Grenzenlose Gier - Georg Brun - E-Book

Grenzenlose Gier E-Book

Georg Brun

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Beschreibung

Einen Geheimnisverräter enttarnen: Die junge Rechtsanwältin Olga Swatschuk steht vor einer bisher ungekannten Herausforderung. Als die Immunologin Nina Kaul ihre juristische Unterstützung bei der Aufdeckung eines Verräters sucht, stürzt sich Olga unverzüglich in die Welt eines renommierten Forschungsinstituts. Dabei gerät sie in ein verwirrendes Geflecht aus Täuschung und Verrat, in dem sie auf Cleo Ascher trifft - Ninas ehrgeizige Konkurrentin, die zweifelhafte Methoden zur Entwicklung eines revolutionären Bluttests einsetzt. Durch ihre Ermittlungen werden Olga und der ihr zur Seite stehende Privatdetektiv Alex Sorger jedoch immer tiefer in das Intrigenspiel am Institut hineingezogen. Als Nina während einer Cyberattacke, die das Institut komplett lahmlegt, plötzlich entführt wird, bleibt ihnen nur wenig Zeit zu handeln. Doch Alex misstraut seinen ehemaligen Kollegen und ist entschlossen, die Tat auf eigene Faust aufzuklären. Sein Alleingang hält alle in Atem… Wird es Olga und Alex gelingen, die Wahrheit aufzudecken, bevor die Gier nach Macht und Manipulation alles verschlingt?

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Seitenzahl: 350

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© Jeannine-Bachmann

In München im Jahr 1958 geboren, ist Georg Brun mit einigen Abstechern stets ein »Münchner Kindl« geblieben. Auf mehrere Jahre im Bayerischen Landeskriminalamt und das Jura-Studium folgte eine langjährige Tätigkeit im Wissenschaftsministerium. Als Georg Brun im Jahr 1988 mit »Das Vermächtnis der Juliane Hall« sein erstes Buch veröffentlichte und dafür den Bayerischen Förderpreis für Literatur erhielt, begann sein erfüllendes Doppelleben als Jurist und Schriftsteller.

»Grenzenlose Gier« ist nach »Bodenloser Fall« und »Gewissenlose Wege« die Fortsetzung seiner München-Krimi-Reihe rund um die Anwältin Olga Swatschuk.

Im Jahr 2022 veröffentlichte Georg Brun den Auftakt zu einer Krimi-Reihe mit dem pensionierten Kriminalkommissar Nathan Weiss »Spüre meinen Zorn«, ebenfalls erschienen im Bookspot-Verlag.

Mehr über den Autor unter www.georgbrun.de

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2023 bei Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Johanna Gerhard

Korrektorat: Andreas März

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Martina Stolzmann

Titelmotiv: © Pixabay

eISBN 978-3-95669-196-6

www.bookspot.de

München im Jahr 2023

Im Gegensatz zu Märchen beginnen Romane im 21. Jahrhundert zu Recht nicht mit den Worten Es war einmal – selbst dann, wenn in fiktiven Geschichten wie der folgenden Ähnlichkeiten mit Geschehnissen der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte naheliegen.

In München gibt es kein Bavarian Research Center for Oncological Studies and Immunology und an einem vergleichbaren Institut in Regensburg wird hervorragende Arbeit nach besten wissenschaftlichen Standards geleistet. Weder dieses Institut noch eine in Heidelberg beheimatete Forschungseinrichtung standen für die nachfolgende Erzählung Pate.

Fakt ist allerdings, dass der internationale Wettbewerb im Wissenschaftssystem in Einzelfällen zu Missbrauch und Fehlverhalten führt, welches von den Medien hinlänglich skandalisiert wird. Daneben gibt es in beachtenswertem Ausmaß Wissenschaftsspionage und Konkurrenzausspähung im Forschungskontext.

Dies alles sind geeignete Zutaten für eine frei erfundene Kriminalerzählung, bei der Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sehr zufällig wären.

Prächtig habt ihr gebaut. Du lieber Himmel! Wie treibt man, nun er so königlich erst wohnet, den Irrtum heraus?

Johann Wolfgang von Goethe

Fiat justitia, pereat mundus!*

Wie jeder weiß: eine Dauerbaustelle

Für Thomas O. Höllmann

als Dank für eine nicht gehaltene Rede

&

Für Lisa

anstelle vieler ungeschriebener Briefe

* Übersetzung: Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde.

1

Der Himmel hing bleiern über München. Es regnete Bindfäden. Der Blick aus dem Fenster machte trübsinnig, der Blick in den Kalender machte Angst. Kein einziger Eintrag heute. Weder ein Gerichtstermin noch ein Mandantengespräch, nicht einmal eine Frist in einem banalen Einspruchsverfahren. Die Seite dieses 13. September war schlicht und einfach leer. Folgerichtig hatte Angela sich für den heutigen Freitag freigenommen. Sie nutzte die Gunst des blanken Kalenders für ein verlängertes Wochenende, das sie mit ihrem Freund in Südtirol verbringen wollte. Dort war, wenn man meteoblue glaubte, das Wetter schön.

Olga dagegen saß nun ohne ihre Anwaltsgehilfin allein in ihrem Büro und blätterte lustlos in der Akte zu einem Verkehrsdelikt. Der Mandant wollte sich partout gegen einen Bußgeldbescheid über 240 Euro und ein Monat Fahrverbot wehren, obwohl die Beweislage eindeutig gegen ihn sprach. Bei dem mageren Mandantenstamm, den sie hatte, konnte sie diesen Rechthaber nicht vergraulen und den Einspruch nicht zurückziehen. Sollte das Amtsgericht ruhig einen Termin für die mündliche Verhandlung festsetzen.

Sie legte den Vorgang zur Seite und kümmerte sich um den notorischen Ladendieb, für den sie die Pflichtverteidigung übernommen hatte. An sich ein tragischer Fall. Ein gestrauchelter Lokführer, den vor vielen Jahren ein Lebensmüder aus der Bahn geworfen hatte. Aus einem Gebüsch hervorgesprungen, als der Zug noch hundert Meter entfernt war, erschien der Selbstmörder dem Eisenbahner seitdem Nacht für Nacht als Gespenst. Er konnte keinen Führerstand mehr betreten und war letztlich vollkommen arbeitsunfähig geworden. Die Frührente reichte nur fürs Nötigste. Bald befriedigte ihr Mandant seine Konsumbedürfnisse auf unlautere Art und Weise. Dreimal war er mit einem blauen Auge davongekommen, doch jetzt ließ der Amtsrichter keine Gnade mehr vor Recht ergehen: Er bestand auf einer Hauptverhandlung, die für den Ladendieb mit einer Freiheitsstrafe enden könnte. Olga würde mit allen Mitteln versuchen, aus dem Lebenslauf des Lokführers Kapital zu schlagen, um eine Bewährungsstrafe zu erreichen. Sie notierte sich einige wesentliche Lebensdaten, um ihr Plädoyer geschickt aufbauen zu können, als es an der Kanzleitür schellte. Olga ging zum Empfang und bediente die Gegensprechanlage. Niemand meldete sich. Stattdessen klopfte es an der Tür. Olga schaute durch den Spion und sah eine hagere junge Frau. Keine Gefahr, dachte Olga und schalt sich im gleichen Atemzug dafür. Seit ihrem Abenteuer in Istanbul vor zweieinhalb Monaten war sie ängstlich.

