Gewissenlose Wege - Georg Brun - E-Book

Gewissenlose Wege E-Book

Georg Brun

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der leitende Münchner Oberarzt Bülent Atasoy wird vermisst: Als Anwältin Olga Swatschuk und ihre Partnerin Sonja von einem befreundeten Privatdetektiv bei dessen verdeckten Ermittlungen zu Rate gezogen werden, tun sich plötzlich Abgründe auf. Der ambitionierte Erfolgsmensch und liebevolle Familienvater ist in dubiose Geschäftsmodelle rund um illegale Organtransplantationen verwickelt. Gehört der Spitzenmediziner gar einem weltweit operierenden Netzwerk an? Als eine versprochene Spenderniere verschwindet, wird die Suche nach dem verschollenen Arzt zu einem Wettlauf gegen die Zeit. »Mal ein ganz unblutiger Krimi ohne Mord und Totschlag […] Der Autor beweist hier, dass man auch ohne Gewalt und die üblichen Verfolgungsjagden eine beträchtliche Spannungskurve aufbauen kann.« – ekz.bibliotheksservice über Olgas ersten Fall »Bodenloser Fall«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 369

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



EDITION 211

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2022 bei Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Johanna Gerhard

Korrektorat: Andreas März

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Martina Stolzmann

Titelmotiv: © Pixabay

E-Book Erstellung: Jara Dressler

ISBN 978-3-95669-179-9

www.bookspot.de

In München im Jahr 1958 geboren, ist Georg Brun mit einigen Abstechern stets ein »Münchner Kindl« geblieben. Auf mehrere Jahre im Bayerischen Landeskriminalamt und das Jura-Studium folgte eine langjährige Tätigkeit im Wissenschaftsministerium. Als Georg Brun im Jahr 1988 mit »Das Vermächtnis der Juliane Hall« sein erstes Buch veröffentlichte und dafür den Bayerischen Förderpreis für Literatur erhielt, begann sein erfüllendes Doppelleben als Jurist und Schriftsteller. »Gewissenlose Wege« ist die Fortsetzung seiner München-Krimi-Reihe rund um die Anwältin Olga Swatschuk.

Mehr über den Autor unter www.georgbrun.de

© Jeannine-Bachmann

Table of Contents
München im Jahr 2022
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Danksagung

München im Jahr 2022

Im Gegensatz zu Märchen beginnen im 21. Jahrhundert Romane zu Recht nicht mit den Worten Es war einmal – denn manches ist eben noch nicht Vergangenheit. Die nachfolgende Geschichte weist daher Ähnlichkeiten mit Geschehnissen der Zeit- und Medizingeschichte auf, ist aber trotzdem frei erfunden. Sollten sich gleichwohl Missverständnisse ergeben, wird dies bedauert.

In der Tat gab es vor Jahren an einigen Kliniken in Deutschland schwerwiegende Probleme im Bereich der Versorgung mit Spenderorganen, die medial als Transplantationsskandale begleitet wurden. Jedoch führten in Bayern verortete missliche Umstände an betroffenen Universitätskliniken zur Rehabilitation der verantwortlichen Chefärzte. An Münchner Kliniken wird nach dem Kenntnisstand des Autors hervorragende Arbeit im anspruchsvollen Bereich der Maximalversorgung geleistet, die höchste Anerkennung verdient.

Weltweit allerdings gibt es immer noch Missstände bei der Versorgung mit Spenderorganen. Der globale illegale Organhandel ist kaum empirisch fassbar, da er sich im Dunkeln abspielt; eine Ausarbeitung aus dem Jahr 2017 des Deutschen Bundestags (WD 7 - 3000 - 023/17) kommt zu folgender Feststellung: »Der illegale Handel mit Organen ist in den letzten Jahren zu einem globalen Phänomen und Problem geworden. Beschränkte sich dieses früher noch hauptsächlich auf den indischen Subkontinent und Südostasien, so betrifft es heutzutage jeden Kontinent und damit auch Europa.«

Wenn das Schicksal kommt, ist der Arzt ein Narr.

Persisches Sprichwort

Für Bianca, Bernd und Franz, die mit ihrer jeweiligen Lese(r)-brille dafür gesorgt haben, dass diese Geschichte so erzählt wird, wie sie erzählt wird. Danke, ihr drei!

Fiat justitia, pereat mundus!*

Immer noch ein frommer Wunsch

Weil er sich immer für Kunst und Kultur eingesetzt hat:

Thomas Goppel zum 75. Geburtstag

* Übersetzung: Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde.

1

Sie schlich aus dem Schlafzimmer hinaus auf die Dachterrasse. Nach dem nächtlichen Gewitter roch die Luft frisch. Der Himmel war klar, und im Osten erhellte ein lila-roter Streifen die Dächer der Stadt. Von weit her tönte das Grundrauschen des Mittleren Rings, untermalt von den Rufen des Amselhahns schräg gegenüber, der unermüdlich den Tag begrüßte. Olga genoss diese ruhigen Minuten, wenn der Tag erwachte, besonders auf Sonjas Dachterrasse. Dieser Ort in Höhe der Giebel der Jahrhundertwendehäuser – der vorletzten Jahrhundertwende, um genau zu sein – war ein magischer Ort und ein Geschenk des Schicksals. Ohne Sonja, die noch tief und fest schlief, wäre Olga niemals in den Genuss dieses morgendlichen Augenblicks gekommen. Wie rasch sich ein Leben ändern kann, dachte Olga und erinnerte sich lächelnd an den entscheidenden Abend mit Sonja, der gerade eine Woche zurücklag. Gestern vor einer Woche hatten sie sich beim Italiener zum Dinner getroffen und danach die Nacht miteinander verbracht. In dieser Nacht hatte sich ihr Leben verändert, im wahrsten Sinn von heute auf morgen. Olga konnte es immer noch nicht fassen. Tief in ihrem Herzen spürte sie noch eine gewisse Verunsicherung, nach vielen Jahren mit Liebesbeziehungen zu Männern plötzlich die Liebe mit einer Frau zu erleben. Man krempelt nicht von einer Stunde auf die nächste sein Leben um, ohne darüber nachzudenken, beruhigte sich Olga. Außerdem hatte sie sich in den Menschen Sonja verliebt, in dieses lebendige Geschöpf, das so viel Zärtlichkeit und Geborgenheit schenken konnte. Nicht die körperliche Anziehung, sondern die seelische Zugewandtheit ließ das Gefühl erblühen, das mit Verliebtheit unzulänglich umschrieben war. Jede Stunde mit Sonja war bisher mit Freude erfüllt und gab Olgas Leben zusätzlichen Sinn. Denn das suchte sie trotz ihrer inzwischen 32 Jahre leidenschaftlich: den Sinn ihres Lebens.

Der wiederum war gestern Abend in anderem Zusammenhang infrage gestellt worden. Von klein auf beschäftigte sie das Thema Gerechtigkeit, aber sie musste wieder einmal erfahren, wie schlecht es darum bestellt war, in der Realität zu gerechten Ergebnissen zu gelangen, weil bei ihrem letzten Fall die beiden hauptsächlichen Übeltäter voraussichtlich straffrei davonkommen würden. Man lebt nicht von Luft und Liebe allein, bekräftigte Olga vor sich selbst und beschloss, im Kampf für Gerechtigkeit weiterhin einen Sinn ihres Lebens zu sehen.

