Bodenloser Fall - Georg Brun - E-Book
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Georg Brun

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Beschreibung

Pflichtmandate hatte Olga Swatschuk schon viele, doch dieses ist anders: Der neueste Mandant der jungen Rechtsanwältin ist schuldig – und ist es doch nicht. Es geht um eine Million Euro, die veruntreut wurde. Gemeinsam mit dem routinierten Privatdetektiv Alex beginnt Olga, eigene Ermittlungen anzustellen, und gerät in ein Dickicht von Bestechung und Verleumdung. In dessen Zentrum steht das Prestigeprojekt Münchens: die Sanierung des Europäischen Theaters. Als das Duo an seine Grenzen stößt, erhält es unerwartete Hilfe. Olgas Zufallsbekanntschaft Sonja erweist sich nicht nur als talentierte IT-Spezialistin, sondern gibt Olga auch den Halt, den sie seit langem gesucht hat. Gemeinsam wagen sie sich an die herausforderndste Gratwanderung ihres Lebens.

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Seitenzahl: 340

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Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

 

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2021 bei Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

 

Lektorat: Johanna Gerhard

Korrektorat: Andreas März

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Martina Stolzmann

Titelmotiv: ©Pixabay

E-Book: Jara Dressler

 

Made in Germany

 

ISBN 978-3-95669-165-2

www.bookspot.de

Table of Contents

München im Jahr 2021

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Danksagung

Inhaltsverzeichnis

 

München im Jahr 2021

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Danksagung

 

 

München im Jahr 2021

 

Im Gegensatz zu Märchen beginnen im 21. Jahrhundert Romane zu Recht nicht mit den Worten Es war einmal.

 

Sie tun dies selbst dann nicht, wenn Ähnlichkeiten mit Geschehnissen der Zeit- und Baugeschichte naheliegen. Schließlich ist trotzdem alles frei erfunden.

 

In München gab und gibt es kein Europäisches Theater und keine entsprechende Theater-GmbH. Diese Erzählung hat nicht das Geringste mit einer der in den vergangenen Jahren im Stadtgebiet durchgeführten Theatersanierungen zu tun. Im Kulturreferat der Stadt München, das eine engagierte und sachkundige, weit über die Stadtgrenzen hinaus anerkannte Arbeit leistet, sind nach Kenntnis des Autors keinerlei Missstände zu beklagen.

 

Der Ort der Handlung, die bayerische Landeshauptstadt München, ist nur deshalb nicht zufällig, weil der Autor hier geboren wurde und aufgewachsen ist; zudem wäre es willkürlich gewesen, die Handlung in der Freien und Hansestadt Hamburg anzusiedeln, denn selbst ein dort weltberühmt gewordener Kunsttempel steht für die nachfolgenden Ereignisse in keiner Weise Pate.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gerechtigkeit ist Liebe mit sehenden Augen.

Friedrich Wilhelm Nietzsche

 

 

 

Darum – und weil sie die Menschen liebt – widme ich diese Erzählung meiner Frau Jeannine.

 

 

 

 

 

 

 

 

Fiat iustitia et pereat mundus!*

 

Was für ein frommer Wunsch

 

 

Weil er für Gerechtigkeit eintritt und die Welt erhalten will: Wolfgang Schürer zum 75. Geburtstag.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

* Übersetzung: Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde.

 

 

1

 

Frühsommer und schon eine tropische Nacht. Es radelte sich angenehm durch die menschenleere Stadt. Als sie ihr Büro erreicht hatte, riss sie die Fenster auf. Die Blätter des Kastanienbaums vor ihrem Fenster raschelten. Olga hielt einen Augenblick inne, lauschte hinaus in die schlafende Stadt, deren Hintergrundrauschen niemals verstummte. In der Grünanlage gegenüber war es still. Die letzten Zecher hatten heimgefunden, die Obdachlosen lagen in ihren Schlafsäcken.

So stand sie einige Minuten und scheute sich, das Licht anzuschalten und damit den Alltag in ihr Leben einzulassen, das einer routinierten Regelmäßigkeit folgte, seit sie sich vor drei Jahren mit dem Schwerpunkt Strafverteidigung als selbstständige Einzelanwältin in München niedergelassen hatte. Jeden Morgen überprüfte sie ihren Terminkalender, den Angela, ihre Anwaltsgehilfin, mit größter Sorgfalt führte, und in dem neben Gerichts- und Mandantenterminen mit roter Tinte alle Enddaten für die diversen Fristen eingetragen waren. Olga mochte das quadratische, ledergebundene Buch, und obwohl sie von frühester Jugend an mit Computern und Handys aufgewachsen war, zog sie den altmodischen Kalender dem Outlook-Kalender vor.

Olga verließ das Fenster, kippte den Lichtschalter und setzte sich im Schein der Neonröhren an den Schreibtisch. Sie holte den Leitzordner mit ihren Steuerunterlagen hervor. Das Formular für die Einkommenssteuererklärung war weitgehend ausgefüllt. Sie prüfte die Eingaben und ließ eine erste Berechnung vornehmen: Sie zahlte zu viel Steuern für zu wenig Einkommen.

Wirtschaftlich lief ihre kleine Kanzlei nach wie vor mehr schlecht als recht, aber immerhin kam sie über die Runden und war niemandem außer sich selbst Rechenschaft schuldig. Sie konnte ihre Arbeitszeit ziemlich frei einteilen und selbst entscheiden, welches Mandat sie annahm und welches nicht. Andererseits war es mit dieser Freiheit so eine Sache, denn mangels eines festen Mandantenstamms übernahm sie regelmäßig Pflichtverteidigungen. Immer noch hörte sie die Stimmen ihrer Freunde und Kollegen, die sie davor gewarnt hatten, in der heutigen Zeit, in der die großen Sozietäten angesagt waren, ein Einzelkämpferschicksal zu wählen. Das sei wie Free-solo-Klettern, spotteten die, die mit ihrer Bergleidenschaft vertraut waren. Stimmt, dachte Olga und schickte die Steuererklärung ab.

 

Um halb neun erschien der erste und einzige Mandant des Tages, der Beschuldigte in einem Untreueverfahren, zu dessen Pflichtverteidigerin sie vor zehn Tagen bestellt worden war.

»Martin Prodger, guten Morgen«, stellte sich der schlanke Mann vor.

Er trug einen leicht abgetragenen Anzug. Sein markantes Gesicht wirkte vertrauenerweckend, was Olga überraschte; immerhin wurde ihm in der Anklageschrift die Veruntreuung einer gewaltigen Summe von 865.000 Euro vorgeworfen. Sein Händedruck war fest, sein Blick offen.

