom Ideal des großen, immer harten Schwanzes, der sich nimmt, was er will, ist es nicht mehr weit bis zu »auch wenn das die Grenzen meines Gegenübers verletzt«.

Erinnert ihr euch noch an den Clip Männerwelten, in dem Moderatorin Sophie Passmann einem breiten Publikum vor Augen führte, wie normal sexistische Grenzüberschreitungen durch Männer für Frauen sind? Viele waren so erstaunt und erschüttert, als hätten sie das alles zum ersten Mal gehört, als hätte es #MeToo nie gegeben: So schlimm ist das wirklich? Zu Recht forderten im Anschluss viele Menschen, vor allem Frauen, dass es jetzt endlich mal reiche mit den weiblichen Selbstentblößungen – denn mal ehrlich: Wie viele Frauen müssen denn noch klarstellen, dass das alles wirklich, wirklich stimmt, bis man ihnen glaubt? Stattdessen seien jetzt mal die Männer an der Reihe, ihr Verhalten zu reflektieren und sich zu positionieren. Sich verdammt noch mal an die eigene Nase zu fassen. Und ich finde das auch.

Seit mein erstes Buch Sie hat Bock erschienen ist, in dem ich gegen all die Klischees, Mythen und Tabus rund um weibliche Sexualität angeschrieben habe, werde ich immer wieder gefragt, ob es so etwas auch für Männer gibt – ein Buch, das Stereotype zerschießt, eins, das Alternativen aufzeigt. Und weil ich nichts Vergleichbares in Bezug auf Sex finden konnte, habe ich beschlossen, es einfach selbst zu schreiben. Ich habe zwar weder einen Penis, noch fühle ich mich dem männlichen Geschlecht zugehörig, aber als sexuell aktive Hetero-Frau kann ich unzählige Lieder über meine Begegnungen mit dem anderen Geschlecht singen. Und da viele von ihnen Fragen aufwerfen, hat so eine Nicht-Betroffenenperspektive durchaus auch Vorteile. Denn einiges von dem, was vielen Männern völlig normal oder erstrebenswert erscheint, macht mich einfach nur ratlos. Bringt sämtliche meiner Körperhaare dazu, sich aufzustellen. Lässt mich »Wer hat dir bloß ins Hirn geschissen?« wüten oder um all die Möglichkeiten trauern, die sie sich selbst versagen.

Was ist los mit den Männern? Und was wollen sie wirklich? Um das zu klären, braucht es Typen, die Klartext reden. Die über ihre Männlichkeit philosophieren, über ihre Lust und ihre Bettgeschichten sprechen, ihre Komplexe und Ängste offenbaren. Welche Rolle spielen dabei Sozialisierung und gesellschaftliche Erwartungen? Und vor allem: Wie können Männer es schaffen, sich endgültig aus den fiesen Fängen des Patriarchats zu befreien?

Einige dieser Typen habe ich hier versammelt. Manche haben schonungslos offen ihre Erfahrungen und Gefühle mit mir geteilt, andere haben mir geholfen, sie in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Viele von denen, die ihre intimsten Erlebnisse vor mir ausgebreitet haben, wollten gern anonym bleiben. Anderen hingegen war das nicht so wichtig, weil sie keinen Bock mehr haben, Sexualität als etwas Privates zu betrachten. Trotzdem habe ich mich dazu entschlossen, alle Männer, die sich nicht ohnehin beruflich mit diesem Thema beschäftigen oder auf die eine oder andere Art und Weise in der Öffentlichkeit stehen, weitgehend zu anonymisieren, damit es keine Verwirrung gibt. Und so erfährt man von den meisten Männern weder Namen noch Alter noch Beruf. Dafür aber vielleicht Dinge, die sie sonst niemandem erzählen. Zusammen mit ihnen werden wir den Lebensweg eines Mannes von der Wiege bis zur Bahre ablaufen, und dabei das gängige Narrativ von männlicher Sexualität hinterfragen. Denn in jedem Lebensabschnitt werden naturgemäß andere Fragen drängend – während ein Sechzehnjähriger Angst hat, beim ersten Mal zu früh abzuspritzen, fragt sich ein Sechzigjähriger vermutlich eher, ob seine Erektion lange genug mitspielt.

Manchen von euch werden einige Aussagen vielleicht etwas pauschalisierend vorkommen – auch bei Sie hat Bock fühlten sich etliche Männer ungerecht behandelt und in Schubladen gepresst, mit denen sie nichts zu tun haben wollten. Daher an dieser Stelle ein weiterer Disclaimer: Wann immer ich von »den Männern« im Allgemeinen rede, beziehe ich mich zwar meist auf heterosexuelle cis Männer, kann damit aber unmöglich jeden einzelnen Menschen, der in diese Kategorie fällt, meinen. Wir alle sind unterschiedlich – das will ich gar nicht in Zweifel ziehen. Dennoch muss ich manchmal Verhaltensweisen und Attribute benennen können, die wir in unserer Gesellschaft als »männlich« definieren, und dafür brauche ich Worte. Seht mir also nach, wenn nicht alles, was ich beschreibe, auf jeden einzelnen Mann genauso zutrifft. Wäre ja auch schlimm, wenn’s so wäre. Am Ende gibt es auf die Frage, was genau denn nun männlich sei, nur eine richtige Antwort: Alles, was eine Person, die sich selbst als Mann definiert, tut. Ob es nun Tutu-Tragen oder Baumstämme-Schleudern ist. Verführen oder sich verführen lassen. Vögeln oder gevögelt werden. Genauso wie alles dazwischen.

Und darauf jetzt ein Gläschen Berliner Luft!

Es ist ein Junge!

