Borstal Boy - Brendan Behan - E-Book

Borstal Boy E-Book

Brendan Behan

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine echte Wiederentdeckung: Der Klassiker von Brendan Behan. Der junge Ire Brendan wird mit 16 Jahren festgenommen, weil er im Dienste der IRA die Docks in Liverpool in die Luft jagen wollte. Im »Borstal«, der Besserungsanstalt, angekommen, lernt er nicht nur den rauen Gefängnisalltag kennen, sondern unerwartet auch Freundschaft, Zuneigung und Solidarität zwischen Iren und Engländern in der Zeit der Troubles. In Irland wegen seiner freimütigen Darstellung von Homosexualität und unverhohlener Kritik an der katholischen Kirche zunächst verboten, gilt »Borstal Boy« heute als Klassiker der irischen Literatur. Poetisch, großherzig und mit widerspenstigem Humor – ein unvergessliches Buch!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 606

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Brendan Behan

Borstal Boy

Roman

Aus dem Englischen von Curt Meyer-Clason

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Brendan Behan

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Brendan Behan

Brendan Behan (1923–1964), Enfant terrible der irischen Literatur, Bohemien, Journalist, IRA-Aktivist und Dramatiker von Weltruhm. »Borstal Boy« ist sein bekanntester Roman.

Curt Meyer-Clason (1910–2012) übersetzte aus dem Englischen, Französischen, Spanischen und Portugiesischen u.a. Werke von Behan, Wiesel, Borges, García Márquez, Ribeiro, Rosa.

zur Kurzübersicht

Über dieses Buch

Der junge Ire Brendan wird mit 16 Jahren festgenommen, weil er im Dienste der IRA die Docks in Liverpool in die Luft jagen wollte. Im »Borstal«, der Besserungsanstalt, angekommen, lernt er nicht nur den rauen Anstaltsalltag kennen, sondern unerwartet auch Freundschaft, Zuneigung und Solidarität zwischen Iren und Engländern in der Zeit der Troubles.

In Irland wegen seiner freimütigen Darstellung von Homosexualität und unverhohlener Kritik an der katholischen Kirche zunächst verboten, gilt »Borstal Boy« heute als Klassiker der irischen Literatur.

Poetisch, großherzig und mit widerspenstigem Humor – ein unvergessliches Buch!

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Zweiter Teil

Kapitel 8

Dritter Teil

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Für Mo Bh.

»… Eine Schar junger Bootführer oder Postillione grölte und brüllte die gemeinsten Trinklieder, gleichsam aus Prahlsucht, dann wurden sie gegen einen Baum geschleudert und ertranken mit einem Fluch auf den Lippen. Ein greiser Edelmann – denn als diesen wiesen ihn seine pelzverbrämte Kleidung und seine goldene Amtskette aus – ging nicht weit von Orlandos Standort unter, dabei den irischen Aufrührern Rache schwörend, die, wie er mit letzter Kraft schrie, diese Teufelei angezettelt hatten …«

Virginia Woolf, Orlando

Erster Teil

Am Freitagabend brüllte meine Wirtin durchs Treppenhaus herauf:

»Himmel, Jesus, heiliges Herz! Mein Junge, hier sind zwei Herren, die dich sprechen wollen!«

Ich erkannte an ihrem Kreischen sofort, dass diese Herren sich weder nach meiner Gesundheit erkundigen noch erfahren wollten, ob ich eine angenehme Reise hinter mir hätte. Ich ergriff daher meine Reisetasche, die Kaliumchlorid, Schwefelsäure, Gelatinedynamit, Sprengkapseln und Zündpatronen und das Übrige meiner Sinn-Fein[1]-Verschwörerausrüstung enthielt, und trug sie zum Fenster. Und schon standen die beiden Besucher im Zimmer.

Ein junger Mann mit einem Herrenvolk-Blondschopf und dem Tonfall eines BBC-Sprechers rief: »Los, pack ihn, den Hurensohn.«

Als ich mich nicht mehr rühren konnte, schlug der Blonde mich mehrmals mit der Faust ins Gesicht, wenn auch nicht allzu stark. Ein älterer Mann sagte ihm in schwerfälligem Lancashire-Dialekt, er solle mich in Ruhe lassen und sich nicht lächerlich machen. Mittlerweile waren zwei oder drei andere ins Zimmer getreten, und der Alte war der mit der Razzia betraute Sergeant.