Er nahm auf dem Stuhl Platz, den ihm Olga anbot, und bemerkte mit klarer, dunkler Stimme: »Danke, Frau Swatschuk, dass Sie sich meines Problems annehmen.«

Er sah sich um. Auf ihren Besprechungsraum war Olga stolz: Quadratisch mit zwei großen Fenstern zu Innenhof und Seitengasse, weiß gestrichen und völlig schmucklos; ein runder Tisch mit heller Resopalplatte, vier Stühle mit blauen Stoffbezügen, darüber ein Deckenstrahler. Nichts weiter. Jedes Mal, wenn eine neue Mandantin oder ein neuer Mandant hier eintrat, genoss Olga die Überraschung auf den Gesichtern. Niemand erwartete von einer jungen Rechtsanwältin einen so nüchternen Raum, und die meisten konnten sich eine irritierte Bemerkung nicht verkneifen.

Nicht so Martin Prodger, im Gegenteil: »Schön haben Sie es hier«, sagte er.

»Danke«, antwortete sie überrascht. »Nun, Herr Prodger, ich bedauere, dass das Gericht die Bestellung Ihres Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger abgelehnt hat. Es würde mich freuen, wenn Sie mir das gleiche Vertrauen entgegenbrächten, das Ihr Wahlverteidiger genießt. Angesichts der Umstände kann ich Ihnen nur versichern, dass ich alles dafür tun werde, die Angelegenheit für Sie zu einem vernünftigen Ende zu bringen.«

Olga hasste solche Einleitungen und hatte stets ein mulmiges Gefühl, wenn sie eine Pflichtverteidigung übernehmen musste, obwohl der Beschuldigte lieber einen anderen Anwalt beauftragt hätte. Meist blieb bei so einer Vorgeschichte ein Schatten auf der Mandantenbeziehung liegen, egal was für ein Ergebnis erreicht wurde. Wenn es keinen lupenreinen Freispruch gab, haftete dem Ergebnis das Gefühl des Makels an. Dabei versuchte Olga, gerade bei Pflichtverteidigungen ihr Bestes zu geben, um den Vorbehalten und Vorurteilen entgegenzuwirken, mit einer Pflichtverteidigerin bekäme man minderen Rechtsbeistand.

Sie freute sich daher über die Erwiderung ihres neuen Mandanten: »Sie haben mein volles Vertrauen.«

Er saß leicht nach vorne gebeugt auf seinem Stuhl, die Hände lagen flach auf dem Besprechungstisch. Zwischen den Augenbrauen zeigte sich eine markante Falte, an den Schläfen wirkte das braune Haar schütter. Dort schimmerten auch einige silberne Fäden. Das Kinn zeigte energisch nach vorne, die Mundwinkel waren eingekerbt. Olga sah ihm sein Alter an und dachte trotzdem, Martin Prodger wirke jugendlich.

»Erzählen Sie«, forderte sie ihn auf, »wie sich die Dinge, die Ihnen vorgeworfen werden, aus Ihrer Sicht darstellen.« Olga lehnte sich zurück und hoffte, dass Prodger umfassend erzählen würde, denn sonst müsste sie zu viele Fragen stellen. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die immer demselben Muster folgenden Fragen zu einer Voreingenommenheit führten, die individuelle Nuancen unter den Tisch fallen ließ, manchmal sogar für immer. Allein das Studium der Ermittlungsakte, das sie gerade bei Pflichtverteidigungen oft vor dem ersten Mandantengespräch abgeschlossen hatte, konnte eine bestimmte Voreingenommenheit herbeiführen.

»Es fällt mir nicht leicht, aber ich gestehe: Ich bin schuldig.« Sein Gesicht wirkte ernst, die Lippen zitterten. »Mir sind meine finanziellen Verhältnisse entglitten, ich habe mir unrechtmäßig Geld geborgt.« Prodger schaute Olga unsicher in die Augen.

»Ich weiß, das klingt nach einer Nullachtfünfzehn-Ausrede. Ja, ich habe Geld unterschlagen. Aber ich wollte es zurückzahlen.«

In seinem Blick lag etwas Verzweifeltes.

»Geliehen, ich habe mir das Geld nur geliehen – und auch nicht diesen Riesenbetrag, nein, bitte, glauben Sie mir!«

»Erzählen Sie«, bat Olga, »dann sehen wir, was sich für Sie tun lässt.«

Prodger nickte und fuhr fort: »Seit knapp fünfzehn Jahren bin ich Mitglied des Freundeskreises des Museums der Moderne hier in München. Als man mich vor elf Jahren gefragt hat, ob ich im Vorstand das Finanzressort übernehmen könnte, habe ich mich zur Verfügung gestellt und bin seitdem immer wieder gewählt und auf den Jahresversammlungen entlastet worden. Von Anfang an war für die Buchführungstätigkeiten eine Aufwandsentschädigung von 200 Euro monatlich vereinbart, die ich mir jedoch zehn Jahre lang nicht ausbezahlt habe. Damals brauchte ich das Geld nicht und wollte dem Freundeskreis was Gutes tun.«

»Ihr Amt ist also ehrenamtlicher Natur?«

Prodger nickte.

»Deshalb wollten Sie kein Geld für die Buchführung nehmen?«

»Ja.«

»Aber plötzlich doch? Können Sie mir das erklären?«

»Vor zwei Jahren ist meine Schwiegermutter schwer erkrankt, in ihrer Heimat, den Philippinen. Viele Menschen sind dort nicht krankenversichert. Auch meine Schwiegermutter hatte keine Versicherung und die Behandlung war teuer. Es war selbstverständlich für mich, die Kosten zu übernehmen. Vor gut einem Jahr musste ich den ersten Kredit aufnehmen, um die Fortsetzung der Behandlung zu ermöglichen. Wegen der hohen Kosten habe ich die Aufwandsentschädigung für die Buchhaltung für die zurückliegenden Jahre an mich ausbezahlt, gerundet ein Betrag von 25.000 Euro, den ich entsprechend verbucht habe.«

»Haben Sie das mit dem Vorstand abgesprochen?«

»Nein, aber ich bin mir sicher, dass der Vorstand es billigen wird«, antwortete Prodger und hob bedauernd beide Hände, ehe er fortfuhr, sich zu erklären. »Leider konnten die Ärzte meine Schwiegermutter nicht retten. Ich bin mit meiner Frau und unseren Kindern zur Beerdigung geflogen, die ich ebenfalls bezahlt habe. Das war sehr teuer.«

Er stockte. Mit den Fingern tippte er nervös auf den Tisch. Sein Adamsapfel hüpfte beim Schlucken deutlich auf und ab.

»Sie haben keine Vorstellung davon, wie wichtig es für mich war, meiner Frau beizustehen, als ihre Mutter so schwer erkrankt ist«, fuhr er schließlich fort.

