BookLess 3. Ewiglich unvergessen. - Marah Woolf - E-Book

BookLess 3. Ewiglich unvergessen. E-Book

Marah Woolf

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Beschreibung

Das große Finale der Bestseller-Serie von Marah Woolf. Lucys Kampf um die Welt der Worte wird immer dramatischer. Durch ein Gift, das Batiste ihr verabreicht hat, verliert sie ihr Gedächtnis und wird so zum Opfer des Bundes und zur Verlobung mit dem viel älteren Beaufort gezwungen. Auch Nathan wird erpresst, doch gelingt es ihm, Lucys Freunde zu alarmieren, um sie zu retten. Schaffen es die Liebenden, gemeinsam zu fliehen und das Vermächtnis der Hüterinnen ausfindig zu machen? Spannung und Romantik bis zum Schluss: Ein Muss für alle Schmökerfans.

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Marah Woolf

 

 

Bookless. Ewiglich unvergessen

 

 

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Über die Autorin:

 

Marah Woolf wurde 1971 in Sachsen-Anhalt geboren, wo sie auch heute noch mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und einer Zwergbartagame lebt. Sie studierte Geschichte und Politik und erfüllte sich mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans 2011 einen großen Traum. Mittlerweile sind die MondLichtSaga und die BookLessSaga vollständig erschienen. Die FederLeichtSaga wird eine siebenteilige Serie.

Im Frühjahr 2018 erscheint mit GötterFunke. Verlasse mich nicht, Band 3 der GötterFunkeSaga im Handel.

 

 

 

 

 

Marah Woolf

 

BooklessSaga

 

Teil III

 

 

Bookless. Ewiglich unvergessen

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Deutsche Erstausgabe August 2013

Copyright © Marah Woolf, Magdeburg

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins

 

Alle Rechte, einschließlich die des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

 

Impressum:

IWD, Hasselbachplatz 3, 39104 Magdeburg

[email protected]

 

Facebook: Marah Woolf

Blog: www.marahwoolf.com

Twitter: MondSilberLicht

Instagram: marah_woolf

Pinterest: Marah Woolf

 

Für meine Schwester,

die jede meiner Geschichten liebt, mich zu jeder Tages- und Nachtzeit unermüdlich unterstützt und jetzt nicht mal möchte, dass ich ihr eins meiner Bücher widme

 

 

 

 

 

 

Und stirbt er einst,

nimm ihn, zerteil in kleine Sterne ihn:

Er wird des Himmels Antlitz so verschönen,

dass alle Welt sich in die Nacht verliebt

und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.

Shakespeare, Romeo und Julia

 

Prolog

»Wie lange wird es noch dauern, Batiste?« Beaufort beugte sich zu dem älteren Mann, der ihm mit unbewegter Miene gegenübersaß.

»Nicht mehr lange, denke ich.«

»Das haben Sie bereits vor zwei Tagen gesagt.«

»Je länger es dauert, umso besser. Ich verspreche Ihnen, sie wird Wachs in unseren Händen sein.«

Beaufort rieb sich die vom Rauchen gelb verfärbten Finger. »Das ist perfekt. Ich muss sagen, das haben Sie wunderbar hinbekommen. So einfach hätte ich mir die Zähmung der kleinen Wildkatze nicht vorgestellt. Ein bisschen schade, wenn ich es recht bedenke.«

»Ich bin zuversichtlich, dass es Ihnen trotzdem gelingen wird, von ihr verabscheut zu werden.« Batiste wandte sich ab, um sein abfälliges Lächeln zu verbergen. »Lassen Sie uns in die Bibliothek gehen. Ich könnte einen Schluck Whisky vertragen.«

»Wie Sie wünschen. Auch wenn uns das verboten ist.« Beaufort lachte bellend und wandte sich zur Tür. »Wie stehen die Dinge um Ihren Enkel? Hat er sich beruhigt? Konnten Sie ihn überzeugen, dass es besser für alle Beteiligten ist, wenn er sie vergisst?«

»Das ist zwar nicht Ihre Angelegenheit«, erwiderte Batiste, »aber ich kann Ihnen versichern, dass ich daran arbeite. Über kurz oder lang wird auch er tun, was ich von ihm verlange.«

»Wann haben Sie seine Vermählung geplant?«

»In drei Monaten.«

»Und weiß die Braut, dass der Bräutigam sein Herz an ein anderes Püppchen verloren hat?«

»Nein, und das sollte sie tunlichst auch nicht.« Batiste fuhr den neben ihm gehenden Mann so heftig an, dass dieser zurückzuckte. »Ihr Vater, Sir FitzAlan, und ich sind der Ansicht, dass es besser so ist. Und Nathan wird sich unserer Meinung anschließen. Schließlich hängt das Leben des Püppchens, wie Sie sie nennen, davon ab.«

»Sie bekommen wohl immer, was Sie wollen?« Beaufort konnte den Neid in seiner Stimme nur schlecht verbergen.

»Selbstverständlich.« Batiste de Tremaine lächelte

triumphierend. »Immer.«

1. Kapitel

Die Gestalten, die sich in ihren Kopf schlichen, kannte sie. Sie wusste nur nicht, woher. Obwohl sie sicher war, dass es ein Traum war, der sie gefangen hielt. Es wirkte alles ganz realistisch, als würde es tatsächlich geschehen. Sie war eingesperrt. Es war dunkel, und nur schemenhaft erkannte sie, dass sie sich in einem Raum voller Regale befand. Vorsichtig tastete sie sich durch die schmalen Gänge und versuchte, die silbrigen Gestalten zu ignorieren, die ebenfalls durch die Reihen schlichen. Leider war das unmöglich. Obwohl sie nicht näherkamen, spürte sie, dass sie jede ihrer Bewegungen beobachteten. Sie wollten etwas von ihr. Nun bewegte sich eine der Gestalten doch auf sie zu. Sie wich zurück und prallte gegen eine Wand. Der Rückweg war ihr versperrt. Die Gestalt kam weiterhin näher. Ihr Atem beschleunigte sich. Sie spürte, wie ihr kalter Schweiß den Nacken hinunterrann. Paralysiert blickte sie in das dunkle Loch, das den Mund ihres Gegenübers bildete.

»Du wirst nicht entkommen«, vernahm sie deutlich die Worte daraus.

»Du bist nicht real«, flüsterte sie.

Das Wesen streckte seine Hand nach ihr aus. Eiskalte Finger brannten auf ihrer Haut. Das Wesen beugte sich vor. Frostiger Atem strich über ihr Gesicht. »Ich bin realer, als du denkst«, raunte es in ihr Ohr. Und dann wurde die Gestalt, die eben noch aus winzigen Blättern bestanden hatte, zu grauem Rauch, der ihren Körper einhüllte.

Sie musste ihre Augen öffnen. Aber je mehr sie sich bemühte, umso mehr wehrten ihre Lider sich. Doch wenn sie diesen ewigen Albträumen und den Gestalten, die sie bevölkerten, entkommen wollte, blieb ihr keine Wahl.

Sie war nicht allein, es befanden sich noch Leute in ihrer Nähe. Sie konnte zwei Stimmen unterscheiden, doch sie verstand nicht, worüber sie sprachen. Ein Lachen erklang – kurz und bellend. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Dann hörte sie das Schlagen einer Tür. Sie atmete auf.

»Wachen Sie auf, Lucy«, erklang es direkt neben ihrem Ohr. Ein Mann tätschelte mit kalten Händen ihre Wangen. Es fühlte sich unangenehm an.

»Lucy, ich weiß, dass Sie das können. Jetzt kommen Sie schon. Sie haben lange genug geschlafen. Ihre Verletzung ist beinahe verheilt.«

Lucy? Sie drehte und wendete den Namen in ihrem Kopf. Er klang nicht vertraut. Weshalb sprach er sie so an, und von welcher Verletzung redete er?

Mühsam öffnete sie die Augen und blinzelte. Sie erblickte ein strenges, hageres Gesicht.

»Ich wusste, dass ich Sie wach bekomme.«

Ein Schwall übelriechenden Atems traf sie. Angeekelt drehte sie den Kopf zur Seite. »Wer ist Lucy?«, krächzte sie.

Der Mann ließ sie los. »Lucy – das ist Ihr Name, mein Kind. Wissen Sie das nicht mehr? Na, keine Sorge, in ein paar Tagen erinnern Sie sich wieder. Sie hatten einen schweren Unfall. Beinahe hätten wir Sie verloren.«

»Wir?«

»Ja. Wir – Ihr Verlobter hat sich schreckliche Sorgen um Sie gemacht. Ich werde ihm mitteilen, dass Sie aufgewacht sind. Heute ist es schon spät, aber morgen sollten Sie aufstehen und sich ein wenig bewegen. Sie müssen zu Kräften kommen, was einige Zeit dauern wird.«

Der Mann, der offensichtlich Arzt war, verstaute seine Instrumente in einer braunen altmodischen Tasche und verließ das Zimmer.

