House of Fear 2 - Die Mumie des Piraten - Patrick McGinley - E-Book

House of Fear 2 - Die Mumie des Piraten E-Book

Patrick McGinley

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Beschreibung

Mit der Jugendbuch-Reihe House of Fear sorgt Autor Patrick McGinley für gelungenen Horror-Spaß. Schaurig-gruselige Unterhaltung für Leser ab 12 Jahren! Henrick macht mit seinem Bruder Axel Tauchurlaub auf einer kleinen Insel in der Südsee. Einer Legende zufolge trieb dort vor 600 Jahren ein Pirat sein Unwesen, der als Menschenfresser bekannt war. Zusammen mit einer Gruppe anderer Taucher wollen Henrick und Axel nach dem Wrack des Piratenschiffs suchen. Doch das Abenteuer entwickelt sich bald zum Horrortrip: Axel verschwindet spurlos und eine Horde mordlustiger Kreaturen versetzt die Urlauber in Angst und Schrecken! Ist der Kannibale von den Toten auferstanden?

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Vorwort

Dies ist kein normales Buch.

Ein normales Buch liest man, findet es spannend, lustig oder langweilig und legt es dann beiseite.

Dies ist ein gefährliches Buch. Wenn man nicht aufpasst, kann es einem den Verstand rauben!

Ich habe diese Geschichte nicht geschrieben. Ich habe sie gefunden. Im Keller eines Hauses, neben der Leiche eines toten Schriftstellers, lagerten sie: Tausende eng bedruckter Schreibmaschinenseiten, die mich magisch anzogen!

Während ich diese Geschichten las, wurde ich von Albträumen und Visionen heimgesucht, die so echt wirkten, dass ich fast vor Angst gestorben wäre.

Wie unter einem inneren Zwang habe ich sie nach und nach bearbeitet. Eine böse Macht drängt mich, sie der Öffentlichkeit zu präsentieren, auch wenn ich weiß, dass sie Verderben über die Menschen bringen werden.

In der Hoffnung, ihren dämonischen Einfluss zu brechen oder zumindest zu mildern, habe ich die Geschichten leicht verändert. Die Orte und einige Namen habe ich geschwärzt, damit niemand auf die Idee kommt, nach den ursprünglichen Texten zu suchen.

Lies sie auf eigene Gefahr! Und wenn du nachts schweißgebadet aus dunklen Träumen hochschreckst, dann bedank dich nicht bei mir, sondern beim Verfasser selbst: dem geheimnisvollen Marc Glick-Pitney.

Du bist gewarnt!

Patrick McGinley,

1

Admiral Jun Zhou stand auf der Brücke des Jadedrachen und blickte auf das Hauptdeck hinunter. Obwohl er zur Bescheidenheit erzogen worden war, konnte er den Stolz in seiner Brust nicht unterdrücken. Mit seinen hundert Metern Länge, seiner 500-Mann-starken Besatzung und den neun Masten war der Jadedrache das größte Schiff, das je das Chinesische Meer bereist hatte. Der Kaiser höchstpersönlich hatte es in Auftrag gegeben und es war der ganze Stolz der Ming-Dynastie. Es sollte die Ozeane erkunden, den Ruhm Chinas in die Welt tragen und beladen mit fremden Reichtümern zurückkehren. Welch großartigen Empfang man Jun Zhou bei seiner Heimkehr bereiten würde! Überall im Kaiserreich würde man von ihm erzählen, würde Lieder über ihn singen, ihn mit Gold und Juwelen überhäufen…

»Schiff voraus!«

Der Ruf des Ausguckpostens riss Jun Zhou aus seinen Tagträumen. Der Morgennebel hatte die Sichtweite auf einige wenige Hundert Meter zusammenschrumpfen lassen. Wenn man nicht vorsichtig war, riskierte man eine Kollision.

»Kurs?«, rief Jun Zhou zu dem Mann im Krähennest hinauf.

Angestrengt spähte dieser in die Ferne. Dann beugte er sich abrupt vor und rief nach unten: »Es hält direkt auf uns zu!«

Jun Zhou lief die Holztreppe hinunter und rannte zur Reling. Das Schiff war in dem dichten Nebel nur als dunkler Fleck zu erkennen.