»Sie wünschen?«, fragte sie und ließ die Frau eintreten.

»Ein Beratungsgespräch mit Ihrer Chefin«, antwortete diese und ging mit schlurfenden Schritten an den verwaisten Tresen. Dunkelblonde Haare hingen fettig und strähnig auf den schmächtigen Schultern, das linke Bein zog sie ein wenig nach, die Jeans schlotterte um die schmalen Hüften – alles in allem ein Anblick des Jammers.

»Um was geht es, wenn ich fragen darf?«

Mit der knochigen Hand stützte sich die Frau am Tresen ab und wandte sich Olga zu. Ein kantiges Gesicht schaute ihr entgegen, hohlwangig mit spitzem Kinn, schmallippig, lodernde Augen über dunklen Tränensäcken, ausgemergelt und unsympathisch.

»Das würde ich gern mit der Rechtsanwältin persönlich besprechen.«

Die Reibeisenstimme war eine halbe Oktave zu hoch geraten und ebenfalls nicht dazu angetan, in Olga Zuneigung auszulösen. Meine Güte, dachte sie, was für Leute schickt mir dieser saudumme Freitag? Wäre ich nur zu Hause geblieben. Andererseits konnte sie es sich derzeit nicht leisten, Mandate oder Aufträge abzulehnen. Der Umsatz ihrer Einzelkämpferkanzlei war über die Sommermonate drastisch eingebrochen. Wenn das so weiterginge, müsste sie aufgeben und sich eine Stelle in einer Großkanzlei suchen. Gegen dieses Schicksal, das ihr vor gut drei Jahren viele anlässlich ihrer Niederlassung in München prophezeit hatten, bäumte sie sich mit aller Macht auf und zwang sich daher, freundlich zu antworten. Sie ging auf die extrem schlanke Frau zu, streckte ihr die Hand entgegen und stellte sich vor. »Olga Swatschuk. Ich bin die Rechtsanwältin, die Sie suchen.«

»Nina Kaul«, sagte sie und ergriff Olgas Hand. Die grünen Augen lächelten mit den dünnen Lippen um die Wette.

Vielleicht doch nicht so unsympathisch, dachte Olga und war neugierig, was Kaul zu ihr führte.

»Eine Bekannte hat Sie mir empfohlen. Haben Sie Zeit für mich?«

Olga kontrollierte die Uhrzeit. Es waren noch fast zwei Stunden, bis sie ins Fitnessstudio gehen wollte, und sie hielt nichts von dem Wichtigtuer-Spiel, einen randvollen Terminkalender vorzuschützen und potenzielle Mandanten erst mal einige Tage schmoren zu lassen.

»Kommen Sie in mein Besprechungszimmer und erzählen mir, um was es geht.«

»Cool. Sie sind echt lässig. Irgendwie hab ich Sie mir älter vorgestellt.«

Olga ging in den kargen Raum, den sie gerade wegen seiner Schlichtheit mochte, bot der Besucherin einen Stuhl an und setzte sich ihr gegenüber.

Die Augen blickten wach aus einem müden Gesicht, das mangels Körperfett scharfe Konturen aufwies, überbetont von einer schmalen Nase über dem spitzen Kinn. Der Hals war lang und sehnig, knochig lugte das Brustbein hervor. Von den Nasenflügeln herunter hatten sich Furchen eingegraben, ebenso eine steile Falte zwischen den Augenbrauen, die erstaunlich buschig wirkten. Die gesamte Erscheinung strahlte eine eigenartige Mischung aus Müdigkeit und Energie aus. Olga fühlte sich in ihrer Spontandiagnose bestätigt: ehrgeizig und vielleicht magersüchtig.

Wie immer, wenn sie einer neuen Mandantin gegenübersaß, schwieg Olga und wartete auf das, was zwangsläufig irgendwann gesagt wurde. Stets stellte sich später als besonders interessant heraus, was verschwiegen wurde. Genau aus dieser Diskrepanz zog Olga ihre Schlüsse.

»Bleibt, was ich Ihnen erzähle, unter uns?«

»Soweit Sie es mir in Ausübung meines Berufs erzählen.«

»Was kostet mich eine Beratung?«

»Das kommt darauf an. Worum geht es denn?«

»Haben Sie eine Stunde?«

»Hundertzwanzig Euro. Bar.«

»Cool«, antwortete Kaul, zog einen abgewetzten Geldbeutel aus ihrer Jeans und legte den geforderten Betrag auf den Tisch.

»Gut. Legen Sie los.«

»Ich bin Fachärztin für Innere Medizin und arbeite im Bereich der Immun-Biologie als Arbeitsgruppenleiterin des Bavarian Research Center for Oncological Studies and Immunology, kurz BaRCOSI. Draußen in Martinsried, in enger Nachbarschaft zum Universitätsklinikum.«

Diese Einleitung überraschte Olga. Zwar war Nina Kaul in der Tat schwer zu schätzen, aber allein der Beruf verriet ein höheres Lebensalter, als Olga gedacht hätte. Nun war sie gespannt, was kommen würde.

»Wir forschen an der Grenze des Wissens und sind führend in Europa. Gemeinsam mit einem Institut in den Vereinigten Staaten und einem in China stehen wir weltweit an erster Stelle. Wir werden die Grundlagenforschung im Bereich der Immunologie auf ein neues Level heben. Wir werden in einem bemerkenswerten Umfang personalisierte Medikamente entwickeln, die schwere Krankheiten lindern und heilen oder gar Leben retten.« Kaul schaute Olga Beifall heischend an. »Unsere Arbeit kostet viel Geld und wird ein Vermögen einbringen. Hier geht es um Millionen. Sponsoren rennen uns die Türen ein.« Wieder ein erwartungsvoller Blick, den Olga regungslos erwiderte. »Die Begehrlichkeiten sind enorm. Da geht nicht alles mit rechten Dingen zu. Kurzum, ich fürchte, wir haben einen Spion in unserem Team, der einige unserer Geheimnisse verrät. Meine Befürchtung ist, dass sich dieser Verräter in meiner Umgebung tummelt.«

Olga enthielt sich jeglichen Kommentars, auch, weil ihr nicht klar war, wie sie als Rechtsanwältin ins Spiel kommen sollte. Industrie- und Forschungsspionage gehörten keinesfalls zu ihrem Portfolio; sie war eine bescheidene Strafverteidigerin, die nebenbei einfach gelagerte zivilrechtliche Angelegenheiten erledigte. Sie würde der Frau einige Minuten zuhören und ihr dann die hundertzwanzig Euro wieder über den Tisch schieben. Aber was wollte man von einem Freitag, den Dreizehnten schon erwarten?

»Diesem Spion will ich eine Falle stellen«, fuhr die Immunbiologin fort. »Dazu brauche ich anwaltlichen Beistand.«

»Tut mir leid«, antwortete Olga. »Ich wüsste nicht, was ich für Sie tun könnte. Wie kommen Sie überhaupt auf mich? Wer hat mich Ihnen empfohlen?«

»Sie haben Professor Atasoy in einer delikaten Angelegenheit vertreten«, erwiderte Kaul. »Meine Bekannte meinte, Sie hätten eine hervorragende Figur abgegeben. Also ist Ihnen die Welt von uns Universitätsmedizinern vertraut.«

Diese Antwort kam für Olga unerwartet. Ihr letzter Fall hatte nichts mit Forschungsspionage zu tun gehabt. Olga rätselte daher, wie sie Kaul helfen könnte.

