Liebe meine Farben - Georg Brun - E-Book

Liebe meine Farben E-Book

Georg Brun

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Beschreibung

Ein Mann stirbt abrupt auf einer Bank am Lindauer Hafen. Herzversagen? Sein Freund Michael will es nicht wahrhaben und sucht nach Antworten. Gemeinsam mit Professor Brückner heuert er Nathan Weiß an. Doch schon bald wird klar: Dies war kein natürlicher Tod, sondern Mord. Der verstorbene Roland Kundl verstrickte sich in gefährliche Geldgeschäfte, von Geldwäsche bis hin zu Anlagebetrug. Der Fall wird komplex, doch Nathan blüht in diesem mysteriösen Netz aus Lügen auf. Seine Leidenschaft für die Wahrheit treibt ihn an. Am Vierwaldstätter See wird ein ehemaliger Finanzhai erschossen, gerade, bevor er als Kronzeuge in einem medial aufgeheizten Prozess aussagen sollte. Die Schweizer Polizei steht vor einem Rätsel. Gibt es eine Verbindung zwischen den Fällen? Und welche Rolle spielt die leidenschaftliche Malerin, die von ihrem Traum, das perfekte Gemälde aller Grautöne zu malen, besessen ist? Ihre Bilder finden reißenden Absatz, hinter den Farben verbirgt sich aber ein düsteres Geheimnis.

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Seitenzahl: 390

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© Jeannine Bachmann

In München im Jahr 1958 geboren, ist Georg Brun mit einigen Abstechern stets ein »Münchner Kindl« geblieben. Auf mehrere Jahre im Bayerischen Landeskriminalamt und das Jura-Studium folgte eine langjährige Tätigkeit im Wissenschaftsministerium. Als Georg Brun im Jahr 1988 mit »Das Vermächtnis der Juliane Hall« sein erstes Buch veröffentlichte und dafür den Bayerischen Förderpreis für Literatur erhielt, begann sein erfüllendes Doppelleben als Jurist und Schriftsteller.

Mit »Bodenloser Fall«, »Gewissenlose Wege« und »Grenzenlose Gier« erschien seine München-Krimi-Reihe rund um die junge Anwältin Olga Swatschuk. »Spüre meinen Zorn« war der erste packende Fall des pensionierten Kommissars Nathan Weiß, der in »Liebe meine Farben« nun seine Fortsetzung findet. Diese Bücher sind im Bookspot Verlag erschienen.

Mehr über den Autor unter www.georgbrun.de oder auf Instagram unter: @brungeorg

 

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

 

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2023 bei Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

 

Lektorat: Johanna Gerhard

Korrektorat: Andreas März

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design

Titelmotive: © Adobe Stock/Hixel

 

eISBN: 978-3-95669-201-7

Die Begehrlichkeit kennt keine Schranken, nur Steigerung.

Seneca, Abhandlungen

In freundschaftlicher VerbundenheitHerrn Professor Wolfgang Schürer zugeeignet.

1

Roland Kundl saß auf der Holzbank vor der Kaimauer und beobachtete die Einfahrt der MS Sonnenkönigin. Das hochmoderne Schiff faszinierte ihn jedes Mal, wenn er es sah. Was für ein Kontrast zwischen dem im Sonnenlicht flirrenden Bootskörper und dem altehrwürdigen bayerischen Steinlöwen, der die Lindauer Hafeneinfahrt bewachte. Tradition und Moderne auf einen Blick, schwärmte Kundl und vergaß für einige Augenblicke seine Sorgen. Wie in Zeitlupe drehte die Sonnenkönigin im engen Hafenbecken, näherte sich mit dem Heck der Kaimauer und legte längs an dem Steg an. Schon wurden die beiden Gitterbrücken auf den Landungssteg geschoben und die ersten Passagiere verließen das Schiff.

Kindheitserinnerungen wurden wach. Als kleiner Bub war Kundl mit seiner Großmutter oft Dampfer gefahren, von Lindau hinüber nach Rorschach in die Schweiz, um dort einzukaufen. Heute konnte man sich das gar nicht mehr vorstellen. Heute fuhren die Schweizer mit ihrem wertvollen Franken nach Bregenz oder Lindau zum Shoppen. Damals war vieles in der Schweiz deutlich billiger als in Deutschland gewesen, und die Oma hatte unter anderem stets einige Kilogramm Butter gekauft. Der kleine Roland hatte eine Tafel Schokolade als Belohnung dafür bekommen, dass er Großmutter begleitete.

Diese Fahrten über den Bodensee, hinüber zu seinem Südufer, waren für Kundl wie Reisen in eine andere Welt gewesen. Selbst heute hatten die Erinnerungen noch den Anstrich von einem Aufbruch in die weite Welt. Damals wie heute fand Roland Kundl die Schiffspassagen aufregend. Allerdings war aus Omas Butter in den letzten Jahren Bargeld geworden, das er ohne die vorgeschriebene Deklarierung über die Grenze brachte. Diese Botengänge bereiteten ihm zunehmend Kopfzerbrechen und trugen zu den Sorgen bei, die ihm durch den Kopf schwirrten, nachdem die meisten Passagiere die Sonnenkönigin verlassen hatten. Kundl trug sich mit dem Gedanken, sich bei der Zoll- und Steuerfahndung als Kronzeuge zur Verfügung zu stellen, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, von der er ahnte, dass sie sich zuzog. In seiner privaten Telefonanlage vernahm er seit einigen Tagen ein verräterisches Knistern, wenn er ein Gespräch entgegennahm. Er hatte den Verdacht, abgehört zu werden. Ebenso war ihm in den letzten zwei Wochen ein betont unauffällig wirkender Mann aufgefallen, der ihm wie zufällig mal beim Einkaufen, mal in der Regionalbahn oder auf dem Schiff begegnete, und der ab und zu unter den Arkaden stand und Zeitung las, als wartete er nur darauf, dass Roland sein Büro verließ.

Ich werde überwacht, sorgte sich Kundl. Zwar hielt er diese Art der Beschattung für wenig professionell, schließlich stellte er sich vor, dass eine perfekte Überwachung vom Beschatteten nicht bemerkt wurde, aber seine langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, wie stümperhaft die Behörden oftmals vorgingen. Daher war er sicher, die Zoll- oder Steuerfahndung am Hals zu haben. Wollte er heil davonkommen, halfen wohl nur eine Selbstanzeige und die Bereitschaft, als Kronzeuge auszusagen.

Die Nachmittagssonne tauchte den Hafen in mildes Licht, passend zu der lockeren Stimmung nach einem gedrückten Frühjahr, das von dieser unheimlichen Pandemie geprägt gewesen war. Nun genossen die Menschen ihre Freiheiten, und auch wenn man mit gewissen Einschränkungen leben musste, versprach dieser Sommer Lebensfreude und Frohsinn. Kundl wollte dieses wiedergewonnene Lebensgefühl genießen und sich von seinen Sorgen befreien. Später wollte er sich daher mit seinem Freund und Anwalt treffen, um über Art und Weise der Selbstanzeige zu beraten.

Der Löwe an der Hafeneinfahrt strahlte in einem leichten Honigschimmer. Kundl liebte diesen Anblick. Er achtete kaum auf den Mann, der sich mit einem knappen Kopfnicken neben ihn setzte. Vermutlich ein überängstlicher Zeitgenosse, denn er trug als einer der wenigen im Freien eine FFP2-Maske und weiße Handschuhe, stellte Kundl fest und erfreute sich weiter am Anblick des steinernen Löwen und altehrwürdigen Leuchtturms.

Der Maskenmann rückte näher an ihn heran. Aus dem Augenwinkel sah Kundl eine Ausholbewegung seines Nachbarn und spürte einen Stich im Nacken. Schon wieder Mücken unterwegs, ärgerte sich Kundl und schlug nach dem Insekt. Der Maskenmann stand auf und schlenderte Richtung Sonnenkönigin. Roland Kundl blickte ihm hinterher. Komischer Zeitgenosse, dachte er, dann kippte er langsam zur Seite.