Verwirrt sah Lucy sich um. Nichts in dem Raum kam ihr bekannt vor. Sie versuchte sich zu erinnern, an etwas – irgendetwas – , doch da war nur ein schwarzes Loch.

Sie griff mit einer Hand an ihren Kopf und betastete ihn. Wenn sie einen Unfall gehabt hatte, durch den sie sämtliche Erinnerungen verloren hatte, musste sie Kopfverletzungen haben. Oder nicht?

Sie konnte nichts spüren – keinen Verband, nicht mal ein Pflaster.

»Lucy.« Sie sprach ihren eigenen Namen laut aus. Er schwebte wie ein Fremdwort durch den stillen Raum.

Ein Klopfen weckte sie. Als sie die Augen aufschlug, flutete helles Licht durch die Fenster und blendete sie.

Es klopfte noch einmal.

»Herein.« Lucy zog sich die Decke bis zur Nasenspitze.

Die Tür öffnete sich, und ein junges Mädchen in einem schwarzen Kleid trat ein. Es blieb an der Tür stehen und machte einen Knicks. Lucy glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Allerdings passte das Verhalten in diese Umgebung. Der Raum war überaus luxuriös eingerichtet. Die Wände waren nicht mit Tapeten aus Papier, sondern mit glänzenden hellgrünen Satinstoffen bespannt. Außer dem Bett standen zwei helle Kommoden, ein Frisiertisch und gemütliche Sessel in dem Zimmer. Der Boden war mit dicken Orientteppichen ausgelegt. Lucy versuchte, sich zu erinnern, ob das die Umgebung war, in der sie normalerweise lebte. Es gelang ihr nicht.

»Ich soll Ihnen ein Bad richten.« Eine junge Frau mit strubbeligem blondem Haar und zahlreichen Sommersprossen trat an das Bett. »Der Doktor sagt, es ist Zeit, aufzustehen.«

»Wie lange liege ich schon hier?«

»Fast zwei Wochen. Sie waren sehr krank. Sir Beaufort ist überglücklich, dass Sie aufgewacht sind. Er hat sich große Sorgen gemacht.«

»Sir Beaufort? Wer ist das?«

Das Mädchen bekam große runde Augen. »Aber Miss Lucy. Sir Beaufort ist Ihr Verlobter. Erinnern Sie sich nicht?«

Lucy schüttelte den Kopf. »Wenn der Arzt mir nicht gesagt hätte, dass ich Lucy heiße, wüsste ich nicht einmal das.«

Das Mädchen schlug sich die Hand vor den Mund. »Das ist entsetzlich. Kann der Doktor denn nicht helfen? Sie haben ihn extra aus London kommen lassen.«

»Keine Ahnung. Er hat nicht viel gesagt, außer dass es ein paar Tage dauern kann, bis meine Erinnerungen wiederkommen.« Das Sprechen fiel Lucy schwer. »Könnte ich bitte ein Glas Wasser bekommen?«

»Aber sicher.« Das Mädchen machte sich an einem kleinen Tisch zu schaffen und reichte Lucy kurze Zeit später ein gefülltes Glas. »Ich lasse Ihnen Wasser in die Badewanne«, erklärte sie und öffnete eine schmale Tür. Lucy hörte das Rauschen des Wassers, und ein blumiger Duft drang zu ihr.

Sie versuchte, sich aufzurichten, doch es wollte ihr nicht gelingen. Sie war zu schwach.

»Warten Sie. Ich helfe Ihnen, Miss Lucy. Sie dürfen das Bein noch nicht belasten.«

»Wieso?«

»Wegen der Verletzung. Sie hatten einen Reitunfall. Beinahe hätte man das Bein abnehmen müssen.«

»Reitunfall?« Lucy schlug die Decke beiseite und sog scharf die Luft ein. Über ihren Oberschenkel zog sich eine dunkelrote Narbe.

Das Mädchen blickte sie mitleidig an. »Das wird schon wieder. Immerhin haben Sie das Bein noch. Die Narbe wird mit der Zeit verblassen.«

Sie fühlte sich unsagbar schwach. Mühsam humpelte sie am Arm des Mädchens in das Badezimmer. Es war ein Traum aus Marmor und Glas.

Erschöpft fiel sie auf einen Stuhl und ließ sich das seidene Nachthemd ausziehen.

»Wie heißen Sie eigentlich?« Lucy versuchte, ihre Verlegenheit zu überspielen.

»Klara. Ich wohne im Dorf. Ich habe mich so gefreut, als ich vor einer Woche herkommen durfte. Sir Beaufort war sehr besorgt um Sie. Er hat mich extra für Sie eingestellt.«

»Wohne ich schon lange hier?«

Klara drehte das Wasser ab und zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Sir Beaufort lebt sehr zurückgezogen. Er kommt nur selten ins Dorf.«

Lucy nickte.

»So, ab mit Ihnen in die Wanne.« Klara half Lucy in das gusseiserne Ungetüm, das auf Löwenklauen mitten im Raum stand. Duftender Schaum umgab sie. Lucy schloss einen Moment die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, eröffnete sich vor ihr der Blick in einen Garten.

»Wunderschön, oder? Eine der Damen, die vor Ihnen hier Herrin war, hat das Badezimmer so herrichten lassen, dass sie in den Park sehen konnte, wenn sie badete. Sie können sich wirklich glücklich schätzen«, erklärte Klara.

»Kann ich das?«

Klara sah sie verwundert an. »Aber sicher. Sie sind die zukünftige Lady Beaufort. Viele Frauen würden Sie darum beneiden.«

»Wie ist er denn so – mein Verlobter?« Das Wort kam Lucy nur schwer über die Lippen.

»Na ja.« Klara zerknüllte einen Waschlappen zwischen den Fingern. »Er ist ein Mann, der weiß, was er will«, sagte sie zögernd. »Aber er ist recht freundlich«, beeilte sie sich, dazuzusetzen.

Das wurde ja immer besser. Plötzlich fühlte sich das warme Wasser gar nicht mehr so warm an. »Kannst du mich einen Moment allein lassen?«

»Eigentlich darf ich das nicht. Wo Sie noch so schwach sind. Der Herr hat es verboten.« Unsicherheit flackerte in Klaras Augen auf.

»Du kannst vielleicht im Schlafzimmer lüften und das Bett aufschütteln. Lass die Tür auf, ich laufe schon nicht weg.« Lucy lächelte Klara aufmunternd an.

»Das wohl kaum«, bestätigte diese und grinste verlegen zurück. »Fünf Minuten«, sagte sie dann und verließ den Raum.

Lucy atmete auf. Sie war verlobt mit einem älteren Mann? Konnte man so etwas tatsächlich vergessen? Sie hatte einen Reitunfall gehabt. Aber sie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben auf einem Pferd gesessen zu haben. Lucy sehnte sich zurück in ihr Bett. Weshalb hatte sie nicht einfach weitergeschlafen? Bei dem Gedanken schrak sie zusammen.

Es gab doch etwas, an das sie sich erinnerte. Die Albträume. Angst kroch ihr den Nacken herauf, und trotz des warmen Wassers wurde ihr kalt. Etwas hatte sie in ihren Träumen verfolgt. Immer und immer wieder. Gruselige graue Gestalten. Sie hatten etwas Bestimmtes von ihr gewollt. Es war ihr nicht gelungen, ihnen zu entkommen. Nur indem sie aufwachte, hatte sie entfliehen können. Was hatten diese Ungeheuer mit ihr angestellt? Waren sie schuld, dass sie sich nicht erinnern konnte, oder waren solche Träume normal, wenn man gegen den Tod kämpfte? Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie wütend fortwischte. Sie musste einen klaren Kopf bewahren. Offenbar gab es Menschen, die bereit waren, ihr zu helfen. Sie war nicht allein, und bestimmt würden die Erinnerungen über kurz oder lang zurückkommen. Sie musste nur daran glauben. Sie waren noch in ihrem Kopf – nur eben verschüttet.

»Klara, hilfst du mir heraus?«, rief sie.

Sekunden später wurde sie in ein riesiges, weiches Handtuch gehüllt.

»Ich habe ein paar Sachen bereitgelegt«, erklärte Klara. »In einer halben Stunde gibt es Essen. Und die Herren mögen es nicht, wenn man sie warten lässt.«

Na toll, dachte Lucy. Seiner verletzten Verlobten konnte man eine kleine Verspätung sicher zugestehen.

Mit Klaras Hilfe zog Lucy erst ihre Unterwäsche, dann eine schmale graue Hose und einen dunkelgrünen Kaschmirpullover an. Sie fühlte sich unwohl in der Kleidung. So etwas trug sie? Das waren auf keinen Fall die Klamotten einer … Wie alt war sie eigentlich?