Er nahm etwas Kaliumchlorid und Zucker aus meiner Tasche, legte beides in den leeren Kamin und zündete das Ganze mit einem Streichholz an. Eine Stichflamme schoss empor und füllte das Zimmer mit Rauch. Er nickte mir zu, und ich nickte wieder.

Der Blondschopf und ein anderer stiller Bursche hielten mich an den Armen fest.

»Hast du ’ne Knarre, Paddy[2]?«, fragte der Sergeant.

»Wenn ich ’ne Knarre hätte, wärt ihr nicht so leicht hier reingekommen.«

Er blickte mich an und seufzte, als hätte ich nichts gesagt oder als hätte er nichts gehört.

»Durchsuch ihn«, sagte er zu dem Stillen.

Blondschopf begann mich unsanft zu durchsuchen.

»Nicht du«, sagte der Sergeant. »Vereker!«

Vereker durchsuchte mich ruhig und höflich, sogar den Saum meines Hosenschlitzes.

»Hände hoch und heb das Bein. Danke.«

Aus der Innentasche zog er mein Geld heraus, eine gefälschte Reisegenehmigung und einen Brief, der zufällig auf Irisch geschrieben war.

Er stammte von einem Jungen aus Dublin, der krank im Bett lag und mich bat, ihn zu besuchen. Der Typ war ein Langweiler, aber da ich gutmütig war, fiel es mir schwer, ihm aus dem Wege zu gehen. Nun hatte ich eine gute Entschuldigung, ihn bis auf Weiteres nicht treffen zu können.

Über Verekers Schulter hinweg musterte der Blonde den gälischen Wortlaut.

Angewidert drehte er sich zu mir um und brüllte: »Du beschissener Hurensohn! Würde es dir Spaß machen, eine Frau von einer Fensterscheibe mitten entzweigeschnitten zu sehen?«

Ich wollte es ihm mit gleicher Münze heimzahlen: Und wie steht’s mit dem Blutigen Sonntag, als die Black and Tans[3] eine Fußballmannschaft in unserer Straße überfielen? Die Metzelei in Cork? Balbriggan! Amritsar! Die englischen Luftangriffe auf indische Dörfer! All das hielt ich parat, weil ich etwas Ähnliches erwartet hatte. Der Sergeant sagte jedoch besonnen:

»Hör zu, Paddy, unten stehen ein paar Leute ums Haus, die nicht gut auf dich zu sprechen sind.« Er lachte kurz. »Aber mach dir nichts draus. Wir bringen dich zum Gericht, ohne dass dir ein Härchen gekrümmt wird.«

Vereker ließ meinen Arm los und trat ans Fenster. »Leute in Uniform werden ihnen schon Beine machen.«

Der Sergeant sagte zu dem Blonden, er solle mich loslassen.

»Wir bleiben eine Weile hier«, sagte er und schob sein Gesäß auf den Bettrand. Er deutete neben sich, und ich setzte mich zu ihm.

»Ich wollte, ich wär so alt wie du, Paddy. Dann hätte ich was Besseres zu tun, als mit Bomben um mich zu schmeißen. Wie alt bist du?«

»Sechzehn. Im Februar werd ich siebzehn.«

»Dich haben sie also hergeschickt, dich kleinen Idioten, und die Großkotzigen sitzen in Amerika, reißen das Maul auf und schlagen sich den Wanst voll.«

Sean Russell, Stabschef der IRA[4], war in den Vereinigten Staaten.

Vereker bot mir eine Zigarette an.

»Vielleicht raucht er lieber eine von seinen. Gib sie ihm zurück. Im Kittchen wird man sie ihm früh genug abnehmen.« Er zündete sich eine Pfeife an. Vereker und ich rauchten Zigaretten. Blondschopf stand da, rauchte nicht und sagte keinen Ton.