• • •

Michael Borrat saß an seinem Schreibtisch und schüttelte den Kopf. Soeben hatte er das Telefongespräch mit dem Lindauer Krankenhaus beendet. Er mochte es noch nicht wahrhaben, aber die Nachricht war niederschmetternd: Roland Kundl war tot. Zusammengebrochen am Hafen mit einem Herzinfarkt, die Reanimation war erfolglos geblieben.

Roland trug in seiner Geldbörse neben dem Organspenderausweis stets das Kärtchen bei sich, auf dem stand: Bei Unfall o. ä. Rechtsanwalt Michael Borrat verständigen. Und natürlich seine Kontaktdaten. Roland hatte keine nahen Angehörigen, daher musste Borrat mit der bei ihm hinterlegten Patientenverfügung ins Krankenhaus fahren und dort seine Zustimmung zur Organentnahme geben.

Borrat konnte es nicht fassen; sein Freund Roland war stets kerngesund und sportlich gewesen. Herzinfarkt? Aus heiterem Himmel? Unglaublich. Wieder schüttelte Borrat den Kopf. Er stand auf und holte Rolands Akte aus dem Wandschrank. Neben der Abschrift des bei einem Notar verwahrten Testaments fand sich die Patientenverfügung mit der ausdrücklichen Anweisung, bei Feststellung des Hirntodes alle brauchbaren Organe für die medizinische Spende freizugeben und auf künstliche lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten. Borrat schluckte. Das also war jetzt der letzte Freundschaftsdienst, den er Roland leisten musste. Eine bittere Pille. Dabei waren sie beide erst 49 Jahre alt, Freunde seit der ersten Klasse in der Grundschule, vielfach miteinander durch dick und dünn gegangen. Borrat spürte seine Augen feucht werden. Armer Kerl, dachte er, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, nahm die Unterlagen aus dem Aktenordner, steckte sie in die schmale Dokumententasche, schlüpfte in die Sommersandalen und verließ sein Büro.

Was hat ihn so aufgeregt, dass er aus den Latschen gekippt ist, fragte sich Borrat auf dem Weg ins Klinikum. Eigentlich hatten sie sich in rund einer Stunde zu einem rechtlichen Gedankenaustausch treffen wollen. Roland hatte es dringlich gemacht. Er war aufgeregt gewesen, aber er hatte nicht gesagt, um was es ging. Sorgen, ja, Sorgen hatte sich Roland in letzter Zeit viele gemacht, und Borrat hatte durchaus eine Ahnung, worüber.

Die Bandagen in Rolands Branche sind hart geworden, da kann man schon mal in die Bredouille geraten. Aber sich so aufregen, dass man mit einem Herzinfarkt am Lindauer Hafen zusammenklappt? So ein Infarkt müsste sich doch andeuten, überlegte er, schließlich war sein Freund ein passionierter Bergläufer und trotz seines Alters in der Lage gewesen, zweitausend Höhenmeter in drei Stunden hochzulaufen. Über Herzbeschwerden hatte er nie geklagt, im Gegenteil: Während er selbst den Puls oft bis zum Anschlag trieb, war Roland selten in den obersten roten Bereich gekommen, und auch beim gemeinsamen Mountainbiken auf den Pfänder hinauf, wenn sie mal richtig am »Kondition bolzen« gewesen waren, schien Roland im Gegensatz zu Michael immer locker geblieben und kaum aus der Puste gekommen zu sein.

Wie Borrat es auch drehte und wendete, er verstand es nicht. Roland war einfach zu durchtrainiert gewesen, da starb man nicht in der Sonne am Hafenbecken. Oder?

Borrat mochte sich einfach nicht vorstellen, nie wieder mit seinem Freund aus Kindertagen auf der Terrasse ihrer Lieblingskneipe zu sitzen und über den Bodensee zu blicken, nicht mehr schwer atmend hinter ihm die Wege auf den Pfänder zu rennen oder mit dem Bike hinaufzustrampeln und vom Funkmast aus den Blick über den majestätisch unter ihnen liegenden See schweifen zu lassen. Konnte es wahrhaftig sein, keine Revanche mehr für das letzte Matt am Schachbrett zu erhalten? Eingefleischte Junggesellen, die sie beide waren, hatten sie ihre gemeinsamen Rituale gepflegt und sich mindestens einmal die Woche getroffen. Aus und vorbei. Es würde seine Zeit dauern, bis Borrat die Endgültigkeit begreifen und akzeptieren konnte. Er schluckte und wischte sich erneut eine Träne aus dem Augenwinkel, dann betrat er den Haupteingang des Klinikums und fragte sich zu der Station durch, auf der Rolands Körper versorgt wurde, um die Spenderorgane in gutem Zustand zu erhalten.

»Leider wurde der Notarzt zu spät alarmiert«, berichtete der Oberarzt der Intensivstation. »Der Patient wurde zwar reanimiert und mit Kreislauf eingeliefert, aber dann haben wir ihn verloren.«

»Was ist mit ihm?«, fragte Michael verzweifelt.

»Er ist tot, wird aber noch beatmet. Wir gehen davon aus, dass der Patient eine knappe Viertelstunde wie schlafend auf dieser Bank am Hafenbecken lag, ehe jemand den Notruf auslöste. Ein tragischer Fall. Wenn man sofort hätte handeln können …« Der Arzt beendete den Satz nicht. »Sie also sind der befugte Angehörige, uns die Freigabe für die Organentnahme zu bestätigen?«

»Ja, ich bin Roland Kundls bester Freund und von ihm mit diesen Aufgaben betraut worden.«

»Mein herzliches Beileid. Würden Sie mich bitte in mein Büro begleiten? Dort müssen wir den Papierkram erledigen.«

»Die Todesursache ist eindeutig?«

»Herzversagen«, bestätigte der Arzt, während sie einen schummrigen Flur entlangliefen. »Ihr Freund war im gefährlichen Alter. Ende 40 kommt das bei Männern gehäuft vor. Leider.«

»Aber Roland war sportlich, nicht übergewichtig, hat nicht geraucht und wenig Alkohol konsumiert, hat sich vernünftig ernährt und nie über Beschwerden geklagt«, wandte Borrat ein.

»Tja«, der Arzt zuckte mit den Achseln, »manchmal schlägt das Schicksal aus heiterem Himmel zu.«

• • •

Zufrieden beendete Lorenz Faltermeier das Telefongespräch. Er schob den Deckel des alten Nokia auf und nahm den Akku aus dem Mobiltelefon. Dann fischte er die SIM-Karte hervor und schnitt sie mit der Schere in vier Teile. Ein Teil warf er in den Abfalleimer, die drei anderen spülte er im Klo hinunter. Anschließend legte er den Akku ein und setzte das Handy auf die Werkseinstellungen zurück, ehe er es in der obersten rechten Schublade seines Schreibtischs verstaute.

Wieder ein Problem gelöst, freute sich Faltermeier und ging zum Wandschrank, in dem sich seine Hausbar befand. Ihm stand der Sinn nach einem Schluck Haselnuss.

• • •

Heinrich Koller hatte alle Hände voll zu tun. Kurz vor Feierabend trudelten einige Stammkunden ein, um sich fürs Wochenende mit Büchern zu versorgen. Seit Koller den Lesertraum wieder öffnen durfte, hatte sein Buchladen Konjunktur und seine Kunden erhöhten Beratungsbedarf.

»Nathan, kommst du bitte?«, rief er nach hinten. Sein neuer Geschäftspartner saß, wenn es ruhig war im Laden, gern hinten im Büro. Dort frönte er seiner eigentlichen Passion, Manuskripte meist junger Krimiautoren zu korrigieren, die bei unabhängigen Verlagen erscheinen sollten. Der frühere Mordermittler der Münchner Kriminalpolizei hatte Gefallen an dem Geschäft mit Krimis gefunden, und seit Nathan Weiß die Krimi-Ecke des Lesertraums betreute, waren die Verkaufszahlen der Thriller in die Höhe geschnellt.