Das Baby ist raus. Endlich! Was für eine Anstrengung so ein Ritt durch eine Möse doch sein kann: Die Mutter schreit, das Baby wird gequetscht, die Leute drum herum sind in Hektik. Aber nun ist das alles vorbei. Schleim- und blutverschmiert legt man das frische Menschlein auf die Brust der Mutter. Vielleicht stößt es schon einen ersten Schrei aus, vielleicht ist es aber auch ganz still. Niemand wird es mehr über Kopf halten und ihm einen Klaps geben, damit sich seine Lungentätigkeit laut bemerkbar macht. Doch eine Sache hat sich bis heute nicht geändert: das unbändige Interesse an seinem Geschlechtsteil. Denn ob da was zwischen den Babybeinen baumelt oder nicht, hat man schon gecheckt, bevor man weiß, ob sonst alles dran ist und dem Kleinen auch wirklich nichts fehlt.

»Was wird es denn? Ein Mädchen oder ein Junge?« Schon in der Schwangerschaft geht das los. Je größer die Wampe, desto öfter wird gefragt. Seit man nicht mehr warten muss, bis das Baby das Licht der Welt erblickt, sondern schon ein, zwei Ultraschalluntersuchungen ausreichen, um sein Geschlecht sicher bestimmen zu können, stürzen sich sämtliche Verwandte, Freund:innen und Kolleg:innen auf die werdende Mutter, um sie mit genau dieser Frage zu penetrieren. Selbst die älteren Damen an der Bushaltestelle würden ihr Leben dafür geben zu wissen, was sie denn da unter ihrem Herzen trägt. Wehe, wenn die Mutter nicht allen Bekannten und Unbekannten brav Auskunft gibt! Aber wenn sie nicht mal selbst wissen will, welche Art von Spross aus ihr herauskriechen wird? Da kann man nur den Kopf schütteln. Wer ist schon so dumm und lässt die Gelegenheit verstreichen, sich rechtzeitig mit rosa Kleidchen oder Bodys in Fußballtrikot-Optik einzudecken?

Kein Wunder, dass die Menschen um uns herum ein eindeutiges Bekenntnis einfordern. In unserer Welt – das belegt jede Statistik – entscheidet unser Geschlechtsteil über unsere Zukunft. Es bestimmt, ob unsere Eltern uns Autos oder Puppen kaufen, ob sie uns trösten oder »Nun reiß dich mal zusammen« sagen. Nils Pickert, Autor von Prinzessinnen-Jungs – Wie wir unsere Söhne aus der Geschlechterfalle befreien, beobachtet zwar, dass man Jungs heute anfangs mit mehr Weichheit begegnet. Dass sich das später aber auch wieder verliert. »Inzwischen ist es so, dass die ersten Jahre mit Jungen noch relativ entspannt sind. Wir sind in einer Phase, wo man die Jungen die ersten drei, vier Jahre noch ein bisschen laufen lässt«, erzählt er mir bei einem abendlichen Gespräch. »Und da ist es dann auch in Ordnung, wenn sie Trost brauchen oder Nähe. Manche kommen sogar damit klar, wenn sie Lust darauf haben, sich zu verschönern, ein Kleid anzuziehen. Aber spätestens wenn es dann auf die Grundschule zugeht, wird es sehr, sehr hart. Dann werden die Jungen zugeschnitten auf so ganz klischeehaftes Verhalten wie nicht weinen, sich durchsetzen, machen, führen, gestalten. Und das sind alles Dinge, zu denen Jungen sich gar nicht verhalten dürfen, sondern sie haben das zu erfüllen, um ihr Geschlecht zu beweisen. Wenn sie das nicht tun, dann zweifelt man ihr Geschlecht an. Dann werden sie beschimpft, dann werden sie geschnitten, dann werden sie gemobbt, und es sind teilweise nicht nur andere Kinder, sondern auch Erwachsene, die das machen. Das ist dann die Verkäuferin in der Drogerie, die den Fünfjährigen fragt, ob er wirklich pinke Haarspangen haben will: ›Jungen machen das nicht!‹ Und das geht weiter über Eltern befreundeter Kinder oder von Mitschülern, die Sachen sagen wie: ›Ja, aber der Junge hätte doch mal zurückhauen müssen‹ oder: ›Er hätte sich doch wehren müssen‹. Und das sind alles Konzepte, die viel mit Gewalt zu tun haben, mit Härte, mit Durchsetzungsvermögen.«

Oh ja. Und es ist ja nicht mal so, dass Eltern das mit voller Absicht machen, weil sie so sehr auf kleine Soldaten stehen. Aber diese kollektive Idee von Männlichkeit haben wir alle so weit internalisiert, dass es sehr viel Auseinandersetzung mit ihr braucht, um sie nicht ständig unbewusst zu reproduzieren.

Der kleine Unterschied zwischen unseren Beinen entscheidet über noch viel mehr: Er bestimmt, ob wir eher Ingenieur oder Krankenschwester werden. Ob wir viel oder wenig Kohle verdienen, wie oft wir die Windeln unserer Kinder wechseln, ob wir unsere Angehörigen pflegen und ob Altersarmut für uns eine Rolle spielen wird. Er bestimmt, ob wir unsere Freund:innen innig umarmen oder ihnen unbeholfen auf den Rücken schlagen. Und eben auch darüber, was wir im Bett anstellen und was wir lassen.

Es ist also ein kleiner Junge, der da auf der Brust seiner Mutter liegt und aus dem aller Wahrscheinlichkeit nach in nicht allzu ferner Zukunft ein Mann werden wird. Woher wir das wissen? Weil er einen Penis hat.