Im Osten verbreiterte sich der helle Saum, das Rot changierte in Rosa, das Lila verblasste, und mit der aufziehenden Dämmerung spottete der Amselhahn lauthals über die erwachende Stadt. Die Dächer zeigten ihre Farben, vielfach das Rostrot der traditionellen Dachziegel, dazwischen der Grünspan zweier Kupferdächer, sowie das Grau moderner Aluminiumverkleidungen. Ein Potpourri von Giebel- und Flachdächern bot sich ihrem Blick. Olga genoss diese Schau über Münchens Dächer. So bemerkte sie erst mit der sanften Berührung an ihrer Schulter, dass sich Sonja neben sie gestellt hatte.

»Ein schöner Morgen«, flüsterte sie, »nach einer kurzen Nacht. Hast du gut geschlafen?«

»Wunderbar«, antwortete Olga und wandte Sonja ihr Gesicht zu. Weich trafen sich ihre Lippen zu einem zarten Kuss. »Aber mit dem Ergebnis unserer Diskussion bin ich nicht zufrieden.«

Sonja nahm Olga in den Arm und strich über ihren Hinterkopf. Es lag mehr als Trost in dieser Bewegung. Noch ehe Sonja sprach, spürte Olga Aufmunterung und Mut.

»Wir finden eine Lösung«, versprach die Computerexpertin, »die meine Anwältin zufriedenstellt. Ich habe da eine Idee.«

»Wirklich?«

Sonja nickte und fuhr fort: »Du musst Geduld haben. Zuerst müssen wir Alex helfen, diesen verschollenen Arzt zu finden.«

»Ich sehe schon«, sagte Olga und gähnte, »ihr versteht euch.«

»Alex ist ein spannender Typ, und ihr zwei habt mir mit eurem Fall Appetit auf Ermittlungsarbeit gemacht. Mein Leben wird aufregend, seit du aufgetaucht bist.« Sonja hauchte Olga einen weiteren Kuss auf den Mund, nahm sie bei der Hand und zog sie in die Wohnung.

Während Olga zwei Crema vorbereitete, schnitt Sonja Banane, Erdbeeren und Apfel in zwei Schalen, goss Joghurt darüber, und zerkrümelte einige Walnüsse. Nebenbei erhitzte sie die Pfanne mit einem Stück Butter und schlug vier Eier auf. Sunny side up mit krossem Eiweißrand, so mochten sie beide das Spiegelei am liebsten. Es tut gut, jemanden beim Frühstück am Tisch zu haben, gestand sich Olga ein. Viel zu lange war sie seit Marcos Tod allein gewesen und hatte sich morgens nachlässig ernährt. Wie sich das Leben verändern kann, sinnierte sie und setzte sich an den Küchentresen.

Sonja jagte zwei Birnen und einige Karotten durch den Entsafter, dann nahm sie neben Olga Platz und prostete ihr schelmisch zu. »Auf dein Wohl, Gerechtigkeitsengel!«

»Ist doch wahr«, erwiderte Olga. »Kaum auszuhalten, dass Horbacher und Schusternagel ungestraft fette Beute machen, während andere für zumindest teilweise vorgetäuschte Vergehen in den Knast wandern.«

»Wart’ nur, die kriegen ihr Fett schon ab. Doch zunächst will ich mit Alex den Arzt aufspüren. Findest du das nicht aufregend, was er uns erzählt hat?«

Olga nickte und hörte Alex von der türkischen Frau erzählen, die gestern Nachmittag in seiner Detektei erschienen war und um Hilfe gebeten hatte, ihren spurlos verschwundenen Mann zu finden. Zwei Umstände hielt Olga in diesem Zusammenhang für bemerkenswert: Zum einen die Nähe des Arztes zu dem Moscheenverband DITIP, zum anderen die Empfehlung des weit über München hinaus bekannten Rechtsanwalts Presselt, Frau Atasoy solle sich an Alex Sorger wenden. Wie kam diese Frau an so einen Prominentenanwalt? Ihr Mann war als Oberarzt noch kein Kaliber vom Format üblicher Mandanten Presselts, der zudem nicht dafür bekannt war, sich für Ausländer zu exponieren. Berührungen zu einem umstrittenen Moscheenverband wären dem Staranwalt vermutlich mehr als unangenehm, und die dürfte es geben, weil der im Januar neu gewählte Generalsekretär über zwei Ecken mit dem Vermissten verwandt war.

»In den Computern dieses Verbandes herumzustöbern, macht mich jedenfalls total an«, unterbrach Sonja Olgas Erinnerungen. »Von diesem Verein hat man ja schon einiges gelesen, und man will sich nicht unbedingt mit diesen Herrschaften anlegen – aber genau das finde ich reizvoll.«

»Lieber wäre mir, du hättest etwas Geduld. Vielleicht löst sich das Rätsel rasch und unkompliziert. Hat Alex nicht gesagt, in mehr als der Hälfte solcher Fälle steckt eine andere Frau dahinter?«

»Das liegt an seiner Stammklientel – untreue Ehemänner. Aber nein, dieser Doktor Atasoy wird nicht wegen einer anderen Frau davonlaufen. Da steckt mehr dahinter.«

»Wir werden sehen. Wann triffst du dich mit Alex?«

»Früher Nachmittag. Danach geht er ins Theater.«

»Felix Krull, ich weiß.« Olga lachte. »Seine Dorothee macht ihm ganz schön Beine.«

2

Er tastete sich einen dunklen Korridor entlang, hinter sich ein schabendes Geräusch. Er drehte sich um, konnte jedoch im Düstern nichts erkennen. Wo war er? Er fühlte sich orientierungslos und zunehmend hilflos. Obwohl er immer schneller ging, kam das Geräusch näher. Geradeaus, nur geradeaus verlief der Weg, die Dunkelheit wurde beinahe schwarz. Nun musste er die Arme nach vorn strecken. Es war stockfinster und er sah nichts mehr. Das Geräusch kam näher, wurde lauter, klang wie das Kratzen von Metall auf Steinboden, eher schleifend als klackernd. Unheimlich. Besorgniserregend. Ihm brach der Schweiß aus, er lief los, hinein in ein Nachtschwarz, wie er es nicht kannte. Arme voraus, rennen, atmen, kurzatmig werden. Angst. Laut nun das Geräusch, unmittelbar hinter ihm. Ein kalter Lufthauch …

Schreiend wachte Alex Sorger auf. Wie immer, wenn er diesen Traum erleiden musste. Dabei träumte er diese Szene seit vielen Jahren so regelmäßig, dass er sich nach dem Aufwachen mittlerweile fragte, warum ihn diese surreale Situation so ängstigte. Sein Leben als Privatermittler hielt kaum Aufregendes bereit. Weder war er in den letzten zehn Jahren in eine tätliche Auseinandersetzung verwickelt gewesen noch in eine Verfolgungsjagd. Seine Waffe war neuerdings eine Canon EOS RP mit bestechender Bildqualität, leicht und kompakt, und der blitzschnelle Autofokus half ungemein bei den Schnappschüssen auf die abenteuerlustigen Männer, denen er im Auftrag der betrogenen Ehefrauen auflauerte. Mal sehen, dachte Alex und schälte sich aus dem zerwühlten Bett, ob es sich bei Bülent Atasoy um einen Durchschnittskunden handelt oder ob sein spurloses Verschwinden einen ernsteren Hintergrund aufweist.