Mit etwas zerzausten Haaren erschien Nathan in der Tür zum Verkaufsraum. Koller nahm den fragenden Blick wahr und deutete auf eine ältere Dame, die Hilfe suchend am Drehständer für Kriminalromane stand. Nathan nickte, strich sich die Haare nach hinten und trat an die Kundin heran.

»Wonach suchen Sie, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Spannend soll’s sein und gut geschrieben, außerdem muss es mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Ein Geschenk für meinen Enkel, wissen S’, der will nämlich zur Kripo gehen, da soll er keinen Schmarrn zum Lesen kriegen.«

Nathan lächelte und griff zielsicher nach einem Buch im Drehständer. »Dann nehmen Sie diesen Roman«, hielt er der Dame das Taschenbuch entgegen. »Da geht es um einen großangelegten Betrug und die mühevolle Kleinarbeit der Ermittler, Papierkram über Papierkram, unzählige Stunden im Büro und Kopfweh vom Recherchieren am Computerbildschirm.«

»Ist’s denn spannend?«, fragte die Großmutter zweifelnd.

»Es gibt den einen oder anderen Knalleffekt. Ihr Enkel lernt die wahre Arbeit der Kripo kennen. Wenn er danach an seinem Berufswunsch festhält …«

»Gell, Sie wissen, von was Sie reden? Sie sind doch der berühmte Mordermittler, oder?«

Nathan nickte zögerlich, dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus.

»Täten Sie mei’m Enkel ein Autogramm reinschreiben?«

»Wenn er dadurch ein guter Kriminaler wird.« Nathan grinste und ging mit der Kundin an die Kasse. Dort nahm er einen Kugelschreiber und setzte seinen Namenszug auf das Schmutztitelblatt.

»Danke vielmals.« Die Kundin gab ihm die Hand. »Wenn’s ihm gefällt, schick ich ihn mal zu Ihnen.«

»Tun Sie das«, antwortete Nathan und schlurfte zurück ins Büro.

»Du bekommst eine richtige Fangemeinde bei mir«, bemerkte Koller, als er nach Ladenschluss aus dem Schrank zwei Nosing-Gläser und eine Flasche Lagavulin16 holte. Er schenkte jedem einen Fingerbreit ein und setze sich zu Nathan an den Tisch. Sie prosteten sich zu und schmeckten schweigend dem rauchigen Abgang des Scotchs nach.

»Das war früher anders, vor allem bei den Mördern«, scherzte Nathan, aber es klang ein wenig wehmütig. »Mal wieder ein richtiger Fall«, fuhr er fort, »tät’ mich reizen. Die Realität unterscheidet sich eben doch von den Romanen.«

»Nur Geduld«, erwiderte Koller. »Rechtsanwalt Dieter Bauer ruft dich früher an, als du denkst.«

»Schön wär’s«, brummte Nathan.

• • •

Der Abendwind summte sein Lied im Schilf. Ein Entenpaar raschelte zu seinem Schlafplatz in den Binsen, stolz zog ein Schwan am Ufer entlang. Sanft liefen die Wellen auf den schmalen Sandstreifen auf, der vor dem Schilfgürtel lag und auf dem Sophie in der untergehenden Sonne saß. Sie sog die Stimmung der friedlichen Dämmerung in sich auf. Seit ihrer Kindheit kam sie immer wieder an diesen Platz am Bodenseeufer. Kein Ort auf der Welt schien ihr geeigneter, um mit ihren Gedanken allein zu sein, als genau dieser versteckte Fleck, den man nur über einen kaum wahrnehmbaren Pfad erreichte. Mit geschärften Sinnen verfolgte sie das Schauspiel, wie die Dämmerung allmählich die Farben aus der Welt heraussaugte und sich das Dasein in ein Spiel mit den Grautönen verwandelte. Eines Tages, hoffte sie, werde ich das Geheimnis dieses Augenblicks, in dem die Farben verschwinden, wahrhaftig auf die Leinwand bannen.

Sie träumte seit Jahren von einem Gemälde voller Grautöne, das bunter erschien als die prächtigsten Farben. Noch glaubte sie daran, so ein Bild schöpfen zu können. Bisher allerdings war sie an dieser Herausforderung gescheitert. Umso erfreulicher, wie gut ihr die farbigen Gemälde gelangen. Endlich hatte sie den Fuß in der Tür zum Erfolg.

Sophie atmete die kühler werdende Luft ein und rieb sich die Hände. Vor ihr lag eine goldene Zukunft. Es tat gut, über den grau werdenden See zu blicken und durchzuatmen. Sie musste zu sich kommen, durfte den Boden nicht unter den Füßen verlieren. Die Summe, die sie heute Vormittag von Lorenz ausbezahlt erhalten hatte, war schwindelerregend. 60.000 für ihren ersten Gauguin. Kaum zu glauben. Dabei hatte sie keinesfalls einen Gauguin kopiert, nein, sie hatte einen völlig neuen Gauguin erfunden, den erotischen Akt einer fülligen Südseefrau im Stil des berühmten Franzosen. Eigentlich hatte sie das kleinformatige Gemälde mit ihrer eigenen Paraphe unterzeichnen wollen, doch als Lorenz das Bild betrachtet hatte, meinte er: »Signiere es als Gauguin.«

»Das ist Fälschung«, hatte sie erwidert.

»Ach was, ist doch eine völlige Neuschöpfung«, hatte er diesen Einwand abgetan, und so hatte sie Gauguins Signatur nachgeahmt.

Zwei Wochen später war Lorenz auf die Idee gekommen, das Gemälde in den Kunstmarkt einzuschleusen. »Niemand wird jemals erfahren, dass du die Schöpferin dieses wunderbaren verschollenen Gemäldes bist«, hatte er ihr versprochen und das Bild an sich genommen.

Das war vor einem halben Jahr gewesen und sie hatte es beinahe vergessen gehabt. Na ja, nicht wirklich, gestand sie sich ein. Jedenfalls hatte sie Lorenz nicht nach dem Verbleib des Werkes gefragt und versucht, so wenig wie möglich an die tropische Nymphe zu denken. Stattdessen hatte sie in den Farben von Kandinsky und Monet geschwelgt und mehrere neue Meisterwerke geschaffen, die noch ohne Signatur in der Abstellkammer ihres Ateliers lagerten. Das würde sich bald ändern, denn Lorenz hatte Appetit bekommen, seit es ihm gelungen war, Sophies Gauguin an einen Kunstsammler zu verkaufen.

• • •

Michael Borrat schritt gerade durch den Haupteingang der Klinik, als er seinen Namen hörte. Er drehte sich um.

Der Oberarzt aus der Notaufnahme kam geschwinden Schrittes auf ihn zu. »Warten Sie«, rief er und winkte.

»Was gibt es noch?«, fragte Borrat müde. Er wollte nach Hause und allein sein. Vor einer Stunde hatte das Ärzteteam aus Augsburg Rolands Hirntod festgestellt. Diese Endgültigkeit hatte ihn erschüttert. Es war an der Zeit, den Freund zu betrauern.

»Irgendetwas ist seltsam«, antwortete der Arzt kurzatmig. »Ihr Freund ist zwar an Herzversagen gestorben, aber es war kein Infarkt.«

Schlagartig war Borrat glockenwach. »Das bedeutet?«

»Wir haben die Kriminalpolizei verständigt, denn nun ist die Todesursache unklar. Es könnte sich um einen unnatürlichen Tod handeln.«

»Also werden Sie eine Autopsie vornehmen?«

»Das entscheidet die Polizei beziehungsweise die Staatsanwaltschaft. Können Sie bitte hierbleiben? Vielleicht brauchen wir Sie noch.«

»Selbstverständlich«, sagte Borrat und begleitete den Arzt in dessen Büro. »Gibt es irgendwelche Hinweise für eine äußere Einwirkung?«

»Noch nicht. Wir warten ab, was die Kripo zu sagen hat.«

Zwei Stunden später gab die junge Staatsanwältin Rolands Leiche für die Organentnahme frei. Borrat wunderte sich zwar ein wenig über diese Entscheidung, aber er fand es tröstlich, dass ein kleiner Teil seines Freundes in anderen Menschen weiterleben würde. So wurde ein trauriger Tod nicht völlig sinnlos. Vermutlich hatte die Staatsanwältin in ihrer Abwägung zwischen forensischer Untersuchung und Organspende sich zugunsten der Empfänger entschieden. Oder hatte sie gar schon weitere Erkenntnisse?