»Das ist doch selbstverständlich«, bemerkte sie, spürte aber, wie sehr es ihn danach drängte, seine Situation zu erläutern. »Aber erzählen Sie ruhig etwas mehr, vielleicht hilft uns das bei unserer Verteidigungsstrategie, Ihr Motiv menschlich nachvollziehbar darzustellen.«

»Glauben Sie mir, ich war wirklich in einer Notlage, und für meine Frau war es sowieso nicht leicht, aus ihrer Heimat wegzugehen. Allein die vielen Kommentare, die sich meine Frau anhören muss, weil sie Asiatin ist und anders aussieht. Diese unterschwelligen Anfeindungen gehen unter die Haut. Wie hätte ich da ihre Mutter im Stich lassen können?«

»Das verstehe ich alles und es tut mir leid für Sie und Ihre Familie – aber warum der Griff in die Vereinskasse?«, lenkte Olga den Fokus wieder auf die sachlichen Dinge. »Erzählen Sie mir, was Sie gemacht haben.«

»Meine Konten waren ordentlich überzogen. Ich war mir nicht sicher, ob ich noch einen Kredit von meiner Hausbank bekommen würde – und ja, ich wollte mich auch nicht weiter bei der Bank verschulden. Um kurzfristig etwas flüssiger zu werden, habe ich mir vom Freundeskreiskonto 20.000 Euro auf mein Privatkonto überwiesen und habe das mit dem kreativen Vermerk Zwischenfinanzierung verbucht. Im Januar habe ich mir nochmals 20.000 Euro überwiesen, diesmal mit dem Verwendungszweck Darlehen. Von diesen 40.000 Euro habe ich vor zehn Wochen die Hälfte zurücküberwiesen. Den Rest wollte ich spätestens in sechs Monaten zurückzahlen. Auf keinen Fall wollte ich mich bereichern. Aber ja, mir ist klar, dass ich nicht so hätte handeln dürfen.«

Prodger stockte. Olga spürte, dass ihm sein Geständnis peinlich war. Doch das konnte sie ihm nicht ersparen.

»Hinterher ist man immer schlauer«, zwang sich Prodger zum Weitersprechen. »Dann habe ich die größte Eselei begangen. Um ohne Aufsehen zurückzuzahlen, habe ich bei der letzten Bilanzerstellung eine Bankunterlage frisiert. Heute fasse ich mir deswegen an den Kopf, aber damals dachte ich, die Fälschung fällt bestimmt nicht auf und ich gewinne Zeit.« Wieder hielt er inne und sah Olga mit einem Blick an, der um Nachsicht bat.

So leicht wird das nicht, dachte Olga und sah die Summe vor sich, die in der Anklageschrift stand. Bisher hatte Prodger nur die kleinen Beträge genannt, die große Summe hatte er bestritten. Wollte er ihr etwas vormachen? Verließ er sich auf seine vertrauenserweckende Erscheinung? War das seine Masche? Eine Masche, die sie bereits von vielen Betrügern kannte.

Veralbern lasse ich mich nicht, wurde Olga ungeduldig und konfrontierte ihn mit den Schuldvorwürfen: »Wenn ich richtig mitgerechnet habe, räumen Sie 65.000 Euro ein, die Sie sich vom Konto des Freundeskreises überwiesen haben. Wollen Sie auch etwas zu den weiteren 800.000 Euro sagen, die verschwunden sind?«

»Damit habe ich nichts zu tun. Diese Riesensumme, das wäre doch Wahnsinn. Nein, ich habe nur die 65.000 Euro genommen. Diese 800.000 Euro, nein, das war ich nicht – hier will mir jemand etwas anhängen«, erwiderte er und seine Stimme klang gehetzt.

Olga spürte die Angst und die Ohnmacht ihres Mandanten und überlegte, ob sie ihm glauben konnte. Sein Vorbringen klang in ihren Ohren überzeugend, aber sie hatte schon viele Schutzbehauptungen gehört und wusste, wie schwer es einem Angeschuldigten fiel, sich dem Unrecht seines Tuns zu stellen. Doch Prodger wirkte auf eine überzeugende Art ängstlich und entrüstet.

»Sie sind Beamter der Stadt München?«, wechselte Olga das Thema, durchaus in dem Bewusstsein, damit möglicherweise den Erzählfluss ihres Mandanten zu hemmen.

»Im Kulturreferat, so ist es.«

»Und was haben Sie für eine Ausbildung?«

»Betriebswirt – ich habe an der Universität Bochum studiert und dort mein Diplom gemacht. Ist schon eine Weile her.«

»Und dann sind Sie nach Asien, auf die Philippinen?«

»Nach dem Studium bin ich zu einer internationalen Wirtschaftsprüfgesellschaft, zuerst im Ruhrpott, dann in Asien. Ich habe zunächst für meinen ersten Arbeitgeber, später für einen asiatischen Bauunternehmer im gesamten südostasiatischen Raum als Controller gearbeitet. So habe ich auf den Philippinen auch meine Frau kennengelernt.«

Olga traute ihren Ohren kaum: Prodger war lange Jahre als Controller tätig gewesen und veruntreute Gelder von einem Bankkonto?

»Jetzt sagen Sie mir eines«, forderte sie ihn auf. »Wie konnten Sie glauben, dass Ihre Manipulationen des Kontos nicht auffallen werden? Wenn Sie Controller waren, wissen Sie doch ganz genau, dass man mit so einer Darlehensmasche nicht durchkommt.«

»Man hat mir über zehn Jahre vertraut. Ich habe die Buchführung und den Jahresabschluss völlig allein gemacht, da dachte ich, es geht schon irgendwie«, antwortete er zerknirscht. »Aber ich wollte dem Freundeskreis nicht schaden und ich will meine Schulden schnellstmöglich begleichen.«

»Wo sind die 800.000 Euro?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie haben die Buchhaltung gemacht, da muss Ihnen doch das Fehlen dieser Summe sofort aufgefallen sein.«

»Das stimmt. Es waren zwei Abbuchungen, die ich durch den elektronischen Kontoauszug mitbekommen habe. Ich konnte sie mir nicht erklären.«

»Sie haben aber mit niemand darüber gesprochen?«

»Nein, ich wollte herausbekommen, was passiert ist. Schließlich wollte ich mir nicht in die Buchführung schauen lassen.«

»Wegen Ihrer sogenannten Darlehen?«

»Ja.«

»Und? Haben Sie etwas herausgefunden?«

»Nein. Einen Tag später stand die Polizei bei mir in der Wohnung und meine Kontounterlagen, meine Computer und mein Smartphone wurden beschlagnahmt. Danach war ich von allen Bankinfos abgeschnitten.«

Olga sah ihm in die Augen und schwieg.