Das beste Stück

Der Moment, in dem ich die Großartigkeit des männlichen Glieds vollends begriff, ereignete sich in einer Frauenarztpraxis. Meine schwangere Mutter lag auf der Liege, ein Ultraschall war fällig, und wie das halt so ist, wenn ein Geschwisterchen erwartet wird: Ich, die zukünftige große Schwester, durfte mit. Routiniert checkte der Arzt die Organe, zeigte mir Hände, Füße, Köpfchen, um schließlich zum Wesentlichen zu kommen: »Und hier«, an dieser Stelle machte er eine kunstvolle Pause, »haben wir den kleinen Leuchtturm.«

Einen Leuchtturm also. Noch nannte man ihn »klein«, aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es einen eklatanten Unterschied zu meinem eigenen Genital gab. Bei mir leuchtete nix da unten, im Gegenteil, da war absolute Finsternis, von daher hieß es auch eher »Hände weg! Das fasst man nicht an«. Mein Brüderchen hingegen rannte schon bald darauf nackt durch den Garten, spielte unbefangen mit seinem Puller und labte sich am Stolz unserer Eltern, einen männlichen Nachfahren in die Welt gesetzt zu haben. Es ihm übel zu nehmen wäre ungefähr genauso sinnvoll gewesen, wie sich darüber zu beschweren, dass ich nicht fliegen konnte wie ein Vogel. Es war Naturgesetz, dass für Pimmel andere Regeln galten als für Muschis. Fertig, aus.

Der Penis ist angeblich der ganze Stolz eines Mannes – sogar ein paar Kronjuwelen hängen da unten dran! Während Frauen im gesellschaftlichen Narrativ ihren Stolz vielmehr dadurch ausdrücken, dass sie nicht allzu viel Gebrauch von ihrem Genital machen. Und ihre Juwelen zieren auch eher den Verlobungsring als etwas zwischen ihren Beinen.

Dank seiner herausragenden Stellung ist der Penis nicht nur am männlichen Körper zu finden, er ziert auch Spielplätze, Klotüren, Hauswände. Wie schon die Höhlenmenschen Dinge, die ihnen wichtig waren, mittels bildlicher Darstellung auf Stein verewigten, so verewigen noch heute Männer ihre Potenz. »Ich bin hier!«, proklamiert der aufgesprühte oder hingekritzelte Penis, die Welt muss das erfahren. Sagt auch Carl1, der sich noch lebhaft an seine eigenen Kunstwerke erinnern kann: »Ich habe als Teenager ständig irgendwo ejakulierende Pimmel hingekritzelt. Das sind ein, zwei, drei Striche, wenn man die Hoden weglässt. Auf Schulbänke, Bussitze, in Hefte rein, auf Buchseiten in der Schule. Ja, ich habe meine Pimmel-Spur hinterlassen. Warum? Ich weiß, dass es viele getan haben, deswegen glaube ich, es ist normal. Das Teenageralter ist eine Zeit, in der mit einem Mal dieses Ding zwischen den Beinen präsent wird und einem bewusst wird, dass das etwas ganz Besonderes ist. Plötzlich wird das Ding hart, und man spritzt ab, und man kann Sex damit haben – und ich glaube, die Pimmel malt man eher, wenn man noch keinen Sex hat. Aber das ist ein unglaublich faszinierendes und die ganze Teenager-Seele beherrschendes Thema: Da ist dieser Schwanz zwischen meinen Beinen und was man mit dem wohl alles machen kann. Und darüber definiert man sich auch sehr und möchte es vermutlich einfach so rausschreien an alle Leute, und deswegen malt man es einfach überall hin: ›Ja, es gibt Pimmel, Leute! Es gibt Pimmel, und die sind toll!‹«

Komische Vorstellung, wenn Mädchen das Gleiche täten, oder? Dabei pubertieren sie genauso wie Jungs und lernen die Freuden ihres Genitals kennen. Nur halt heimlich.

Auch das Dickpic, diese unangenehme Begleiterscheinung des digitalen Zeitalters, haut in diese Kerbe, genauso wie Männer, die plötzlich ihren Trenchcoat lüften, um öffentlichkeitswirksam an ihrem Dödel rumzuspielen. Sexuelle Grenzüberschreitungen werden uns später noch intensiver beschäftigen, was jedoch für den Moment zählt, ist Folgendes: Außerhalb von Sexualkontakten und anderen Situationen, in denen genitale Nacktheit einvernehmlich beschlossene Sache ist, ist Pimmel zeigen ein astreiner Machtgestus. Genau genommen muss man sich für den noch nicht mal ausziehen. Es reicht schon, sich als Kerl partout so hinzusetzen, als wäre man derart gigantisch bestückt, dass einem die Beine im Neunzig-Grad-Winkel auseinander gedrückt würden. »Macht Platz für mein Ding!«, so die nicht ganz so subtile Botschaft der Manspreader.

Aber warum ist es überhaupt so, dass Männer sich derart auf ihren Penis einen runterholen müssen?

Betrachtet man den Menschen aus biologischer Sicht, dann besteht sein Daseinszweck einzig und allein in der Fortpflanzung. Wir werden geboren und wir sterben, und dazwischen müssen wir dafür sorgen, dass unsere Art nicht ausstirbt. Nun erscheint es vielleicht ein bisschen antiquiert, auf heteronormativer, reproduktionsorientierter Sexualität rumzureiten, um irgendetwas zu erklären. Heute haben wir Sex, wie, wann und mit wem es uns passt, und an die Erhaltung der Menschheit denken dabei die wenigsten von uns – ganz im Gegenteil, für viele ist die Aussicht auf Elternschaft der absolute Abtörner. Und doch hilft der Blick in die Funktionsweise unserer tierischen, instinktgetriebenen Anteile, um bestimmte Mechanismen zu entlarven. Denn deshalb haben wir überhaupt erst Bock auf Sex: Es ist ein Instinkt, der unser Überleben sichert, auch wenn wir in unserer modernen Gesellschaft gelernt haben, Fortpflanzung und Lust voneinander zu trennen. So gesehen ist eine visuelle Fixierung auf die Genitalien gar nicht so verwunderlich, schließlich symbolisieren sie alles, wofür wir auf dieser Welt sind: Geschlechtsverkehr.