Wer erdreistet sich, mir in die Quere zu kommen?, dachte der Admiral mit einer Mischung aus Verwunderung und Wut. Einem Schiff des Kaisers hat man gefälligst auszuweichen!

Dass das andere Schiff noch immer geradewegs auf den Jadedrachen zusteuerte, konnte Jun Zhou nur als Provokation deuten.

»Alle Mann an Deck!«, brüllte er.

Geschäftiges Treiben brach aus. Luken und Türen öffneten sich und aus jedem Winkel des Schiffes strömten Matrosen herbei. Bald standen alle 500Männer in Reih und Glied vor ihm, reglos wie Statuen: die Gesichter nach vorn, die Hände an den gebogenen Schwertern. Die besten Krieger des Ostens. Jun Zhou war zufrieden.

»Männer!«, rief er. »Welches ist das großartigste Schiff des Chinesischen Reiches?«

»Der Jadedrache!«, schallte es wie aus einem Mund.

»Und was hält unser Schiff auf?«

»Nichts zwischen Himmel und Erde!«

Jun Zhou nickte und trat vor.

»Ein fremdes Schiff hat es gewagt, unseren Weg zu kreuzen. Wir werden ihm eine kleine Lektion erteilen. Bereit machen zum Entern!«

Wie in einem einstudierten Tanz teilten sich die Reihen. Einige Soldaten holten Enterbrücken und -haken herbei, andere stellten sich an der Reling auf. Konzentrierte Spannung lag in der Luft. Die Wellen plätscherten sanft gegen den Bug und ein schwaches Lüftchen wehte.

»Ruder drei Grad Backbord!«, rief Jun Zhou.

Der Jadedrache schob sich nach links. Der Admiral würde das Schiff längsseits bringen und dann den Befehl zum Entern geben. Er würde der anderen Besatzung einen kleinen Schrecken einjagen, sich den Kapitän vorknöpfen und ihn dann weiterfahren lassen.

Jetzt teilte sich der Nebel und eine große Dschunke tauchte auf. Sie glitt fast lautlos auf den Jadedrachen zu.

»Admiral!«

Irritiert sah Jun Zhou nach oben. Was war so wichtig, dass der Mann im Krähennest ihn so kurz vor einer Auseinandersetzung störte? Er stutzte. Der Ausguckposten war kreidebleich.

»Admiral … es ist … es ist…«

»Er höre sofort damit auf, zu stottern wie ein Maultier!«, brüllte Jun Zhou.

»Aber … aber…«, weiter kam der Matrose nicht.

Ein Sirren durchschnitt die Luft und der Mann kippte aus seinem Krähennest. Mit einem dumpfen Schlag traf er auf dem Deck auf. Aus seinem Hals ragte ein schwarzer Pfeil.

Jun Zhou unterdrückte mit Mühe seinen Zorn. Wer wagte es…?

Die Dschunke schob sich neben den Jadedrachen.

»Attacke!«, rief Jun Zhou seinen Kriegern zu. Er würde diese Banditen zu Kleinholz verarbeiten.

Doch seine Soldaten rührten sich nicht. Wie versteinert standen sie an der Reling.

»Habt ihr mich nicht gehört, Männer? Ich sagte…«

In diesem Moment fiel sein Blick auf das Deck der Dschunke. Die Stimme versagte ihm. Kaltes Grauen ergriff ihn.

»Die Hantu Laut!«, schrie einer der Krieger. Die Worte schienen die Lähmung der Soldaten augenblicklich zu lösen.

Einige zogen beherzt ihre Schwerter heraus, doch etwa die Hälfte der Besatzung ergriff die Flucht. Sie erklommen die Reling auf der anderen Seite und sprangen in wilder Panik über Bord.

»Nein«, hauchte Jun Zhou tonlos.

Die übrig gebliebenen Soldaten blieben wie erstarrt stehen. Voller Entsetzen blickten sie in die Gesichter der gegnerischen Crew.