»Wirklich, mit den verschwundenen 800.000 Euro habe ich nichts zu tun. Bitte, glauben Sie mir. Bitte beweisen Sie meine Unschuld!« Seine Stimme überschlug sich beinahe, die Augen begannen zu schimmern. Er knotete die Finger ineinander und rutschte auf dem Stuhl hin und her.

Olga begann, ihm seine Verzweiflung abzunehmen, und während sie ihn schweigend ansah, wuchs ihr Vertrauen in seine Worte. Sie würde versuchen, ihm zu helfen. »Wenn ich Licht in dieses Dunkel bringen kann, könnte es für Sie glimpflich ausgehen. Aber Ihre Unschuld kann ich nicht beweisen. Sie wissen selbst, dass Sie sich mindestens wegen der 45.000 Euro strafbar gemacht haben. Das mit dem Darlehen ist eine Schutzbehauptung. Die hilft Ihnen nicht aus der Patsche.«

»Was kommt auf mich zu?«

»Wenn der Freundeskreis sich bereit erklärt, mit Ihnen eine Tilgungsvereinbarung zu schließen und ein weiteres Verfolgungsinteresse verneint, könnten wir im besten Fall mit der Staatsanwaltschaft eine Übereinkunft treffen, das Verfahren gegen Auflagen einzustellen. Dann wären Sie nicht vorbestraft. Etwas härter, aber auch noch verkraftbar, wäre ein Strafbefehl. Damit hätten wir zumindest eine Hauptverhandlung und eine drohende Freiheitsstrafe verhindert.«

»Eine Einstellung wäre super«, flüsterte Prodger. In seinen Augen spiegelte sich die Erkenntnis, dass er sich in ernsten juristischen Schwierigkeiten befand. »Sie müssen herausbekommen, wer sich das ganze Geld unter den Nagel gerissen hat. Irgendwer will mir das in die Schuhe schieben.«

Das Zittern in seiner Stimme verriet Olga die innere Anspannung und die Hilflosigkeit ihres Mandanten. Ihr Bauchgefühl signalisierte ihr, ihm zu glauben, und sie zog den Gedanken, Prodger werde hier etwas untergeschoben, ernsthaft in Erwägung. Das brachte etwas besonders Hinterlistiges in diesen Fall, der begann, sie mehr als gewöhnlich zu interessieren.

»Haben Sie einen Verdacht?«, fragte sie ihn.

Prodger schüttelte den Kopf.

»Wer hat alles Zugriff auf das Konto des Freundeskreises?«

»Außer mir nur der Vorstandsvorsitzende des Freundeskreises und sein Stellvertreter. Aber beide halte ich für absolut redlich, die würden so etwas nicht tun. Außerdem weiß ich gar nicht, ob die beiden wüssten, wie sie mit ihren Zugangsdaten umgehen sollen. Die letzten zehn Jahre habe ich mich völlig allein um die Finanzen gekümmert.«

»Einfacher macht uns das die Sache nicht«, folgerte Olga nüchtern. »Wenn Ihnen dazu etwas einfällt, lassen Sie es mich wissen. Inzwischen versuche ich, an weitere Informationen zu kommen.«

Sie stand auf und begleitete Prodger in die Empfangsdiele. Ihre Anwaltsgehilfin blickte fragend auf.

»Angela, würdest du mit Herrn Prodger für Ende der Woche einen weiteren Termin vereinbaren? Danke.«

Sie verabschiedete sich und ging in ihr Büro. Sie musste sich nun um Rolf Mergenthaler kümmern, ihren derzeit wichtigsten Mandanten, der in ein heikles Konkursdelikt verstrickt war.

 

Während Olga in der Schwüle des Fitnessstudios auf dem Crosstrainer schwitzte, fragte sie sich mal wieder, warum sie sich das antat. Viermal die Woche eine Stunde auf dem Crosstrainer, eine ermüdende Prozedur, lächerlich eigentlich, wenn sie es genau bedachte. Ein monotones Stampfen auf der Stelle. Aber um in Form zu bleiben und durch die tägliche Büroarbeit nicht die Ausdauerkondition zu schwächen, die sie für ihre Klettertouren benötigte, blieb ihr nichts anderes übrig. Immerhin trainierte der Crosstrainer auch den Oberkörper und ein wenig die Arme, was beim Klettern hilfreich war.

Aushalten ließ sich das eintönige Training aber nur, weil sie mit Gummi ein Buch auf das Display des Trainingsgeräts klemmen und lesen konnte. Das war allerdings eine dumme Angewohnheit, denn sie las nur Kriminalromane, und zwei Drittel davon fand sie von mäßiger Qualität. Trotzdem ließ ihre Neugier selten zu, einen Krimi vorzeitig wegzulegen. Die Frage, wie der Roman ausging, konnte sie meistens nicht unbeantwortet lassen, und immerhin verging die Trainingszeit mit Lektüre schneller als ohne.

Auch heute vermochte sie der Krimi nicht zu fesseln, doch es lag am verzweifelten Blick Martin Prodgers, der ihr nicht aus dem Sinn ging. So schaut nur ein Mensch, dessen Leben aus den Fugen geraten ist, ahnte Olga, und sie wusste, wie leicht ein Mensch aus der Bahn geworfen werden konnte, wenn ihn die Justiz in ihre Fänge bekam. Prodgers Verzweiflung ist nicht gespielt, glaubte sie und trat heftig in den Crosstrainer. Sie wollte jetzt schwitzen und sich nicht weiter den Kopf über diesen Fall zerbrechen. Später würde sie wieder Akten studieren, nun war vernünftiges Konditionstraining angesagt.

Sie erhöhte den Widerstand, beschleunigte ihr Tempo und fand zu ihrem Rhythmus. Als die Pulsuhr an die 180 heranrückte, begann sie zu schwitzen und hielt die Belastung für fünfzehn Minuten, dann schaltete sie zwei Gänge zurück und trudelte langsam aus. Olga nahm Trinkflasche und Taschenbuch und ging in die Umkleide. Sie schlüpfte aus den Trainingsklamotten und stellte sich unter die freie Dusche neben die Bodybuilderin, die sie schon lange vom Sehen kannte.

»Hi«, grüßte die muskulöse Sportlerin, die ihre blonden Haare zu einem strengen Knoten gedreht hatte.

»Hallo«, erwiderte Olga den Gruß und drehte den Hahn auf. Das warme Wasser tat gut. Während sie sich einseifte, spürte sie den Blick ihrer Nachbarin und war ein wenig irritiert. Sie konzentrierte sich auf sich selbst, betrachtete aber aus dem Augenwinkel heraus die Bodybuilderin: Jeder Muskel schien wohldefiniert, trotzdem besaß dieser Körper noch eine frauliche Weichheit, und in der Art, wie sich ihre Muskeln bei jeder Bewegung regten, lag eine kraftvolle Anmut. Olga faszinierte dieser Anblick und sie sah öfter unauffällig zu ihrer Nachbarin hinüber.