Der Sergeant deutete mit der Pfeife auf meine Tasche. »Ihr seid mir eine saublöde Bande, mit dem Zeug herumzuspielen. Ihr wisst nicht mal, warum ihr das macht. Angeblich wegen der Teilung[5], wegen der sechs Grafschaften. Ich hab ’nen Haufen von euren Leuten gefragt, und ich möchte schwören, keiner von euch kann die sechs aufzählen. Keiner wusste alle sechs, keiner. Los, sag du sie auf, aber alle sechse, kapiert?«

Ich begann: »Antrim, Armagh.«

Der Unteroffizier zählte an seinen Fingern. »In Ordnung, zwei hast du.«

»Down, Derry und Dermanagh und …«

»Okay, jetzt fünf. Los, die letzte.«

»Na, siehste, Paddy, was hab ich dir gesagt?« Triumphierend schüttelte er den Kopf.

Ich hatte die Grafschaft Tyrone ausgelassen, weil ich Gefallen an dem Alten fand.

Nach einer Weile warf Vereker wieder einen Blick durchs Fenster und sagte, jetzt könnten wir gehen, es stünden nur noch wenige Leute vor dem Haus.

Der Polizeisergeant knöpfte mir die Hose auf, sodass ich sie beim Hinuntersteigen der Treppe mit den Händen in den Hosentaschen festhalten musste.

Als wir draußen in den Wagen stiegen, schrien ein paar Leute:

»Hängt den Hurensohn auf! Verdammtes irisches Schwein!« Wir befanden uns zwar in einem Orange-Bezirk[6], ich glaube jedoch, dass einige von ihnen Liverpooler Iren waren, die ihre Solidarität zur Krone beweisen wollten.

Im Wagen sagte der Sergeant: »Deine Wirtin wird heute Abend kein heiles Fenster im Haus haben. Man wird dem Untermieter die Hölle heißmachen.«

Das war meine kleinste Sorge. Die Wirtin war gemein und aus Mittelengland. Damit will ich nicht sagen, dass ihre Gemeinheit etwas mit Mittelengland zu tun hatte. Dort gibt es sicherlich ebenso anständige Leute wie überall auf der Welt, wenn aber ein Cockney oder ein Siamese gemein oder anständig ist, ist er es eben auf Cockney- oder Siamesenart.

Die Wirtin war niederträchtig und so dürr wie ein Stock. Ihre eingeschlagenen Fensterscheiben würden somit die gerechte Strafe sein für ihre billigen Würstchen und die Margarine, mit der sie ihr Essen vergiftete, denn sie war nur großzügig in Dingen, die nichts kosteten. So schloss sie abends die Haustür ab und betete kniend mit ihren Untermietern und ihrer Schwester, die stets drei Ave-Maria für die heilige Unberührtheit und den Schutz ihrer eigenen Person und Sittsamkeit anfügte, sodass man meinen konnte, die Hälfte aller männlichen Liverpooler sei hinter ihr her und schmachte danach, ein einziges Mal ihre gelben Kaninchenzähne abzuschlecken.

Der Untermieter war ein stumpfsinniger Fettwanst aus einem Drecksloch hier in der Gegend. Nach dem Reinheitsgebet sprach er ein eigenes: Gott möge ihm Kraft und Beharrlichkeit schenken, allen alkoholischen Getränken zu entsagen und die Esslust zu knebeln, eine furchtbare Kränkung für das allliebende Herz Jesu, und nur harmlose Erfrischungen wie Tee, Limonade, Gingerale und Kakao zu genießen, und zwar maßvoll.

Dieses Gebet musste er jeden Abend sprechen, denn er war Mitglied von Sacred Thirst und besuchte ihre Freitagabendmeetings, sobald er das Postamt verlassen und seinen Wochenlohn bei der Sparkasse eingezahlt hatte. Die Wirtin sagte uns immer, es würde uns nicht schaden, das Gebet mit ihm zu sprechen.

An der Innenseite der Haustür hing ein Herz-Jesu-Bild mit der Unterschrift: »Gott ist hier. Steh fest.«

»Ja«, sagte der Sergeant«, »sollte mich nicht wundern, wenn sie das Haus verwüsten.«

 

Ich wurde zur Kriminalpolizei in der Lime Street gebracht. Weisungsgemäß weigerte ich mich, Fragen zu beantworten. Ich erklärte mich jedoch bereit, auszusagen, mit der geheimen Absicht, unserer Sache damit zu helfen und auch zu Hause einen guten Eindruck zu machen. Ich hatte oft Reden von Angeklagten gelesen und achtete diese tapferen Männer umso mehr, weil sie fern von Freunden oder Angehörigen gesprochen hatten.