»Klara?«

»Ja?« Diese bemühte sich gerade, ihr das widerspenstige rote Haar zu richten.

»Weißt du, wie alt ich bin?«

»Keine Ahnung. Ich bin dreiundzwanzig. Während Sie schliefen, dachte ich, dass Sie jünger sind als ich. Aber jetzt in den Sachen …«

Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was sie über die Klamotten dachte.

Lucy lachte auf, und Klara stimmte einen Moment später ein.

»In deinem schwarzen Dienstbotenkleid siehst du ehrlich gesagt auch ein bisschen Mary-Poppins-mäßig aus.«

Klara verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich weiß, aber das war Bedingung für den Job. Sie sollten erst mal den Butler sehen.«

»Auch egal«, winkte Lucy ab. »Ich werde meinen Verlobten fragen, wie alt ich bin. So passe ich offenbar besser zu ihm.«

»Zum Glück nehmen Sie es mit Humor.«

»Kannst du mir einen Gefallen tun und mich nicht laufend siezen?«

»Aber der Herr hat es befohlen.«

Lucy verdrehte die Augen. »Ich werde dazu wohl eine eigene Meinung haben dürfen, oder?«

»Da wäre ich nicht sicher«, bekannte Klara mit verblüffender Ehrlichkeit. »Wie gesagt: Er ist sehr nett – solange man seinen Befehlen folgt.«

Was passierte, wenn man es nicht tat, ließ Klara unausgesprochen. Lucy zog die Augenbrauen nach oben.

»Sie sind fertig«, verkündete Klara im selben Augenblick. Sie hatte Lucys Haare zu einem strengen Zopf zusammengebunden und ein leichtes Make-up aufgetragen. Eine fremde Frau starrte sie aus dem Spiegel an. Wenn sie Anfang zwanzig sein sollte, dann hatte der Look es geschafft, gut zehn Jahre dazuzuschummeln. Am liebsten hätte sie sich die Schminke aus dem Gesicht gewischt und das Zopfgummi aus den Haaren gerissen. Irgendetwas sagte ihr jedoch, dass Klara Ärger bekommen würde, wenn sie das tat. Offenbar konnte sie sich an einige Dinge doch erinnern. Auch wenn es nur darum ging, Dienstboten in diesem Haus nicht in Schwierigkeiten zu bringen.

Vorsichtig stand sie auf. »Dann wollen wir mal.« Ihre Knie zitterten.

Klara fasste sie unter. »Es wird schon. Sie müssen keine Angst haben.«

»Das sagt sich so leicht.«

Langsam stiegen sie die Treppe hinunter, und mit jedem Schritt verstärkte sich eine ungewisse Panik in Lucy. Was erwartete sie da unten?

Am Fuße der Treppe erstreckte sich ein riesiger Vorraum, oder wie nannte man das in so einem Haus? Eingangsbereich? Diele? Entree? Ein Rollstuhl stand dort, und bevor Lucy fragen konnte, wem er gehörte, hatte Klara sie hineingesetzt. Für Protest hatte sie weder die Zeit noch die Kraft. Die Stufen hatten sie völlig ausgelaugt.

»Der Doktor hat zwar gesagt, Sie sollen sich ein bisschen bewegen, aber zu viel ist für den Anfang auch nicht gut«, erklärte Klara, der Lucys Schwäche nicht entgangen war.

Mehrere Türen säumten den großen Vorraum. Welche führte wohl nach draußen? Hätte Lucy genug Kraft gehabt, wäre sie hinausgestürzt. Sie brauchte dringend frische Luft. Alles hier roch so … alt. Der Geruch schnürte ihr die Brust zu, ihr Atem beschleunigte sich, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

»Ganz ruhig, Lucy. Alles wird gut«, betete Klara ein Mantra für sie herunter. »Hab keine Angst. Atme langsam ein und aus.«

Lucy klammerte sich an Klaras Worte und folgte ihren Anweisungen. In einer Nische ihres Gehirns registrierte sie, dass diese sogar die blöde Siezerei gelassen hatte. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder in der Lage war, klar zu denken.

»Besser?«

Lucy nickte, obwohl sie nicht ganz sicher war.

»Niemand wird Ihnen etwas tun«, kehrte Klara zu der verbindlichen Anrede zurück.

»Ich weiß«, antwortete Lucy.

Klara schob den Rollstuhl an eine der hohen, dunklen, mit reichen Schnitzereien verzierten Türen heran und klopfte.

Sofort wurde von innen geöffnet. Aus irgendeinem Grund hatte Lucy einen Saal erwartet, aber der Raum, der sich vor ihr auftat, war gar nicht so groß. Fast hätte er sogar gemütlich sein können. Fahles Winterlicht fiel durch die hohen Fenster. Ein Kronleuchter spendete zusätzliches Licht, und ein Kamin verbreitete behagliche Wärme. Der längliche Tisch in der Mitte war für das Mittagessen vorbereitet. Die beiden Männer erhoben sich, als Lucy von Klara hineingeschoben wurde, und kamen ihr lächelnd entgegen.

»Mein Liebes«, begrüßte der jüngere der beiden Männer sie. Er musste irgendwas um die dreißig oder vielleicht auch etwas älter sein. »Du hast uns große Sorgen gemacht. Wir haben schon befürchtet, du willst dich vor der Hochzeit drücken.« Er lachte und tätschelte ihre Hand. Sie registrierte seine gelben Fingernägel und hätte ihm ihre Hand am liebsten entzogen.

»Du darfst gehen«, wies er Klara dann an, obwohl es Lucy lieber gewesen wäre, wenn diese in ihrer Nähe geblieben wäre.

Hochzeit – dröhnte es in ihrem Kopf. Das war doch hoffentlich nicht der Bräutigam. Der Mann hatte weißblondes Haar, das sich bereits zu lichten begann. Er war nicht sehr groß und im Grunde schlank, fast dünn. Nur sein Bauch ragte hervor. Als er lächelte, offenbarten sich gelbliche Zähne. Lucy schüttelte sich. »Wo ist denn mein Bräutigam?«, fragte sie mit zittriger Stimme.

Der Mann begann zu lachen. »Er steht direkt vor dir.« Er machte eine knappe Verbeugung. »Sir Michael Frederik Beaufort der Zehnte.« Er drückte einen Kuss auf ihren Handrücken.

»Das glaube ich nicht«, entfuhr es Lucy, und sie war froh, dass sie saß. Ein Schwindelgefühl packte sie, und unauffällig wischte sie die Hand an der Hose ab.

»Glaube es ruhig. Die Hochzeit ist lange beschlossen, und du warst ihr nie abgeneigt.«

Das klang nicht nach großer Liebe. Lucy schluckte und sah ihren Verlobten an, der sie mit strenger Miene musterte.

»Ich kann mich an gar nichts erinnern«, bekannte sie.

Sir Beaufort schob sie zum Tisch. »Das ist nicht schlimm, meine Liebe. Der Doktor deutete so etwas bereits an. Er versicherte uns, dass es nicht lange dauert, bis die Erinnerungen zurückkommen, und dann weißt du wieder, weshalb du mit mir den Bund der Ehe eingehen möchtest.«

Obwohl Lucy auf ihren Teller sah, entgingen ihr die Blicke nicht, die die beiden Männer miteinander wechselten. Der ältere hatte sich ihr noch nicht vorgestellt.

Lucy war dankbar, als ein junger Mann begann, das Essen zu servieren. So entkam sie vorerst anstrengenden Gesprächen.

»Kannst du dich an gar nichts erinnern, meine Liebe?«, fragte Beaufort, nachdem die Suppe abgetragen worden war.

Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht erzählst du mir, was genau sich zugetragen hat und …«, sie stockte, »wer ich überhaupt bin.«

Er räusperte sich. »Tja, wo fange ich am besten an?«

»Was ist mit meiner Familie? Wo ist sie? Meine Eltern? Habe ich Geschwister?« Wenn es so wäre, würde sie ihn bitten, sie kommen zu lassen, auch wenn sie sich nicht an sie erinnerte.

»Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, mein Kind – aber du bist eine Waise. Deine Eltern starben, als du klein warst. Geschwister hast du nicht. Du bist bei Batiste de Tremaine aufgewachsen. Er ist dein Patenonkel.«

Nein, dachte Lucy. Bitte nicht. Sie konnte nicht ganz allein sein.

Der alte Mann, der Lucy gegenübersaß, lächelte sie liebevoll an. »Ich habe dich großgezogen, seit du ein Baby warst.«

Sie hatte niemanden, außer diesem alten Mann, der sie großväterlich anlächelte? Ob sie ihn gemocht hatte? Hatte er mit ihr gespielt und ihr vorgelesen? Um seine Augen lag ein harter Zug – trotz des Lächelns. Aber offenbar war er das für sie, was einer Familie am nächsten kam.