»Sie müssen mich beraten, wie weit ich gehen darf, wenn ich dem Spion eine Falle stelle. Sie sollen meine Gewährsfrau sein für meine lauteren Absichten, wenn etwas schiefgeht.«

»Sie sehen mich ratlos«, entgegnete Olga und hob die Hände.

»Ganz einfach, Frau Anwältin: Ich will das Spiel betrogener Betrüger spielen, und ich bin bereit zu höchstem Einsatz.«

2

Sie saß am Schreibtisch und arbeitete an ihrem Vortrag »Immunzellen als living drugs«, den sie nächsten Dienstag in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften halten durfte. Traditionell setzte sich das dortige Publikum aus wissbegierigen älteren Menschen und einigen Studenten und Nachwuchswissenschaftlern zusammen. Aus der einschlägigen Sektion IV der Natur- und Lebenswissenschaften und Medizin wohnten meist einige Mitglieder diesen Publikumsvorträgen bei. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, die Einladung zu so einem Vortrag habe den Charakter einer Bewerbungsvorlesung mit Blick auf die nächsten Zuwahlen in diese traditionsreiche Gelehrtengesellschaft. Da kam es auf viel Fingerspitzengefühl in der Formulierung an. Das Laienpublikum sollte verstehen, über was sie sprach, und den Spezialisten im Auditorium musste sie nebenbei knallharte Forschungsergebnisse präsentieren. Je Sektion gab es nur dreißig ordentliche Mitglieder, die auf Lebenszeit gewählt waren und die – außer durch Tod – die Mitgliedschaft nur durch Wegzug aus Bayern verloren.

In ihrer Sektion war momentan ein Platz frei. Den wollte Cleo Berenike Ascher für sich. Unbedingt. Das sollte die vorläufige Krönung ihrer beruflichen Laufbahn sein und zugleich der Startschuss für den finalen Höhenflug, denn eines Tages wollte sie in die Medizingeschichte eingehen als eine moderne Marie Curie der Onkologie. Den Grundstein hierfür hatte sie in den letzten drei Jahren gelegt. Quartal für Quartal war es ihr gelungen, aufsehenerregende Aufsätze in Nature, Nature Biomedical Engeneering, Nature Medicine und Science zu veröffentlichen und mit etlichen weiteren Publikationen in kleineren Spezialzeitschriften in die vorderen Reihen der meistzitierten Autoren zu gelangen. Der Lohn war die Berufung auf den Lehrstuhl für Gen-Immuntherapie der Münchner Exzellenzuniversität samt Direktorenposten am Bavarian Research Center for Oncological Studies and Immunology, einem weltweit führenden Institut für Immunmedizin. Bei der Besetzung des freien Platzes in der Sektion für Lebenswissenschaften der Akademie führte kein Weg an ihr vorbei.

Cleo spürte den Stolz in ihrer Brust als wohltuende Aufregung. Mochte es draußen regnen, so viel es wollte, hier an ihrem Schreibtisch schien die Sonne, denn die Redaktion ihres Vortrags ging ihr gut von der Hand. Zufrieden streichelte sie Cashina, die schnurrend auf ihrer Schulter saß, über den Rücken und genoss das weiche Gefühl an der Wange, als sich die Birma-Katze an sie schmiegte. Sie fühlte sich im Einklang mit ihrer Katze und war glücklich.

Weniger glücklich war sie mit den Ergebnissen einer Experimentreihe, mit der sie einen bestimmten Typus von Fresszellen der Immunabwehr für gezielte Angriffe auf Pankreastumorzellen programmieren wollte. Zwar zeigten sich in einer Reihe von Einzelfällen erstaunliche Therapieerfolge, aber bei der Mehrheit der Patienten blieben die spezifischen Medikamentengaben erfolglos. Das war inakzeptabel. Gerade in diesem Bereich bestand ein herausragendes Interesse mehrerer Pharmafirmen, ein wirksames Präparat zu entwickeln. Cleo stand mit einem großen amerikanischen Unternehmen in Kontakt, das im Erfolgsfall viel Geld in die Hand nehmen würde. Gelänge hier ein Durchbruch, stünden ihr alle Wege offen. Sie würde sich mit ihrem Kooperationspartner am Klinikum über eine Veränderung des Versuchsdesigns unterhalten müssen, schließlich war es in Ausnahmefällen notwendig, die Fragen vernünftig an den Antworten zu orientieren. Darin hatte sie es in den letzten Jahren zu wahrer Meisterschaft gebracht. Sie hielt es schon länger mit dem Motto: Es gibt keine dummen Antworten, nur dumme Fragen.

Einen internationalen Spitzenwissenschaftler zeichnete es aus, sich mit den richtigen Problemstellungen auseinanderzusetzen. Selbstverständlich war der reine Erkenntnisgewinn aller Ehren wert, aber erfolgreich forschen konnte nur, wer für ein klar definiertes Problem eine zutreffende Lösung fand. Cleo wusste, dass sie sich damit in Widerstreit zur herrschenden Meinung setzte, weshalb sie in diesem Punkt – entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten – ihre Position nicht offenlegte. Vielmehr setzte sie alles daran, ihre Lösungsansätze so zu präsentieren, dass sie dem Mainstream gehorchten.

Bis vor Kurzem war ihre Strategie anstandslos aufgegangen. Kern ihrer Optimierungsmethoden war die intelligente Begrenzung der Fallzahlen. Ihr kam zugute, dass bei Forschungen an der Grenze des Wissens die Zahl potenzieller Patienten für die klinische Studie immer gering war und es mehr als eine namhafte Veröffentlichung gab, die mit acht bis zwölf Patienten Ergebnisse lieferte. Ein Verfahren musste sich erst etablieren, ehe man groß angelegte Studien durchführen konnte, die, auch das keine Seltenheit, dann zu differenzierten Ergebnissen mit manchmal erstaunlichen Nebenwirkungen gelangten. Vor ihren Studenten zitierte sie in diesem Zusammenhang gern die Entdeckung von Viagra als Wundermittel für den müden Mann: Der Wirkstoff Sildenafil war als Mittel für koronare Herzerkrankungen entwickelt worden, um die Gefäße im Herzen zu entspannen, hatte sich dann aber erstaunlicherweise als hervorragend geeignet zur Behebung von Erektionsstörungen erwiesen.

Jetzt stand Cleo vor einem weniger trivialen Problem, denn am Dienstag hatte sie einen anonymen Brief in ihrer Post vorgefunden. Der Verfasser wies sie auf zwei ihrer Studien hin, die mit jeweils deutlich weniger Patienten publiziert worden waren, als das Untersuchungspanel ursprünglich an Patienten umfasst hatte. Unerklärlicherweise verfügte der Verfasser über die gesamten Rohdaten der beiden Studien. Rätselhaft deshalb, weil Cleo die Rohdaten stets gründlich redigierte. Fraglich blieb auch, was der Verfasser mit seinem Brief bezweckte. Er endete mit den kryptischen Worten: Von einem entgegenkommenden Wohlverhalten zu gegebener Zeit wird ausgegangen.