»Ich heiße Brendan Behan. Ich bin herübergekommen, um für die irische Arbeiter- und Kleinbauernrepublik zu kämpfen, für ein ungeteiltes freies Leben, für meine Landsleute im Norden wie im Süden wie auch dafür, dass der verderbliche Einfluss des britischen Imperialismus auf irische Angelegenheiten beseitigt wird. Gott schütze Irland.«

»Was soll das mit den Kleinbauern heißen? Es ist deine Erklärung, Paddy, und du kannst hineinschreiben, was du willst, aber ich habe nie einen Kleinbauern gesehen. Weder einen Iren noch einen Engländer. Alle sind sie verdammt groß und haben Stierköpfe vom vielen Fressen und Zidersaufen!«

Der linke Flügel der Bewegung würde begeistert sein, aber auch die anderen würden nichts gegen mich einwenden können, weil ich ein guter Freiwilliger war, der im Bemühen, den Kampf an Englands Schwelle zu tragen, gefangen genommen worden war – sie würden jedoch aus dem Häuschen geraten, weil ich bei jedermann den Eindruck hinterließ, die Irisch-Republikanische Armee sei kommunistisch.

Mein Schluss mit dem »Gott schütze Irland« gab mir ein wenig das Gefühl, das die Märtyrer von Manchester gehabt haben mussten, die unter dem Jubel von fünfzigtausend hochehrbaren Kaufleuten gehängt worden waren und mit dem letzten Atemzug gerufen hatten:

»Gott schütze Irland«, riefen die Helden,

»Gott schütze Irland«, rufen wir.

Ob wir hoch am Galgen baumeln

Oder auf dem Schlachtfeld taumeln,

Irland, wir gehören dir!

Blondschopf schrieb meine Aussage auf und blickte mich so wütend an, wie er nur konnte. Ich erwiderte seinen Blick, und er sah wieder in meine schriftliche Erklärung.

Trotz der Feinde Grimm und Wut

Stieg ihr Stolz und wuchs ihr Mut,

Als sie an die Lieben dachten, nah und fern,

Ans millionenfache Heer ihrer Brüder überm Meer,

An das teure Irland, treu im Herrn …

Alle Leute zu Hause würden beim Lesen der Zeitung sagen: »Also doch! Gott sei dem armen Brendan gnädig, ich habe noch vor einer Woche mit ihm gesprochen –« – »Bei Jesus, er war trotzdem ein feiner Kerl und dabei erst sechzehn.«

Shiela würde es leidtun, dass sie mich an dem Abend, als wir am Kanal entlangschlenderten, nicht rangelassen hatte.

Ihr Vetter war nämlich unter falschem Namen in England zu fünfzehn Jahren verurteilt worden, und sie hatte mich abgeholt, damit ich es seiner Mutter schonend beibrächte.

Als ich versuchte, Shiela an einem Telegrafenmast am Kanalufer an mich zu pressen, sagte sie, ich solle mich schämen, ich sei doch Freiwilliger, und dazu noch in einer solchen Zeit.

Meine Aussage war niedergeschrieben, und ich unterzeichnete. Wieder stellte man mir Fragen, deren Beantwortung ich verweigerte.

Ich war etwas verwundert, als ich den Hauptinspektor von Roger Casement[7] als dem »alten Hurensohn« sprechen hörte. Zu Hause galt Casement als republikanischer Heiliger. Rory, mein ältester Bruder, war nach ihm getauft.

Ich bekam Tee. Vereker meinte, ich sei wohl belesen, und erzählte mir flüsternd, er beteilige sich an dem Preisausschreiben in John O’London’s Weekly.

»Na, Paddy«, sagte der Sergeant, »wir bringen dich jetzt in die Zelle der Polizeiwache Dale Street. Dort wird dir’s nicht gefallen, aber Montag früh kommst du vor Gericht und wirst vermutlich nachmittags ins Walton-Gefängnis gebracht. Dort kriegst du dann ein anständiges Bett mit Laken. Komm, mein Junge.«

In der Dale Street wars mies. Der Sergeant der Polizeiwache war ein ungehobelter Typ, der mir meine Zigaretten und Streichhölzer wegnahm und sagte, hoffentlich bekäme ich zwanzig Jahre.