Während Borrat noch über diese Frage nachdachte, machte sich das Team aus München an die Arbeit, Leber und Nieren zu explantieren. Später würden die Organe mit einem Kurier von Eurotransplant an ihren Bestimmungsort gebracht werden. Der Leichnam blieb beschlagnahmt; die Staatsanwältin wollte erst morgen endgültig über die Obduktion entscheiden. Borrat gab seine Einwilligung, dann ging er erschöpft nach Hause. Das Rätsel von Rolands Tod nahm er mit.

2

Werner Brückners Blick glitt hinaus auf den Kanal, dessen Wasser sich im Wind kräuselte. Die Sonne zauberte blitzende Reflexe auf den trägen Spiegel und adelte die Schönheit der königlichen Anlage, die Anfang des 18. Jahrhunderts als grandiose Blickachse vom Schloss in Richtung Stadt erbaut worden war. Er liebte den Blick auf dieses von zwei Alleen eingefasste städtebauliche Kleinod. Betrachtete er den Kanal, schenkte ihm dies Freude und Zuversicht, oder, wie in diesem Augenblick, zumindest Trost. Vor einer Stunde hatte ihn aus Lindau die Nachricht vom Tod Roland Kundls erreicht und erschüttert. Roland war einer seiner besten Studenten gewesen. Brückner hatte ihn gefördert und gefordert, hatte ihm in seiner Beratungsgesellschaft zuerst einen Praktikumsplatz und später eine Festanstellung verschafft, ehe Roland zur exklusiven Finanzmaklergesellschaft InterFinance-Power gewechselt war, der Brückner seit vielen Jahren einen Teil seines Vermögens anvertraute. Mit Roland verlor er nicht nur einen Schüler, sondern auch einen Vertrauten und wichtigen Geschäftspartner. Beinahe war es, als verlöre er einen Sohn. Sein Blick saugte sich am spiegelnden Windspiel des Kanalwassers fest. Traurig wartete der 72-jährige frühere Professor für Betriebswirtschaftslehre und Finanzwirtschaft auf die tröstende Wirkung dieses Anblicks. Noch blieb der Trost aus, noch hallten die Worte von Lorenz Faltermeier, dem deutschen Chef von InterFinance-Power, nach.

»Lieber Brückner«, hatte Faltermeier ohne lange Vorrede am Telefon gesagt, »ich muss Ihnen mitteilen, dass Roland Kundl am Freitag einem Herzversagen erlegen ist. Wir verlieren einen tüchtigen Mann, Sie verlieren einen herausragenden Schüler. Hierzu mein Beileid. Ab sofort werde ich Ihre Angelegenheiten persönlich betreuen.«

Immer der pragmatische nüchterne Erfolgsmensch, dieser Faltermeier, war es Brückner durch den Kopf geschossen, kaum hatte er das Telefonat beendet. Der Kern der Nachricht war nur langsam in sein Bewusstsein gesickert. Dann kam die Trauer. Er hatte Roland wirklich gemocht. Der Anblick des friedlich vor ihm liegenden Kanals tröstete ihn nicht.

• • •

»Die Obduktion hat keine konkreten Hinweise erbracht, die auf eine Fremdeinwirkung schließen lassen«, teilte die Staatsanwältin aus Kempten am Telefon mit. »Die Leiche ist somit für die Bestattung freigegeben.«

»Aber finden Sie die Umstände nicht ungewöhnlich?«, wagte Borrat eine zweifelnde Nachfrage.

»Schicksal, Herr Kollege. Männer Ende 40 versterben schon mal an Herzversagen. Es gibt keinen Anlass für weitere Ermittlungen.« Mit diesen Worten beendete die Staatsanwältin das Telefonat.

Mit tiefem Unbehagen legte Borrat den Hörer auf die Gabel zurück. Irgendwo in seinem Hinterkopf regte sich Argwohn. Er konnte und wollte nicht glauben, dass sein Freund sang- und klanglos an Herzversagen gestorben war. Es war kein Herzinfarkt, hatte der behandelnde Arzt festgestellt. Wie dann hatte es zu diesem plötzlichen Herztod kommen können? Diese Frage ließ Borrat die nächsten Minuten nicht los und er beschloss, seinen Hausarzt zu befragen.

»Das gibt es durchaus«, erläuterte dieser am Telefon. »Gerade bei Sportlern taucht dieses Phänomen manchmal auf, oft unmittelbar nach einer besonderen Anstrengung. Meist handelt es sich um eine vorher unerkannte Herzerkrankung. Das sind tragische Schicksale.«

Der Arzt war kurz angebunden, gab zu verstehen, kein Kardiologe zu sein, und ließ Borrat ratlos zurück. Er wollte einfach noch nicht daran glauben, dass Roland auf einer Bank an der Hafenpromenade aus heiterem Himmel der plötzliche Herztod aus dem Leben gerissen hatte, und musste offensichtlich akzeptieren, dass es das gab. Trotzdem nagten die Zweifel in ihm weiter. Es dürfte eine Zeit dauern, befürchtete er, bis er den Tod seines Freundes verarbeitet haben würde, zumal er sich nun um die gesamten Nachlassangelegenheiten kümmern musste.

Um aus dem Grübeln herauszufinden, griff er zum Telefon und vereinbarte mit dem das Testament verwahrenden Notar einen Termin.

• • •

Lorenz Faltermeier legte die Unterlagen über Werner Brückner in die oberste linke Schublade seines ausladenden Schreibtischs. Zum Glück hatte der Wirtschaftsprofessor die Nachricht von Kundls Tod gefasst aufgenommen und zugestimmt, dass sich Faltermeier persönlich um seine Belange kümmern würde. Brückner war ein wichtiger Kunde, der von Kundl gehegt und gepflegt worden war. Brückners Kontakte in alle Welt hieß es zukünftig noch besser zu nutzen, nahm sich Faltermeier vor und überlegte, wie er sein persönliches Verhältnis zu Brückner intensivieren konnte. Nach kurzem Grübeln hatte er eine zündende Idee.

Er rieb sich die Hände und widmete sich die nächste Stunde einer schwäbischen Unternehmungsgründung, die er in das Portfolio des neuen, grünen IFP-Fonds aufnehmen wollte. Die beiden jungen Unternehmer spezialisierten sich mit ihrem Start-up auf eine nachhaltige und klimaneutrale Produktion von Bratlingen für Veggie-Burger und suchten einen Investor. Auch wenn Faltermeier selbst keinerlei Bezug zu veganem Essen hatte, hielt er die Geschäftsidee für erfolgversprechend. Außerdem fuhren immer mehr wohlhabende Menschen auf nachhaltige Anlageformate ab, und bei den sogenannten grünen Fonds hatte Inter-FinancePower noch Nachholbedarf. Das Konzept überzeugte ihn. Er bat seine Sekretärin, einen Termin mit den Jungunternehmern zu vereinbaren, dann machte er sich auf den Weg zum Mittagessen. In einer halben Stunde war er in seinem Lieblingsrestaurant am See mit Sophie verabredet.

Sie sah bezaubernd aus in ihrem knielangen orangen Kleid. Als sie fünf Meter von seinem Tisch entfernt war, stand Lorenz auf, ging ihr zwei Schritte entgegen und umarmte sie. Nach zwei hingehauchten Küsschen zog er ihren Stuhl vom Tisch zurück, damit sie bequem Platz nehmen konnte. Er strich ihr zärtlich über den Hinterkopf, dann setzte er sich ihr gegenüber.