Moment, aber der Penis braucht doch eine Vagina, um das mit der Fortpflanzung erfolgreich über die Bühne bringen zu können! Warum schmiert die eigentlich kaum jemand irgendwo hin? Und warum scheint es im Gegensatz zum Penis so kompliziert, sie zu zeichnen? Ganz einfach, weil das weibliche Geschlecht, anders als das männliche, in den letzten paar Tausend Jahren eher unsichtbar war.2 Allerdings ist das weder purer Zufall noch evolutionsbiologische Notwendigkeit: Der männliche Teil der Bevölkerung machte es sich ab einem bestimmten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte zum Ziel, die weibliche Sexualität verschwinden zu lassen. Natürlich lief das nicht nach dem Motto ab: »Hey Jungs, ab jetzt machen wir es den Mädels so richtig schwer, Spaß zu haben!«, sondern eher schleichend.

Die Psychiaterin Cacilda Jethá und der Psychologe Christopher L. Ryan beschreiben das Sexleben unserer Ahnen in ihrem Buch Sex – Die wahre Geschichte ungefähr so: Bis die Menschen vor etwa 10.000Jahren sesshaft wurden, lebten sie in Gruppen zusammen, in denen alles – inklusive Sexualität – geteilt wurde. Das Überleben unserer Vorfahren hing davon ab, wie gut sie als Gemeinschaft funktionierten. Und da Sex bekanntlich der beste Beziehungskleber der Welt ist, wurde er zu diesem Zweck von Männern wie Frauen überschwänglich eingesetzt. Wo die Babys herkamen, wusste damals noch niemand so genau, und das war auch egal, schließlich gehörten alle irgendwie zusammen. In der Forschung geht man sogar davon aus, dass Frauen damals besondere Wertschätzung erfuhren, weil aus ihnen auf völlig rätselhafte Art und Weise neues Leben entstand. Viele archäologische Funde von Göttinnenfiguren weisen darauf hin.

Verschiedene Faktoren wie klimatische Veränderungen führten dazu, dass man sich niederließ. Ackerbau und Viehzucht wurden zum heißen Scheiß, was bedeutete, dass es zum ersten Mal in der Geschichte so etwas wie persönlichen Besitz gab. Am Beispiel ihrer Tiere checkten die Menschen nun, wie das mit der Fortpflanzung funktioniert. Plötzlich war es von Belang, wer was erbte, und das sollte nach Möglichkeit eben nicht das Balg von Nachbar Klaus, sondern das eigene sein. Die Nummer mit der Geburt war entmystifiziert, man wusste ja jetzt, zu welchen Glanzleistungen der Penis fähig war – und zu welchen nicht: Wirklich blöd, dass eine Mutter immer sicher sein konnte, die Mutter zu sein, aber ein Vater diese Gewissheit niemals haben konnte. Es sei denn, er verbot seiner Frau, mit anderen rumzumachen. Und voilà, die lebenslange monogame Ehe war geboren! Offiziell galt (und gilt) der sexuelle Treue-Anspruch für beide Geschlechter. Doch mit der Gleichwertigkeit der Frau war es vorbei. Durch die Sesshaftwerdung wurde die Ernährung kohlehydrat- und fettreich, was beinahe jährliche Geburten ermöglichte. Außerdem ging man dazu über, nicht mehr so lange zu stillen und stattdessen den Nachwuchs mit Getreidebrei zu füttern – dieser natürliche Schutz vor erneuter Schwangerschaft fiel also weg. Herrschten bei den kleinen Gruppen der Jäger und Sammler noch egalitäre Sozialstrukturen, wurden nun die sesshaften und von den Schwangerschaften, Geburten und der Kinderschar geschwächten Frauen in die Außenseiterposition gedrängt. Und weil der Mann nun zum Herr im Hause und Herrscher über Acker und Vieh geworden war, gehörte einzig und allein die väterliche Linie geschützt. Für die Frauen galt demzufolge: schön die Füße stillhalten. Die Frauen wurden zu keuschen Heimchen erklärt. Und nicht nur das: zum Besitz des Mannes. Willkommen im Patriarchat!

Zugegeben, ich bin etwas abgeschweift. Aber um die männliche Besessenheit vom Schwanz zu begreifen, ist es nicht verkehrt, die historischen Vorzeichen zu kennen, unter denen sie sich entwickeln konnte. Ja, geradezu musste! Denn einen Penis zu haben, das bedeutet seit vielen Tausend Jahren vor allem eins: Schrillionen von Privilegien.