Als die Bodybuilderin fertig war, nahm sie ihr Handtuch und trocknete sich mit geschmeidigen Handgriffen ab. Ihre Blicke trafen sich. Ein kaum wahrnehmbarer Stromschlag durchzuckte sie und ließ sie verlegen zur Seite schauen.

Olga griff nach ihrem Handtuch und blickte der Bodybuilderin nach, die zu ihrem Spind ging. Eine seltsame Befangenheit ergriff von ihr Besitz, die sie nicht von sich kannte. Irritiert ging sie zu ihrem Kleiderkästchen, das nur wenige Meter vom Spind der Bodybuilderin entfernt war.

»Machst du nur Cardio?«, fragte diese unvermittelt.

»Unter der Woche schon«, erwiderte Olga überrascht und erfreut zugleich. »Und du?«, fragte sie zurück und spürte, wie ihr Herz schneller schlug und gleichwohl ihre Verlegenheit verschwand.

»Cardio und Krafttraining. Sieht man ein bisserl, oder?« Die Bodybuilderin, bereits in Slip und Muscle-Shirt, stellte sich in eine typische Bodybuilderpose und lachte verschmitzt. »Irgendwie muss man ja fit bleiben«, bemerkte sie und schlüpfte in eine schwarze Leggins. »Außerdem gefällt mir gemäßigtes Bodybuilding – oder findest du es übertrieben?«

»Nein, bei dir schaut das gut aus«, antwortete Olga.

»Wow, das ist jetzt ja echt mal ein Kompliment – danke. Ich bin übrigens die Sonja«, sagte sie.

»Olga.«

»Freut mich, dass wir mal ins Gespräch kommen. Kennen uns vom Sehen schon ziemlich lang, aber man hat hier ja Scheu, einander anzusprechen.«

»Stimmt. Hier im Studio, also, kommunikativ ist’s nicht«, bemerkte Olga, schlüpfte in ihre Kleider und spürte wieder Sonjas Blick.

»Du schaust auch gut aus«, erwiderte Sonja nun Olgas Kompliment. »Für Bodybuilding hättest du prima Anlagen, aus deinem Körper was zu machen.«

Olga lachte überrascht und antwortete: »Mit meinem Körper bin ich sehr zufrieden.«

»Sorry«, stotterte Sonja und errötete. »So habe ich das nicht gemeint. Ach, egal, jeder hat seinen Sport, stimmt’s?«

»Ja, das stimmt. Und ehrlich gesagt, Bodybuilding ist mir noch nie in den Sinn gekommen«, erwiderte Olga und knöpfte ihre Bluse zu.

»Dann will ich dich auch nicht bekehren«, sagte Sonja augenzwinkernd. »Trotzdem wäre es nett, öfter mit dir zu plaudern.«

»Finde ich auch. Aber jetzt muss ich los, die Arbeit wartet. Also ciao und bis bald«, verabschiedete sich Olga.

Sonja winkte.

 

 

 

 

2

 

Federgabel und Heckdämpfer sorgten bei seinem neuen Mountainbike für erstaunliche Laufruhe, obwohl es ruppig bergab ging. Der Ritt über die Wurzeln beschwingte ihn umso mehr, je steiler der Trail in den Wald schnitt. Als der erste Sprung über den künstlich angelegten Table gemeistert war, genoss er das Adrenalin und die Herausforderung des anspruchsvollen Downhills. Von einer Sekunde zur anderen verschwanden all die Gedanken, die ihn bergauf auf dem Forstweg begleitet hatten. Das große Bauprojekt, dem er sich vor einigen Jahren verschrieben hatte und das ihm zunehmend Sorgen bereitete, löste sich im Surren der Kette auf, jede Kurbelumdrehung geriet zu einem Akt der Befreiung.

Als er über die Rampe hinausflog, fühlte er sich so unbeschwert wie seit Monaten nicht mehr. Jung und kraftvoll, bereit, die ganze Welt zu erobern, so fühlte er sich. Er wollte seine Freude darüber hinausschreien, als sich das Vorderrad bei der Landung an einem Stein verkantete und er kopfüber den Abhang hinunterstürzte. Schlagartig wurde es dunkel.

Als Sascha Wallot aufwachte, blickte er in blaue Augen und fragte sich verwirrt, was dieser Chagallsche Engel mitten im grünen Wald von ihm wollte. Der Engelsmund bewegte sich und formte Worte, die Sascha nicht verstand, weil er nichts hörte. Das Gesicht, zu dem Augen und Mund gehörten, erschien ihm wie die Inkarnation des absolut Schönen, die Offenbarung dessen, dem er seit frühester Jugend nachgejagt war, mit einer oftmals an Selbstverleugnung grenzenden Leidenschaft. Vollendete Schönheit und beglückende Harmonie in einem göttlichen Antlitz, wie es seit Mona Lisa nicht mehr erschaffen worden war, zum Greifen nah und zu Tränen rührend makellos.

Sascha wollte die Hand heben und diese wohlgerundete Wange berühren, doch er sah kein Ergebnis seines Bemühens. Er spürte nichts und er hörte nichts. Während dieser himmlische Mund weitere Worte formte, nahm ein Gedanke in seinem Kopf Gestalt an, der ihn mit Schmerz erfüllte und in die Wirklichkeit trug: Ich bin tot.

Nein, erkannte er, schlimmer als das: lebendig, aber gelähmt.

Ein Zittern überkam seinen Körper und ein Schrei entrang sich seiner Brust. Bin ich das, fragte er sich und wollte sich aufrichten.

Eine sanfte Hand hielt ihn behutsam zurück. In den Augen über ihm regte sich so etwas wie Zuversicht. In ihm breitete sich eine flammende Hitze aus, die ihm die Kehle zuschnürte und die Brust eindrückte. Panisch versuchte er, sich zu erinnern, ob er jemals, und wenn ja, wann, eine solche Angst empfunden hatte wie in diesem Augenblick, da ihn ein Engel betrachtete.

In seinem Kopf erklang ein hohl brummendes Om mani padme hum. Wann hatte er das letzte Mal gebetet? Eine düstere Kapelle tauchte aus der Erinnerung auf. Er hörte den Gesang von Nonnen, in den er andächtig eingestimmt hatte. Er sah das gütige Gesicht von Schwester Ursula, die ihn damals betreut hatte, nachdem er vom Scharlach genesen zurückgedurft hatte zu den Salesianerinnen, die ihn vorbereiteten auf die Heilige Kommunion. Damals hatte er Mönch werden wollen.