Der Sergeant und Vereker winkten mir vom Wachraum zum Abschied zu, und ich erhaschte einen letzten Blick von ihnen, bevor ich durch einen langen dunklen Gang eine Treppe hinuntergeführt wurde, wo wir vor einer offenen Tür stehen blieben.

Ein Polizist fragte: »Ist das alles, Herr Sergeant?«

»Ja, rein mit dem Scheißkerl. Hoffentlich erstickt er in der Nacht.«

Ich ging auf die Tür zu.

»Halt, immer mit der Ruhe. Zieh die Schuhe aus.«

Ich dachte, sie würden mich verdreschen und wollten daher, dass ich barfüßig sei, damit ich mich schlechter wehren könne. »Los, die Schuhe aus!«

Mit dem Rücken zur Wand bückte ich mich langsam und schnürte die Senkel auf.

»Los, ein bisschen zackig. Glaubst du, wir wollen hier die ganze Nacht stehen, du irischer Penner?«

Ich zog die Schuhe aus und stellte sie an die Zellentür.

»Und jetzt die Jacke aus. Hosenträger ab und her damit.«

Ich reichte sie ihm.

»Sonst hängst du dich noch auf. Nicht dass es um dich schade wäre. Rein mit dir, und wenn ich einen einzigen Muckser in der Nacht von dir höre, kommen wir runter und machen dich fertig.«

Meine Hose festhaltend und meine Jacke unter den Arm geklemmt, schlurfte ich langsam in die Zelle.

»Los, rein mit dir, sonst trete ich dir meine Stiefelspitze in den Arsch!«

Die Tür flog hinter mir ins Schloss. Ich hörte ihre Schritte die Treppe hinaufgehen und Schlüsselgerassel, das langsam verhallte. Ich blickte um mich. Mauern und Fußboden aus Zement. Die Tür massives Holz, stahlverstärkt. Das Fenster war hoch oben in der Wand angebracht, aber unterirdisch und ging auf eine andere Mauer. Über der Tür leuchtete eine drahtverkleidete elektrische Glühlampe.

Das Bett war eine Holzbank mit einem Kissen aus demselben Material, ich hatte dafür aber drei Decken.

Ich legte mich hin, wickelte mich ein, aber das Kopfkissen war zu hart. Daher drehte ich mich herum und legte die Füße aufs Kopfkissen, während ich den Kopf auf meine Jacke bettete. Nun war das Kopfkissen zu hart für meine Füße und verrenkte mir die Fußgelenke. Ich musste zur Toilette. Der Zementfußboden unter meinen nackten Fußsohlen war kalt. Ich hörte Glockenläuten in der Frostnacht, irgendwo in einem anderen Stadtteil. Es klang kalt und einsam wie der traurigste Laut, der je ein menschliches Ohr traf, wenn man es überhaupt einen Laut nennen wollte. Es machte mir mein Elend nur noch bewusster.

Ich legte mich wieder auf meine Bank und rollte mich zusammen, damit meine Füße das Holzkopfkissen nicht mehr berührten und ich einigermaßen bequem lag. Da wurde mir meine missliche Lage erst richtig klar. Selbst wenn ich in Anbetracht meines Alters mit ein paar Jahren davonkam, war es für mich lebenslänglich. Ja, es schien mir unmöglich, dass der Montag je kommen würde, an dem ich die Treppe hinaufsteigen durfte. Es gab keine Uhr, die die Zeit zwischen diesem Augenblick und Montag vergehen lassen konnte. Es war genau das, was man uns über den Jüngsten Tag gelehrt hatte: »Zeit ist, Zeit war, Zeit ist nicht mehr.« Verdammt! Dabei war ich erst zehn Minuten eingesperrt.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu. Schließlich und endlich war das einem Menschen in meiner Lage erlaubt.

Dann machte ich es mir bequemer und fragte mich, ob je einer der anderen es in derselben Stellung getan hatte. Nicht einmal in Gedanken wollte ich sie namentlich nennen. Einige von ihnen hatten die Zelle mit dem Strang oder dem Erschießungskommando getauscht. Von der Übung angenehm ermüdet, schlief ich ein.