Denkt jetzt aber bloß nicht, dass Mannsein nur cool wäre. Fortpflanzungstechnisch betrachtet ist es nämlich ein einziges Desaster – so beschreibt es zumindest der Neurobiologe Gerald Hüther in seinem Buch Männer – Das schwache Geschlecht und sein Gehirn. Will der Mann seinem biologischen Zweck gerecht werden (und da hat er kaum eine Wahl, der Instinkt schreibt es so vor), hat er mit gleich zwei Problemen zu kämpfen. Erstens: Er selbst ist so gut wie unnötig. Im Gegensatz zur Mutter, die das Kind austragen und gebären wird, braucht es vom Vater nur einen einzigen Zellkern, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Der Rest geht auch ohne ihn. Zweitens, und hier kommt der Endgegner der gegengeschlechtlichen Begattung ins Spiel: Es gibt, statistisch gesehen, viel mehr zeugungsbereite Männer als Frauen. Denn Frauen haben halt nicht jeden Tag einen Eisprung, sind vielleicht bereits schwanger oder in der Menopause. In der Konsequenz bedeutet das: knallharte Konkurrenz um die Weibchen. Wer daran scheitert, seinen Zellkern in einer reifen Eizelle unterzubringen, hat seinen Zweck nicht erfüllt. Er ist, biologisch betrachtet, überflüssig. Dass das auf erschreckend viele Männer zutrifft, haben DNA-Analysen bewiesen: Nur jeder dritte Mann in der Menschheitsgeschichte war mit Nachkommen gesegnet – dafür aber doppelt so viele Frauen. »(…) wer als Mann nichts riskierte, wer nicht durch besondere Leistung zu besonderem Ansehen gelangte oder sich mit nackter Brutalität Macht über Frauen verschaffte, wer in erster Linie auf seine eigene Sicherheit und ein bequemes Leben bedacht war, hatte geringere Aussichten, Kinder zu zeugen«, schreibt Hüther. »Deshalb definieren sich Männer bis heute noch viel stärker als Frauen über irgendwelche besonderen Leistungen, die sie vollbringen.« Die Entdeckung neuer Kontinente, die Besteigung höchster Gipfel, Erfindungen, Kriege, ja sogar Fußball (der die Geschichte fast schon explizit nachspielt: 22Männer versuchen, den Ball ins Tor zu schießen) – alles nur, um als Erster am Ei zu sein. Also, zack!, Macker markieren und Pimmel zeigen. Am besten natürlich einen möglichst großen.

Wie die Nase eines Mannesoder warum Größe so ein Ding ist

»Wer von euch hat ein Problem mit seiner Penisgröße?«, fragte ich kürzlich meine Facebook-Freund:innen zu Recherchezwecken. Likes gab es für den Post erwartungsgemäß nicht. Aber dafür erstaunlich viele PNs. »Gibt es Männer, die nicht mit der Größe hadern?«, schrieb einer. Und ein anderer: »Probleme mit seiner Pimmellänge hat jeder außer Rocco Siffredi.« Ihr kennt Rocco Siffredi, oder? Man nennt ihn auch »The Italian Stallion«, und auf keiner Pornoseite dieser Welt fehlen seine Filme. Das sagen übrigens auch nahezu alle Männer, mit denen ich darüber gesprochen habe – der omnipräsente Pornoschwanz macht das Leben mit dem eigenen Dödel schwer: »Heute ist es so, dass es überall Pornos gibt, wo man sich ganz viel Schwänze angucken kann. Und die sind natürlich alle handverlesen, alles Schwänze, die eine Nummer größer sind als der Durchschnitt, glaube ich – hoffe ich. Trotzdem vergleicht man sich mit denen. Und dann schneidet der eigene Schwanz nicht so toll ab.«

Oder: »Ab dem Zeitpunkt, wo man Pornos guckt, ist das quasi das Einzige, woran man sich orientiert. Und es ist normal, dass man sich immer unterbestückt fühlt oder zumindest im jugendlichen Alter denkt: Das ist nicht das, was ich in der Hose habe. Meiner ist gar nicht so lang wie mein Bein!«

Oder: »Jeder Mann macht sich Sorgen oder Gedanken um seinen Penis. Ich auch. Und klar denke ich: Der könnte größer sein. Entspricht er der Norm? Was denken die Frauen? Reicht das? Auf dem Feld gibt es eine enorme Verunsicherung.«

Ja, was denken die Frauen eigentlich? Also ich kann aus Erfahrung berichten, dass das Letzte, was einen guten Liebhaber ausmacht, ein riesiger Pimmel ist. Tatsächlich gab es in meinem Leben zwar schon Penisse, die mir jenseits von allen technischen Finessen mehr vaginales Jauchzen entlockt haben als andere – ihre Größe war dabei aber meist zweitrangig. Immerhin gibt es auch noch so etwas wie Umfang, Krümmung, Härte, und ja: auch den richtigen Umgang mit dem, was Gott einem gegeben hat.

Überhaupt belegt es jede Studie, die je zu diesem Thema in Auftrag gegeben wurde: Die meisten Frauen interessiert es nicht die Bohne, wie groß der Penis ihres Auserwählten ist. Zu groß ist für viele sogar eher kontraproduktiv, weil er in bestimmten Stellungen und Winkeln Schmerzen bedeuten kann. 13,2Zentimeter misst ein durchschnittlicher Penis im erigierten Zustand, eine durchschnittliche Vagina ist acht bis zwölf Zentimeter tief. Bei Erregung dehnt sie sich vielleicht noch ein bisschen aus. Aber wer rechnen kann, merkt schnell: Wenn das Ding ganz rein und dabei beiden auch noch Spaß bringen soll, darf es nicht zu lang sein.