Während er duschte, erinnerte er sich an den Besuch der verängstigten Ehefrau, die ein idealisiertes Bild ihres Gatten gezeichnet hatte, sowie daran, dass seine erste, oberflächliche Recherche an Atasoys Arbeitsplatz zu keiner Erkenntnis geführt hatte. Wobei er bisher lediglich einen kleinen Rundgang durch die Chirurgische Klinik hatte unternehmen können, ehe er sich mit Olga und Sonja hatte treffen müssen. Beim Gedanken an Olga, die junge Anwältin, die ihn vor drei Jahren in einem Verfahren wegen Hausfriedensbruchs herausgehauen hatte und mit der er seitdem befreundet war, lächelte er. Sie hatte ihn gestern Abend damit überrumpelt, ihm Sonja als ihre Freundin vorzustellen. Aber irgendwie war er kaum überrascht: Er hatte schon seit längerem das Gefühl gehabt, dass sie nicht übermäßig an Männern interessiert war. Zumindest nicht, seit ihr Lebensgefährte und Kletterpartner Marco, den er leider nie persönlich kennengelernt hatte, auf tragische Weise verunglückt war.

Sonja schien ein außergewöhnlicher Mensch zu sein, in den man sich durchaus verlieben, den man aber auf jeden Fall sympathisch finden konnte. So war es gestern nicht bei einem Kirschweizen in Olgas Lieblingsgrillbar in der Maxvorstadt geblieben. Als sie sich kurz vor Mitternacht verabschiedet hatten, hatte Alex den Überblick über die genossenen Alkoholika verloren, aber interessante Einsichten gewonnen. Einerseits waren sie sich einig geworden, das Ergebnis ihrer aktuellen Recherchen über Horbacher und Schusternagel nicht tatenlos im Raum stehen zu lassen, sondern der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen. Andererseits waren sie zu einer zukunftsweisenden Übereinkunft für eine nachhaltige Zusammenarbeit gelangt: Sowohl Sonja als auch Olga wollten ihn im Fall des vermissten Bülent Atasoy unterstützen.

Beschwingt stieg er aus der Dusche, zog sich an und machte sich auf den Weg in sein Büro in der Innenstadt. Noch war wenig Verkehr und das Fahrradfahren durch die frische Luft machte Spaß. Das Gewitter hatte die dringend notwendige Abkühlung gebracht, heute würde seit Langem der erste Tag mit Höchsttemperaturen unter 30 Grad sein. Gut für den Theaterbesuch, freute sich Alex, der aufgeregt war, weil er mit seiner neuen Flamme Dorothee das erste Mal zu einer Aufführung gehen würde. Sie kannte die Inszenierung schon und hatte sich als profunde Theaterliebhaberin geoutet. Alex hingegen ging nur gelegentlich ins Kino oder Theater und fürchtete ein wenig, sich bei der scharfsinnigen Staatsanwältin, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte, als Kulturbanause zu blamieren. Doch als er sein Büro betrat und die Fenster öffnete, um die klare Luft hereinzulassen, schob er den anstehenden Theaterbesuch beiseite. Erst musste er in Sachen Atasoy ein paar Hausaufgaben erledigen.

Je mehr Alex zu Bülent Atasoy aus dem Internet herauszog, umso größer wurde sein Respekt vor dem Arzt, der in einer der Münchner Universitätskliniken als leitender Oberarzt arbeitete und, wenn er das Organigramm richtig interpretierte, unmittelbar unterhalb des Chefarztes der Vorgesetzte von rund 50 Ärzten war. Als außerplanmäßiger Professor führte er neben seiner chirurgischen Tätigkeit umfangreiche Forschungsarbeiten durch und veröffentlichte hochkarätige Studien, leitete eine vielköpfige Forschergruppe, war mehrfacher Doktorvater und international nachgefragter Referent auf diversen Kongressen, darunter einige Großereignisse der Pharmaindustrie. Seine Profile auf LinkedIn, Xing und Facebook zeigten einen strahlenden Mann mit dynamischer Karriere und einer Breite an Zusatzqualifikationen, die ihresgleichen suchte. Das alles mit gerade einmal 45 Jahren, dazu war er Vater dreier Söhne und Gatte einer attraktiven Frau.

Auf Facebook konnte sich davon jeder selbst ein Bild machen, denn mit offensichtlicher Freude hielt er auf seinem Profilfoto seine Frau im Arm und präsentierte die drei Söhne mit einem Stolz, wie er nur einem glücklichen Familienvater eigen ist.

Der steht auf der Sonnenseite des Lebens, dachte Alex Sorger und wunderte sich lediglich, dass auf dem Bewertungsportal keine einzige Bewertung zur ärztlichen Leistung des Chirurgen zu finden war, obwohl dort etliche Details registriert waren und seine Seite oft aufgesucht wurde. Kann man einen Chirurgen nicht bewerten?, fragte sich Alex Sorger, googelte noch ein wenig und stellte fest, dass Klinikärzte grundsätzlich keine individuellen Bewertungen bekamen. Dann dürfte Atasoy in der Tat ein Erfolgsmensch sein, folgerte Alex, denn nicht nur Atasoys Werdegang – vom Studenten zum Arzt, dann Doktortitel, Facharzt für Chirurgie, anschließend Facharzt für Viszeralchirurgie (nachschlagen, was das bedeutet, notierte Alex auf einem Schmierzettel), dann Privatdozent und Oberarzt, geschäftsführender Oberarzt, leitender Oberarzt und neuerdings außerplanmäßiger Professor – zeugte von Zielstrebigkeit. Nein, auch sein Motto, »Geht nicht gibt’s nicht!«, das er auf Facebook eingestellt hatte, bewies seinen Ehrgeiz. Vermutlich war Atasoy ein durchsetzungsfähiger Chef.

Damit kann man sich Feinde machen, überlegte Alex. Mit Twitter dagegen eher nicht, denn er besaß zwar ein Konto, aber es fanden sich von ihm keinerlei Tweets. Ebenso wenig gab es Hinweise auf Vereins- oder Parteimitgliedschaften. Die virtuellen Fingerabdrücke beschränkten sich auf seinen Beruf und die Familie, und wenn man annahm, dass der BMW X5, vor dem er sich mit seinen kleinen Söhnen hatte ablichten lassen, sein Eigentum war, konnte man über das allgemeine Wissen hinaus, wie gut Ärzte verdienten, erahnen, dass er über Vermögen verfügte.

Rasch listete Sorger anhand des Publikationsverzeichnisses einige Forschungsthemen auf, die sich mit Krebserkrankung, Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse und Darm befassten, fast alles auf Englisch und so fachspezifisch, dass Alex es rasch aufgab, im Wörterbuch nachzuschlagen. Eher aus Neugier, und weil ihm noch fünf Minuten blieben, googelte er den Chefarzt der Klinik und fand einige ältere Schlagzeilen mehrerer Münchner Tageszeitungen: »Organspende-Skandal« – »Chirurgie-Direktor gefeuert!«

»Da schau her«, murmelte Alex und druckte die Artikel einen nach dem anderen aus, wobei er in einem Beitrag einen Absatz, den er besonders interessant fand, mit Leuchtstift markierte: Nach hiesigen Informationen geht es inzwischen nicht mehr nur um Manipulationen, durch die einzelne Kranke schneller eine Spenderleber erhielten. Einer Patientin ist darüber hinaus eine Leber transplantiert worden, obwohl dies nach Ansicht von Fachleuten gar nicht nötig gewesen sei. Die Patientin litt unter einer chronischen Hepatitis C. Ihre Leber arbeitete aber noch so gut, dass ihre Werte unbedenklich waren. Dennoch wurde ihre Leber durch das Organ eines 80-jährigen Spenders ersetzt. Nach vier Wochen versagte die Spenderleber. Es folgten zwei weitere Transplantationen, doch die Patientin starb. Aus Klinikkreisen heißt es, alle zuständigen Ärzte hätten sich wegen vermuteter Erfolg-losigkeit gegen die dritte Transplantation ausgesprochen. Warum sich der Chirurgie-Chef über die Bedenken hinwegsetzte, ist unklar.