»Schön, dich zu sehen«, bemerkte er und reichte ihr die Speisekarte. »Such dir was Leckeres aus.«

»Fein, dass du Zeit hast«, erwiderte sie. »Wähl du für mich, ich will heute verwöhnt werden.«

»Nehmen wir das Tagesmenü und dazu eine Flasche Chardonnay.«

Sophie liebte Jakobsmuscheln, die hier auf einem roten Kartoffelpüree mit grünem Gemüse serviert wurden. Ein herrlich leichter Hauptgang für diesen Sommertag, umrahmt von einem Gemüsesüppchen und der Apfeltarte als Dessert, gerade das Richtige für seine reizende Geliebte.

Einmal mehr konnte er sich nicht sattsehen an ihrem hübschen Gesicht mit den hochstehenden Wangenknochen, die ihre ukrainische Mutter verrieten. Stilsicher trug sie orangerotes Lipgloss und einen geheimnisvollen grünen Lidschatten. Lorenz bewunderte ihre virtuosen Farbkombinationen und konnte sich das Kompliment nicht verkneifen: »Du siehst fantastisch aus.«

Sie schenkte ihm einen Kussmund und legte ihre Hand in die Mitte des Tisches. Er streichelte Finger für Finger und bemerkte erfreut, wie sich ihre Härchen auf ihrem Unterarm aufstellten. Eine sanfte Erregung trieb seinen Puls an, und er überlegte, ob er nach dem Dinner mit zu ihr gehen könnte. Dummerweise stand ein Termin im Kalender, den er an sich nicht platzen lassen durfte, aber die Verlockung, noch ein Schäferstündchen mit Sophie zu verbringen, war allzu groß.

»Hast du wieder etwas für meine Kunstliebhaber?«, lenkte Faltermeier seine Aufmerksamkeit vom Amourösen auf das Geschäftliche.

»Eigentlich nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf, doch ein Flackern in ihren Augen verriet ihm ihr Interesse. Sie hatte Blut geleckt.

Der Gauguin war eine famose Initialzündung gewesen. Faltermeier hatte einen siebten Sinn dafür, bei anderen die Gier nach mehr zu spüren, ehe diese sich ihres Begehrens bewusst waren. Du willst Geld scheffeln, meine Süße, dachte er. Du bist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ich. Wir geben ein tolles Paar ab. Er hielt ihre Hand fest und flüsterte: »Natürlich hast du was. Willst du es mir später zeigen?«

Sophie zögerte.

Für einen kurzen Moment wurde Faltermeier ungehalten; wollte sie ihn hinhalten? Den Preis in die Höhe treiben? Mit ihm spielte man nicht, weder große noch kleine Spielchen. Er verstärkte den Druck seiner Hand und sagte: »Es wäre mir eine große Freude, gerade heute.«

»Warum?«

»Du musst mich trösten«, erwiderte er und machte eine betrübte Miene. »Gestern ist mein bester Mitarbeiter verstorben.«

Sophie schlug die Hand vor den Mund. »Oje, um Gottes Willen. Wer denn und warum?«

»Der Kundl Roland, du kennst ihn sogar von unserer Bootsfahrt vor zwei Jahren. Hat einfach einen Herzinfarkt bekommen, gestern Nachmittag, am Hafen.«

»Der Arme, tut mir leid«, sagte Sophie und legte ihre Hand auf Faltermeiers Arm. »Natürlich habe ich etwas für dich.«

• • •

»Werner Brückner hier, Grüß Gott, Herr Borrat«, eröffnete Brückner das Telefongespräch. »Wir kennen uns von den letzten Bodenseekunsttagen – Sie erinnern sich? Roland Kundl hat uns bekannt gemacht. Er hat stets viel von Ihnen gesprochen, Sie sind sein bester Freund … gewesen.« Brückner fiel es schwer, die Vergangenheitsform verwenden zu müssen. »Es ist sehr traurig und ich begreife es nicht. Darf ich Sie fragen, wie Roland gestorben ist? Man sagte mir, es sei Herzversagen gewesen. Roland? Ein kerngesunder, durchtrainierter Sportler? Ich kann es nicht glauben.«

»Es scheint so zu sein, Herr Professor. Auch ich bin fassungslos. Aber die Staatsanwaltschaft hat mir mitgeteilt, es gebe keinerlei Anzeichen für eine Fremdeinwirkung. Roland ist einem plötzlichen Herztod erlegen.«

»Also ist er obduziert worden?«

»Ja.«

»Dann müsste man die Vorerkrankung erkannt haben, die den plötzlichen Herztod ausgelöst hat. Was war es? Ich würde es gern verstehen.«

»Kann ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls war es kein Herzinfarkt.«

»Eigenartig«, flüsterte Brückner mehr für sich als für seinen Gesprächspartner und fragte dann laut: »Haben Sie den Obduktionsbericht gelesen?«

»Nein«, antwortete Borrat. »Dazu habe ich keine Veranlassung gesehen.«

»Darf ich Sie bitten, das nachzuholen?«

»Meinen Sie …?«

»Ich will es einfach verstehen. Er war mein bester Schüler. Wenn ich es genau verstehe, fällt mir das Abschiednehmen leichter.«

3

Schlank und hochgewachsen mit wachen blauen Augen stand der Professor neben dem Besprechungstisch und reichte Nathan Weiß die Hand. »Brückner, Werner Brückner. Sehr erfreut.«

»Nathan Weiß. Ganz meinerseits.«

Der kräftige, selbstbewusste Händedruck gefiel Nathan ebenso wie das gesamte Erscheinungsbild des elegant gekleideten Mannes, der Dieter Bauer um Hilfe gebeten hatte, die Umstände des plötzlichen Herztodes seines Lieblingsschülers aufzuklären.

Bauer hatte am Morgen bei Nathan angefragt, ob er eine Ermittlung übernehmen wolle. Begeistert hatte Nathan zugesagt und setzte sich nun neugierig an den Besprechungstisch in Bauers großzügigem Büro über den Dächern Münchens.

»Wie ich Ihnen, lieber Weiß, bereits am Telefon sagte: Es geht um einen mysteriösen plötzlichen Herztod. Professor Brückner argwöhnt, dass es bei dem Tod von Roland Kundl vor wenigen Tagen nicht mit rechten Dingen zugeht.«

»Sie müssen verstehen«, sprach Brückner mit sanfter, leicht rauchiger Stimme, »mein Schüler und Vertrauter in Finanzangelegenheiten war ein passionierter, durchtrainierter Sportler. Der kippt nicht einfach so auf einer Bank an der Hafenpromenade in der Sonne zur Seite und ist tot.«

»Der Obduktionsbericht, den ich gestern Abend von der Staatsanwaltschaft Kempten erhalten habe, ist äußerst dürftig«, ergriff Rechtsanwalt Bauer wieder das Wort. »Zwar stellt der Lindauer Arzt, der im Klinikum die Autopsie vorgenommen hat, keine äußeren Einwirkungen fest, aber es fehlt auch jeder Hinweis auf eine den plötzlichen Herztod erklärende Vorerkrankung.«

»Ein Herzinfarkt kann sicher ausgeschlossen werden?«, fragte Nathan und streckte die Hand nach dem Obduktionsbericht aus.

»Ja«, antwortete Brückner. »Mein Schüler war Organspender, daher haben die Ärzte im Klinikum sein Herz genau angeschaut.«

»Wurden Organe entnommen?«

»Leber und Nieren«, gab der Professor Auskunft.

Die Informiertheit Brückners beeindruckte Nathan. Er nahm sich vor, gründlich über seinen Auftraggeber zu recherchieren.