Es war ein verlotterter Haufen, der vom Deck der Dschunke zurückstarrte: harte Kerle, dreckig und in Fetzen gehüllt. Sie schienen aus allen Teilen Asiens zu stammen. Nur eins hatten sie alle gemeinsam: Jedem von ihnen fehlte ein kleiner Finger an der Hand.

Jetzt trat der Kapitän von der Brücke der Dschunke herunter. Er war ein unscheinbarer Mann, weder besonders groß noch muskulös. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blickte Jun Zhou in die Augen. Ein teuflisches Grinsen breitete sich auf seinem pockennarbigen Gesicht aus.

»Dai Mon«, flüsterte der Admiral und fiel auf die Knie.

Der Kapitän der Dschunke öffnete den Mund.

»Holt sie euch!«, rief er.

Brüllend sprang seine Crew an Deck des Jadedrachen.

Die Schlacht dauerte nur wenige Minuten. Der Nebel verschluckte die beiden Schiffe. Niemand war in der Nähe, um die grausamen Todesschreie der kaiserlichen Besatzung zu hören.

Etliche Soldaten sanken mitsamt ihres herrlichen Schiffes zum Grund des Meeres hinab. Nur wenige wurden als Gefangene an Bord der Dschunke gebracht.

Und auf sie wartete ein Schicksal, das grausamer war als der Tod.

2

600Jahre später…

»Ja, Mama, ich passe schon auf ihn auf. Du musst dir keine Sorgen machen.«

»Aber er war doch noch nie so weit von zu Hause weg!«

Die erste Stimme gehörte meinem großen Bruder Axel. Die zweite meiner Mutter. Wir standen vor der Sicherheitskontrolle des Flughafens. Gerade hatten wir eingecheckt und jetzt mussten wir uns von Mama verabschieden.

Natürlich machte sie ein großes Drama daraus, vor allem meinetwegen. Es stimmte zwar, dass ich noch nie so weit von zu Hause weg gewesen war, aber sie musste es gleich wieder übertreiben.

Während Axel unsere Pässe und Bordkarten verstaute, nahm Mama mein Gesicht in beide Hände und zerquetschte es beinahe. Dabei sah sie mich an, als würde ich in den Krieg ziehen.

»Pass auf dich auf, Henrick, hörst du?«

Da sie meine Wangen zusammendrückte, brachte ich kein Wort heraus. Stattdessen nickte ich.

»Wird schon schiefgehen, Mama«, sagte Axel und zog mich von ihr weg. Wir stellten uns in der Schlange an, die sich vor den Röntgengeräten gebildet hatte. Mama winkte uns zu und wischte sich eine Träne aus dem linken Auge.

Ihr Verhalten war nicht nur peinlich, es machte mich auch nervös. Was, wenn jetzt wirklich etwas passierte? Auf mich wartete ein zehnstündiger Flug und ich hatte noch nie ein Flugzeug von innen gesehen.

Axel war immer derjenige von uns gewesen, der alles ausprobiert und jede Herausforderung angenommen hatte. Im Freizeitpark war er schon als Kind immer mit den halsbrecherischsten Achterbahnen gefahren. Ich dagegen hatte sogar vor dem Riesenrad Angst gehabt. Bungee-Jumping, Fallschirmspringen, Freeclimbing, Wildwasser-Rafting – es gab keine Extremsportart, die Axel nicht schon ausprobiert hatte.

Und es war keineswegs so, dass ihm dabei nie etwas passierte. Mit schöner Regelmäßigkeit wurde ihm ein Arm oder ein Bein eingegipst, hatte er sich ein Band gerissen oder ein Gelenk ausgekugelt. Er hatte mit seinen 22Jahren mehr Narben als Frankensteins Monster.

Und doch war ich derjenige, um den meine Mutter sich ständig Sorgen machte. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich ein paar Wochen zu früh auf die Welt gekommen war und beinahe nicht überlebt hätte. Diese Zeit des Hoffens und Bangens hatte meine Mutter wohl nie ganz überwunden. Und da sie immer so besorgt war, war ich ein sehr ängstliches Kind gewesen.