»Wir beide haben uns in seinem Haus kennen- und schätzen gelernt«, referierte Beaufort weiter. »Unsere Familien verbindet eine lange Freundschaft.«

Schätzen gelernt? War das sein Ernst? Oder war das in ihren Kreisen so üblich? Sie musterte die teure Möblierung des Raumes und die beiden Diener, die an der Tür standen und auf ihre Befehle warteten. Sie lebten doch nicht im Mittelalter, daran konnte selbst sie sich erinnern. Hatte sie nie einen jungen Mann kennengelernt, der sie interessiert hatte? Oder stand sie am Ende auf reifere Männer?

»Erzählt mir von meinem Reitunfall. Reite ich gern? Bin ich oft geritten? Weshalb war die Verletzung so schwer? Bin ich auf den Kopf gefallen? Ich kann mich täuschen, aber in der Regel verliert man von einer Beinverletzung nicht gleich sein Gedächtnis, oder?«

Der Mann, der ihr Patenonkel war, zuckte mit den Schultern. »Deine ersten Fragen lassen sich leicht beantworten. Du reitest, seit du klein warst, und du bist eine ausgezeichnete Reiterin. Bei deinen anderen Fragen müssen wir leider passen. Niemand weiß genau, was geschehen ist. Dein Pferd kam ohne dich zurück zum Stall. Beauforts Männer haben stundenlang nach dir gesucht. Du reitest gewöhnlich jeden Nachmittag, aber du hast keine feste Strecke. Das Gelände ist sehr unübersichtlich. Als wir dich fanden, warst du bewusstlos, und dein Bein blutete fürchterlich. Eine Woche warst du im Krankenhaus. Du musstest zweimal operiert werden. Nachdem die Ärzte dich stabilisiert hatten und du außer Lebensgefahr warst, haben wir dich herbringen lassen. Wir glaubten, dass du hier mehr Ruhe haben würdest, und Dr. Hayes ist ein sehr fähiger Arzt. Er hat sich fabelhaft um dich gekümmert.«

Lucy nickte und stocherte in den Kartoffeln auf ihrem Teller herum. Der Appetit war ihr vergangen. In ihrem Kopf türmten sich nach diesen Auskünften nur weitere Fragen. Sie legte die Gabel ab und zerknüllte nervös die Serviette, die in ihrem Schoß lag. »Würde es euch etwas ausmachen, wenn ich mich wieder hinlege? Ich fühle mich sehr schwach.« Sie versuchte sich an einem Lächeln.

»Sicher. Du darfst dich nicht überanstrengen. Alles andere kann warten.«

»Alles andere?« Fragend sah sie ihren Verlobten an.

Beaufort warf Batiste einen warnenden Blick zu. Dieser runzelte die Stirn.

»Darüber sprechen wir ein anderes Mal. Es geht um deine Arbeit. Aber jetzt ist nur wichtig, dass du gesundwirst«, sagte ihr Patenonkel jetzt.

Lucy presste die Lippen aufeinander. Offenbar war keiner der beiden bereit, ihr mehr zu verraten. Sie arbeitete also – etwas Großartiges konnte das kaum sein. Dem Reichtum nach zu urteilen, den das Haus ausstrahlte, hatte sie es nicht nötig, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen – und welche berufstätige Frau ritt schon jeden Nachmittag aus? Wahrscheinlich bestickte sie Deckchen für die Heilsarmee. Sie verkniff sich ein trauriges Grinsen und war froh, dass Klara in diesem Moment eintrat.

»Bring Miss Lucy bitte zurück auf ihr Zimmer«, wies ihr Verlobter sie an. »Und pass auf, dass sie sich nicht überanstrengt. Du bist für sie verantwortlich, vergiss das nicht.«

»Sehr wohl, Sir.« Klara knickste bei ihrer Antwort.

Lucy verdrehte unauffällig die Augen. Sie war doch im Mittelalter gelandet. Anders ließ sich das alles nicht erklären. Allerdings widersprach dieser Theorie, dass es elektrisches Licht gab. Es wäre auch zu einfach gewesen. Denn dann hätte sie lediglich warten müssen, dass sie in ihre Zeit zurückkatapultiert wurde. Im Moment erschien ihr das leichter, als dass sie ihr Gedächtnis wiedererlangte und eine Erklärung für all das hier bekam.

2. Kapitel

Colins Telefon klingelte. Ohne auf die Nummer zu schauen, nahm er ab. Sein Arm schmerzte bei der Bewegung. Die Schwellungen in seinem Gesicht waren zurückgegangen, und die geprellten Rippen taten nicht mehr so weh wie noch vor ein paar Tagen, doch sein Arm machte ihm zu schaffen.

Marie und Jules umsorgten ihn, als wäre er ein Vollinvalide. Ihm sollte es recht sein. Was ihm viel mehr Sorgen bereitete, war, dass sie seit Tagen nichts von Lucy gehört hatten. Wenn nicht bald eine Nachricht eintraf, dass es Nathan und ihr gut ging, mussten sie sich etwas überlegen. Die Frage war nur, was das sein sollte. Er war mit seinem Latein am Ende.

»Hallo«, meldete er sich.

»Spreche ich mit Colin Taylor?« Vom anderen Ende der Leitung erklang eine tiefe, ihm unbekannte Männerstimme.

»Ja«, erwiderte Colin zögerlich. Bestimmt eine Falle von diesem Teufel de Tremaine.

»Mein Name ist Jonathan de Tremaine.«

Colin zog hörbar die Luft ein. Er hatte es gewusst.

»Ich bin Nathans Vater«, erklärte der Mann.

Okay, vielleicht doch keine Falle. »Sind Lucy und Nathan bei Ihnen?« Colin setzte sich auf und presste den Hörer fester an sein Ohr.

»Sie waren es. Es ist etwas Unvorhergesehenes passiert. Mein Sohn hat mich gebeten, Sie anzurufen. Er meinte, Sie würden Lucy helfen, wenn er nicht mehr dazu in der Lage ist.«

Colin beugte sich vor und ignorierte die Schmerzen, die ihn durchfuhren. »Wo ist sie?« Er biss die Zähne zusammen. »Was ist passiert? Geht es ihr gut?«

»Das möchte ich nicht am Telefon ausführen. Können wir uns treffen?«

»Wann und wo?« Auch wenn es ein Risiko bedeutete, er musste wissen, was mit Lucy passiert war.

»Ich bin in London. Können Sie in einer Stunde am London Eye sein?«

»Kein Problem«, erwiderte Colin und legte auf. Er humpelte ins Bad, um zu duschen. Etwas Schlimmes war Lucy zugestoßen, das spürte er. Es war alles umsonst gewesen.

»Was tust du da?« Jules starrte ihn entgeistert an, als er wieder herauskam.

Streng musterte sie die blauen Flecken, die sich über seinen lädierten nackten Oberkörper zogen. »Du gehörst ins Bett.«

»Nathans Vater hat angerufen«, verteidigte er sich. »Er will mich treffen. Irgendwas ist passiert.«

»Du gehst da nicht allein hin. Wer weiß, ob es wirklich Nathans Vater war. Woher soll der plötzlich aufgetaucht sein? Was, wenn das eine Falle ist?«

»Er klang ehrlich und besorgt«, verteidigte Colin seinen Entschluss, auch wenn er dieselben Bedenken gehabt hatte.

Jules sah Colin fassungslos an. »Bist du so naiv, oder tust du nur so? Wenn Batiste dich in seine Hände kriegt, wird er dich als Druckmittel benutzen, um Lucy zu erpressen.«

Colin wandte sich ab und ging in sein Zimmer. »Das Risiko muss ich dann wohl eingehen. Wir haben seit zwei Wochen nichts von den beiden gehört.«

Jules rannte ihm nach und stieß die Tür auf. »Ist nicht schon genug passiert?«, schrie sie ihn an. »Möchtest du, dass sie dich beim nächsten Mal totschlagen?«

»Jules, er hat gesagt, dass er etwas über Lucys Verbleib weiß. Ich werde nicht in der Wohnung sitzen bleiben und mir vor Angst in die Hosen machen, wenn ich die Chance habe, irgendetwas herauszufinden.« Wütend funkelte er sie an.