Keine Frage, sie wurde erpresst, und der Erpresser kam höchstwahrscheinlich aus den Reihen des Instituts. Drei Tage lang hatte sie überlegt, wie ernst sie diesen Erpressungsversuch nehmen musste, und wer dafür verantwortlich sein könnte. Der Personenkreis derer, die unmittelbar Zugang zu ihren Versuchsdaten hatten, war zwar überschaubar, aber aufgrund der optimalen Vernetzung des gesamten Institutsmaterials kaum vernünftig eingrenzbar. Sie musste entweder abwarten, was für eine Forderung kommen würde, oder herausbekommen, wer ihr schaden wollte.

Einfacher war die Frage nach der Ernsthaftigkeit der Bedrohung zu beantworten. Bei der einen Studie ließ sich mit geringem Aufwand schlüssig begründen, warum die Teilnehmerzahl von dreißig Ausgangspatienten auf zwölf begrenzt worden war; hier drohte ihrer Meinung nach keine Gefahr. Anders sah es bei einer Studie über den Nachweis einer speziellen Tumorerkrankung aus. Hier hatte Cleo ursprünglich rund achtzig Patienten im Versuch gehabt, von denen knapp die Hälfte keinerlei Ergebnisse geliefert hatte, während bei den anderen die Ergebnisse zuverlässig reproduzierbar waren. Das möglicherweise plausible Unterscheidungskriterium lag beim Lebensalter, wenngleich mit einer kaum tolerablen Varianz. Daher hatte sie sich entschieden, die Versuchspersonen ab einem gewissen Alter auszuscheiden, was mit den verbleibenden Fehlerquoten und einigen kleineren Eingriffen in die Datenstruktur zu einem nach wie vor beeindruckenden, statistisch signifikanten Erfolg ihrer Nachweismethode führte. Das könnte bei strenger Betrachtungsweise allerdings zu tiefgreifender Kritik an ihren Ergebnissen führen und die Studie und den vor einem Monat erschienen Artikel wertlos machen. Ein herber Rückschlag, den es zu verhindern galt, zumal sie sich fast am Ziel wähnte, ein entsprechendes Testverfahren der klinischen Erprobungsphase zuzuführen. Sollte ihr dies gelingen, wäre das ein herausragender Erfolg für sie persönlich und das gesamte Institut. Was diese Studie anging, erkannte Cleo mit Herzklopfen, war sie in der Tat erpressbar.

Der Erfolg war Cleo keinesfalls in die Wiege gelegt worden. Im Gegenteil. Alles hatte sie sich als Kind einer bildungsfernen Familie hart erarbeiten müssen. Ihr Vater war einfacher Postbeamter, ihre Mutter verdingte sich als Kassiererin in diversen Supermärkten, wenn sie nicht gerade mit einem der vier Geschwister beschäftigt war, die in annähernd regelmäßigen Abständen von zweieinhalb Jahren das Licht der Welt erblickten. Die Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung war zu klein für die siebenköpfige Familie, aber in den Postwohnblöcken im Norden Münchens gab es keine größeren Wohnungen, und am freien Markt war es aussichtslos, eine erschwingliche Wohnung zu bekommen.

So teilte sich Cleo das größere Kinderzimmer mit ihren zwei Schwestern, die beiden Brüder bewohnten das kleinere. Die Eltern schliefen in dem Neun-Quadratmeter-Raum und das Wohn- war zugleich Esszimmer, denn die Küche war winzig und nur zum Kochen da.

Als für Cleo die Frage anstand, ob sie auf das Gymnasium wechseln dürfe, war ihre Schwester Femke gerade drei Monate alt und die Mutter überfordert. Der Vater war ein Gegner der höheren Schule. Wenn Cleos Klassenlehrer nicht Dampf gemacht hätte, hätte sie statt des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums die Rudolf-Diesel-Realschule besucht und wäre vermutlich Fernmeldetechnikerin bei der Post geworden.

In der Familie blieb sie mit ihrem Bildungsweg ein Fremdkörper und war es bis heute. Das Einzige, was sie mit ihren Geschwistern verband, waren die ausgefallenen Vornamen, ein verrückter Spleen ihrer Mutter, die für ihre Kinder unverwechselbare Namen wollte. An die Hänseleien, die mit Vornamen wie Cleo Berenike, Femke Isalie, Ava Runa, Enno Damian und Veit Silas gang und gäbe waren, hatte Mutter nie gedacht.

Mittlerweile hatte Cleo sich mit ihrem Namen ausgesöhnt, unterzeichnete mit dem Kürzel CBA und wurde von etlichen Freunden und Bekannten auch so gerufen. Die Kollegstufe überstand sie dank Schüler-BAföG, was Vaters Groll besänftigte, dass sie ihm auf der Tasche lag. Für ihr Medizinstudium flüchtete sie aus München. Tübingen war Gott sei Dank weit genug entfernt, um vor Besuchen der Eltern geschützt zu sein. Mit Ausbildungsförderung und Krankennachtwachen hielt sie sich leidlich über Wasser. Als sie das erste Mal ein Skalpell in der Hand hielt und einen Nerv aus einem Unterarm herauspräparierte, wusste sie: Ich will in die Forschung.

Sie wollte immer schon den Erfolg, wollte die Erste sein – nicht nur das erste Kind von fünf Geschwistern. Als Erstgeborene lernte sie rasch, sich durchzusetzen und an vorderster Front zu kämpfen. Nummer eins, das war ihr Ding von klein auf. Klassenbeste, Jahrgangsbeste, Preise und Stipendien, das wollte sie erreichen. Für Wertschätzung und Anerkennung war sie bereit, alles zu geben. Bedingungsloser Erfolg war das Ziel, dem sie ihr Leben unterordnete. Eines Tages ganz oben zu stehen, dafür lohnte jeder Krafteinsatz. Mit jeder Faser ihres Körpers arbeitete sie daran, höchste Höhen zu erklimmen.

Keinesfalls würde sie sich von einem anonymen Feigling aus der Erfolgsspur drängen lassen. Ihre Hand griff kräftig in Ca-shinas weiches Fell; die Katze fauchte und fuhr die Krallen aus. Diese Krallen würde der Erpresser schmerzhaft zu spüren bekommen. Sie würde sich wehren, zur Not mit allen Mitteln. Erpressung? Nicht mit Cleo Berenike Ascher!

3

Der Regen hatte nachgelassen, und so war Olga beinahe trocken im Fitnessstudio angekommen. Zwar klemmte sie einen Kriminalroman unter das Gummiband auf dem Display des Crosstrainers, aber die Geschichte einer Frau, die einer anderen das Neugeborene stiehlt, um endlich selbst ein Baby großzuziehen, erschien ihr schon nach einigen Seiten weniger spannend als das Anliegen von Nina Kaul.

Die Forscherin war, entgegen dem ersten Eindruck von Müdigkeit und Magersucht, ein Energiebündel und wild entschlossen, einem Geheimnisverräter in den Reihen des Instituts auf die Schliche zu kommen. Nach kurzem Zögern hatte sich Olga bereit erklärt, das Beratungsmandat zu übernehmen und im schlimmsten Fall als Kauls Vertreterin für Schadensersatzklagen oder strafrechtliche Anschuldigungen zur Verfügung zu stehen. Dabei war ihr nach wie vor unklar, auf was genau sie sich einließ.