Aber jetzt war Schluss damit. Ich würde in dieses Flugzeug steigen und die zehn Stunden nach Bangkok fliegen. Und ich würde keine Angst haben.

»Henrick, nicht träumen!«

Axel war schon durch die Kontrolle gegangen. Der Sicherheitsbeamte winkte mich durch den Metalldetektor. Ich nahm meinen Rucksack von dem Förderband und lief meinem Bruder hinterher, der schon in Richtung des Flugsteigs ging.

Mama war beinahe ausgeflippt, als Axel mir einen Tauchkurs zu meinem vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie war sich sicher gewesen, dass ich entweder ertrinken oder einem Hai als Snack dienen würde.

Axel wies sie dezent darauf hin, dass der größte Teil des Kurses im Schwimmbecken stattfand, wo Haiangriffe eher selten waren. Trotzdem schaukelte sich das Ganze zu einem richtigen Streit hoch. Axel warf ihr vor, mich zu einem Feigling zu erziehen. Schließlich gab sie klein bei und ich durfte an dem Kurs teilnehmen.

Am Anfang war mir wirklich mulmig, doch ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als dieses unbehagliche Gefühl in vollkommene Begeisterung umschlug: Es war der Augenblick, als ich zum ersten Mal unter Wasser aus dem Atemregler in meinem Mund einatmete. Mit meinem Anzug, der Tauchermaske und der Flasche auf meinem Rücken fühlte ich mich wie ein Astronaut, der schwerelos im All herumschwebt. Es war ein nie gekanntes Gefühl der Freiheit.

Seitdem war ich auf den Geschmack gekommen. In den Wochen danach machte ich mit Axel einige Tauchausflüge. Er zeigte mir die Grundlagen der Navigation und einmal tauchten wir sogar in einer Höhle. Ich hatte zwar schon manchmal ein wenig Angst, doch mit Axel zusammen fühlte ich mich immer sicher.

Und jetzt waren wir auf dem Weg nach Thailand. Laut Axel gab es dort einige der schönsten Tauchreviere der Welt. Unser Ziel war Koh , eine Insel in der Andamanensee. Sie galt als Geheimtipp unter Tauchern, die das Abenteuer suchten. Fernab von den üblichen Touristenzentren wie Koh Phi Phi oder Koh Tao, in denen es mehr Tauchschulen als Hotels gab, sammelten sich dort diejenigen, die mehr wollten, als Korallenriffe zu betrachten und Fischschwärme zu filmen. Axel hatte mir die Insel als »das schwarze Schaf unter den Tauchbasen« beschrieben.

Wir hatten inzwischen unsere Plätze eingenommen und die Sicherheitsgurte geschlossen. Natürlich wusste ich aus dem Fernsehen und aus dem Kino, wie es in einem Flugzeug aussah, aber es war etwas ganz anderes, selbst darin zu sitzen.

»Boarding completed«, schallte die Stimme der Chefflugbegleiterin durch die Lautsprecher und die Besatzung schloss die Türen des Flugzeugs. Schon beim Einsteigen hatte ich mit gemischten Gefühlen die dicke Außenwand aus Stahl betrachtet. Dieses Ding sollte abheben?

Ich nahm die Karte mit den Sicherheitsinstruktionen aus der Sitztasche vor mir und studierte sie. Doch das war ein Fehler, denn die Bilder von den gezeichneten Figuren verwandelten sich in meinem Kopf zu einem wahren Horrorszenario. Ich sah nur noch Schwimmwesten, ein Flugzeug, das mitten im Meer gelandet war, und Notrutschen, in denen man vergeblich tagelang auf dem Wasser trieb. Axel bemerkte, dass ich nervös wurde. Meine Hände waren feucht und ich ballte sie immer wieder zu Fäusten, um das Zittern zu unterdrücken.

»Alles okay?«, fragte Axel.

»Ich … ich glaube, ich hasse Flugzeuge«, platzte ich heraus.