Jules schien nicht bereit, nachzugeben. »Seine Eltern haben Nathan verlassen, als er klein war. Sie haben ihn bei seinem Großvater gelassen – aus welchem Grund auch immer. Er hatte nie Kontakt mit ihnen. Jetzt sind Lucy und Nathan verschwunden, und dieser mysteriöse Dad taucht plötzlich auf und ruft dich an?«

»Es ist immerhin möglich, dass Nathan ihn aufgespürt hat, oder nicht?«, wandte Colin ein. »Er brauchte Hilfe.«

»Ich finde es viel wahrscheinlicher, dass Batiste auch seinen Sohn um die Ecke gebracht hat und sich nun jemand als Nathans Vater ausgibt, um dich auszuhorchen. Nathan und Lucy sind verschwunden, und wir wissen nicht, wohin. Wahrscheinlich weiß Batiste es auch nicht und setzt alle Hebel in Bewegung, um die beiden zu finden. Er wird denken, wir wissen Bescheid.«

»Vielleicht hast du recht«, gab Colin widerwillig zu.

»Ach, und das erstaunt dich, oder was?« Jules verschränkte die Arme vor dem Körper.

»Natürlich nicht«, zog Colin sie auf. »Mir war schon immer klar, dass ich deinem scharfen Verstand nichts entgegenzusetzen habe.«

»Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen.«

»Und was schlägst du vor?« Colin funkelte sie an. »Irgendeine Eingebung, Miss Superschlau?«

»Zuerst solltest du dir etwas überziehen.« Colin saß nur mit Boxershorts bekleidet vor ihr. Wasser tropfte aus seinem feuchten Haar und lief über seine Brust.

»Mache ich dich nervös?« Er lächelte anzüglich.

»Ich will dich nicht enttäuschen, aber momentan bist du nicht besonders sehenswert. Du hast dir im Kampf um Lucy zu viele Blessuren zugezogen.« Sie verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

»Eifersucht steht dir nicht!«, brüllte Colin ihr hinterher und streifte ein T-Shirt über. Weshalb musste Jules immer das letzte Wort haben? Diese Frau machte ihn verrückt.

Jules stapfte in die Küche und setzte Wasser auf. Sie brauchte einen starken Kaffee. Sie war nicht eifersüchtig auf Lucy. Was für eine absurde Vorstellung. Doch manchmal ging ihr Colin mit seinem ritterlichen Getue ziemlich auf die Nerven. Sie verstand ja, dass er sich um Lucy sorgte. Aber sie würde nicht wollen, dass Colin sich ihretwegen in Gefahr brachte. Es war nicht vorauszusehen gewesen, dass Batiste Schläger ausschicken würde, als sie versucht hatten, ihn zu täuschen. Ihr Ablenkungsmanöver wäre fast aus dem Ruder gelaufen. Nicht auszudenken, wenn Colin Schlimmeres passiert wäre. Jules stützte sich an dem Küchenschrank ab. Sich mit einem Mann zu treffen, den niemand von ihnen kannte und dessen Geschichte dermaßen unglaubwürdig klang, das war einfach dumm. Sie würde ihn daran hindern.

Colin kam in die Küche geschlendert. Immerhin trug er jetzt ein T-Shirt und Jeans. Mit einem Handtuch rubbelte er im Gehen seine Haare trocken. Er hängte das Handtuch über eine Stuhllehne und setzte sich an den Tisch. Entschuldigend lächelte er Jules an. »Was schlägst du vor? Wir können uns diese Chance nicht entgehen lassen.«

Sie stellte ihm eine Tasse Kaffee vor die Nase und setzte sich ihm gegenüber. »Du hast recht. Es besteht die Möglichkeit, dass der Anrufer tatsächlich Nathans Vater ist«, lenkte sie ein.

Colin blickte sie an, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er war jedoch klug genug, zu schweigen.

»Wir fahren gemeinsam zu dem Treffpunkt und schauen uns um. Sobald wir etwas Verdächtiges entdecken, verschwinden wir wieder.«

»Was soll da denn Verdächtiges sein? Gestalten in schwarzen Mänteln mit Walkie-Talkies? Eine unbemannte Flugdrohne, die kleine Bomben auf uns abwirft?«

Jules schüttelte den Kopf. »Du bist kindisch.« Sie stand auf.

»Entschuldige.« Colin griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Zögernd setzte sie sich wieder. »Ich versuche nur, dem Ganzen mit Galgenhumor zu begegnen. In Wirklichkeit habe ich Angst.«

Jules sah Colin direkt in die Augen. Er hielt ihre Hand immer noch fest.

»Ich möchte Lucy nicht im Stich lassen, aber ich möchte auch nicht noch mal verprügelt werden.« Er grinste sie schief an. »Obwohl es nett ist, von euch so umsorgt zu werden.«

Jules versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Mit seinem jungenhaften Charme bekam er sie immer. »Vielleicht ist es besser, wenn wir uns noch Verstärkung besorgen. Spielt dein Freund Dean nicht in der Rugbymannschaft der Uni? Der kennt sicher ein paar Jungs, die keiner Prügelei aus dem Weg gehen. Vielleicht kann er sie schnell zusammentrommeln. Für alle Fälle.«

»Ein bisschen peinlich für mich, oder?«

Jules verdrehte die Augen. »Jetzt spring mal über deinen Schatten. Ein Kämpfer bist du nun mal nicht. Es ist nichts dabei, andere um Hilfe zu bitten, und Dean macht bestimmt gerne mit.«

»Wenn du meinst.« Colin griff nach seinem Handy und rief seinen Freund an. Eine halbe Stunde später machte er sich mit Jules auf den Weg. Sie würden zu spät kommen. Aber wenn es tatsächlich Nathans Vater war, würde er warten.

Im Winter war der Platz rund um das London Eye längst nicht so gut besucht wie im Sommer. Das würde es Dean und seinen Kumpels leichter machen, verdächtige Personen zu bemerken. Colin hatte mit ihm besprochen, dass im Falle eines Falles ein paar seiner Jungs Jules in Sicherheit bringen und die anderen versuchen würden, mindestens einen von Batistes Männern festzuhalten. Wenn sie einen in der Hand hatten, würden sie die Wahrheit über Lucys und Nathans Verschwinden schon herausfinden.

Colin und Jules erkannten Nathans Vater sofort. Die beiden ähnelten sich einfach zu sehr. Damit war die Frage, ob es sich wirklich um Nathans Vater handelte, geklärt. Dieser de Tremaine sah im Gegensatz zu seinem Vater Batiste jedoch äußerst friedfertig aus. Nicht ein Funke von Arroganz ging von ihm aus. Etwas, was selbst Nathan nie richtig ablegen konnte. Jonathan de Tremaine wirkte eher wie ein in die Jahre gekommener Landadliger, der viel besser in Begleitung seiner Hunde in ein Moor in der Nähe seines Landsitzes passte als in ein Londoner Touristenviertel. Er trug einen alten Tweedmantel und einen passenden Hut. Im Grunde fehlte nur eine Pfeife, dachte Colin.

»Mr de Tremaine?«, sprach er ihn an. »Ich bin Colin Taylor, und das ist meine Freundin Jules. Sie wollten mich treffen?«

Ein prüfender Blick glitt über sie beide. »Sie sehen genauso aus, wie Nathan Sie mir beschrieben hat. Ich vermute also, dass Sie echt sind und mein Vater mir kein Double geschickt hat.«

Jules lächelte. »Bei Ihnen waren wir uns auch nicht sicher.«

»Haben Sie deshalb eine halbe Rugbymannschaft mitgebracht?«

»Das haben Sie bemerkt?« Jules’ Haut rötete sich vor Verlegenheit.

»Glaubt mir, im Laufe der Jahre habe ich gelernt, die Menschen um mich herum genau zu beobachten. Es bestand schließlich immer die Gefahr, dass mein Vater seine Büttel ausschickte, um mir oder meiner Familie etwas anzutun. Es war völlig richtig, mir nicht zu trauen.«

»Wollen wir in ein Café gehen, Mr de Tremaine?« Colin tippte eine Entwarnungsnachricht an Dean in sein Handy. »Hier draußen ist es saukalt.«

»Nennt mich Jonathan«, bat dieser, nickte zustimmend und folgte ihnen dann.

»Was ist passiert?« Colin ließ sich auf einen Stuhl fallen und machte sich nicht mal die Mühe, seine Jacke auszuziehen. »Wir haben das letzte Mal von den beiden gehört, nachdem Lucy Nathan befreit hat. Danach haben sie sich nicht mehr gemeldet.«

»Wir denken, dass sie uns nicht unnötig in Gefahr bringen wollen, nachdem Batistes Leute Colin zusammengeschlagen haben«, ergänzte Jules. »Aber so gar kein Lebenszeichen von sich zu geben, passt nicht zu Lucy. Sie muss doch wissen, dass wir uns Sorgen machen.«

»Die Sorgen sind berechtigt«, setzte Jonathan an. »Ich erzähle euch am besten alles, was ich weiß. Lucy wurde auf der Flucht von einem von Batistes Hunden gebissen.«

»Nein.« Jules schüttelte entsetzt den Kopf, während Colins Miene noch grimmiger wurde.