»Kurz und dick, der Frauen Glück – lang und schmal, der Frauen Qual«? Quatsch. Zum Glück sind wir alle, Männer wie Frauen, auch untenrum unterschiedlich gebaut. Das heißt, manche von uns passen von ihren Genitalien her besser zusammen und manche eben nicht so gut. Ein Schwanz, der der einen Frau schon fast wehtut, könnte einer anderen immer noch zu klein sein. Wie sang noch die charmante Möhre 2001 in ihrem Ballermann-Hit 20Zentimeter? »Ich sag es kurz und bündig: Bei Kurzen, da verschwind ich.« Mal abgesehen davon, dass anatomische Präferenzen total okay sind und niemand mit einem Menschen schlafen muss, dessen Genital er:sie nicht sexy findet: Was für eine erniedrigende, sexistische Kackscheiße wurde da eigentlich verzapft? Andererseits lachte die Welt damals auch noch geschlossen über Blondinen und andere Frauen, die für nix außer zum Putzen und Vögeln gut waren. Woran man mal wieder sieht, dass Sexismus allen Seiten schadet. Vor Kurzem noch schmiss sich das halbe Internet angesichts von Donald Trumps winzigen Händchen weg, die ihm angeblich einen ebenso winzigen Penis bescheinigten. Ehrlich, der Typ ist absolut zum Schießen, eine einzige Persiflage auf sich selbst. Was blieb einem:einer auch anderes übrig, als ihm mit Galgenhumor zu begegnen? Aber sich ausgerechnet über seinen Penis lustig zu machen ist ungefähr so fortschrittlich, wie Sprüche über die Oberweite einer Politikerin zu klopfen. Geht einfach nicht. Dennoch spiegelt dieser Running Gag aber auch, wie sehr man einen Mann nach wie vor bei seiner Ehre packt, wenn es um die geringe Größe seines besten Stücks geht. Denn das soll es ja sein: das Beste, was er in seinem Leben hat. Wehe also, wenn das jemand als »klein« bezeichnet! Größe steht schließlich für Potenz. Kein Zufall also, dass jeder Mann früher oder später zum Lineal greift, um zu überprüfen, an welchem Punkt der allgemeingültigen Potenz- und Geilheitsskala er sich befindet.

Und es ist ebenfalls kein Zufall, dass das Internet mit nutzlosen Heilsversprechen zugepflastert ist: »Kaufe diese Penispumpe oder diesen Stretcher, dann kriegst du einen richtig Langen!« (Dass du dir dabei dein Bindegewebe kaputtpumpen kannst, verraten wir dir besser nicht.) Natürlich gibt es auch nebenwirkungsärmere Techniken wie bestimmte Cremes oder das aus dem arabischen Raum kommende Jelqing, eine Art Melk-Massage, die, über einen längeren Zeitraum regelmäßig angewandt, angeblich zu einer Vergrößerung um einige wenige Zentimeter führen kann. Und schließlich den absoluten Holzhammer: die operative Penisvergrößerung. Abgesehen von zahlreichen Risiken für den kleinen Patienten ist das Resultat dieser OP aber nur im schlaffen Zustand zu sehen und damit rein kosmetischer Natur. Denn an den Schwellkörpern, die für die Größe des Ständers verantwortlich sind, können auch der beste Arzt und die beste Ärztin dieser Welt nichts tricksen. Die sind, wie sie sind. Und selbst wenn man sich für ein Penis-Implantat entscheidet, sieht das gute Stück hinterher so merkwürdig aus, dass kaum ein Mann mit dem Ergebnis zufrieden ist.

In ihrem Buch Die Kraft der männlichen Sexualität – Lebensbilder für Männer3 schreiben der Psychologe Peter A. Schröter und der Journalist Charles Meyer: »Wenn Männer einander begegnen, beginnt sofort die Konkurrenz. Männer müssen sich gegenseitig messen. Unweigerlich startet ein Jahrtausende altes Programm.« Und später: »Wir Männer messen aneinander unbewusst sofort die Potenz.« Und wer will angesichts des enormen Konkurrenzdrucks unter Männern schon Durchschnitt sein, oder noch schlimmer: unterdurchschnittlich? Klar, dass man da ins Hadern kommt. Da ist es fast schon egal, wo auf der Skala sich der eigene Penis befindet. Am Ende sind es ja nicht nur die Pornopimmel, gegen die man anstinken muss, sondern nahezu jeder Penis, dem man im Alltag begegnet. In der Sportumkleide, in der Schwimmbad- oder Saunadusche. Oder am oft unvermeidbaren Urinal, wie Carl zu berichten weiß: »Natürlich guckt man, ob der Pimmel links oder rechts von einem nicht möglicherweise viel kleiner ist als der eigene, weil man sich das ein bisschen wünscht. Und gleichzeitig guckt man auch, weil man die Sorge hat, dass der vielleicht viel größer als der eigene ist und man diesen Mini-Schwanz-Contest eben doch nicht gewinnt.« Am Ende ist es dann immer wachsende Lebens- und Sexerfahrung, die für Entspannung in Sachen Penis sorgt: »Ich hatte den Großteil meines bisherigen Lebens das Gefühl, er ist nicht okay, weil er zu klein ist. Also nicht die Form oder die Farbe oder der Winkel beim Abstehen, sondern einfach nur die Größe. Und ich glaube, das geht ganz vielen Männern so. Mittlerweile meine ich auch, die Erklärung dafür gefunden zu haben: Abgesehen vom mangelnden Ego ist es, glaube ich, eine rein optische Geschichte. Als Mann guckt man immer von oben auf seinen Schwanz, da wirkt er einfach kürzer. Und deswegen sehen auch die Schwänze von anderen Männern immer größer aus als der eigene. Denn die der anderen Männer sehe ich nicht aus dem Blickwinkel von oben, sondern unter der Dusche, von vorne oder von der Seite. Und weil ich das verstanden habe, glaube ich inzwischen, dass mein Penis sehr okay ist.«

Aber was, wenn man wirklich einen kleinen Penis hat oder, wie die Fachwelt ihn getauft hat, einen Mikropenis? Alles, was in erregtem Zustand unter sieben Zentimeter misst, fällt in diese Kategorie, und das ist absolut selten der Fall, genau genommen nur bei 0,14Prozent aller Männer. Tragisch muss das aber nur für diejenigen sein, die die sexuellen Fähigkeiten eines männlichen Körpers einzig und allein auf Penetrationssex in allen Stellungen des Kamasutras reduzieren. Denn es gibt ja auch immer noch Sex mit dem Mund, mit den Händen, Füßen und allerlei anderen Körperteilen und Gerätschaften. Durch vaginale Penetration kommen ohnehin nur etwa ein Viertel aller Frauen, der Rest braucht eine direkte Klitoris-Stimulation. Und für die braucht man nicht mal zwangsläufig einen Schwanz, geschweige denn einen großen. Wofür man einen Schwanz übrigens auch nicht braucht: um sich als Mann zu definieren.