Nicht nur dieser Wunsch hatte sich in Luft aufgelöst, nein, binnen weniger Jahre war ihm die Fähigkeit, zu beten, abhandengekommen, und das buddhistische Mantra hatte sich über die Jahre weniger als Gebet denn als mystischer Wunsch in ihm eingenistet, der nur Gestalt annahm, wenn ihm zu viele Widrigkeiten begegneten.

Aber jetzt, jetzt betete er, wenngleich ungeschickt und mehr fordernd als bittend: Lass mich nicht gelähmt sein. Und weil tief in ihm eine Stimme wisperte, dass es so einer existentiellen Bitte guttat, wenn man sie mit einem Versprechen verband, ergänzte er: Dann will ich künftig ein anständiges Leben führen.

Während er in die dunkelblauen Augen des Chagall-Engels blickte, konnte er sich nicht vorstellen, wie schwierig es demnächst sein würde, das Versprechen einer »anständigen Lebensführung« auch nur annäherungsweise einzulösen. Noch brannte diese ungestüme Angst in ihm und lähmte ihn mehr als der Schock, den der Sturz mit dem Mountainbike zweifelsohne bewirkt hatte. Er stöhnte vor Angst und wurde freudig erregt, als er hörte, dass er stöhnte.

»Ruhig bleiben«, drang der Gesang des Engels an sein Ohr, »nicht bewegen. Bald ist jemand da, Hilfe ist unterwegs.«

Schlagartig verstand er, warum sich Odysseus hatte an den Mast binden lassen: Diese Stimme war Sirenengesang. Sascha wünschte nichts sehnlicher, als dieser Melodie ohne Unterlass lauschen zu dürfen.

Wieder wollte er diese Wange streicheln, doch außer einem Zucken des rechten Arms nahm er nichts wahr. Trotzdem beruhigte ihn das, denn ein Zucken war mehr als reine Taubheit, ein Zucken war zumindest ein Anfang. Sascha wunderte sich über seine mystischen Anwandlungen und stellte mit verblüffender Klarheit fest, dass er dabei war, sich in Chagalls Engel zu verlieben.

Beinahe ärgerte er sich über die Stimmen der Sanitäter, die mit einer Bahre herbeigeeilt kamen. Die Magie des Augenblicks wich der hektischen Betriebsamkeit der Unfallrettung. Vorsichtig schoben die Retter die Trage unter ihn. Mit einem lauten Zischen blies sich die Unfallbahre auf, stabilisierte ihn in seiner Haltung und sperrte ihn körperlich ein, vor allem, als die Sanitäter ihn mit dem Rückhaltegeschirr für den Transport sicherten. Chagalls Engel entschwand seinem Blickfeld. Sascha schwebte durch den Wald und bald darauf mit knatternden Rotoren aus dem Tal hinaus ins Krankenhaus.

 

»… sind wir zuversichtlich, dass in einigen Wochen die volle Funktionalität zurückkehrt«, sagte der Chefarzt des Universitätsklinikums und drückte Saschas linken Arm.

Die Worte des Arztes rauschten an Sachas Wahrnehmung vorbei wie ein kaum zu empfangender Radiosender auf Langwelle. Er nickte mechanisch und war froh, als die Ärzteschar das Zimmer verließ. Sascha wollte allein sein, damit er seinen Tränen freien Lauf lassen konnte.

Gelähmt, er war gelähmt, wenn auch nicht am ganzen Körper, sondern irgendwie einseitig, vor allem der rechte Arm. Es interessierte ihn einen Dreck, warum der Sturz und der gebrochene Wirbel genau zu so einem Schadensbild geführt hatten, und er wollte kein Einverständnis geben, als Demonstrationsobjekt im Medizinunterricht für fortgeschrittene Studierende zu dienen. Einzig der selbstmitleidgetränkten Frage, warum das ihm, ausgerechnet ihm und warum gerade jetzt, ausgerechnet jetzt, passiert war, wollte er sich widmen und dabei sein Leben analysieren, das im zurückliegenden Jahr mehr und mehr aus den Fugen geraten war.

Alles schien sich glücklich zu fügen, als er vor drei Jahren seine Zelte in Hamburg abgebrochen hatte und nach München zurückgekehrt war, wo er die Stelle als leitender Bauingenieur für das weltbekannte Theater angenommen hatte. Sicher, das Gehalt, das die in überwiegend öffentlich-rechtlichem Eigentum befindliche Theater-GmbH zahlte, war lächerlich gering im Vergleich zu den Einkünften, die er zuvor in der Privatwirtschaft erzielt hatte. Aber das Projekt hatte einen unglaublichen Reiz auf ihn ausgeübt. Die Generalsanierung dieses Theaters sollte sein Alterswerk werden, anschließend wollte er sich zur Ruhe setzen. Außerdem hatte er sich danach gesehnt, nicht nur die Wochenenden, sondern auch den Alltag mit seiner Frau zu teilen, die als Oberärztin im Universitätsklinikum arbeitete.

Die ersten Monate waren von einem Zauber beseelt gewesen, als erlebten sie noch einmal Honeymoon. Für die zwei Stunden am Abend, wenn Agathe nach Hause gekommen war und sich über das Abendessen gefreut hatte, das er auf den Tisch gezaubert hatte, sie gemeinsam dem Abgang des Rotweins hinterhergeschmeckt und sich die Szenen des Tages erzählt hatten, für diese zwei Stunden gemeinsamen Alltags hätte Sascha beinahe alles gegeben.

Es waren Augenblicke des kleinen Glücks und der Geborgenheit gewesen. Endlich hatte er wieder gewusst, wo er hingehörte, und hatte sich vom Trubel des Tages entspannen können. Gemeinsam hatten sie die Hektik von Baustelle und Operationssaal abgeschüttelt und manchmal sogar die Zeit gefunden, einander im Bett die eine oder andere Kurzgeschichte vorzulesen, wie damals, als sie sich, beide Studenten an der Technischen Universität, kennengelernt hatten.

Er hatte in einem Zustand gelebt, als liefe er nach einem Marathon mit großem Vorsprung auf den Zweitplatzierten ins Stadion zur letzten Runde ein. Voller Euphorie und purer Lebensfreude hatte er sich für die letzte Anstrengung des Berufslebens bereitgefunden, verbunden mit der Aussicht auf üppige Freizeit gemeinsam mit dem Menschen, den er liebte, in den Jahren nach diesem Parforceritt.

Natürlich hatte er begriffen, dass die Generalsanierung eines maroden und überdimensionierten Theaterkomplexes eine herkulische Herausforderung war, die mit dem zur Verfügung stehenden Budget nicht gemeistert werden konnte. Sascha hatte oft im Leben die Herausforderung gesucht und nun, in der Geborgenheit des gemeinsamen Zuhauses, hatte er vor Kraft gestrotzt und war bereit gewesen, das Unmögliche möglich zu machen.