Beim Erwachen fühlte ich mein hartes Lager. Ich fragte mich nicht, wo ich war; das wusste ich. Ich blickte zum fahlen Licht des Gitterfensters auf und wusste es noch genauer. Das erste Erwachen in einer Zelle verursacht einen stumpfen, betäubenden Schmerz. Ich tröstete mich damit, dass ich ihn mit der viel schlimmeren Schrecknis, Überraschung und Empörung eines Todeskandidaten beim Erwachen am Morgen seiner Erschießung verglich.

Eine Weile lag ich da und fragte mich, ob man mich noch heute Vormittag vor Gericht holen würde. Vielleicht würde ich dann nachmittags ins Gefängnis wandern.

Draußen waren Schlüsselgerassel und Türenschlagen zu hören. Ich hoffte, sie würden meine Tür öffnen. Selbst wenn ich nur Fußtritte oder Fausthiebe ernten würde, wäre es mir lieber, als dem Grab meiner Verlassenheit ausgeliefert zu sein. Kämpfen ist besser als Einsamkeit.

Er kam auf meine Tür zu. Er stand vor meiner Tür und blickte durch den Spion. Los, wir kennen dein Klopfen. Um Himmels willen, Mister, geh nicht einfach fort! Hab Mitleid!

Er drehte den Schlüssel im Schloss, stand in der Tür und sagte:

»Los, raus mit dir. Morgenwäsche. Hopphopp.«

Ein Kleiderschrank von einem Kerl, weder freundlich noch unfreundlich.

»Kannst wohl die Hände nicht still halten? Was hast du nun wieder geklaut?«

»Ich habe überhaupt nichts geklaut.«

Er bemerkte meinen Akzent, und schon war der freundliche Ton aus seiner Stimme verschwunden.

»Aha, du bist also das verdammte IRA-Schwein, das gestern Abend in Everton hochgegangen ist.« Offensichtlich bedauerte er die Kameradschaftlichkeit seiner ersten Bemerkungen. »Wolltest wohl Bomben in das neue Kriegsschiff in der Cammell-Lairds-Werft legen, was?« Er brüllte den Gang hinunter. »Larry, komm mal her und schau dir deinen sauberen Landsmann an!«

Ein zweiter Wachmann blieb in der Zellentür stehen, ein älterer mit einer langen irischen Oberlippe. Sofort schrie er: »Gottverdammt, wir haben beim Aufstand[8] wohl nicht genug von euch umgelegt!«

Er sprach schwerfälliges Munster-Irisch mit einem Schuss Englisch darin. Vermutlich hatte er mitgeholfen, während der Troubles mit den Black and Tans Leute umzubringen, und fürchtete sich seither davor, in Irland zu leben oder sich dort blicken zu lassen. Ich hatte ihn ziemlich gut eingeschätzt.

Ich hielt meine Hose fest und sagte forsch: »Ich war zur Zeit des Aufstands noch gar nicht geboren.«

Seine Stimme stieg bis zum Fistelton hysterischen Gelächters oder Zorns. »Jedenfalls hab ich meinen Teil von euch Brüdern erwischt, und ich wüsste, was ich mit dir schwarzem Schwein zu tun hätte.«

Ich blickte in sein glänzendes rotes Gesicht und brüllte meinerseits:

»Herrgott, und dich haben sie fortgejagt, und du rennst noch immer.«

»Beim lebendigen Herrn Jesus!«, donnerte er und wollte zuschlagen. Jetzt fuhr der englische Wärter dazwischen. »Mensch, Larry, mach dir doch nichts aus dem kleinen Hosenscheißer. Der ist keinen Tritt in den Arsch wert.«

Streng und ungehalten wandte er sich nun an mich. »Los, zum Waschraum und deinen dreckigen Hals geschrubbt.« Vermutlich unterließ er aus Rücksicht auf den irischen Kollegen die übliche Stichelei über den irischen Schmutz.

Ich ging zum Waschraum, wenn auch nicht in bester Laune, so doch im Gefühl, wieder lebendiger zu sein.

Dort gab es vier Waschbecken, die alle in Gebrauch waren. Ein uralter, ausgemergelter Mann legte sich neues braunes Papier unters Hemd. Ein junger Mann in einem flaschengrünen Anzug mit dem Gesichtsausdruck stupider Einbildung musterte seine Fingernägel. Es war auch ein Junge im Matrosenanzug da, vielleicht etwas älter als ich, dafür aber leichter gebaut.