Die Grundüberlegung schien simpel: Kaul würde zu einer Studie, die Potenzial für ein Millionengeschäft bot, gefälschte Daten anlegen. Der Trick war, diese Daten mit einer besonderen Kennzeichnung zu versehen, die eine lückenlose Nachverfolgung ermöglichte. Dann würde sie abwarten, was mit diesen Daten geschah. Gesetzt, der vermutete Geheimnisverräter fiel darauf herein, würde er sich selbst enttarnen. Das Problem an dieser Art der Fallenstellung lag in der Fälschung der Daten. Diese könnten möglicherweise bei berechtigter Verwendung Eingang in Studien finden, welche dann kontaminiert wären – mit allen möglichen rechtlichen Konsequenzen. Olga sollte als Absicherung des Agent provocateur fungieren und als neutrale Beobachterin den Prozess dokumentieren, damit Kaul nicht wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens oder gar Forschungsbetrugs belangt werden konnte.

So weit, so gut. Prickelnd erschien Olga bei der Sache, und das bereitete ihr durchaus ein mulmiges Gefühl, dass im Hintergrund erhebliche finanzielle Interessen tangiert wurden und große Unternehmen beteiligt waren. Etwaige Schadensersatzansprüche könnten eine horrende Größenordnung und damit eine Dimension erreichen, der sie sich nicht gewachsen fühlte. Das hatte sie Kaul deutlich gemacht. Allerdings hielten weder der Hinweis, für die gewünschte Prozessbegleitung bei einem Notar rechtssicherer aufgehoben zu sein, noch ihre mangelnde Erfahrung in Wirtschaftsspionage dieses eigenartige Energiebündel davon ab, auf Olgas Mandatierung zu bestehen.

Das Leben hält stets Überraschungen parat, fand Olga und stellte den Widerstand des Crosstrainers höher. Jedenfalls war dieses Jahr voll davon. Nicht nur, dass sie über zwei Mandate in kitzlige Verfahren verwickelt worden war, sondern auch die unerwartete Wendung in ihrem Privatleben machten dieses Jahr zu einem besonderen. Früher, wenngleich zurückhaltend, den Männern zugewandt, lebte sie nun schon knapp drei Monate in einer Beziehung mit einer Frau. Manchmal fühlte sich das noch eigenartig an, aber die Zweifel, die sie anfangs verunsichert hatten, waren einer wohltuenden Selbstverständlichkeit gewichen, und wenn sie von der irritierenden Reaktion ihrer Mutter absah, hatte ihr privates Umfeld Sonja bestens aufgenommen.

»Wo bleiben denn dann meine Enkelkinder?«, hatte die Mutter verstört gefragt. Dabei müsste sie wissen, wie wenig Olga geneigt war, ihrerseits Mutter zu werden. Das vertrug sich nicht mit ihrem Ehrgeiz, beruflich auf eigenen Beinen zu stehen, und noch weniger mit ihrer sportlichen Leidenschaft des herausfordernden alpinen Kletterns, mit der sie Sonja binnen weniger Tage angesteckt hatte. In einer Woche würden sie gemeinsam die erste Kletterwoche im alpinen Gelände in den Dolomiten verbringen.

Leider konnten sie zurzeit nicht trainieren. Sonja, die ihr erfolgreiches Start-up-Unternehmen für Spracherkennung an Investoren verkauft und die operative Geschäftsführung behalten hatte, stand unter immensem Zeitdruck, ein neues Programm fertigzustellen. Sie saß beinahe rund um die Uhr vor ihrem Computer. Unfreiwillig machte daher ihre Beziehung eine Verschnaufpause. So verbrachte Olga die Abende meistens in der eigenen Wohnung und stellte fest, dass sie sich schon an das gemeinsame Leben mit Sonja gewöhnt hatte.

In Augenblicken des Zweifels fragte sie sich, ob es gut war, ihre Eigenständigkeit in dieser Beziehung aufgehen zu lassen, aber solange sie nicht das Gefühl hatte, sich zu verlieren, sondern sich schlicht und einfach geborgen fühlte, gab sie den Zweifeln keinen Raum.

Trotzdem würde sie morgen, wenn der Wetterbericht recht behielt, mit ihrem Kletterkumpel Frieder in die Berge fahren und am Zugspitzmassiv eine Big-Wall-Route in Angriff nehmen. Wenigstens sie wäre trainiert, wenn es in acht Tagen nach Wolkenstein ging.

Nachdem sie ausgiebig geduscht hatte, gab sie ihrem Kaffeevollautomaten eine Chance, sich mit seinem vertrauten Knarzen mit einer Crema um ihr leibliches Wohl verdient zu machen, und beschloss, an diesem langweiligen Freitag nicht mehr in die Kanzlei zu gehen. Während sie sich an den Küchentisch setzte, dachte sie an Muriel. Die Goldschmiedin, mit der Olga oft Espresso getrunken und über Gott und die Welt gesprochen hatte, war aktuell auf Weltreise. Wie sie die Neuigkeit von Sonja aufnehmen würde? Olga öffnete ihr Tablet und klickte auf Muriels Reiseblog. Der letzte Eintrag datierte von vorgestern und war ein begeisterter Bericht über einen nächtlichen Ausflug auf den Mount Bromo. Muriel wusste das Leben zu genießen.

Fasziniert blätterte Olga durch die Reiseberichte der letzten Wochen, als der Klingelton ihres Smartphones ertönte. Anonym stand auf dem Display. Kurz unschlüssig nahm Olga das Gespräch entgegen.

»Hier Kaul. Können Sie zu mir kommen?« Ihre neue Mandantin klang aufgeregt.

»Warum?«

»Bei mir wurde eingebrochen.«

»Haben Sie die Polizei verständigt?«

»Keine Polizei.«

»Warum?«

»Keine Polizei, da bin ich allergisch«, antwortete Kaul panisch.

»Darf ich einen Freund mitbringen?«, fragte Olga irritiert.

»Wer wäre das?«

»Mein Privatermittler.«

»Einverstanden.«

Es war eine halbe Stunde mit dem Fahrrad. Gut, dass die Kaltfront abgezogen und es wieder trocken geworden war. Während Olga durch die Stadt radelte, versuchte sie, Alex Sorger zu erreichen, mit dem sie schon zwei spannende Fälle recherchiert hatte. Nach dem vierten Klingeln nahm Alex das Gespräch entgegen und versprach, in einer halben Stunde in Großhadern zu sein, um den Einbruch zu begutachten.

Kaul erwartete Olga bereits vor der Haustür und führte sie in die Erdgeschoßwohnung. Olga hatte kreatives Chaos erwartet, aber auf den ersten Blick schien alles in den spartanisch eingerichteten Zimmern in Ordnung zu sein. Kaul, die einen gefassten Eindruck vermittelte, führte sie ins Wohnzimmer und zeigte auf das kreisrunde Loch in der Glastür. »Hier hat jemand einen Glasschneider angesetzt und die Tür geöffnet«, erläuterte sie mit zittriger Stimme. Auf dem mit weißen Fliesen ausgelegten Terrassenboden waren zwei Schuhabdrücke zu erkennen. Der Einbrecher hatte sich offensichtlich keine Mühe gemacht, seine Spuren zu verwischen.