Ob Atasoy in diese Angelegenheit verwickelt war? Spannende Frage; später, wenn ihn Sonja besuchen käme, um über einige Internetrecherchen der besonderen Art zu sprechen, würde er diesen Aspekt mit ihr erörtern. Jetzt schloss er die Augen und rekapitulierte die Schilderungen der besorgten Ehefrau. Obwohl ihm sofort der naheliegende, weil in solchen Fällen immer auftauchende Gedanke durch den Kopf geschossen war, dass der Ehemann einen durchaus femininen Grund haben könnte, von der Bildfläche zu verschwinden, stellte Alex die Vorstellung, der türkischstämmige Chirurg vergnüge sich irgendwo mit einer Geliebten, zunächst zurück. Der Doktor war mit Sicherheit ein ehrgeiziger Erfolgs-, aber eben auch ein Familienmensch. Er würde vermutlich mit hemmungsloser Selbstverständlichkeit eine Geliebte haben, aber nicht mit dieser durchbrennen, und falls doch, hätte er eigentlich kaum einen Grund, es heimlich zu tun. Von daher, schlussfolgerte Alex, habe ich es nicht mit einer eifersüchtigen, sondern in der Tat mit einer besorgten Ehefrau zu tun, wofür insbesondere der Umstand spricht, dass sie auf Empfehlung von Rechtsanwalt Presselt meine Hilfe gesucht hat. Er kannte den prominenten Anwalt allzu gut. Florian Presselt war ein mit allen Wassern gewaschener Jurist, ein schlauer Fuchs, der mit empfindsamer Nase durch jedes rechtliche Unterholz schnüffelte, um die seinen Mandanten genehme Beute aufzuspüren und zu erlegen. Der schickte ihm nicht einfach eine besorgte Ehefrau, der hatte seine eigenen Gedanken.

Ich muss mit ihm sprechen, beschloss Alex und schenkte sich ein Glas aufgesprudeltes Wasser ein. Es schmeckte schon ein wenig fad, aber er hatte zu wenig getrunken und spürte hinter den Schläfen den Anflug von Kopfschmerzen heraufziehen. Ein Glück, dass manchmal die einfachen Dinge wirken, dachte er und griff zum Telefon.

»Ihren Anruf habe ich bereits gestern erwartet.« Presselt klang besorgt. »Wir sollten uns rasch zusammensetzen, lieber Herr Sorger. Haben Sie noch Kontakt zu dieser jungen Anwältin … wie hieß sie gleich noch mal?«

»Meinen Sie Frau Swatschuk?«, fragte Alex überrascht.

»Genau. Die ist tüchtig. Bringen Sie die Kollegin mit – sagen wir um 17:30 Uhr in meinem Innenstadtbüro.«

»Wie viel Zeit sollen wir einplanen?«

»Gute Stunde genügt fürs Erste. Abgemacht?«

»Geht klar. Bis dann.«

Alex schüttelte den Kopf. Mit was für einer Selbstverständlichkeit der Promianwalt seine Vorstellungen umsetzte, nötigte ihm Respekt ab. Da gab es weder Zögern noch Zaudern, kein überflüssiges Wort und kein Wenn und Aber. Wenn Presselt etwas sagte, galt es. So einfach war das, wenn man Charisma hatte. Aber warum wollte er Olga dabeihaben? Was hatte das zu bedeuten? Die Suche nach Bülent Atasoy versprach mehr als spannend zu werden.

3

Heute war der vierte Tag der Hauptverhandlung gegen ihren derzeit wichtigsten Mandanten Rolf Mergenthaler, dem ein schweres Konkursvergehen zur Last gelegt wurde. Olga nahm ihren Platz auf der Verteidigerbank ein und sortierte ihre Unterlagen. Vermutlich konnte die Beweisaufnahme bis zum Mittagessen abgeschlossen werden, dann stand ihr über das Wochenende die Arbeit am Plädoyer bevor.

Noch ließ sich keine Tendenz erkennen, in welche Richtung sich die Waage von Justitia neigen würde, denn die entscheidende Frage, wann ihr Mandant von der Zahlungsunfähigkeit seiner Firma hatte wissen müssen, harrte noch einer endgültigen Antwort. Licht ins Dunkel sollte am Vormittag die Aussage eines Bankmitarbeiters bringen, von dessen Integrität Rolf Mergenthaler überzeugt war. Lief alles glatt, könnte man auf einen Freispruch hoffen.

Als das Gericht den Sitzungssaal betrat, poppte auf ihrem Smartphone eine SMS auf. Sie erhob sich und ignorierte die Nachricht. Gleich darauf ging es bei der Zeugenvernehmung zur Sache. Der Banker tat alles andere, als ihren Mandanten zu entlasten; im Gegenteil trug er vor, in mehreren Telefonaten und persönlichen Gesprächen frühzeitig auf die drohende Illiquidität hingewiesen zu haben.

Nach einiger Zeit hielt es ihren Mandanten nicht mehr auf dem Stuhl. »Lügner!« Schreiend sprang Mergenthaler auf und schwang die Faust. Es bedurfte dreier Ermahnungen durch den Vorsitzenden, bis sich der Unternehmer beruhigte.

Auf Olgas Antrag wurde die Sitzung unterbrochen und auf den kommenden Dienstag vertagt. Olga musste sich mit Rolf Mergenthaler beraten, mit welcher Strategie die Glaubwürdigkeit des Bankers erschüttert werden könnte. Sie spürte, dass ihr in diesem Fall die Felle davonschwammen. Hatte sie das Prozessmaterial und ihren Mandanten falsch eingeschätzt?

Nun bereute sie es, in den zurückliegenden zehn Tagen so viel Energie in die Pflichtverteidigung einer trivialen Untreue investiert zu haben, anstatt sich ausschließlich mit diesem komplexen Bankrott zu befassen. Zwar hatte sie in dem Untreueverfahren mit der Staatsanwaltschaft zu Gunsten ihres Mandanten Martin Prodger eine Übereinkunft erzielen können, gegen Auflagen keine Anklage zu erheben, aber insgesamt waren die Umstände dieses Bagatellfalls unerfreulich geblieben. Sie waren zwei Betrügern auf die Schliche gekommen, die mangels gerichtsverwertbarer Beweise unbehelligt blieben. Gestern Abend hatten sie in Olgas Lieblingsgrillbar lang über diese Ungerechtigkeit diskutiert und waren zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen.

Mal sehen, was Sonja dazu einfällt, dachte Olga in Erinnerung an die Unterhaltung am Frühstückstisch und schob die Gedanken beiseite. Jetzt galt es, das Bankrottverfahren zu retten.

Doch Rolf Mergenthaler winkte müde ab. »Vergessen Sie’s«, kapitulierte er. »Da läuft eine wasserdichte Intrige. Hier gibt es für mich nichts mehr zu gewinnen. Nehmen Sie diesen Typen nächsten Dienstag in die Mangel wie Sie wollen, es wird nichts nützen. Vergeuden wir heute Nachmittag nicht unsere Zeit mit einer aussichtslosen Diskussion.« Mit hängenden Schultern verließ er den Sitzungssaal.