Als nach einem Jahr die erste Krise gekommen war, weil der Projektsteuerer aus dem Ruder gelaufen war, hatte er den Ärger weggesteckt, weil ihn Agathe aufgemuntert und in der Haltung bestärkt hatte, ungeachtet finanzieller Einbußen den Projektsteuerer zu feuern.

Die Schadensersatzklage ist weiterhin anhängig, dachte Sascha und schaute sich, soweit es die festsitzende Halskrause zuließ, in seinem komfortablen Einzelzimmer um. Ein kleiner Flachbildschirm befand sich an einem schwenkbaren Arm am Nachtkästchen und bildete die Verbindung zur Außenwelt als Fernseher und Computerbildschirm, den er mit einer Funktastatur bedienen konnte, wenngleich es mit der linken Hand etwas mühsam war.

Noch stand ihm nicht der Sinn danach, seinen E-Mail-Account zu öffnen oder sich Trash-Sendungen im TV anzusehen. Am Fenster erinnerte ein runder Tisch mit drei Stühlen daran, dass zur Bewegung fähige Patienten ihre Gäste durchaus mit Stil empfangen konnten. Die Tür zum Badezimmer machte ihm seine Abhängigkeit von der Bettpfanne bewusst.

Er wollte schreien und brachte es nicht über sich. Er wollte nicht, dass irgendjemand bemerkte, wie sehr er mit seinem Schicksal haderte. Weder für das Selbstmitleid, das ihn zu übermannen drohte, noch für die Wut, die unaufhaltsam hochkroch, wollte er Anteilnahme. Wie so vieles in den letzten Monaten, musste er diese Situation allein durchstehen. Gerade jetzt durfte er keine Schwäche zeigen, was, ans Krankenhausbett gefesselt, nicht einfach war.

Ich muss, nahm sich Sascha vor, rasch meine Handlungsfähigkeit wiederherstellen. Dazu wollte er sich einen Tag Zeit geben und versuchen, mit sich selbst klarzukommen und die Situation zu akzeptieren.

»Mein Glas«, brummte er grimmig, »ist halb voll und nicht halb leer.« Aber er ahnte, dass er sich selbst belog, und vielleicht ahnte er an diesem trüben Dienstagnachmittag bereits die nahende Katastrophe, obwohl er im Augenblick glaubte, schon jetzt am Tiefpunkt seines bisherigen Lebens angekommen zu sein.

Was sich vor drei Jahren als Beginn eines großen Glücks dargestellt hatte, hatte sich mit der Zeit zu einem Albtraum der besonderen Art entwickelt. Die Generalsanierung war zunehmend aus dem Ruder gelaufen, und nach einem Jahr hatte ihn die Arbeit so gefangen genommen, dass er kaum zum Abendessen nach Hause gekommen war und sich die vertraute Geborgenheit gemeinsamer Abendstunden mit Agathe verflüchtigt hatte wie Schnee in der Sahara.

Der neue Projektsteuerer hatte das Vorhaben schonungslos analysiert und eine Reihe von Mängeln aufgedeckt, die sich auf Planung, Organisation und Ausführung bezogen, was das externe Controlling auf den Plan gerufen und die Alarmglocken der Geldgeber hatte schrillen lassen.

Bald darauf waren die ersten Zeitungsberichte erschienen, die die Ikone der deutschen Theaterlandschaft in ernster Gefahr wähnten und sich nicht gescheut hatten, Vergleiche zu den größten Baupleiten der jüngeren Gegenwart zu ziehen.

Sascha hatte sich um ein gutes Verhältnis zu den lokalen Zeitungsredaktionen bemüht und sich für ein stufenweises Vorgehen entschieden, was die Transparenz hinsichtlich der sich mehrenden Probleme, insbesondere der ständig steigenden Kosten, anging.

Aufgeben war nicht in Betracht gekommen, eine Niederlage einzustecken ebenso wenig, und nach knapp zwei Jahren hatte er den Schalter auf stures Durchhalten umgelegt. Er musste das Projekt erfolgreich zu Ende bringen, koste es, was es wolle.

Vielleicht hätte ihn Agathe bremsen können. An dem Punkt, an dem Sascha wahrgenommen hatte, dass die Freude des Zusammenseins verloren ging, hätte er sich sogar vorstellen können, sich zur Ruhe zu setzen, auch wenn das seinem Naturell widersprach. Er hasste halbgare Sachen, das Churchill’sche Motto des we shall never surrender steckte von Jugend an in ihm.

Für Agathe hätte er den Krempel vielleicht hingeworfen. Doch als er so weit gewesen war, über einen radikalen beruflichen Schritt nachzudenken, war es bereits zu spät gewesen. Agathes Prognose war erschütternd gewesen. Zehn Wochen später war Agathe gestorben.

Was für eine Verhöhnung durch das Schicksal, haderte Sascha damals wie heute. Agathe, als Oberärztin der Chirurgischen Klinik oft mit Bauchspeicheldrüsenkrebs konfrontiert, hatte an sich selbst keinerlei Anzeichen festgestellt, bis alles zu spät gewesen war.

Sascha hatte sich voller Wut in die Arbeit gestürzt und rücksichtslos das Projekt vorangetrieben, das wegen fehlender Schlussfinanzierung zum Scheitern verurteilt war. Sein Leben war aus den Fugen geraten, aber er konnte nicht trauern. Ein hemmungsloser innerer Furor half ihm über den Verlust und die Schmerzen hinweg. Dieser unheilige Zorn war es, der ihn den Trail hinabgetrieben und den Sprung über den Table hatte wagen lassen. Nur so war die Befreiung vom erlittenen Verlust zu erlangen. Fast wäre es geglückt.

Und jetzt? Gelähmt im Krankenbett, handlungsunfähig dem Ansturm der Gedanken ausgesetzt, konnte er vor der Vergangenheit und den Erinnerungen nicht mehr fliehen. Während sein rechter Arm den Dienst verweigerte, ließ er endlich die Tränen zu.

 

Als es an der Tür klopfte, wischte sich Sascha mit der linken Hand übers Gesicht, gerade rechtzeitig, damit Markus Horbacher nicht sofort sah, in was für einer angegriffenen Verfassung er sich befand. Zwar nannten sich Sascha Wallot und Markus Horbacher seit Jahrzehnten Freunde und vermutlich waren sie das im landläufigen Sinn auch, aber vor allem waren sie miteinander beruflich in einer Art Schicksalsgemeinschaft verbunden. Misslich für Sascha allerdings, dass sich Horbacher stets in der besseren Position befand; früher als Firmeninhaber der GmbH, die Sascha als Geschäftsführer operativ gesteuert hatte, jetzt als Vorsitzender der Gesellschafterversammlung des Europäischen Theaters und damit sozusagen als sein oberster Aufsichtschef.