»Glaub mir, uns kann nichts passieren. Nicht, solange ich den hier trage.« Er berührte den kleinen goldenen Anhänger, der an einer Kette um seinen Hals hing und der die Form eines Auges besaß. »Das ist das Horus-Auge«, erklärte Axel. »Ich habe es letztes Jahr aus Ägypten mitgebracht. Es ist ein Schutzsymbol. Ich schwöre dir, seit ich es trage, ist mir nichts mehr passiert. Keine Schramme, keine Wunde, nichts.«

Ich sah in skeptisch an.

»Ich bin trotzdem froh, wenn wir wieder festen Boden unter den Füßen haben«, sagte ich.

In diesem Moment gab der Pilot vollen Schub und wir wurden in unsere Sitze gepresst. Als die Maschine abhob und in den Himmel stieg, wich das Ziehen in meiner Magengegend einem angenehmen Kribbeln.

Je länger ich im Bauch des Jets saß, desto mehr entspannte ich mich. Ich vertrieb mir die Zeit damit, Filme anzuschauen und die Landschaft unter uns zu betrachten. Irgendwann musste ich eingenickt sein, denn kurz vor der Landung in Bangkok weckte mich Axel.

Nach zwei Stunden Aufenthalt flogen wir mit einer kleineren Maschine weiter nach Phuket. Wir ließen den Golf von Thailand hinter uns und flogen über ein türkisblaues Meer, das mit Hunderten kleiner Inseln gespickt war.

»Das ist die Andamanensee«, sagte Axel. »Einer der schönsten Flecken auf diesem Planeten.«

Feuchtwarme Luft schlug uns ins Gesicht, als wir den Flughafen verließen. Nach dem kalten Winterklima zu Hause kam ich mir vor, als sei ich in einer fremden Welt gelandet.

3

Wir verbrachten die Nacht in einem kleinen Hotel in Phuket. Am nächsten Tag fuhren wir nachmittags mit einem Taxi zum Hafen.

Am Pier herrschte ein großes Durcheinander und auf dem Parkplatz standen mehrere Busse, die Horden von Touristen ausspuckten. Axel und ich liefen mit unseren Koffern im Slalom durch die Menge und steuerten auf ein kleines Fischerboot zu, das mit seinem seltsam gebogenen Rumpf tief im Wasser lag. Mit seinem rostfleckigen blauen Anstrich machte es nicht gerade einen seetüchtigen Eindruck auf mich. Der Name Sea Horse stand in roten Buchstaben auf dem Bug.

»Mit dem Ding sollen wir fahren?«, fragte ich skeptisch.

»Das Boot gehört Anan, den ich letztes Jahr kennengelernt habe. Die Touristenfähren steuern Koh gar nicht an.«

Zwei Seemänner saßen an Deck der Sea Horse und spielten Karten. Ein älterer Thai stand am Fenster des kleinen Führerhäuschens und rauchte. Als er Axel und mich erblickte, grinste er und winkte uns zu.

»Anan! Wie geht’s?«, rief Axel auf Englisch.

»Sawadih Kap!«, antwortete der Kapitän. Auf Thai wies er die Seemänner an, uns mit den Koffern zu helfen. Einer der beiden sprang auf den Pier und löste das Halteseil von dem dicken eisernen Poller. Wir gesellten uns zum Kapitän und Axel stellte mich vor.

»Das ist mein kleiner Bruder Henrick«, sagte er.

Anan faltete die Hände vor seinem Gesicht und verbeugte sich. Nach kurzem Zögern erwiderte ich den Gruß. Anan ließ den Motor an und wir legten ab.

Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen und die Sonnenstrahlen ließen die See in einem fast unwirklichen Türkisblau aufleuchten.

Während der dreistündigen Fahrt kamen wir an unzähligen kleinen Inseln vorbei, bis schließlich eine etwas größere am Horizont auftauchte.

»Das da ist Koh «, sagte mein Bruder. Ich stand am Bug und blickte zu den steilen Klippen hinauf. Das sandfarbene Gestein hatte eigentümliche Formen gebildet, die über und über von exotischen Pflanzen bewachsen waren. Diese Landschaft sah so fremd und so faszinierend aus, dass ich mir wie ein Entdecker vorkam, der zum ersten Mal die Ausläufer eines neuen Kontinents erblickt.