Frustriert stopfte Olga ihre Prozessunterlagen in die Tasche, verließ das Gerichtsgebäude und überquerte die Straße hinüber zu dem kleinen Café, das bei Münchner Juristen beliebt war. Sie bestellte sich einen Latte macchiato, griff nach ihrem Smartphone und las die Kurznachricht: Bitte unbedingt um 17:30 Uhr Treffen mit RA Presselt in dessen Innenstadtbüro, Alex.

Was hatte das zu bedeuten? Sicher ging es um diesen verschwundenen Arzt, doch warum so geheimnisvoll? Was für ein Spiel spielte der Prominentenanwalt? Warum sollte sie zu einem Treffen kommen, was hatte sie mit dieser Angelegenheit zu schaffen?

DerLatte macchiatohellte ihre Stimmung auf. Sie grübelte nicht länger, sondern tat Alex den Gefallen und antwortete, sie werde rechtzeitig vor Ort sein. Außerdem war sie neugierig auf den Fall und auf den berühmten Anwalt, mit dem sie vor einiger Zeit in einer belanglosen Angelegenheit zu tun gehabt hatte, den sie aber nicht näher kannte. Sie trank den Kaffee aus, bezahlte und radelte in ihre Kanzlei. Nachdem ihr Angela, die Anwaltsgehilfin, zugerufen hatte, dass alles ruhig war und nichts Besonderes anstand, schnappte sich Olga ihre Sporttasche, schwang sich wieder auf den Sattel und fuhr ins Fitnessstudio.

Sonja schwitzte auf dem Crosstrainer. Olga konnte Sonjas Freude sehen, als sie das Gerät neben ihr bestieg, und sofort wogte Wärme durch ihren Bauch. Wow, dachte Olga, wie heftig sie auf mich wirkt, und ein Lächeln des Glücks überzog ihr Gesicht.

Sonja hatte offensichtlich noch gar nicht mit Olga gerechnet, denn sie fragte erstaunt: »Ist dein Verfahren schon fertig? Du hast doch befürchtet, heute gar nicht zum Sport zu kommen.«

»Frag nicht«, erwiderte Olga. »Der Prozess Mergenthaler geht in die Hosen.«

»Auweia. Das ist doch dein wichtigster Kunde.«

»Tja«, seufzte Olga und trat kräftig in den Crosstrainer, »es ist, wie es ist. Aber mit dem türkischen Arzt scheint es spannend zu werden. Alex hat mich zu einem Treffen mit dem Promianwalt gebeten.«

»Aha. Warum?«

»Wenn ich das wüsste.«

»Das finden wir raus. Ich bin nach dem Training mit Alex verabredet. Begleitest du mich?«

Olga nickte und strich Sonja kurz über die Wange.

Sonja strahlte: »Schön, dass du da bist.«

Alex empfing sie mit einem breiten Grinsen und berichtete von dem zweiten Besuch, den ihm Frau Atasoy am späten Vormittag abgestattet hatte. Bereitwillig war sie seiner Einladung gefolgt, noch einmal im Büro vorbeizukommen, und hatte von diversen Kontaktaufnahmen berichtet, welche türkische Organisationen in letzter Zeit zu ihrem Mann unternommen hatten. Allerdings wusste sie kaum etwas über die Ziele dieser Institutionen. Selbst über DITIP schien sie wenig informiert, außer dass ihr Mann entfernt mit dem Generalsekretär des Moscheenverbands verwandt war. Mehrfach hatte sie das gering ausgeprägte politische Interesse ihres Mannes betont und gleichwohl ihre Befürchtung angedeutet, sein Verschwinden könne mit türkischen Interessenvertretern zusammenhängen.

»Wir müssen uns in diesem Bereich schlaumachen«, unterbrach Alex seinen Bericht. »Ich wäre froh, wenn du, Sonja, zunächst einmal mit erlaubten Mitteln recherchieren könntest, mit wem wir es zu tun haben.«

Sonja nickte, und Alex erwähnte den zweiten Ansatz, den er lohnenswert fand, nämlich die Frage, ob und wie Bülent Atasoy in den Transplantationsskandal am Klinikum verwickelt sein könnte.

»Seine Frau hat das weit von sich gewiesen«, führte Alex aus. »Damals hätte Bülent mit Transplantationen fast gar nichts zu tun gehabt. Er war damals auch nicht der verantwortliche Oberarzt. Erst nach den Unregelmäßigkeiten ist er geschäftsführender Oberarzt geworden. Der für diesen Schlammassel Verantwortliche hat die Klinik längst verlassen. Wortwörtlich hat Gülay Atasoy gesagt: ›Der hat schon immer sein eigenes Süppchen gekocht und dann den anderen den Scherbenhaufen hinterlassen.‹ Trotzdem bin ich unsicher, ob sie recht hat; vielleicht sieht sie ihren Mann nur in mildem Licht und in dem anderen den Sündenbock. Jedenfalls sollten wir hier nachbohren, und sei es nur, um das Thema auszuschließen. Ob wir in diesem Zusammenhang mit legalen Mitteln an handfeste Informationen kommen, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht müssen wir zaubern. Was meinst du, Sonja?«

»Nichts lieber als das, schließlich ist Hacken das Salz in der Suppe«, zeigte sich Sonja begeistert. »Aber muss man nicht zuerst im Umfeld des Vermissten ermitteln, ob jemand etwas weiß oder wissen müsste?«

»Gestern habe ich einen Rundgang durch das Klinikum gemacht, aber keine Ansprechpartner gefunden – schließlich musste ich mit euch Kirschweizen trinken. Seine Frau hat mir glaubhaft versichert, niemand aus seinem Umfeld wüsste, ob und was geschehen ist. Sein Handy ist ausgeschaltet. Warten wir ab, was uns Rechtsanwalt Presselt mitzuteilen hat.«

»Ungewöhnlich, uns sprechen zu wollen«, warf Olga ein. »Hast du eine Ahnung, um was es geht?«

Alex nickte nachdenklich. »Vermutlich um zwei, drei schützenswerte Patienten unseres Arztes. Deretwegen, das weiß ich von seiner Frau, ist Presselt seit Längerem mit Atasoy in Kontakt. Und weil es sich offensichtlich um heikle Angelegenheiten handelt, ist sie mit ihren Sorgen zu Presselt gegangen.«

»Aber der hat sie abtropfen lassen«, warf Olga ein.

»Nein, sonst hätte er sie nicht zu mir geschickt. Presselt ist sehr besorgt. Er will mich im Boot haben, und offensichtlich auch dich, Olga. Er scheint dich einmal erlebt zu haben?«

»In einem belanglosen Verfahren saßen wir uns gegenüber und haben uns verglichen. Das war das einzige Mal, dass ich mit ihm zu tun hatte.«

»Vermutlich genügt das dem alten Fuchs bereits. Außerdem, ich habe es noch nie erzählt, habe ich schon öfter für ihn verdeckt ermittelt und ihm natürlich von meinen Problemen mit der Anzeige wegen Hausfriedensbruchs und davon erzählt, wie du mich herausgehauen hast.«

»Wieso hat er dich damals nicht verteidigt?«

»Offiziell will er keine Berührungspunkte mit mir haben. Nachvollziehbarerweise, sonst könnte ich für ihn keine verdeckten Ermittlungen durchführen. Und was es für ein Glücksfall für mich war, dich kennenzulernen, Olga …« Er ließ den Satz unvollendet.