Wann ist ein Mann ein Mannund was der Penis damit zu tun hat

Nicht alles ist schlecht an Social Media. Als ich an einem sonnigen Tag Ende Mai 2020 gelangweilt durch meine Facebook-Timeline scrollte, sah ich auf einmal etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte: einen Mann in einem aufblasbaren Geburtspool. Aber nicht so einen, der seiner Liebsten das Händchen hält und mithechelt. Nein, er war es selbst, der einen Babybauch hatte und ein schmerzverzerrtes Gesicht. Und dazu einen Bart. Da war tatsächlich ein Mann, der ein Baby gebar.

Wieder und wieder schaute ich mir die Bilder an, die der trans Mann Yuval Topper-Erez von der Geburt seines dritten Kindes mit der Welt geteilt hatte. Er hatte sich dazu entschieden, um sowohl das Thema Hausgeburt als auch trans und nichtbinäre (also sich keinem Geschlecht zuordnende) Personen, die Kinder gebären, zu normalisieren. Dass man auch zu Hause entbinden kann, war für mich ein alter Hut, immerhin ist eines meiner Kinder mit voller Absicht in eben dem Bett zur Welt gekommen, in dem es gezeugt worden war. Aber ein Mann mit einer funktionierenden Gebärmutter, von der er auch noch zum Zwecke der Fortpflanzung Gebrauch macht, das passte nicht zu meiner Idee vom Transsein. Ich dachte, die betreffende Person strebt danach, möglichst alle Merkmale des Geschlechts, dem sie sich zugehörig fühlt, auch tatsächlich auszubilden. In diesem Fall: einen Penis.

Dass man aber durchaus mit seiner Vulva und Vagina im Einklang leben kann, obwohl man sich als Mann definiert, beschreibt auch Linus Giese in seinem Memoir Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war. Aufgrund von weiblichen Geschlechtsmerkmalen als Mädchen erzogen, wusste Linus aber schon als Kind, dass da irgendetwas nicht stimmt, erzählt er mir: »Es gab einfach Dinge, die ich mir gewünscht hätte oder die ich schön fand. Ich habe lange Zeit gedacht, mir wächst vielleicht noch ein Penis, oder ich würde gerne im Stehen pinkeln. Ich habe lieber in Badehose gebadet und fand das total schlimm, mir irgendwann einen Badeanzug anziehen zu müssen, weil’s halt nicht mehr anders ging.« In der vierten Klasse ging es auf Klassenfahrt. Die Mädchen haben sich gegenseitig geschminkt, und auch Linus war irgendwann an der Reihe und entsetzt, als plötzlich ein Wimperntusche-Bürstchen vor seinen Augen auftauchte. »Ich dachte, mit der Mascara sticht sie mir ins Auge. Ich kannte mich ja gar nicht aus und fand es ganz schrecklich. Ich habe relativ früh in meinem Leben gespürt, dass ich anders bin, aber es hat nie dazu geführt, dass ich gesagt habe: ›So, ich bin ein Junge, ich brauche Hilfe.‹« Dass sein Wunsch legitim ist, dass er tatsächlich die Person sein darf, die er sein möchte, realisierte er erst Mitte zwanzig.

Linus’ Beispiel zeigt, wie schwierig es sein kann, in einer Welt, die von einem binären Geschlechterkonzept ausgeht, die eigene Identität zu finden. Heute wünscht er sich, er hätte schon früher gewusst, was er tun kann, um sich besser zu fühlen, oder dass er sich Hilfe hätte suchen können und dass das auch okay ist.

Inzwischen nimmt er Testosteron, der Termin für seine Mastektomie, also der Abnahme seiner Brüste, steht auch schon: »Als ich mein Coming-out hatte, stand für mich eigentlich relativ schnell fest, dass ich unbedingt auch Testosteron nehmen möchte, weil ich mir all diese Veränderungen, wie eine tiefere Stimme und mehr Haarwuchs, wünsche. Dadurch haben sich Kleinigkeiten verändert, die ich anfangs gar nicht wahrgenommen habe: dass meine Schultern breiter geworden sind zum Beispiel. Ich sehe so aus, als würde ich unglaublich viel Sport machen, auch wenn das gar nicht stimmt. In die Hemden, die ich mir am Anfang meines Coming-outs gekauft habe, passe ich nicht mehr rein, weil ich so ein breites Kreuz bekommen habe. Das sind Veränderungen, über die ich mich freue, und da kam bei mir relativ schnell der Wunsch auf, mir auch die Brüste entfernen zu lassen.«

Obwohl Linus sich dazu entschlossen hat, sich Brüste und Gebärmutter entfernen zu lassen, schließt er für sich weitere medizinische Maßnahmen wie den Aufbau eines Penis aus – zum jetzigen Zeitpunkt zumindest. Zu groß ist das Risiko, dass durch die Operation Nerven beschädigt und damit Orgasmen unmöglich werden könnten. Außerdem funktioniert ein künstlich konstruierter Penis ohnehin nicht so wie ein biologisch gewachsener. Für eine Erektion benötigt man eine spezielle Pumpe, die im Hoden verbaut wird und die bei Bedarf Flüssigkeit aus einem Reservoir im Bauchraum in den Penis pumpt. Ganz schön kompliziert, oder? Doch selbst wenn man sich gegen einen Penoid – so nennt man ein konstruiertes männliches Geschlechtsteil – entscheidet: Auf Penis-Feeling muss man nicht komplett verzichten. Denn durch das Testosteron, das sich die meisten trans Männer verabreichen lassen, um einen männlicheren Körperbau, eine tiefere Stimme und Bartwuchs zu entwickeln, verändert sich auch die Klitoris-Perle. Das Ding wächst! Zwischen drei und sieben Zentimeter legt sie in der Regel zu und wird damit zu einer Art Mini-Penis oder, wie man im englischsprachigen Raum sagt, zu einem »t-dick«, einem Testosteron-Penis. Damit hat man zwar noch kein original männliches Genital, aber ist schon ganz schön nah dran.