»Der wusste genau, was er wollte«, fuhr Kaul fort. Sie deutete auf die Regalwand an der Stirnseite des Wohnzimmers. Die beiden unteren Reihen waren mit weiß verblendeten Schubladen versehen, eine davon stand offen. »Da liegt immer mein Laptop. Jetzt ist er verschwunden.«

»Fehlt sonst etwas?«

Kaul schüttelte den Kopf.

Es schellte an der Wohnungstür. Sie empfingen Alex Sorger, Olga stellte die beiden einander vor. Er trug einen Aktenkoffer bei sich und fragte, wo der Eindringling die Wohnung betreten habe. Er ging ins Wohnzimmer, sah die Abdrücke auf der Terrasse und nahm diese mit zwei Klebefolien auf. Dann staubte er mit einer Magna Brush das Glas der Balkontür ein und fand einen Fingerabdruck, den er ebenfalls mit einer Folie sicherte.

»Wenn wir einen Verdächtigen hätten«, bemerkte er, »könnten wir ihn überprüfen. Haben Sie einen Verdacht?«

»Es muss jemand aus dem Institut sein, der schon einmal bei mir zu Hause war«, antwortete Kaul. »Wie sonst könnte der Einbrecher sofort meinen Laptop gefunden haben?«

»Fehlt mehr?«

»Nein. Wenn ich es richtig sehe, hat er an keiner anderen Stelle gesucht. Alles unberührt, soweit ich es beurteilen kann.«

»Warum wollen Sie den Einbruch nicht von der Polizei aufnehmen lassen?«, fragte Alex. »Sie bräuchten das Protokoll für Ihre Versicherung.«

»Erstens bin ich nicht versichert«, antwortete Kaul, »und zweitens will ich keine Aufmerksamkeit auf mich und meine Probleme lenken. Meine Rechtsanwältin weiß, wovon ich spreche. Es geht um Forschungsspionage und meinen Versuch, selbstständig eine Aufklärung zu erreichen.«

»Auf Ihrem Laptop befinden sich begehrte Unterlagen?«

»Worauf Sie wetten können. Die Dateien sind in den richtigen Händen Millionen wert.« Nina Kaul verknotete die Finger ineinander und schaute Alex durchdringend an. »Frau Swatschuk sagte, Sie seien Privatdetektiv. Stimmt das?«

»Ja.«

»Dann holen Sie mir mein MacBook zurück!«

»Wo soll ich suchen?«

»Ich könnte Ihnen eine Namensliste geben.«

»Ich verfüge über keinerlei Befugnisse.«

»Fantasie wäre sowieso besser«, erwiderte Kaul kaltschnäuzig. »Nehmen Sie den Auftrag an?«

Die nassforsche Art der Ärztin verblüffte Olga.

Alex schaute fragend, ehe er gedehnt erwiderte: »Vielleicht sollten wir vorher die Honorarfrage klären?«

»Zweihundert Euro Fixum, zweitausend im Erfolgsfall«, war Kaul sofort mit einem Angebot bei der Hand.

Alex lachte schallend und schüttelte den Kopf. »Sie müssten mich stundenweise zahlen, und zwar unabhängig vom Erfolg. Nein, wir kommen nicht ins Geschäft. Hier, die Abdrucksicherung schenke ich Ihnen, und für alles andere wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Auf Wiedersehen.« Alex drückte ihr die drei Folien in die Hand, schloss den Aktenkoffer mit den Utensilien der Spurensicherung und ging aus dem Zimmer.

»Halt«, rief Kaul. »Ich akzeptiere Ihre Bedingungen!«

»Sie wissen ja gar nicht, wie viel ich will«, wehrte Alex ab, drehte sich zu ihr um und schaute ihr in die Augen.

»Werd’s mir leisten können.« Das klang trotzig.

»Weil Sie es sind, 80 Euro die Stunde.«

Das klang ironisch. Alex wandte sich zum Gehen.

»Abgemacht.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Er zwinkerte Olga zu und schlug ein.

4

Seite an Seite radelte Alex mit Olga zurück Richtung Schwabing, ehe sie sich kurz vor Olgas Wohnung voneinander verabschiedeten. Was an Abstimmung zunächst erforderlich war, hatten sie im leichten Fahrtwind geklärt. Nun fuhr Alex in sein Innenstadtbüro, wo er sich an den Computer setzte und die Homepage des BaRCOSI studierte.

Von dem Ziel des Instituts, fundamentale Therapieansätze gegen Krebs, Infektionen und Autoimmunerkrankungen zu erforschen und erfolgreiche Medikamente zu entwickeln, war Alex tief beeindruckt. Obwohl die Details für ihn ein Buch mit sieben Siegeln waren, konnte er sich lebhaft vorstellen, wie viel Geld mit diesen hochmodernen Arzneien verdient werden konnte. Forschungsspionage lohnte sich. Er hielt es für folgerichtig, dass sich Kaul mit ihrer Suche nach dem Verräter in den eigenen Reihen persönlich engagierte. Trotzdem war sie ihm suspekt, ohne sagen zu können, was ihm an ihr fragwürdig vorkam. Sie wirkte von Anbeginn an unsympathisch in ihrer etwas ungepflegten Erscheinung. Trotzdem durfte das keinen Einfluss auf ihn haben. Das forderte er von sich selbst, gerade weil ihm bewusst war, wie sehr ihn Sympathie und Antipathie berührten.

Eher war es ihre kompromisslose Art, mit der sie an die Sache heranging. Ihr Vorhaben, als Agent provocateur einen Verräter zu überführen und dabei das Risiko auf sich zu nehmen, mit gefälschten Forschungsdaten möglicherweise ins Visier von Ombudsleuten für gute wissenschaftliche Praxis zu geraten, erschien ihm befremdlich. Was trieb Nina Kaul an? Warum wollte sie so viel riskieren? Wofür? Feinde hatte sie sich schon gemacht, wie sonst erklärten sich der Einbruch in ihrer Wohnung und der Diebstahl des Laptops?

Viele Fragen und zunächst keine Antworten. Das wiederum reizte Alex, und er machte sich daran, die Namen von Kauls Liste durchzuarbeiten. Zu jeder Person fanden sich einige Zeilen im Mitarbeiterverzeichnis des Instituts. Nicht nur ein Mensch darunter erwies sich als interessante Persönlichkeit. Alex fing an, Blut zu lecken.

Vor zweieinhalb Monaten hatte er bei der Suche nach einem vermissten Arzt gelernt, wie aufschlussreich es sein konnte, bei wissenschaftlichen Aufsätzen die Reihe der jeweiligen Co-Autoren zu studieren. Daraus ließen sich die Netzwerke erschließen, in welche die unterschiedlichen Wissenschaftler eingebunden waren. Die Homepage des BaRCOSI wies ausführliche Listen aller Artikel auf, die in den letzten Jahren von Mitarbeitern des Instituts veröffentlicht worden waren. Eine wahre Fundgrube. Alex wertete Publikation für Publikation aus und erarbeitete nach und nach ein Diagramm für die unterschiedlichen Autorengruppen. Dabei stellte er bereits bei der Auswertung eines Jahrgangs fest, dass sich die Arbeitsgruppen des Instituts in den Autorengruppen spiegelten und es etliche Querverbindungen unter den Institutsabteilungen gab. Zudem war eine beträchtliche Anzahl der Co-Autoren anderen Einrichtungen zuzurechnen. Nach zwei Stunden Recherche legte Alex seine Übersicht zufrieden beiseite. Feierabend. In einer Stunde war er mit seiner Freundin zum Abendessen verabredet.