»Ich will Sie bitten, das Schicksal meines Schülers so genau wie möglich zu ermitteln. Zeit und Geld sollen keine Rolle spielen. Ich wünsche mir Gewissheit über die Umstände seines Todes. Das bin ich Roland schuldig.«

»Haben Sie denn Anhaltspunkte, die für eine Fremdeinwirkung sprechen?«

»An sich nein«, erwiderte Brückner. »Aber Roland hat in einem sensiblen Umfeld gearbeitet. Er dürfte als Anlageberater von IFP viel wertvolles Wissen angesammelt haben.«

»Wer oder was ist IFP?«

»Das ist die renommierte Finanzmaklergesellschaft Inter-FinancePower mit Sitz in Zürich. Roland hat für die deutsche Dependance in Lindau gearbeitet. Auch ich lasse einen Teil meines Vermögens von IFP verwalten.«

»Sensibles Wissen«, dehnte Nathan diese beiden Wörter. »Könnte das so gefährlich werden, dass jemand am Tod von Roland Kundl interessiert sein könnte?«

»Verstehen Sie mich nicht falsch: Meiner Ansicht nach ist InterFinancePower eine absolut seriöse Adresse, sonst überließe ich IFP keinen Cent. Aber es geht um viel Geld … sehr viel Geld. Sie sollten sich die Leute anschauen, für die Roland gearbeitet hat.«

»Hm«, brummte Nathan. »Die Kriminalpolizei vor Ort war eingeschaltet, die zuständige Staatsanwaltschaft hat sich mit der Sache befasst, Sie haben keine unmittelbaren Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden. Ehrlich gesagt, Herr Professor, ich weiß nicht, ob es sich lohnt, da nachzubohren. Ich verstehe Ihr Unverständnis – aber ist der Tod nicht immer etwas Unverständliches für uns? Besonders wenn ein Mensch mitten aus dem Leben gerissen wird? Unerwartet, völlig unerwartet. Da hätten wir gern Erklärungen …« Nathan ließ den letzten Satz in der Luft hängen und las die erste Seite des Berichts. Typisches Medizinerdeutsch, es gab nichts, was Nathan an den dürren Worten des Obduzenten auffiel.

»Dieser Arzt«, wandte Brückner ein, »ist kein ausgebildeter Gerichtsmediziner. Er ist zwar auch Pathologe, aber eigentlich Internist. Er könnte etwas übersehen haben.«

Das war ein Argument, das Nathan von Brückners berechtigtem Argwohn überzeugte. Die forensische Autopsie war eine Kunst, auf die sich nicht jeder Arzt verstand. Während seiner Tätigkeit als Chef der Münchner Mordkommission hatte er zum Glück viele Jahre mit einer Koryphäe auf diesem Gebiet zusammenarbeiten können und von dem gutmütigen und gewissenhaften Dr. Sander viel gelernt.

»In Ordnung«, willigte Nathan daher ein. »Ich werde mich der Angelegenheit annehmen. Dazu brauche ich eine Liste aller infrage kommenden Ansprechpartner.«

»Das habe ich erwartet«, kommentierte Brückner prompt, zog ein Blatt Papier aus seiner Jackentasche und schob es Nathan über den Tisch. »Ihr wichtigster Ansprechpartner steht ganz oben auf der Liste: Rechtsanwalt Michael Borrat. Er war Rolands bester Freund und ist Testamentsvollstrecker und Nachlassverwalter.«

Respekt, der Professor ist ordentlich auf Zack, dachte Nathan und stellte sofort die nächste Frage: »Wissen Sie, wann Herr Kundl beigesetzt wird?«

»Herr Borrat hat die Beerdigung etwas hinausgeschoben und die Beisetzung für nächste Woche Dienstag terminiert.«

»Sehr gut«, sagte Nathan. »Dann werde ich unverzüglich nach Lindau fahren und mir die Sache vor Ort anschauen.«

»Das habe ich gehofft, Herr Weiß. Ich habe für Sie in einem kleinen aber feinen Hotel in Bad Schachen ein Zimmer reserviert.« Brückner schob eine Reservierungsbestätigung über den Tisch. »Dürfte ich mich nun noch nach Ihrem Honorarsatz erkundigen?«

Verblüfft schaute Nathan Dieter Bauer an, doch der zuckte mit den Schultern und grinste bloß. Nathan fasste das als Ermutigung auf zu pokern. »Was wollen Sie denn ausgeben?«

»Wenn Sie mich so fragen: Ich hielte einen Tagessatz von 1.200 Euro zuzüglich Spesen für angemessen. Einverstanden?«

Nathan stand auf und streckte die Hand aus. »Abgemacht. Bestellen Sie Herrn Borrat zum Abendessen zu mir ins Hotel.«

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Zwei Stunden lang hatte sie die Signatur von Kandinsky geübt, nun war sie von ihrem Bleistiftstrich überzeugt. Sie trat an die Leinwand heran und unterschrieb mit dem Nachnamen dieses bisher verschollene Werk bunter Geometrie, ohne es zu datieren. Ein Geheimnis musste bleiben, wenn Lorenz das Gemälde in die Kunstszene einschleuste.

Sophie schmunzelte bei der Erinnerung an letzten Montag. Wie überschwänglich Lorenz diesen Kandinsky gelobt und ohne nachzudenken verlangt hatte, dass sie das Werk signieren und für einen Verkauf freigeben musste. Zufrieden ruhte ihr Blick auf ihrer Schöpfung. Kandinsky war ein dankbares Vorbild, allein schon, weil er seine Werke ziemlich unterschiedlich signiert hatte und durch die Wirren seiner Flucht aus Moskau und später aus Weimar eine zuverlässige Übersicht über sein Gesamtschaffen fehlt. Außerdem liebte Sophie Kandinskys Formen- und Farbensprache.

»Ich werde als Treuhänder eine alte Familiensammlung auflösen, weil die junge Generation andere Vorlieben entwickelt und an den Gemälden kein Interesse hat«, hatte Lorenz ihr seinen Plan verraten und sie ermutigt, weitere unbekannte Kandinskys, Impressionisten und Expressionisten zu erschaffen.

Inzwischen hatte Sophie Gefallen an dieser Idee gefunden, auch, weil mit dem zu erwartenden Erlös ein sorgenfreies Leben winkte. Dann kann ich später umso unbeschwerter eigene Bilder malen, freute sie sich und verhüllte das soeben fertiggestellte Werk.

Sie ging hinüber in ihr lichtdurchflutetes Atelier und betrachtete ihren neuesten Versuch über die Welt in Grautönen. Das obere Bilddrittel beherrschten Gewitterwolken, in mannigfachen Grauschattierungen sich auftürmende Kumuluswolken über grauen Wäldern und Feldern, die quer von einer grauen Autobahn durchschnitten wurden. Wie langweilig, lästerte Sophie innerlich und spürte tief im Bauch Enttäuschung und Zorn. Warum wollte ihr nicht gelingen, was wirklich in ihr steckte? Warum gelang es ihr virtuos, sich den Schöpfergeist anderer anzueignen, wenn zugleich jeder Versuch, sich selbst auszudrücken, misslang?

Sie griff nach dem Teppichmesser, das stets auf ihrem Arbeitstisch lag. Das flaue Gefühl im Magen wich einem Kitzeln im Unterleib, langsam kroch eine schmerzende Hitze in den Brustkorb hinauf. Sophie spürte, wie sich ihr Hals rötete. Sie hasste dieses Gefühl, und mit dem aufsteigenden Brennen ihrer Haut hasste sie sich selbst. Kurz wog sie das Messer und überlegte, ob sie sich rasch dreimal quer über den linken Unterarm schneiden sollte.

Lorenz würde das nicht gefallen, er hatte sie bereits vor zwei Jahren inständig gebeten, mit dem Ritzen aufzuhören. Sie wollte Lorenz nicht enttäuschen, nicht jetzt, da sie am Anfang einer eigenartigen Karriere stand. Also lenkte sie ihre Wut auf die graue Leinwand und zerschnitt mit wildem Gefuchtel das abtörnende Grau in Grau.