Trotzdem oder gerade deswegen war er der Erste gewesen, den er hatte verständigen lassen, schließlich stand mit der Generalsanierung sein wichtigstes Bauprojekt vor immensen Problemen. Und wen sonst hätte er informieren können? Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er seit dem Tod seiner Frau niemanden mehr hatte, der ihm wirklich nahestand.

»Was stellst du für Sachen an?«, polterte Horbacher los, kaum war er zur Tür hereingetreten. Er packte sich einen Stuhl und setzte sich mit rustikaler Selbstverständlichkeit neben Saschas Bett. »Du kannst dich nicht vom Acker machen, alter Knabe. Wann bist du wieder einsatzbereit?«

»Die Ärzte gehen davon aus, dass die Funktionalität in einigen Wochen wiederhergestellt ist«, antwortete Sascha matt.

»Das kann nicht sein«, erwiderte Horbacher und es klang entrüstet. Horbacher duldete keinen Widerspruch, akzeptierte keine Hindernisse auf seinem Weg und hatte von jeher unbeugsam seinen Willen durchgesetzt. »Wenn du nicht sofort auf die Beine kommst, nimmst du gefälligst den Rollstuhl. Aufgeben kommt nicht infrage. Also, wann sitzt du wieder im Führerhaus?«

»Das wird seine Zeit dauern.«

»Wir brauchen dich so schnell wie möglich vor Ort. Die Architekten machen mir Kummer, du bist ihr entscheidender Ansprechpartner. Es geht nicht ohne dich, Sascha!«

»Morgen weiß ich mehr, Markus. Du musst deine Ungeduld zügeln. Und um die Architekten kümmere ich mich. Die tragen wir schon über die Ziellinie.«

»Wenn du dich da mal nicht täuschst«, knurrte Horbacher. »Jetzt erzähl, was ist passiert?«

»Ein Flüchtigkeitsfehler bei einem Jump«, antwortete Sascha. »Wieso sollte ich mich bei den Architekten täuschen?«

»Watzlaff hat mir gestern mitgeteilt, für sein Architekturbüro Insolvenz anzumelden.«

Sacha schluckte fassungslos, musste erst sein Entsetzen hinunterschlucken, ehe er entrüstet rief: »Das kann nicht sein! Ich päpple die seit fast einem Jahr mit Vorschuss- und Abschlagszahlungen. Das weißt du doch. Watzlaffs Büro kann gar nicht pleitegehen.«

»Wenn du dich da mal nicht überhoben hast, mein Freund. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«, fragte Horbacher und rückte mit seinem Kopf nah an Wallots Gesicht.

Sascha nahm das Lauern in Horbachers Augen wahr und dachte unwillkürlich an den Chagallschen Engel des Vortages. Um wie viel lieber hätte er in diese Augen geblickt, als sich dem misstrauischen Blick seines Freundes ausgesetzt zu fühlen.

»Du weißt alles, was du wissen musst«, erwiderte er. »An uns kann das nicht liegen. Watzlaff blufft. Er will nur mehr Kohle herausschlagen.«

»Stimmt es, dass du ihm die letzten beiden Nachträge nicht genehmigt hast?«

»Die sind unberechtigt.«

»Watzlaff sieht das anders. Nun, du hast noch einen Tag Zeit, darüber in Ruhe nachzudenken. Wenn du die Nachträge nicht anerkennst, geht Watzlaff zum Konkursrichter.«

Horbacher drückte ihm den rechten Arm – vermutlich ziemlich fest, aber Sascha spürte es nicht – stand auf und brummte: »Pass auf dich auf.«

Dann verschwand Horbacher durch die Tür. Sascha blickte ihm nachdenklich hinterher und empfand beklemmend, dass ihm sein Chef nicht mehr freundschaftlich gesonnen war. Er fragte sich, was den alten Kumpel bewegen mochte. Machte sich Horbacher inzwischen echte Sorgen um das Projekt, obwohl er stets der Ansicht gewesen war, die Geldgeber würden selbstverständlich nachschießen, wenn es erforderlich war?

Sofort stellte sich das Herzrasen ein, das Sascha seit einigen Monaten beunruhigte und das mit seinem unbedingten Willen zusammenhing, die Sanierung des Theaters zu Ende zu führen. Nach Agathes Beerdigung hatte er hemmungslos aufs Tempo gedrückt, um die Baustelle voranzutreiben. Vorwärts, immer vorwärts, um nur ja keinen Stillstand aufkommen zu lassen, der ihn zum Nachdenken gezwungen hätte. Er hatte sich mit ausufernder Arbeit ins Vergessen gestürzt und dabei immer weniger Rücksicht auf bürokratische Regeln und sonstige Fesseln genommen. Das Architekturbüro bei Laune zu halten, war eine zentrale Aufgabe gewesen, zumal trotz etlicher Planungsfehler, die sich das Büro geleistet hatte, der Wechsel des Gesamtplaners mit Sicherheit zu einer immensen zeitlichen Verzögerung geführt hätte, die Sascha auf keinen Fall hinnehmen wollte. Daher hatte er den Architekten in den letzten Monaten teilweise erheblich mehr ausgezahlt, als ihnen nach den erbrachten Leistungen zugestanden hätte. Allerdings war der Inhaber mit den Monaten immer dreister geworden und hatte vor rund zwei Wochen einen Nachtrag vorgelegt, der Zusatzforderungen von rund zwei Millionen Euro begründet hätte.

Diese Forderung hatte Sascha ablehnen müssen. Sie war weder berechtigt gewesen, noch hatte Sascha hierfür derzeit das nötige Budget gehabt. Zumal ihm sowieso die Liquidität abhandengekommen und er ziemlich ratlos gewesen war, wovon er die laufenden Rechnungen zahlen sollte.

Sollte das Architekturbüro tatsächlich Insolvenz anmelden, würden ihm nicht nur die Sonderzahlungen auf die Füße fallen. Er wusste also, warum er Herzrasen hatte, und überlegte fieberhaft, was zu tun sei. Doch es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu ordnen. Erinnerungsfetzen huschten wie die Szenen eines hektisch geschnittenen Films durch seinen Kopf. Der chagallsche Engel changierte in Agathes Gesichtszüge, die einmal leidvoll, dann wieder anmutig aufschienen. Sein Kopfkino spielte ein Zerrbild von glücklich zu unglücklich in einem wahnwitzigen Zeitraffer, was Sascha ein schmerzhaftes Brennen im Unterleib verursachte, bis schließlich die Bilder so wild durcheinanderwirbelten, dass sie sich zu einem bunten Nebel ohne Aussagekraft verdichteten. Erschöpft schloss er die Augen und schlief ein.

 

 

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