»Dann handelt es sich wieder um einen verdeckten Auftrag«, folgerte Sonja. »Echt spannend das Ganze.«

»Wie willst du vorgehen?«, fragte Olga. »Bei Vermisstenfällen ist Zeit ein wesentlicher Faktor.«

»Da hast du recht«, stimmte Alex zu. »Daher würde ich Sonja bitten, sich im Krankenhaus umzusehen und dem Moscheenverband ein paar Geheimnisse zu entlocken.«

»Wie soll das gehen?« Sonja schien ratlos.

»Digital natürlich. Stöbere einfach durch die Klinikhomepage und schau, was es für Querverbindungen zu unserem Doktor gibt. Daneben kannst du noch ein wenig in die Philosophie von DITIP eindringen. Also erst mal eine simple Internetrecherche über frei zugängliche Quellen. Mal sehen, auf was wir stoßen.«

»Kann uns die Ehefrau Zugang zum Computer ihres Mannes verschaffen?«

Olga blickte überrascht zu Sonja. Was für ein guter Gedanke. Olga spürte den Stolz auf ihre Freundin, erst recht, als Alex zugab, daran noch nicht gedacht zu haben.

»Super Einfall«, lobte er, »ich rufe Frau Atasoy sofort an.«

Eine halbe Stunde später radelte Olga mit Sonja durch die sommerliche Stadt. Die lastende Hitze der letzten Tage war angenehmer Wärme gewichen. Trotzdem war die freitagnachmittägliche Aggression der Menschen hinter ihren Windschutzscheiben auf den verstopften Straßen spürbar. Alle wollten aus der Stadt hinaus, was für viele bedeutete, erst einmal quer hindurchzufahren, und Olga empfand beim Anblick der hupenden Autofahrer zunehmend Sympathie für die jungen Menschen, die heute wieder auf die Straße gegangen waren, um sich für Umweltschonung und Klimabewusstsein einzusetzen. Der Straßenverkehr in München hatte längst überhandgenommen, höchste Zeit, etwas zu ändern. Andererseits war es den vielen Pendlern nicht zu verübeln, mit dem Auto zu fahren, wenn die S-Bahn statt mit Zuverlässigkeit durch Pannen von sich reden machte. Zum Glück, freute sich Olga, kann ich in der Stadt fast alles mit dem Fahrrad erreichen, selbst die Wohnung eines vermissten Arztes.

Sie kamen am Wohnhaus der Atasoys in Bogenhausen an und sperrten ihre Räder aneinander. Ehe sie auf die Haustür zugingen, umarmten und küssten sie sich.

»Es ist schön mit dir, meine süße Bergziege – und spannend«, bemerkte Sonja, ergriff Olgas Hand und zog sie zu dem barock wirkenden Eingang. Allein diese Geste ließ in Olga dieses Kribbeln aufleben, das sie seit dem ersten Kuss von Sonja immer wieder empfand; und mit diesem Kribbeln wuchs die Vorfreude auf den Abend mit seinen zärtlichen und lustvollen Minuten. Jetzt aber fokussierte sich Olga auf die anstehende Aufgabe und drückte den Klingelknopf bei »Atasoy«.

Der Türöffner summte, sie betraten ein feudales Foyer mit ausladendem Treppenhaus. Zwei Stockwerke hinauf, schon standen sie vor einer schweren Eichentür, die geöffnet wurde, als sie ins Sichtfeld des Spions traten.

Frau Atasoy empfing sie in einem weiten Hosenanzug, der ihre rundlichen Formen geschickt verschleierte. Das markante und trotzdem fein gezeichnete Gesicht erweckte bei Olga sofort Sympathie. Den großen braunen Augen sah sie den Kummer an, der die Arztfrau plagte.

»Kommen Sie herein«, bat sie ihre Gäste und führte sie durch einen großzügigen Flur in ein nüchtern und modern eingerichtetes Wohnzimmer. »Darf ich Ihnen einen Mokka anbieten?«

Olga und Sonja nickten und blickten sich im Raum um, während Gülay Atasoy durch eine Zwischentür verschwand. Auf dem rechteckigen Rauchglastisch lag ein flaches MacBook Pro, das neueste Modell, wie Olga anerkennend feststellte. Rund um den Tisch standen ein Sofa für drei Personen und drei Sessel in klassischem Bauhaus-Design, streng und geradlinig in gedämpftem Bordeauxrot. Rechts und links der Couch ragten zwei Stablampen auf, zwei würfelförmige Deckenfluter illuminierten Tisch und Sitzgruppe. Ein Edelstahlbücherregal nahm die linke Schmalseite des Raums ein, rechts neben der Durchgangstür zu einem Nebenzimmer stand ein Stahlschrank mit Hausbar. An der weißen Wand hinter dem Sofa hingen drei breitformatige Schwarz-Weiß-Fotografien von Istanbul. Ansonsten war das Wohnzimmer leer, und, was Olga sofort auffiel: kein Fernsehgerät. Den Wohnraum einer türkischen Familie hatte sie sich definitiv anders vorgestellt.

Immerhin trug Gülay Atasoy nun ein Mokkakännchen und drei Mokkatassen auf einem runden Kupfertablett herein und stellte es in die Mitte des Tisches, ehe sie sich in einen der Sessel setzte und Olga und Sonja mit einer eleganten Handbewegung einlud, von dem Mokka zu nehmen. Mit ihren hoch angesetzten Wangenknochen und dem schmalen Rücken ihrer Nase hatte sie etwas Slawisches an sich, aber das dunkle Haar, buschige Augenbrauen und dichte Wimpern ließen durchaus auf ihre orientalische Herkunft schließen.

»Sie unterstützen Herrn Sorger bei der Suche nach meinem Mann?«, fragte sie mit angenehmer, aber zittriger Stimme. »Er ist nun schon zwei Tage verschwunden. Ich habe Angst.«

»Das verstehen wir sehr gut, Frau Atasoy«, bemühte sich Olga um einen mitfühlenden Tonfall, während sie sich Kaffee einschenkte. »Mein Name ist Olga Swatschuk, ich bin Rechtsanwältin und werde heute gemeinsam mit Herrn Sorger bei Herrn Rechtsanwalt Presselt sein, um gewisse Aspekte dieser Vermisstenangelegenheit zu erörtern. Neben mir sitzt Frau Sonja Lankess, unsere Computerspezialistin, die mit Ihrem Einverständnis den Laptop Ihres Mannes auf Hinweise zu seinem möglichen Verbleib untersuchen wird. Haben Sie irgendeine Vorstellung, was geschehen sein könnte?«

»Ich bin ratlos«, antwortete Gülay Atasoy und rang um Fassung. »Deshalb habe ich Angst. Eigentlich ist er sehr beliebt, aber vielleicht hat er Feinde, vielleicht mag nicht jeder in einer deutschen Klinik einen Türken als leitenden Oberarzt … Aber meine Sorge geht in eine andere Richtung. Ich habe Angst vor Einflüssen aus der Türkei. Mein Mann ist weder politisch noch sehr religiös, trotzdem gab es in den letzten Monaten wiederholte Kontaktversuche von DITIP-Leuten. Mein Mann hat mir keine Einzelheiten verraten, keine Ahnung, was die wollten. Aber diese Leute sind der verlängerte Arm des Präsidenten. Das beunruhigt mich. Verstehen Sie das?«

»Stehen Sie oder Ihr Mann dem Präsidenten kritisch gegenüber?«, fragte Sonja.