Erst als die Leinwand in Fetzen hing, beruhigte sich Sophies Raserei. Sie legte das Teppichmesser zurück und nahm das zerstörte Gemälde von der Staffelei. Beinahe zärtlich entfernte sie die Leinwand vom Holzrahmen und legte die einzelnen Fetzen in eine große Plastikmappe. Dann begann sie zu weinen.

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Nachdem er seinen kleinen Reiserucksack gepackt hatte, fuhr Nathan rasch bei Heinrich im Lesertraum vorbei.

Der Freund und Geschäftspartner grinste über das ganze Gesicht, als Nathan ihm von seinem Engagement in Lindau erzählte. »Habe ich dir doch gesagt: Der Bauer wird dich bald beschäftigen. Gratuliere. Ermittle schön und lass mich dann teilhaben an deinem detektivischen Abenteuer.«

»Wenn’s hochkommt, bin ich drei Tage weg. Am Samstag stehe ich wieder mit dir hinter der Ladentheke«, versprach Na-than und machte sich auf den Weg an den Bodensee.

Auf der Autobahn schaltete er die Freisprechanlage an und wählte die Nummer des erfahrenen Rechtsmediziners Dr. Sander. Wie nicht anders zu erwarten, meldete sich die Sekretärin des vielbeschäftigten Pathologen. Sie wollte ihn schon abwimmeln, aber als sie sich zum zweiten Mal seinen Namen sagen ließ, erinnerte sie sich an ihn und stellte das Gespräch durch.

»Wen haben wir denn da? Den lieben Weiß persönlich, wohl immer noch umtriebig, der Gute«, begrüßte ihn der Forensiker fröhlich. »Womit kann ich dienen, mein Lieber?«

»Ein plötzlicher Herztod, werter Doktor. Wie wahrscheinlich ist der bei einem 49-jährigen sportlichen Mann ohne Vorerkrankungen?«

»Unwahrscheinlich. Aber es ist ziemlich wahrscheinlich, dass eine mitauslösende Vorerkrankung nicht erkannt wurde. Warum fragen Sie?«

»Man hat mich gebeten, einen plötzlichen Herztod näher anzuschauen.«

»Wurde obduziert?«

»Ja, aber von einem Arzt, der nicht zum Rechtsmediziner ausgebildet ist und eigentlich als Internist sein Geld verdient.«

»Ein Internist …« Dr. Sander zog das Wort verächtlich in die Länge und schwieg einige Augenblicke. »Das könnte Fehleinschätzungen erklären.«

»Würden Sie sich den Leichnam noch einmal anschauen?«

»Mein Terminplan ist zwar ziemlich voll, aber wenn Sie mir den armen Wicht morgen vorbeibringen …«

»Das wird schwierig. Der Tote liegt in Lindau im Leichenschauhaus.«

»Sie machen mir Spaß. Was haben Sie in der Hand?«

»Wenig bis nichts, aber immerhin einen knappen Obduktionsbericht und die Aussage zweier Freunde des Verstorbenen. Muss ein pumperlgesunder Mann gewesen sein.«

»Faxen Sie mir den Obduktionsbericht. Wenn was dran ist an Ihrem Argwohn, richte ich es mir morgen Abend ein.«

»Sie sind ein Engel«, rief Nathan und trat auf die Bremse, weil vor ihm ein Lastwagen auf die Überholspur ausscherte.

»Machen Sie halblang. Wir telefonieren morgen.«

Damit war das Telefonat beendet. Nathan ließ Sanders Antworten noch einmal Revue passieren und spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er hielt es zunehmend für wahrscheinlicher, dass Roland Kundls Tod ein Fall war. Ein Fall für ihn, ein Fall für Nathan Weiß. Das Ermittlungsfieber hatte ihn wieder gepackt.

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Lorenz Faltermeier empfing den Studenten in seinem kleinen Seehaus nahe Wasserburg. Er hatte ihn unter drei Bewerbern ausgewählt, die sich auf sein Stellenangebot gemeldet hatten. Schüchtern saß Jonas Beuthen an dem Tisch vor dem Panoramafenster und spielte nervös mit dem Stapel Papier, den Faltermeier vor ihm ausgebreitet hatte.

»Sie wollen also ein besonderes Augenmerk auf die Zeitgeschichte legen für Ihr Masterstudium?«, fragte Faltermeier, obwohl er die Antwort bereits wusste. Schließlich war das bei den Auswahlgesprächen, die er vor zwei Tagen in Konstanz geführt hatte, ein wesentliches Kriterium gewesen.

»Ja, ich finde das 20. Jahrhundert superspannend. Deswegen freut es mich auch so, für Sie die Geschichte der Familie Hotterer recherchieren zu dürfen. Deutschlands unbekannte Milliardäre, wow, echt cool, dieses Thema.«

»Hier habe ich Ihnen einiges Material zusammengestellt«, gab sich Faltermeier väterlich. »Sie wissen: Sie müssen äußerst diskret recherchieren und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Beziehung der Hotterer zur Kunst legen. Schauen Sie, welche Belege Sie für das versteckte Mäzenatentum dieser Unternehmerfamilie finden, und besorgen Sie sich möglichst viel Fotomaterial der Familie, insbesondere aus den Jahren 1923 bis 1945.«

»Also sind Sie auch an den Beziehungen der Familie zu den Nationalsozialisten interessiert?«

»Sehr sogar. Genau deshalb müssen Sie unheimlich diskret zu Werke gehen. Wie Sie gewiss von den bekannten Unternehmerfamilien der damaligen Zeit wissen, legen diese wenig Wert darauf, hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den Nazis durchleuchtet zu werden.«

»Verstehe«, antwortete Beuthen und blickte sichtlich verständnislos drein.

»Ihre Diskretion ist vollumfänglich gefordert«, insistierte Faltermeier. »Also auch keine Gespräche über diese Arbeit im Kommilitonen- oder Freundeskreis. Sie arbeiten exklusiv für mich. Wenn Sie fertig sind, schauen wir, was sich daraus für Sie verwerten lässt, zum Beispiel mit einem spannenden Aufsatz in den Vierteljahresheften des Instituts für Zeitgeschichte.«

»Das wäre super«, rief Beuthen begeistert.

»Ich habe einen exzellenten Kontakt zu einem der Herausgeber«, behauptete Faltermeier. »Da lässt sich bestimmt etwas arrangieren. Aber erst einmal müssen Sie liefern. Was meinen Sie? Schaffen Sie erste Ergebnisse bis in maximal zwei Wochen?«

»Klar. Schließlich habe ich jetzt Semesterferien.«

»Sehr gut«, sagte Faltermeier und schob dem Studenten einen Briefumschlag zu. »Da ist Ihr Vorschuss. 500 Euro fürs Erste. Zufrieden?«

»Und ob. Vielen Dank.«

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Nachdem er die Kanzlei des Rechtsanwalts Dieter Bauer in der Sonnenstraße verlassen hatte, schlenderte Werner Brückner durch die Fußgängerzone zum Marienplatz. Nach einem quälenden Pandemiefrühjahr atmete die Stadt auf, die Freude über die wiedergewonnenen Freiheiten war auf vielen Gesichtern zu lesen, die ihm begegneten.

Vermutlich sieht man mir auch meine Freude an, schmunzelte der emeritierte Professor der Betriebswirtschaftslehre. Er war heilfroh über die Bereitschaft von Nathan Weiß, sich um die genauen Umstände von Rolands Tod zu kümmern. Dessen Schicksal berührte Brückner nach wie vor sehr, vielleicht gerade deshalb, weil Roland ein ziemlicher Eigenbrötler und Einzelgänger ohne Familie gewesen war; das hatte von Anfang an ein besonderes Band zwischen Lehrer und Schüler geknüpft. Brückner war es Roland einfach schuldig, mögliche Ungewissheiten aufzuklären. Deshalb wollte er auch bald ein Treffen mit Lorenz Faltermeier arrangieren. Irgendetwas an der Art, wie der persönlich haftende Gesellschafter von IFP mit ihm Kontakt aufgenommen und ihm Rolands Tod mitgeteilt hatte, gefiel Brückner nicht; er konnte nur noch nicht sagen, was. Und obwohl er sich geehrt fühlen sollte, vom Chef der deutschen IFP-Niederlassung persönlich betreut zu werden, fühlte er sich bei diesem Gedanken unwohl und erwog bereits, sein Investment bei dem Finanzdienstleister trotz der guten Rendite zu beenden.