»Leider doch«, bestätigte Jonathan. »Nathan kam mitten in der Nacht bei uns an. Wir haben ihn sofort erkannt.« Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Meine Frau, meine zwei Töchter und ich hätten uns ein Wiedersehen anders gewünscht. Es blieb weder Zeit für längere Gespräche noch, uns zu freuen. Er hatte Lucy dabei. Sie war schon auf dem Weg zu uns bewusstlos geworden. Vielleicht hätte ich ihr helfen können, wenn sie früher gekommen wären. Die Bisse dieser Hunde sind keine gewöhnlichen Bisse. Sie sind sehr giftig. Ist das Gift erst einmal im Blutkreislauf, ist es unmöglich, es ohne das Gegenmittel zu bekämpfen. Ich bin Arzt, und ich habe alles versucht, doch ich war machtlos. Wenn sie nicht noch nach Edinburgh gefahren wären, hätten wir mehr Zeit gehabt …«

Colin war bleich geworden. »Ist sie …?«

Jules griff nach seiner Hand, doch er sprach das Wort nicht aus.

»Nein, sie ist nicht gestorben, aber ich fürchte, dass der Tag kommt, an dem sie vielleicht wünscht, es zu sein.«

»Wie meinen Sie das? Wenn sie nicht gestorben ist, wo ist sie dann? Wo ist Nathan? Weshalb hat er nicht besser auf sie aufgepasst?«, fragte Colin empört.

»Sie wäre definitiv an der Vergiftung gestorben. Es ist wichtig, dass ihr das wisst. Das Gift hatte bereits ihren ganzen Körper infiziert. Sie hatte schreckliche Schmerzen und dann diese Albträume, aus denen sie nicht aufwachen konnte. Nathan hatte keine Wahl. Ihr müsst mir glauben, es fiel ihm unglaublich schwer, zu tun, was getan werden musste.« Jonathan machte eine Pause, bevor er schleppend weitersprach. »Er musste Batiste um Hilfe bitten, sonst wäre Lucy gestorben. Er hat ihn angerufen und ihn gebeten, sie zu retten. Batiste hat sie geholt.«

»Nein!«, stieß Colin hervor und sprang auf. Sein Stuhl polterte zu Boden, und er beugte sich über den Tisch. »Sagen Sie, dass das nicht wahr ist. Er hat Lucy nicht freiwillig diesem Monster überlassen! Und ich Idiot habe mich zusammenschlagen lassen, damit Lucy ihn befreien kann. Wie konnte er?«

»Colin, beruhige dich. Lass Jonathan erst die ganze Geschichte erzählen.« Unangenehm berührt sah Jules sich um. Die anderen Gäste starrten sie an. »Setz dich wieder hin«, zischte sie.

Colin warf ihr einen wütenden Blick zu. Mit langsamen Bewegungen hob er den Stuhl wieder auf. »Okay, erzählen Sie weiter. Weshalb waren die beiden in Edinburgh? Sie sollten sich irgendwo verstecken, wo Batiste sie nicht findet.«

»Ich weiß nur, was Nathan mir in der kurzen Zeit, die uns blieb, erzählt hat. Lucy hat darauf bestanden, sich noch mit Miss Olive zu treffen. Sie hoffte, von ihr mehr über das Vermächtnis der Hüterinnen zu erfahren. Wisst ihr etwas über das Buch?«

»Nicht viel. Angeblich steht darin, wie Lucy die Bücher befreien kann«, beantwortete Jules die Frage.

Jonathan nickte. »Miss Olive hat seit Jahren Informationen über das Buch zusammengetragen. Sie wurde bei diesem Treffen von Batistes Handlangern ermordet. Lucy und Nathan konnten nur knapp entkommen.«

»Miss Olive hatte einen Unfall in Frankreich«, warf Jules ein.

»Das hatte sie ganz bestimmt nicht«, widersprach Jonathan. »Aber dass ihr das denkt, ist ein weiterer Beweis für Batistes Einfluss. Er hat die ganze Geschichte vertuscht. Sie wurde in Edinburgh im Holyrood Palace erschossen. Eigentlich hätte die Kugel Lucy treffen sollen. Miss Olive hat sich für sie geopfert.«

»In der Bibliothek hat es eine Gedenkveranstaltung für sie gegeben«, bemerkte Jules tonlos. »Ich war mit Marie auf der Beerdigung. Wenn wir gewusst hätten …«

Colin griff tröstend nach ihrer Hand. »Hat das irgendwann ein Ende?«

»Ich weiß es nicht. Der Bund schreckt vor nichts zurück, und jetzt haben sie Lucy, und ich befürchte das Schlimmste«, bestätigte Jonathan ihre Ängste.

»Was ist danach passiert?«, fragte Colin. »Nachdem Miss Olive erschossen wurde?«

»Lucy und Nathan kamen zu uns. Sofia, Batistes Haushälterin, hatte unsere Adresse. Wir standen die ganzen Jahre über mit ihr in Verbindung. Sie hat uns immer berichtet, wie es Nathan ging. Batiste durfte das natürlich nie erfahren. Er hat uns so schon das Leben zur Hölle gemacht. Natürlich war klar, dass wir den beiden helfen mussten. Aber ich konnte nichts mehr für sie tun. Als Nathan Batiste anrief, diktierte dieser seine Bedingungen. Uns hätte klar sein müssen, dass er sich nicht an die Vereinbarungen halten würde. Aber wir hatten in dem Moment nur die Wahl zwischen Tod oder Teufel. Es ging Lucy sehr schlecht. Ihr Leben hing an einem seidenen Faden.«

Jonathan schwieg und trank einen Schluck Tee, dann holte er tief Luft. »Es verging ein ganzer Tag, bis Nathans Entscheidung stand. Erst wollte er mit Lucy fliehen, doch sie war nicht transportfähig. Sie wäre nur schneller gestorben. Er hat sehr mit sich gekämpft. Nachdem er schlussendlich zugestimmt hatte, kam Batiste mit einem Helikopter und einer Limousine. Er hatte fünf Männer dabei, die verhindern sollten, dass sein Plan fehlschlug. Als wenn wir eine Wahl oder die Macht gehabt hätten, uns zu widersetzen. Ein Arzt untersuchte Lucy und verabreichte ihr ein Medikament. Danach wurde sie in den Helikopter verfrachtet. Nathan wollte mit einsteigen, doch die Männer hielten ihn zurück. Er tobte, aber er konnte nichts ausrichten. Batiste erklärte ihm, dass Lucy auf das Anwesen der Beauforts gebracht werden und dass Nathan ihm auf seinen Landsitz würde folgen müssen. Würde er sich weigern, so würde das Lucys Tod bedeuten. Er musste tun, was sein Großvater verlangte. Mich und meine Frau hat Batiste gewarnt, uns nicht noch einmal einzumischen, wenn uns das Leben unserer Töchter etwas bedeuten würde. Er ist in den Jahren noch schrecklicher geworden. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich sei.«

Jules nickte zustimmend. »Er ist ein Monster und schreckt vor nichts zurück.«

»Er wird bis zum letzten Atemzug für seine Ziele kämpfen«, bestätigte Jonathan.

»Und weshalb wollten Sie sich mit uns treffen? Jetzt bringen Sie Ihre Familie ja doch in Gefahr!« Colin forschte in Jonathans Gesicht nach einer Antwort. »Was können wir noch ausrichten?«

»Es gibt da schon noch etwas. Nathan meinte, dass ihr die Einzigen seid, denen er genug vertraut, um euch das hier zu geben.« Er zog aus der Innentasche seines Mantels ein schwarzes Notizbuch. »Das ist das Buch, in dem Miss Olive alles zusammengetragen hat, was sie über das Vermächtnis der Hüterinnen herausfinden konnte. Nathan hat ein wenig darin gelesen, aber er hatte nicht genug Zeit. Weder dieses Notizbuch noch das Vermächtnis der Hüterinnen selbst, wenn ihr es denn findet, darf in Batistes Hände fallen«, sagte er eindringlich. »Nur darüber können wir herausfinden, wie der Bund zu zerschlagen ist. Nathan wollte, dass du, Colin, das Buch bekommst, und er wollte, dass ich dich bitte, Lucy aus Beauforts und Batistes Händen zu befreien. Wir hoffen, sie verschwenden jetzt, wo sie beide in ihrer Gewalt haben, keinen Gedanken mehr an euch. Er wird nicht glauben, dass jemand bereit ist, sich für sie zu opfern. Für Batiste steht immer er selbst an erster Stelle, und so intelligent er auch ist, er glaubt, alle Menschen denken so wie er. Aber Nathan war sicher, dass du Lucy nicht im Stich lassen würdest.« Er sah Colin eindringlich an. »Ich weiß nicht, ob er das Recht hat, dich darum zu bitten. Du darfst diese Aufgabe nicht unterschätzen. Du musst zu allem bereit sein. Der Bund hat keine Gnade mit seinen Gegnern.«

»Ich werde sie nicht im Stich lassen.« Jules’ Hand glitt bei diesen Worten aus seiner. Er wandte sich ihr zu und griff erneut danach. »Jules, für dich würde ich das Gleiche tun.«

Sie entzog ihm ihre Hand. »Ich hoffe mal, dass du dieses Versprechen niemals unter Beweis stellen musst.« Sie stand auf und verließ das Café. Colin wollte ihr folgen und schob schnell seinen Stuhl zurück.