»Na, süßer Sherlock«, begrüßte Dorothee ihn auf der Straße vor der Brasserie und drückte ihm einen trockenen Kuss auf die Lippen. »Was hat dieser Freitag für dich gebracht?«

»Lass uns hineingehen«, antwortete Alex und hakte sie unter. »Bei einem Glas Wein spricht es sich leichter.«

Sie gab ihm, was sie gerne tat, einen Klaps auf den Hintern und ließ sich in das französische Lokal führen, dessen Mobiliar an eine Kneipe in den Banlieues von Paris erinnerte, beinahe wie ein Fernfahrerlokal, das weit über das Departement hinaus für sein vorzügliches Essen bekannt war. Ohne Vorbestellung ging hier an einem Freitagabend gar nichts. Henry und Christophe tischten Woche für Woche provencalische Köstlichkeiten auf, die sie mit Kreide auf eine Tafel schrieben und gern mündlich erläuterten. Dorothee liebte diese Brasserie und genoss es, mit Henry oder Christophe – je nachdem, wer von beiden aus der Küche kam, um die Gäste zu verführen – französisch zu parlieren und einen kulinarischen Flirt einzugehen, dessen Ergebnis Alex dann ungefragt serviert bekam.

Freitags wurde er allerdings nicht allzu sehr überrascht, denn Freitag war bei Henry und Christophe Bouillabaisse-Tag. Mit dieser köstlichen Fischsuppe hatten die beiden es – sehr zu Dorothees Bedauern – schon in die Restaurantempfehlungen einer großen Münchner Tageszeitung geschafft, weshalb man seitdem am Freitag nicht mehr spontan hierher gehen konnte.

»Nun, mein Fotograf?«, insistierte Dorothee und spielte auf ihr Kennenlernen in einem Münchner Biergarten vor rund elf Wochen an.

Er hatte nicht rundheraus verraten wollen, mit welcher Arbeit er seine Brötchen verdiente, sondern sich zunächst als Fotograf vorgestellt, und in der Tat hatte sich in den letzten Wochen an einigen Kleinigkeiten gezeigt, dass seine Art der Interpretation eines Privatermittlers ab und zu das Missfallen der engagierten Staatsanwältin erregte. Dabei hatte Alex es tunlichst vermieden, ihr über den einen oder anderen Kunstkniff der Erkenntnisgewinnung reinen Wein einzuschenken. Manchmal hätte Alex es vorgezogen, ihr gar nichts von seiner Arbeit zu erzählen. Doch erstens war Dorothee notorisch neugierig und zweitens war sie in vielerlei Hinsicht hilfreich mit ihren oft unkonventionellen Ideen. Sie brachte sich gern in seine Ermittlungen ein, solange sie den Eindruck hatte, alles gehorche Recht und Gesetz. Von daher war jede Unterhaltung mit Dorothee über seine spannenden Fälle ein Ritt auf der Rasierklinge. Obwohl Alex inzwischen über fünfzig Jahre alt und mehr als zehn Jahre im Privatermittlergewerbe war, ignorierte er Rechtsvorschriften, wenn es im übergeordneten Sinn der Gerechtigkeit diente.

Heute hatte er jedoch keine Bedenken, Dorothee ins Bild zu setzen. Sie lauschte über das Amuse-Bouche hinaus aufmerksam seinem Bericht.

»Forschungsspionage entwickelt sich zunehmend zu einem wichtigen Ermittlungsfeld«, bemerkte Dorothee. »Wir haben bei den Verfolgungsbehörden viel zu wenig Expertise. Warum will diese Doktor Kaul keine Polizei?«

»Sie ist nicht versichert und will keine Aufmerksamkeit.«

»Ist die Dame paranoid?«

Alex zuckte mit den Achseln. »Kann sein, aber es geht um wertvolle Ergebnisse. Immerhin wurde bei ihr eingebrochen, irgendjemand ist also hinter ihren Erkenntnissen her.«

»Verspricht ein spannender Fall zu werden. Handfester als die Sache mit den Organspenden in dem Schweizer Privatklinikum.«

»Ärgert es dich immer noch, dass die Kollegen kein Interesse gezeigt haben, mit den Schweizern Ermittlungen aufzunehmen?«

»Ach Sherlock, mich ärgert vieles an meiner Behörde. Schwamm drüber.« Sie trank ihr Weinglas leer und winkte Henry.

»Madame?«, fragte er mit kokettem Unterton.

Wenn Alex nicht gewusst hätte, dass Henry und Christophe seit Jahren ein unzertrennliches Paar waren und sofort, nachdem es möglich geworden war, eine eingetragene Lebensgemeinschaft eingegangen waren, wäre er vermutlich eifersüchtig geworden. So aber ließ er Dorothee für die Fischsuppe einen üppigen Chardonnay ordern und freute sich, dass sie an seinem Fall Anteil nahm.

»Erst neulich«, wechselte Dorothee zurück zu Kauls Pro-blem, »habe ich auf der Seite des sächsischen Verfassungsschutzes Hinweise zu Wissenschaftsspionage gelesen. Das ist echt ein heißes Eisen.«

»In der Tat werden vom Ausland wohl immer wieder Nachwuchswissenschaftler bei uns eingeschleust, die dann nach Hause berichten«, pflichtete Alex ihr bei. »In Kauls Institut tummeln sich etliche Amerikaner und Chinesen, die man verdächtigen könnte. Was hältst du von Kauls Plan, dem Verräter mit gefälschten Daten eine Falle zu stellen?«

»Pfiffig, aber riskant.«

»Inwiefern?«

»Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob das Bereitstellen gefälschter Forschungsdaten rechtswidrig ist. Falls ja, wäre zu prüfen, ob die Absicht, einen Geheimnisverräter zu überführen, die Rechtswidrigkeit aufhebt.«

»Klingt kompliziert.«

»Ist es. Über diese Fallgestaltung habe ich noch nicht nachgedacht.«

»Vielleicht besser so«, erwiderte Alex, der befürchtete, Dorothee könnte im Verlauf der Diskussion Einwände entwickeln, die ihn möglicherweise daran hinderten, Olga zu unterstützen. Doch er hatte die Rechnung ohne Dorothees Leidenschaft an strafrechtlichen Fragestellungen gemacht.

»Nein, das interessiert mich jetzt, und spätestens nächste Woche habe ich dazu eine Meinung«, bekräftigte Dorothee ihren Anspruch, möglichst vielen Dingen auf den Grund zu gehen.

Alex bemerkte das Funkeln in ihren Augen und stellte einmal mehr fest, wie schwierig es war, ihr etwas zu verheimlichen.