Vor dem Münchner Rathaus verharrte Brückner einige Minuten. Die märchenhaft anmutende neugotische Architektur begeisterte ihn stets aufs Neue. Er bedauerte es, zu spät dran zu sein für das berühmte Glockenspiel mit dem Reigen des Schäfflertanzes in der Empore. Beim Anblick des Rathauses wurde ihm seine Heimatverbundenheit bewusst, die ihn selbst in seinen rastlosen Jahren immer nach München hatte zurückkehren lassen. Jetzt, nachdem er seine Unternehmensberatungsfirma an würdige Nachfolger übergeben hatte, würde er endgültig in seiner Heimatstadt bleiben, auch wenn ihn sein ehrenamtliches Engagement für soziale und gesellschaftliche Zwecke weiterhin rund um den Globus führte.

Der Gang durch die von edlen Geschäften gesäumte Theatinerstraße war ihm wohlvertraut. Ehe er die Feldherrnhalle erreichte, bog er rechts in die kleine Viscardigasse ab, die jedem Münchner noch unter ihrem Spitznamen Drückebergergasse bekannt war. Weil zu Zeiten des Naziregimes an der Feldherrenhalle ein von einem SS-Doppelposten bewachtes NS-Ehrenmal gestanden hatte, vor dem Vorübergehende den Hitlergruß hatten zeigen müssen, hatten alle anständigen Münchner den Umweg über die Viscardigasse in Kauf genommen, um sich vor dem Nazigruß zu drücken. Brückners Eltern waren stets durch diese Gasse gegangen, und obwohl Brückner erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden war, setzte er zeitlebens die Tradition seiner Eltern fort. Gegenüber durchschritt er das Tor zum vorderen Innenhof der Münchner Residenz und schlenderte durch beide Höfe, ehe er am anderen Ende neben dem Haupteingang der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die Residenz verließ und links Richtung Hofgarten abbog. Kurz blickte er hinauf zum Büro des Ministerpräsidenten, den er vor nicht allzu langer Zeit getroffen hatte, um über die Förderung einer internationalen Tagung zu den gesellschaftlichen Themen des 21. Jahrhunderts zu verhandeln. Stolz schritt er die Fassade des alten Armeemuseums ab, denn die erlangte Förderzusage gehörte zu den Highlights seiner an Erfolgen überreichen Karriere. Bis vor wenigen Tagen hatte er sich auf die Begleitung dieser Tagung besonders gefreut, weil seine Tochter Barbara die Leitung der Abteilung zu Hate Speech übernommen hatte und Roland in Lindaus sanierter Inselhalle einen Vortrag hätte halten sollen. Letzteres ein Gedanke, der ihn, während er zu der Unterführung hinablief, die ihn in den Englischen Garten bringen würde, schmerzte und traurig stimmte.

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Michael Borrat sortierte die Unterlagen, die er später dem Münchner Mordermittler Nathan Weiß übergeben wollte, der sich bereit erklärt hatte, Rolands Tod genauer unter die Lupe zu nehmen. Dreh- und Angelpunkt war zunächst der Obduktionsbericht, der in dürren Worten eine Beschreibung der untersuchten Organe sowie der äußeren Betrachtung des Leichnams enthielt. Borrat las den Bericht nun zum dritten oder gar vierten Mal und hielt ihn nach wie vor für zu oberflächlich. Allzu deutlich wurde für sein Empfinden, dass der obduzierende Arzt zwar auch den Facharzttitel für Pathologie führte, aber seit vielen Jahren ausschließlich als Internist praktizierte. Mochte die Autopsie auch formal korrekt abgelaufen sein, inhaltlich blieben erhebliche Zweifel, vor allem, weil keine Blutuntersuchung vorgenommen worden war. Michael war neugierig, wie Weiß die Sachlage bewerten würde, und hoffte auf eine abermalige Obduktion. Er als Testamentsvollstrecker würde nur allzu gern die erforderliche Einwilligung erteilen.

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Sophie saß auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer, die Arbeitsmappe mit den zerfetzten Teilen ihres Gemäldes in Grau auf den Knien. Nachdenklich betrachtete sie ein zwei Handteller großes Stück Leinwand, auf dem eine Kumuluswolke in mehreren interessanten Schattierungen ihre Gewitterdrohung ausstieß. Je länger sie diesen Ausschnitt betrachtete, desto besser gefiel er ihr. Gleichzeitig löste die düstere Wolke beunruhigende Erinnerungen aus. Aus dem grauen Nebel des Vergessens tauchte das Antlitz ihres Vaters auf, blicke ihr sein grimmig zugekniffener Mund entgegen; darüber die knollige Nase und wieder darüber die tief eingekerbte Zornesfalte, welche die halbe Stirn spaltete. Dieser grässliche Gesichtsausdruck, den er aufsetzte, wenn er mit ihr unzufrieden war. Und er war oft unzufrieden gewesen: Nie hatte sie es ihm recht machen können, egal was sie tat, es war nicht gut genug gewesen. Jahrelang hatte sie um väterliche Anerkennung gekämpft und nie welche erfahren. Dann, sie war gerade 18 Jahre alt geworden und vor dem Abitur gestanden, hatte ihn ein Schlaganfall aus seinem zornigen Leben gerissen. All die guten Noten, die in wenigen Wochen ihr Zeugnis schmücken würden, umsonst; Vater würde das Reifezeugnis nicht mehr sehen.

Sophies Trauer hatte sich in Grenzen gehalten, aber ihre Enttäuschung, definitiv keine väterliche Anerkennung mehr zu erleben, saß tief. Beinahe hasste sie ihn dafür, dass er gestorben war. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er absichtlich gegangen war.

Eine drohende Wolke auf zwei Handtellern Leinwand, ein missbilligendes, zorniges Männergesicht: Sophie legte die Wolke auf den Wohnzimmertisch und schloss die Arbeitsmappe mit den übrigen Resten ihres Gemäldes in Grau. Diese Teile ihres Scheiterns wollte sie nicht mehr sehen.

Sie stand auf, ging ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Nun legte sie zart Rouge auf, tuschte die Wimpern, zog die Augenbrauen nach, legte etwas Kajal auf die Unterlider und zartblauen Lidschatten auf die Oberlider. Bald würde es an der Tür schellen. Lorenz. Für ihn wollte sie schön sein. Von ihm erhielt sie Anerkennung. Sanft zog sie den Lippenstift über die Lippen, betonte dezent deren Sinnlichkeit und lächelte sich so zu, wie es Lorenz gefiel.

Er war ein Geschenk des Himmels, vermutlich von einem Engel an jenem Freitagabend vor zweieinhalb Jahren in die kleine Galerie Liebler am Buttlerhügel geschickt, als sie mit ihrer Ausstellung Givenchy ganz anders bei der wohlwollenden Galeristin Linda Möhwald Vernissage gefeiert hatte. Frech und verzweifelt hatte sie einen Zyklus kleinformatiger Ölgemälde im Stil von Monet ausgestellt in der Hoffnung, von diesem publikumsgängigen Sujet einiges zu verkaufen. Damals war sie kurz vor der Pleite gestanden, hatte schon die Miete für ihr Atelier nicht mehr bezahlen können. Plötzlich war dieser drahtige Mann vor ihr gestanden, hatte sie mit einem selbstbewussten, bewundernden Blick umfangen und sie neugierig nach ihrer Ausbildung und ihren Vorbildern ausgefragt.

»Wenn ich drei Gemälde kaufe, gehen Sie dann mit mir aus?«

»Kommt darauf an, welche«, hatte sie keck geantwortet und sich sofort über ihre spontane Unbekümmertheit gewundert.