Große Klitoris, kleiner Penis, Frau, Mann oder irgendwo dazwischen – diese Dinge sind nicht immer so eindeutig, wie unsere Gesellschaft sie gerne hätte. Seit der Antike weiß man, dass die Menschheit sich nicht nur in zwei Geschlechter teilt. Nicht umsonst gibt es in der griechischen Mythologie die Figur des Hermaphroditos, die sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale aufweist. Trotzdem gibt man absurderweise alles, um eine reibungslose Zuordnung auf zwei Geschlechter zu ermöglichen. So war es zum Beispiel von den 1970er- bis in die 2000er-Jahre hinein üblich, Kindern, die mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden, der Einfachheit halber operativ eine Vulva zu verpassen und sie als Mädchen aufziehen zu lassen – ganz egal, ob sie nun einen weiblichen oder männlichen Chromosomensatz aufwiesen. Man braucht kein Psychologiestudium, um zu erahnen, dass viele dieser Kinder mit ihrer Geschlechteridentität hadern. Seit einigen Jahren sind solche genitalplastischen Operationen bei Kindern stark in die Kritik geraten. Doch auch wenn die Zahl der Intersex-Diagnosen bei Kindern inzwischen dank moderner medizinischer Verfahren gesunken ist, bleibt die Zahl der Operationen an Kindern unter zehn Jahren stabil, so eine im Jahr 2016 veröffentlichte Studie der Humboldt-Universität zu Berlin. Hier geht man von 1.700Eingriffen pro Jahr aus. Das muss man sich mal vorstellen: Genitalien, die nicht der Norm entsprechen, werden für derart krankhaft erachtet, dass viele Eltern sich noch immer genötigt sehen, das körperliche und psychische Wohlergehen ihres Kindes zu gefährden. Und das alles nur, damit es in unser binäres Geschlechtersystem passt. Zum Glück ist das Thema Geschlechtergerechtigkeit in den letzten Jahren in den öffentlichen Fokus gerückt. Es gibt differenzierte Beratungen für Betroffene und ihre Angehörigen, die bei der Entscheidungsfindung helfen. Seit 2013 dürfen Eltern in der Geburtsurkunde ihres Kindes das Geschlecht offenlassen, seit Dezember 2018 gibt es die Option »divers«, Erwachsene können es rückwirkend – soweit noch möglich – ändern. Seit Januar 2019 findet man diese dritte Option auch auf allen offiziellen Formularen.

Divers, das ist, wie der Name schon sagt, vieles. Es gibt Intersexuelle, denen ein zweites Chromosom fehlt. Oder sie haben zwar männliche Chromosomen, aber eine Vulva entwickelt. Oder einen Penis, dafür aber auch eine Gebärmutter. Oder sie ordnen sich selbst keinem Geschlecht zu. Warum ein Bewusstsein für Geschlechtervielfalt wichtig ist und kein Luxusproblem, wie manch eine Stimme in der Debatte um nichtbinäre Toiletten behauptet? Weil die Welt nicht nur aus den Gegenpolen »männlich« und »weiblich« besteht, sondern es noch ganz viel dazwischen gibt. Das ist die Realität, und sie betrifft nicht nur Menschen, die sich keinem der beiden Geschlechter zuordnen lassen können oder wollen, sondern uns alle. Um das vollends zu begreifen, musste ich erst Linus’ Buch lesen. Darin schreibt er: »Ich möchte Geschlechtervorstellungen aufbrechen. Es gibt in unserer Gesellschaft immer noch bestimmte Vorstellungen davon, was unter Femininität und Maskulinität zu verstehen ist. Beides wird in unserem Sprachgebrauch als zwei gegensätzliche Pole gesehen (…). Ich möchte das gesellschaftliche Bewusstsein für den Raum zwischen diesen beiden Polen öffnen.«

Jungs lieben Autos und Fußball, Mädchen Kleider und Schminke? Manche vielleicht, aber längst nicht alle. Als mein Sohn zwei, drei Jahre alt war, wollte er am liebsten nur Kleider tragen. Mit denen war er durch zwei große Schwestern ja reichlich gesegnet. Aber sein absolutes Lieblingskleid, eins mit einem wilden Blumenmuster, hatte er nicht von ihnen geerbt, sondern von Leon, dem Sohn meiner Freundin Janna. Auch er hatte eine Kleid-Phase gehabt, die mich – da will ich ehrlich sein – fürchterlich irritierte. Mädchen Jungs-Klamotten anzuziehen war irgendwie cool. Aber Jungs Mädchenklamotten? Hatte ich noch nie irgendwo gesehen, gab es einfach nicht. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der Janna den Wunsch ihres Sohnes respektierte, ließ auch mich denken: »Warum eigentlich nicht? Sein Körper, seine Entscheidung.« Ungefähr um die gleiche Zeit machte der Autor Nils Pickert Furore, weil er ein Foto von sich und seinem Sohn in der Emma veröffentlicht hatte, auf dem beide einen Rock tragen. Ein Skandal!