»Solange du dich von Datenmanipulationen fernhältst, habe ich gegen deinen Auftrag keine Bedenken«, beschwichtigte sie ihn.

»Gott sei Dank, dann musst du mich nicht verhaften lassen.« Alex lachte gequält und war froh, dass Christophe die Bouillabaisse servierte.

Sofort fokussierte sich die Wahrnehmung auf die grandiose Fischsuppe, deren eines Geheimnis in den zarten festen Fischstücken vieler unterschiedlicher Meeresfische lag, die Henry und Christophe erst gegen Ende in die Suppe legten. Das zweite Geheimnis versteckte sich in der Zubereitung des Gemüses, und kein Augenaufschlag der Welt konnte Henry oder Christophe die Details entlocken. Jedenfalls schmeckte die Bouillabaisse derart köstlich, dass Alex und Dorothee eine Viertelstunde kaum über Hmmms und Aahhs und Oohhs hinauskamen.

Diese lustvolle Art zu genießen mochte Alex an Dorothee, die er in den elf Wochen ihrer Beziehung als unverkrampfte und selbstbewusste Frau erlebt hatte. Sie wusste, was sie wollte, und sie wusste es sich zu nehmen. Manchmal brachte sie ihn damit an den Rand seines Leistungsvermögens, sowohl intellektuell als auch körperlich. Das waren die Momente, die seine versteckten Zweifel nährten, ob sie für längere Zeit zueinanderpassten. Sie war klüger und gebildeter als er, ihr beruflicher Ehrgeiz kannte wenig Grenzen und schien, seit sie von ihrem Fahrradunfall vor zehn Wochen genesen war, eher angewachsen zu sein.

Im Gegensatz dazu hielt sich Alex für genügsam. Zwar machte es ihm Freude, neben dem Alltagsgeschäft, das darin bestand, untreuen Ehemännern aufzulauern, die eine oder andere ungewöhnliche Ermittlung durchzuführen, doch in erster Linie reichte es ihm aus, mit seinem Detektivbüro seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn es einen Bereich gab, in dem er sich für engagiert hielt, war es jener, den er mit dem Wort Gerechtigkeit umschreiben würde. Wo sich schreiende Ungerechtigkeit zeigte, drängte es ihn, etwas dagegen zu unternehmen. Aber da ging es um wenige Einzelfälle, für das große Ganze sah er sich mit nüchternem Blick als viel zu kleines Rädchen im Getriebe des Welttheaters.

Dorothee war aus anderem Holz geschnitzt. Außerdem interessierte sie sich viel mehr für Politik und Kultur als er selbst. Alex vermeinte bereits eine gewisse Enttäuschung bei ihr zu spüren, dass er sich nicht zu einem Theaterfreak entwickelt hatte. Wenn es nichts zu tun gab, erfreute sich Alex an gemütlichen Wochenenden, die er gern am Tegernsee beim Stand-up-Paddeln verbrachte oder mit geruhsamen Wanderungen auf die eine oder andere Alm. Auch da fehlte ihm etwas von der Energie, die Dorothee auszeichnete.

Trotz seiner Zweifel war er nach wie vor verliebt. Dabei zuzuschauen, wie sie ihren Löffel mit Fischsuppe genussvoll an den Mund führte, löste Zärtlichkeitsgefühle in ihm aus. Gerade spielte ihre Zungenspitze mit dem Löffel, eine kokette Geste als Versprechen für den restlichen Abend. Er prostete ihr augenzwinkernd mit dem letzten Schluck Chardonnay zu.

»Wenn sie keine Polizei will, hat sie etwas zu verbergen«, sagte Dorothee und bewies damit, wie sehr sie Lunte gerochen hatte. »Es würde mir Spaß machen, deine Auftraggeberin ein wenig in die Mangel zu nehmen.«

»Ach Bärchen, du siehst weiße Mäuse«, winkte Alex ab. »Die Polizei findet ihren Laptop noch weniger als ich.«

»Oh, bin ich Sherlock auf die Zehen getreten«, hänselte sie ihn. »Hoffentlich bist du nicht geknickt.« Sie grinste verschmitzt.

Alex warf ihr eine Kusshand zu.

5

Olga schlief unruhig und wachte von ihrem Albtraum auf, der sie seit ihrem Sturz am Grand Capucin verfolgte. Ein Blick auf die roten Leuchtzahlen ihres altmodischen Radioweckers und sie wusste, es war zu früh zum Aufstehen. 01:17 Uhr. Zum Einschlafen war es zu spät. Unwillkürlich tastete sie neben sich; das Bett war leer. Am Abend noch hatte Sonja ihr abgesagt. Sie kam nicht von ihrem Computer los, weil sie für den Investor, der ihr Start-up übernommen hatte, ein Programm finalisieren musste.

Wehmütig stellte Olga fest, wie sehr ihr die Freundin fehlte. Aber heute wollte sie sich keiner Melancholie hingeben. In knapp zwei Stunden würde Frieder an der Tür klingeln und sie würde sich von ihm nach Ehrwald fahren lassen. Eine herausfordernde Klettertour stand auf dem Programm. Endlich wieder eine Big-Wall-Kletterei.

Olga schälte sich aus der Bettdecke, schlurfte in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Dann sprang sie unter die Dusche und setzte sich erfrischt in ihrer Küche an den Tisch zu einem kargen Frühstück. Mitten in der Nacht brachte sie außer Kaffee kaum etwas hinunter, kaute nachdenklich auf einem Toastbrot herum und studierte die topografische Skizze für die Aquaria.

Olga spürte einen Hauch von Nervenkitzel, denn die gut 1.000 Höhenmeter zu klettern war eine Herausforderung. Wenigstens werde ich heute Abend rechtschaffen müde sein, dachte sie und trank eine weitere Crema. Dabei schweiften ihre Gedanken zu ihrer neuen Mandantin. Um den gestohlene Laptop würde sich Alex kümmern. Der frühere Kriminalkommissar half ihr öfter bei Recherchen zu anspruchsvollen Fällen. Sie schätzte seine pfiffigen Ideen ebenso wie seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, dem er ab und zu sogar seine Rechtstreue unterordnete. Besonders hilfreich war das vor drei Monaten gewesen, als sie im Rahmen einer Pflichtverteidigung nur durch unlautere Ermittlungen einem perfiden Betrüger-Duo auf die Schliche gekommen waren.

Allerdings, bedauerte Olga, muss Alex mehr als früher die Regeln des Rechtsstaats respektieren, seit er mit einer Staatsanwältin liiert ist. Das könnte im weiteren Verlauf der Ermittlungen zu dem Wissenschaftsspion im Umfeld von Nina Kaul spannend werden. Wie viel würde Alex seiner Freundin erzählen und was würde sie zu Kauls Plan sagen, dem Verräter mithilfe gefälschter Daten auf die Schliche zu kommen? Sie dürfte skeptisch sein, überlegte Olga und kam selbst ebenfalls zu einer vorsichtigen Haltung. Was, wenn die gefälschten Daten Eingang in die Ergebnisse der jeweiligen Untersuchungen fänden? Wären die entsprechenden Studien dann wertlos? Drohte der Verlust von Fördergeldern? Wären Schadensersatzansprüche zu befürchten? Fragen über Fragen, die sich nicht ohne Weiteres klären ließen.