»Im Gegenteil«, erwiderte sie, »Bülent ist überzeugt von Erdogans Politik. Die Türkei hat seiner Meinung nach in vielen Bereichen große Fortschritte gemacht. Trotzdem will Bülent in keine politischen oder religiösen Aktivitäten einbezogen werden. Das könnte bei gewissen Leuten negativ ausgelegt werden.«

»Gibt es Verbindungen zu DITIP?«, fasste Olga nach.

»Mein Mann ist mit dem neuen Generalsekretär verwandt. Abdurrahman ist der Sohn des Cousins des Vaters meines Mannes.«

»Herrje«, stöhnte Olga, »das ist ziemlich weit weg.«

»Richtig«, bekräftigte sie, »aber kurz nach seiner Wahl Anfang des Jahres fingen die Kontaktversuche an.«

»Ihr Mann hat sich stets ablehnend gezeigt?« Während Sonja die Frage stellte, griff sie nach dem MacBook und klappte es auf. »Kennen Sie das Kennwort?«

»Natürlich nicht. Brauchen Sie das?«

»Passt schon, ich komme ohne klar«, winkte Sonja ab und loggte sich über den Gastzugang ein.

»Mein Mann war stets sehr reserviert«, beantwortete Gülay Atasoy nun die zuerst gestellte Frage. »Aber er hat einen nennenswerten Betrag gespendet.«

»Das sollte die Freundschaft hinlänglich erhalten«, bemerkte Olga und schaute ihrem Gegenüber in die braunen Augen.

Es wurde still im Raum, nur noch das leise Rauschen des nahen Prinzregentenplatzes drang durch ein gekipptes Fenster. Sonja vertiefte sich in den Computer, tippte immer wieder etwas auf der Tastatur und schien die Welt um sich herum vergessen zu haben. Olga hielt Blickkontakt mit Gülay Atasoy und tat, was sie am liebsten tat, wenn sie mit jemand erstmals Kontakt hatte: schweigen und warten, was der andere von sich aus berichtet. Diese Strategie ging fast durchweg auf, so auch bei der sorgenvollen Ehefrau: Sie brach die Stille mit der Frage auf, Olga glaube wohl nicht an einen Zusammenhang zwischen den Kontaktanbahnungen und Bülents Verschwinden.

»Das habe ich so nicht gesagt«, erwiderte Olga, »aber ich würde an Ihrer Stelle über weitere Möglichkeiten nachdenken.«

»Sie denken an eine andere Frau«, flüsterte sie und schluchzte. Ihre Mundwinkel zitterten heftig. »Bülent ist ein starker …« Sie stockte kurz, ehe sie fortfuhr, »… lebendiger Mann …« Sie weinte.

Olga verstand diese Metapher und schwieg, Sonja versteckte sich hinter dem Bildschirm und tippte und tippte.

»Er würde niemals seine Familie wegen einer anderen Frau im Stich lassen«, schluchzte Gülay Atasoy. Sie wischte sich die Augen, dann reckte sie plötzlich ihr Kinn vor und schrie: »Niemals!«

4

Aus lauter Langeweile schlug Leone Riello in Wikipedia nach und las: Der Begriff des Maklers bezeichnet in Deutschland den Vermittler einer Gelegenheit zum Abschluss von Verträgen. Er lachte lautlos in sich hinein und kippte das Gläschen mit dem Nuss-Schnaps. Haselnuss. Kräftiges Aroma, weich im Abgang, genauso, wie Leone klare Obstbranntweine mochte. Obwohl er eigentlich eine kräftige Grappa jedem Obstbranntwein vorzog, allein schon aus heimatlicher Verbundenheit.

Seine Wiege stand in Valbrona, wo er bis in seine eigenen Zwanziger hinein den Eltern im Albergo Sala zur Hand gegangen war, nicht nur aus Dankbarkeit für die Möglichkeit einer soliden Ausbildung an der Geige, sondern auch aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, denn mit der Musik konnte er seinen Lebensunterhalt nicht verdienen. Trotz seiner ungebrochenen Liebe zur Violine hatte sich daran im zurückliegenden Vierteljahrhundert nichts geändert, obwohl er viele seiner freien Minuten seiner Guarneri widmete.

Eine Schande, diese gut erhaltene Violine aus dem frühen 18. Jahrhundert dem breiten Publikum vorzuenthalten, dachte Leone und überlegte wieder einmal, sich als Makler in eigener Sache zu betätigen und den Intendanten der Mailänder Scala davon zu überzeugen, ihn für ein Violinkonzert einzuladen. Die Sache hatte leider nicht nur einen Haken: Niemand wusste, dass er im Besitz dieser Geige war, und weil er sie als Maklercourtage für eine besonders erfolgreiche Geschäftsvermittlung erhalten hatte, durfte das auch niemand erfahren. In der Sammlung von David L. Fulton in Seattle gingen die amerikanischen Kulturbanausen jedenfalls davon aus, sie besäßen das Original; die dortige Kopie fand Leone wirklich äußerst gelungen. Nun, zur Not könnte er mit seiner Mittenwalder Geige von Georg Reiter aufspielen, doch ein öffentlicher Auftritt würde womöglich sein einträgliches Geschäftsmodell beeinträchtigen, und seinen Lebensstil konnte er nur dank effektiver und geräuschloser Vermittlungstätigkeit finanzieren. Dabei lebte Leone bescheiden, fuhr beispielsweise bevorzugt mit seinem unauffälligen Skoda und löste im Zug ein Ticket zweiter Klasse, wenn nicht gerade der Supersparpreis für die erste Klasse günstiger war. Flugzeuge mied er, wo er konnte, und wenn, nahm er den Aufpreis für die bequemeren Sitze am Notausgang in Kauf, flog aber Economy und niemals Business oder gar First Class. Das erregte nur unnötig Aufmerksamkeit. Lieber erfreute er sich seiner Möglichkeiten im Verborgenen, weshalb er in seinem Landsitz in Vignola nicht nur die Guarneri aufbewahrte und im schallgeschützten Keller spielte, sondern auch an einem Original von Lukas Cranach seine Freude hatte.

Den Alltag versüßten ihm zweifellos seine diversen Unterkünfte, die es ihm ermöglichten, trotz einer gewissen Internationalität seiner Geschäfte vielfach ohne Hotelaufenthalte auszukommen. In London gehörte ihm ein unscheinbares Loft in Camden, in Rom besaß er ein kleines Zwei-Zimmer-Appartement in der Via di Montoro und in München bewohnte er eine kompakte Drei-Zimmer-Dachgeschosswohnung mit Blick auf den Viktualienmarkt. Das war ihm, abgesehen von Vignola, seine liebste Behausung. Schon mit Ende 20 hatte er sich in die bayerische Landeshauptstadt verliebt, seinem älteren Bruder sei Dank, der in alter Familientradition in Schwabing eine Pizzeria eröffnet hatte. Ricardos Il Forno hatte rasch ein treues Stammpublikum gewonnen und war im Übrigen zu einer bedeutenden Finanzdrehscheibe im erweiterten Familienverbund avanciert, was wiederum Leones Einstieg in den Maklerberuf deutlich erleichtert hatte.

Leone schmunzelte, als er sich an seinen ersten Auftrag erinnerte, in Nürnberg einen überschaubaren Geldbetrag abzuholen und diesen bei Ricardo im Il Forno zu konsumieren. Bald waren die Summen angewachsen, und er hatte zunehmend Vertrauen genossen im Kreise der Familienmitglieder – und die Riellos waren eine wirklich große Familie.