Jonathan hielt ihn zurück. »Das hier ist wichtiger«, sagte er eindringlich.

Colin setzte sich wieder. Sein Blick glitt zu Jules, die vor dem Fenster des Cafés stehen geblieben war. Sie kam nicht wieder herein, aber sie lief auch nicht weg. Er wandte sich Nathans Vater zu.

»Woher wissen wir überhaupt, ob sie gesund geworden ist? Vielleicht hat er sie sterben lassen, nachdem er Nathan wieder in seine Gewalt gebracht hatte.«

»Das schließe ich aus, und zwar, weil er sich Lucys Fähigkeiten niemals entgehen lassen würde.«

»Aber Lucy wäre nicht bereit, für ihn zu arbeiten und Bücher auszulesen. Sie ist für ihn nicht zu gebrauchen – egal, was er tut. Sie wird immer gegen ihn kämpfen.«

»Es gibt etwas, das du noch nicht weißt. Das Gift vergiftet nicht nur den Körper, sondern auch den Geist. Es beginnt mit schrecklichen Albträumen, die einen zermürben. Lucy konnte sich nicht wehren, so tief war sie in ihre Bewusstlosigkeit gerutscht. Sie war wie gefangen, und wir konnten nur tatenlos zusehen, wie sie sich quälte. Es war grausam. Was das Gift mit dem Geist anrichtet, ist unterschiedlich, aber in jedem Fall verändert oder zerstört es die Persönlichkeit auf die eine oder andere Art. Du kannst davon ausgehen, dass Lucy, wenn du sie wiedersiehst, nicht mehr dieselbe ist. Es ist möglich, dass sie sich gar nicht mehr an dich erinnert oder dass sie dich und nicht Batiste als Feind betrachtet. Du musst auf alles gefasst sein.«

»Das ist unmöglich.« Colin schüttelte den Kopf. »So etwas gibt es nicht.«

»Bei Batiste de Tremaine gibt es so einiges, das es nicht geben sollte. Am besten, du stellst dich darauf ein, dann erlebst du keine zu großen Überraschungen.«

»Wo lebt dieser Beaufort eigentlich?«

»Sein Landsitz befindet sich in der Grafschaft Gloucestershire in der Nähe von Tewkesbury. Ihr müsst auf euch achtgeben. Diese Männer sind sehr gefährlich.«

Jonathan schrieb seine Telefonnummer auf eine Serviette und reichte sie Colin. »Ruf mich an und halte mich auf dem Laufenden. Ich fahre nach Schottland zurück, damit Batiste keinen Verdacht schöpft, falls er mich überwachen lässt.«

»Wo sind Ihre Frau und Ihre Töchter? Haben Sie keine Angst um sie?«

»Sie sind in Sicherheit – bei Freunden in Frankreich.«

»Okay. Wir sehen uns das Buch an und machen einen Plan. Dann melden wir uns bei Ihnen.«

Die beiden schüttelten sich die Hände.

»Vielen Dank, dass Sie zu uns gekommen sind«, sagte Colin.

»Es war das Mindeste, was ich für meinen Sohn tun konnte.«

Colin verließ das Lokal und legte einen Arm um Jules, die immer noch draußen wartete. »Du bist noch hier.«

»Ich kann dich ja nicht allein nach Hause humpeln lassen«, murrte sie.

»Das ist nett von dir.« Colin drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Ich liebe dich auch.« Er grinste.

»Lass das«, wehrte sie halbherzig ab, doch Colin zog sie nur noch fester an sich. »Da haben wir uns ganz schön was eingebrockt.« Schweigend liefen sie los, jeder in seine Gedanken versunken. Die Aufgabe, die vor ihnen lag, schien unlösbar zu sein.

 

3. Kapitel

Nathan lief unruhig durch das leere Haus. Vor einigen Tagen war Batiste abgereist und hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn vom Ziel seiner Reise zu unterrichten. Er war zum Landschloss der Beauforts gefahren, um dabei zu sein, wenn Lucy aufwachen würde. Nathan hatte keine Ahnung, wann er zurückkommen würde.

Immerhin konnte er nun sicher sein, dass Lucy überlebt hatte. Seine Entscheidung, Batistes Hilfe anzunehmen, war somit nicht völlig falsch gewesen, auch wenn er immer noch sehr mit sich haderte, da die Bedingungen im Grunde inakzeptabel gewesen waren. Aber er hatte keine Wahl gehabt.

Doch was würde passieren, wenn Lucy aufwachte? In wachem Zustand war sie in viel größerer Gefahr als vorher. Was würden Batiste und Beaufort mit ihr anstellen, wenn sie wieder gesund war? Er musste einen Plan schmieden, wie er sie aus den Fängen der Männer befreien konnte. Auch wenn ihm vorerst die Hände gebunden waren. Das Haus wurde von mehreren Sicherheitsleuten bewacht, und während Batistes Abwesenheit durfte Sofia das Haus nicht betreten. Sämtliche Kommunikationswege mit der Außenwelt waren blockiert. Es war zum Verrücktwerden. Er saß in einem goldenen Käfig und war auf Gedeih und Verderb den Launen seines Großvaters ausgeliefert. Aber er würde einen Weg finden. Er musste seinen Großvater mit dessen eigenen Mitteln schlagen. Nur wie?

Batiste hatte ihn mit einem Stapel Bücher zurückgelassen und ihm befohlen, diese für die Auslesung vorzubereiten. Nathan beschloss, sich heute eines davon vorzunehmen. Vielleicht vertrieb das die Bilder, die sich in seinem Kopf manifestierten, sobald er an Beaufort und Lucy dachte. Vielleicht kam ihm dabei auch die zündende Idee, nach der er verzweifelt suchte.

Schnellen Schrittes ging er in das Lesezimmer. Er wählte diesen Ort, weil er sich in der Gesellschaft der Bücher nicht so einsam fühlte. Er dachte daran, wie die Bücher Lucy geholfen hatten, ihn aus der unterirdischen Bibliothek des Bundes zu befreien. Dorthin würde sein Großvater ihn in absehbarer Zeit nicht lassen. Er traute ihm nicht mehr. Sie umkreisten einander wie zwei Gladiatoren in einer Arena. Immer auf der Suche nach dem besten Zeitpunkt zum Angriff. Und doch brauchte sein Großvater ihn, um seine Machtposition im Bund nicht zu verlieren.

Nathan ließ sich in einen Sessel fallen und griff sich das oberste Buch vom Stapel. Stolz und Vorurteil von Jane Austen, las er lautlos. Das war eins von Lucys Lieblingsbüchern – er würde es so lange wie möglich verschonen. Sein Großvater hatte ihm befohlen, die Einbände zu kopieren und die Vorlagen der Buchumschläge anzufertigen. Die Schatzinsel hatte er bereits abgezeichnet, und einer von Batistes Handlangern hatte die Vorlagen dem Buchbinder gebracht, damit dieser das Schutzbuch herstellte. Wahrscheinlich würde das Buch gleich nach Batistes Rückkehr dran glauben müssen. Er würde sich nicht ewig weigern können, die Bücher auszulesen.

Wenn er bloß irgendwie Kontakt mit Lucy aufnehmen könnte. Ob sie glaubte, dass er sie im Stich gelassen hatte? »Könnt ihr nicht irgendetwas tun?«, fragte Nathan die Bücher laut. »Ihr müsst sie doch erreichen, egal, wo sie ist.« Doch sie blieben stumm, und im Grunde hatte er nichts anderes erwartet. Trotzdem tat es gut, seine Gedanken auszusprechen. Hören konnten die Bücher ihn sicher. »Ich komme hier nicht heraus«, wendete er sich erneut an sie. »Lucy sollte wenigstens wissen, dass sie nicht allein ist, dass ich sie nicht verraten habe. Wenn sie aufwacht, und niemand ist bei ihr, dem sie vertraut …«

Er führte diesen Gedanken nicht zu Ende, sondern schlug zornig auf die Lehne des Sessels, in dem er saß.

»Wir können sie auch nicht erreichen«, erklärte unvermittelt eine sanfte Stimme. Erschrocken blickte Nathan sich um. Er war nach wie vor allein in dem Raum.