»Traumhaft, nicht wahr?«, fragte Axel.

Ich nickte.

Wir bogen gerade in die Bucht ein, die den einzigen Anlegeplatz von Koh darstellte. Ein kleiner Pier, nicht größer als ein Steg, kroch aufs Meer hinaus. Dort waren drei Boote vertäut, die ungefähr die gleiche Größe hatten wie die Sea Horse.

Wir bedankten uns bei Anan, verabschiedeten uns und machten uns auf den Weg ins Dorf.

Die Hauptstraße war nicht viel mehr als eine schmale Gasse, die zwischen den Häusern hindurchführte. Im Dorf gab es unzählige Stände, an denen frische Meeresfrüchte und Fisch verkauft wurden, einen Supermarkt und ein Internetcafé, dessen drei Computer wirkten, als seien sie bereits Jahrzehnte alt.

»Bis hierher ist der Tourismus noch nicht so richtig vorgedrungen«, erklärte Axel, als wir durch die Gasse schlenderten. »Das liegt daran, dass die Strände nicht besonders gut zugänglich sind. Außerdem gibt es einige andere Inseln in der Nähe, die schönere Strände mit Hotels haben. Die Insel hier ist zu klein für so eine Anlage.«

»Und wo übernachten wir?«, fragte ich.

»Am anderen Ende des Dorfs gibt es ein kleines Gasthaus, das einfache Zimmer vermietet. Es ist zwar nicht besonders luxuriös, aber wir wollen ja tauchen und keinen Wellness-Urlaub machen.«

Wir kamen an einer Tauchschule vorbei, vor deren Tür ein thailändischer Junge saß. Axel ging sofort auf ihn zu und begrüßte ihn auf Englisch.

»Hey, Chan!«, sagte er. »Das ist mein Bruder Henrick.«

Ich gab dem Jungen, der etwas älter war als ich, die Hand. »Willkommen auf Koh «, sagte er und lächelte mich freundlich an.

»Was gibt’s Neues?«, fragte Axel ihn. »Hast du einen Geheimtipp, wo man was erleben kann?«

Chan bat uns, Platz zu nehmen. Wir setzten uns auf die Plastikstühle vor der Tauchschule und Chan bot uns Limonade an. Ich war froh, endlich etwas zu trinken zu bekommen. Meine Kehle fühlte sich an wie ausgetrocknet.

»Vor ein paar Monaten gab es hier ein starkes Seebeben«, erzählte Chan, während wir an unseren Getränken nippten.

»Es wurde sogar eine Tsunami-Warnung ausgerufen, aber wir hatten Glück und es war ein Fehlalarm. Allerdings hat sich der Meeresboden durch das Beben an einigen Stellen verschoben und es haben sich dort Risse und Felsspalten gebildet. An anderen Stellen sind neue Riffe entstanden. Immer wieder hören wir jetzt Geschichten von Tauchern, die hier in der Nähe ganz tolle neue Reviere entdeckt haben. Ihr seid also genau zur richtigen Zeit gekommen!«

»Ein Seebeben?«, fragte Axel erstaunt. »Hier? Das ist doch gar nicht die Gegend für seismische Aktivität.«

»Ja, es ist wirklich merkwürdig. Die Wissenschaftler haben auch noch keine Erklärung dafür. Aber wisst ihr, was noch merkwürdiger ist? Die Chow Leah haben dieses Beben schon vor langer Zeit vorausgesagt.«

»Wer sind die Chow Leah?«, wollte ich wissen.

»Das sind Seenomaden, auch ›Moken‹ genannt«, erklärte Chan. »Sie leben in kleinen Dörfern auf den Inseln. Sie haben eine eigene Sprache und eine eigene Kultur, die sehr eng mit dem Meer verbunden ist. Bei dem Tsunami von 2004 ist kaum einer von ihnen gestorben. Sie haben gewusst, was kommt, und sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht.«

»Und jetzt haben sie das Beben vorausgesagt?«, fragte Axel.

»Ja. Sie warten schon lange darauf. Es hängt mit einer alten Legende zusammen.«