Vermutlich hätte seine Karriere die übliche Entwicklung genommen, wenn ihm nicht die Musik zu Hilfe gekommen wäre. Anlässlich eines Vorspiels beim Orchester des Nationaltheaters hatte er sich mit einem Mitarbeiter des Intendanten angefreundet. Eines Tages wollte Ricardo für ein Familienmitglied zwei Opernkarten besorgen, aber die Premiere war restlos ausverkauft. Leone konnte dank seines Freundes zwei Plätze in einer vorderen Reihe des Parketts vermitteln: Das war die Geburt des Maklers Leone Riello gewesen.

Dieser Makler blickte nun ungeduldig auf seine Uhr. Sein Geschäftspartner war überfällig und hätte bereits vor einer Stunde anrufen sollen. Leone konnte Unzuverlässigkeit nicht ausstehen, Unpünktlichkeit hasste er geradezu. Sollte Hamzi Shuruk keine perfekte Entschuldigung vorbringen, wäre ihre weitere Zusammenarbeit beendet. Das Geschäft, das er heute zu vermitteln hatte, erforderte höchste Diskretion. Deshalb konnte das Telefonat nur über seinen Anschluss hier in der Wohnung am Viktualienmarkt geführt werden, nur diese Leitung war abhörsicher genug.

Von der Illusion einer sicheren Leitung hatte sich Leone längst verabschiedet, weil er wusste, dass mit entsprechendem Aufwand jede Leitung gehackt werden konnte. Daher sprach er am Telefon niemals Klartext. Um aber die Möglichkeit für etwaige Dechiffrierungen so gering wie möglich zu halten, nutzte er nur hinreichend geschützte Leitungen. Heute schien ihm das besonders wichtig, weshalb er die Wohnung nicht verlassen konnte, obwohl ihn draußen der Sommertag lockte. Entsprechend verärgert war er, als endlich die ersten sechs Takte von Mendelssohns Opus 64 erklangen. Diesen Klingelton hatte Leone mit Bedacht gewählt, denn die hinschmelzende Melodie erzeugte in ihm zuverlässig jene professionelle Freundlichkeit, die die Basis seines Geschäftserfolgs darstellte. Das war sein Alleinstellungsmerkmal in der Familie Riello, diese ausnahmslose Freundlichkeit und der völlige Verzicht auf Drohungen irgendeiner Art.

Seit er vor über 25 Jahren seinen Hauptwohnsitz in München genommen hatte, anfangs in einem Zwölf-Quadratmeter-Appartement in Schwabing in der Nähe des Nordbads, hatte er eine alte deutsche Weisheit verinnerlicht: Mit dem Hut in der Hand, kommst du durchs ganze Land. Mit Freundlichkeit und Beharrlichkeit konnte er beinahe jedes Geschäft vermitteln, die wenigen Ausnahmen ließen sich an einer Hand abzählen.

Leone fühlte, wie ihm die Musik des Telefons und der Stolz auf seine Geschäftsbilanz die Freundlichkeit auf die Zunge träufelte. Er wartete noch sechs Takte Mendelssohn ab, dann meldete er sich fröhlich: »Riello.«

5

Sie schwiegen minutenlang, und Olga flüchtete sich in ihre Gedankenwelt, während Sonja unverdrossen daran arbeitete, das MacBook zu knacken. Die im Raum stehende Frage nach einer Nebenbuhlerin hatte Gülay Atasoy an den Rand des Zusammenbruchs geführt, jetzt kullerten ihr wieder Tränen über die Wangen.

Darauf wird es hinauslaufen, dachte Olga und wünschte sich diese Auflösung, weil sie sich dann ungestört ihrem Bankrottverfahren widmen konnte. Das in knapp zwei Stunden stattfindende Gespräch beim Kollegen Presselt hätte dann bloß noch den Charakter sachkundiger Plauderei, und sie könnte übers Wochenende versuchen, für Rolf Mergenthaler zu retten, was noch zu retten war. Außerdem wäre der Weg frei, mit Sonja mindestens an einem der beiden Tage in die Berge zu fahren und die Begeisterung für die Kletterei zu schüren, die sie erst kürzlich bei ihrer Freundin geweckt hatte.

Sonja bewies ein unglaubliches Talent für den Klettersport. Ihre Freude erleben zu dürfen, war ein großes Geschenk für Olga, denn kaum etwas wünschte sie sich sehnlicher, als ihre Bergleidenschaft gemeinsam mit einem Menschen ausleben zu dürfen, den sie liebte.

»Entschuldigen Sie mein Schreien«, flüsterte Gülay Atasoy endlich. »Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen.« Sie stockte und wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln. »Bülent ist ein starker Mann, ein güclü adam, wenn Sie verstehen … ein richtiger kadin düskünü. Ein kahraman für Frauen … Sie verstehen? Er braucht das. Für sein Selbst.« Ihre Stimme war leise geworden, ihr Blick bekümmert.

»Bin drin«, jubelte Sonja.

Olga zuckte erschrocken und sah Sonja strahlen. Allmählich verstand sie etwas von der Computerbegeisterung, die ihre Freundin antrieb. Es war wie beim Klettern, wenn man nach etlichen Versuchen eine schwierige Stelle überwinden konnte; da stieß man schon einmal einen Freudenschrei aus.

Gülay dagegen blickte nur kurz mit trüben Augen auf und berichtete leise: »Da gibt es die Dame mit den 200 Kleidern, wie er sie nennt. Ihr gehört seine Leidenschaft. Seine Lust gehört auch vielen anderen. Seine Liebe aber gehört seiner Familie.«

»Kennen Sie diese Frau?«

»Nein. Will ich auch nicht. Und wenn sich Bülent vor einiger Zeit nicht verplappert hätte, wüsste ich nichts von ihr; er hat mir …« Sie stockte und wischte sich kurz über die Augen. »Er hat mir gesagt, dass ich mir keine Sorgen wegen dieser … Dame … machen müsste.«

Olga sah, wie Gülay schluckte und sichtlich Mühe hatte, die nächsten Sätze zu formulieren.

»Bülent darf alle Freiheiten genießen«, flüsterte sie schließlich und fuhr mit festerer Stimme fort: »Nur für die Familie muss er da sein.«

»Wissen Sie, aus welchem Umfeld die Dame mit den 200 Kleidern stammt?«

»Keine Ahnung. Aber glauben Sie mir, dort versteckt er sich nicht. Bülent ist etwas zugestoßen.«

Wieder legte sich ein langes Schweigen über sie, wieder vertiefte sich Sonja in den Computer und wieder hing Olga ihren Gedanken nach. Der Vermisste entpuppte sich als ein Womanizer, der sich mit Einwilligung der eigenen Gattin austobte, weil er ein starker, lebendiger Kerl war, der das für sein Ego brauchte. Da musste man einen eifersüchtigen Ehemann oder Freund in Erwägung ziehen, der dem Frauenhelden das Vergnügen verderben wollte. Das könnte übel geendet haben, und dann wären langwierige Ermittlungen fällig, um den Schuldigen aufzuspüren. Ihre Zuversicht jedenfalls, Bülent Atasoy rasch im Bett einer Gespielin aufzustöbern, verlor sich wieder. Gleichwohl, sagte sie sich, müssen wir die Dame mit den 200 Kleidern ausfindig machen.

Sie radelten gemeinsam zurück zu Sonjas Wohnung, tranken auf der Dachterrasse einen Latte macchiato und kuschelten sich aneinander. Olga steckte die Nase in Sonjas Haar, das nun offen herunterfiel.