»Beaufort und Batiste haben alle Bücher aus ihrer Reichweite entfernt. Solange sie mit keinem Buch in Berührung kommt, sind wir genauso machtlos wie du.«

Nathan starrte das Buch in seinem Schoß an. »Du sprichst mit mir«, stellte er fest und strich über den Einband von Stolz und Vorurteil.

»Natürlich. Es ist unsere Aufgabe, den Kindern des Bundes unser Vertrauen zu schenken.«

»Wir Männer waren eures Vertrauens aber offenbar jahrhundertelang nicht würdig.«

»Wir haben auch mit den Frauen lange nicht gesprochen. Erst Lucy haben wir uns anvertraut. Sie war nicht an ihre Geschichte gebunden, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ich denke schon.«

»Das ist gut. Du weißt, dass sie das Mädchen ist, das dafür bestimmt ist, unsere Brüder und Schwestern zu befreien.«

»Ja, natürlich weiß ich das. Sie muss nur das Vermächtnis der Hüterinnen finden, ein Buch, das seit Jahrhunderten verschollen ist. Sie muss sich aus der Gewalt einiger verrückter Fanatiker befreien, sie muss sich dazu durchringen, mir zu vertrauen – das schwierigste Unterfangen von allen, denn ich habe sie diesen Männern überlassen.« Nathan verbarg sein Gesicht in seinen Händen.

»Hättest du es nicht getan«, tröstete das Buch ihn, »wäre sie gestorben. Wir vertrauen dir.«

»Ihr vertraut mir?«, wiederholte Nathan ungläubig.

»Natürlich tun wir das.«

»Aber wieso?« Nathan runzelte die Stirn.

»Weil du alles für sie tun würdest«, erklärte das Buch. »Du liebst sie.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Nathan leise. »Nur leider liebt sie mich nicht. Aber das ist egal. Ich möchte einfach nicht, dass ihr etwas zustößt.«

»Weshalb glaubst du, dass sie dich nicht liebt?«, ertönte eine Stimme aus dem Regal gegenüber.

Nathan zuckte mit den Achseln. »Sie will euch befreien, und dafür braucht sie mich. Ich habe sie viel zu oft enttäuscht. Wäre ich an ihrer Stelle, würde ich mich vermutlich hassen.« Sein Magen zog sich bei diesen Worten schmerzhaft zusammen. Es war das erste Mal, dass er seine düsteren Gedanken aussprach.

»Du weißt nicht viel über die Liebe, oder?«, fragte eine helle Stimme.

Nathan rang sich ein Lächeln ab. »Immerhin das, was in Büchern darüber geschrieben steht.«

Die Bücher brachen in ein vielstimmiges Lachen aus.

»Liebe kann man unmöglich in Worte fassen«, belehrte ihn eines von ihnen, als das Lachen verklang. »Also vergiss, was darüber geschrieben wurde.«

Verwundert schüttelte Nathan seinen Kopf. Er führte dieses Gespräch nicht tatsächlich mit Büchern, oder?

»Ich hätte Batiste nie erzählen dürfen, dass ihr mit Lucy sprecht.« Das war eine unverzeihliche Dummheit gewesen. Natürlich hatte sein Großvater alle Bücher entfernt, die mit ihr Kontakt aufnehmen könnten. »Er ist mir einfach immer einen Schritt voraus«, sagte Nathan laut. »Es ist zum Verrücktwerden. Er wird das Haus von Beaufort streng bewachen lassen. Wenn ihr sie nicht erreichen könnt und ich auch nicht, was können wir dann tun?«

»Warten.«

»Warten?«

»Das tun wir seit Jahrhunderten. Sie wird zu uns zurückfinden. Irgendwann.«

»So viel Zeit haben wir nicht, dann kann es zu spät sein!«

»Das wird es nicht.«

»Für euch vielleicht nicht, aber für sie. Ich will mir nicht vorstellen, was Beaufort mit ihr anstellt, sobald er sie zu seiner Frau gemacht hat. Wir müssen das verhindern.«

»Dazu haben wir nicht die Macht, Nathan«, sagte das Buch in seinem Schoß leise.

So kam er nicht weiter. Die Bücher schwiegen wieder, offenbar hatten auch sie keine Idee. Fieberhaft überlegte Nathan. Vielleicht gab es doch einen Weg, wie er Lucy retten konnte. Vielleicht hatte er irgendwas übersehen. Kalter Schweiß rann ihm den Rücken hinunter, als ihm eine Lösung einfiel.

»Was ist mit den Buchgeistern?«, fragte er leise und wünschte im selben Moment, er könnte die Worte zurücknehmen. »Können sie Lucy erreichen?«

Die Bücher reagierten nicht.

»Keine Antwort ist auch eine Antwort«, seufzte Nathan und stand auf. »Vergesst es. Das war eine dumme Idee.«

»Es gibt Dinge, über die wir nicht gern sprechen«, kam es leise aus dem Regal.

»Diese Buchgeister werden von meinem Großvater beeinflusst, oder? Wenn ihr ohne Schutzbuch ausgelesen werdet, macht er irgendetwas mit euch, dass ihr so widerwärtig werdet.« Er hatte lange genug Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen. Er war sicher, dass sein Großvater es irgendwie geschafft hatte, den Buchgeistern seinen Willen aufzuzwingen.

»Was hat dein Großvater dir über die Buchgeister erzählt?« Nathan entging nicht, dass die Stimme des Buches bei dem Wort zitterte.

»Dass es die Geister der Bücher sind, die ohne ein vorbereitetes Schutzbuch ausgelesen worden sind. Dass sich im Laufe der Zeit, die sie herumirren, in ihren Seelen Hass und Zorn sammeln, die sich gegen die Kinder des Bundes richten.«

»Ja. Batiste hat herausgefunden, wie er diese Geschöpfe benutzen kann. Du hast es am eigenen Leib gespürt. Er wollte deinen Willen brechen. Sie haben dich in Angst und Schrecken versetzt, als du ein Kind warst.«

Nathan schauderte bei der Erinnerung daran. Trotzdem spann er den Gedanken weiter. »Aber Batiste kann nur die Buchgeister benutzen, die schon voller Hass sind, oder nicht?«

»Ja.«

»Und es ist seit Jahrzehnten kein Buch mehr ohne Schutzbuch ausgelesen worden.«

»Das ist richtig. Dein Vater und du, ihr habt diesen Frevel nie begangen.«

»Wenn ich nun ein Buch ohne Schutzbuch auslesen würde …«

Empörtes Gemurmel erhob sich in den Regalen. Nathan konnte Worte wie »Verräter«, »Dieb«, »Ich habe es gewusst« heraushören.

Er durchmaß mit großen Schritten den Raum. »Jetzt wartet doch bitte. Ich will das nicht tun. Ich will nur mit euch gemeinsam beratschlagen, was wir tun können, um Lucy zu helfen. Das wollt ihr doch auch, oder nicht?«

Das aufgebrachte Stimmengewirr verstummte. »Ja«, erklang es dann. »Natürlich.«

»Na also. Ich stelle meine Frage noch mal, und sie ist rein hypothetisch. Wenn ein Buch ohne Schutzbuch ausgelesen wird, wäre es möglich, dass der Geist dieses Buches zu Lucy vordringt, mit ihr spricht. Könnte solch ein Buchgeist ein Bote sein?«

Die Bücher schwiegen lange, und Nathan ließ sich wieder in den Sessel fallen. Jane Austens Buch hielt er fest umklammert.

Er wusste, dass er den Büchern Zeit lassen musste. Diese Entscheidung mussten sie selbst treffen. Wenn seine Vermutung stimmte, genügte ein Buch, das bereit war, sich zu opfern. Denn ein Opfer würde es sein, das wusste er. Niemals würde das Buch zurückkehren können. Es wäre verdammt, ewig durch die Zeit zu irren, und seine Seele würde im Laufe der Zeit verloren gehen, selbst wenn Batiste nicht mehr wäre. Das war unbarmherzig. Verzweiflung überflutete ihn. Lucy würde niemals wollen, dass ein Buch dies für sie tat.

»Ich tue es«, flüsterte das Buch auf seinem Schoß.

Erst glaubte Nathan, sich verhört zu haben. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nicht du. Das kann ich nicht verlangen. Vergiss es wieder. Es war eine dumme Idee von mir.«

»Nein«, insistierte das Buch. »Es ist die einzige Möglichkeit, Lucy zu erreichen. Du hattest recht. So könnte es gehen.«

»Aber du wirst für immer verloren sein.«

»Nathan, wir wissen nicht, was passiert, wenn Lucy die Bücher befreit. Vielleicht erlöst sie auch die Buchgeister. Vielleicht erinnert sie sich an mich. Lucy ist unsere einzige Chance. Ist es da nicht auch unsere Pflicht, ihr zu helfen? Ich bin bereit dazu. Lucy hat mich sehr geliebt und mich oft gelesen.

---ENDE DER LESEPROBE---