Ich stellte mich hinter ihn und bewunderte harmlos seinen Nacken.

Der Wärter stand im Gang und redete beruhigend auf den irischen Polizisten ein.

Der Seemann drehte sich um. Er hatte braunes Haar und lange dunkle Wimpern. Er rieb sich das Kinn und lächelte. »Könnte eine Rasur gebrauchen, Kumpel«, sagte er wichtig. »Bin schon drei Tage hier. Sie lassen dir nicht dein Rasiermesser.«

»Ich bin erst gestern Abend angekommen«, antwortete ich und rieb mein Kinn. »Bei mir geht’s noch.« Ich hatte mich erst viermal in meinem Leben rasiert.

»Ire?«

Ich nickte.

»’ne Menge Jungen hier in der Gegend sind Iren. Sind alle in römisch-katholische Schulen gegangen. Wir haben alle irische Lieder gesungen. Unter uns –«, er senkte die Stimme, »ich selbst kann die Lancashire-Kerle nicht ab. Sind alles lächerliche Bauerntrampel.«

»Ich bin aus Croydon. Weißt du, wo das liegt, Paddy?«

»Klar. In London, wo der Flughafen ist.«

»Genau. Croydon ist prima. Nicht wie das Loch hier. Ich bin hochgegangen wegen ein paar Einbrüchen, hier und in Manchester – noch ’n Scheißfriedhof. Aber dort ist was zu holen. Weshalb bist du hier, Pad? Im Suff geprügelt oder so was?«

»Nein, mich haben sie wegen des IRA-Sprengstoffs geschnappt.«

»Was! Wegen –?«

»Ja, genau.«

»Ehrlich?«

»Ehrlich!«

»Junge, Junge, dafür wirst du aber ganz schön brummen.« In seiner Stimme war keine Feindseligkeit, aber fast Besorgnis. »Zieh mir mein Unterhemd zurecht, Pad, ja? Schieb’s ein bisschen runter.«

Er drehte sich um, und ich schob sein Unterhemd, das unter der Jacke hervorguckte, ein Stück hinein. »Hinter deinem Ohr ist noch Seife.«

Er reichte mir ein Handtuch, und ich trocknete ihn sorgfältig hinter den Ohren ab.

»Danke, Paddy.«

Die drei anderen waren fertig und hatten Zigaretten angezündet. Der alte Mann hielt seinen Stummel dicht vor seine Nase und starrte in den Rauch. Der Wärter schob drei andere herein. Das Rauchen schien er nicht zu beanstanden. Ich sagte es zu dem Seemann.

»Das geht den einen Dreck an«, sagte er. »Du kannst dich hier dumm und dämlich paffen, wenn du Kippen hast oder Geld, dir welche zu kaufen. Du kannst dir dein Frühstück, dein Mittagessen, Tee und Schokolade kaufen. Alles, was du willst. Nur keinen Alkohol und nichts zum Bumsen.«

»Man hat mir meine Zigaretten und Streichhölzer weggenommen.«

»Na ja, Paddy«, sagte er mit ernster Miene, »bei dir ist die Sache vielleicht anders. Weil du zur IRA gehörst und so weiter. Ist ja ’ne Art Hochverrat, oder?« Dann meinte er höflicher: »Aber, Kumpel, du kannst welche von mir kriegen.«

Ich wehrte ab und wandte mich vom Waschbecken weg.

»Klar kriegst du welche. Hier drei Kippen, Streichhölzer und ein Päckchen Kaugummi. Hab ich stapelweise. Hast du auch was zu lesen?«

»Nee, hab ich nicht.«

»Na schön, dann geb ich dir News of the World, die von letzter Woche.« Er zog sie aus der Tasche. »Oder kennst du die schon?«

Ich antwortete, ich hätte die letzte Nummer noch nicht gesehen. Ich kannte News of the World nicht. Ich hatte Irland erst vor achtundvierzig Stunden verlassen, und die Zeitschrift war dort seit meinem vierten Lebensjahr verboten. Ich bedankte mich von Neuem und machte mich wieder an meine Morgenwäsche.

»Deine Hände sind nass, Paddy. Ich werde dir das alles in deine Hosentasche tun.«

Ich bückte mich über das Becken und spülte mich zum Schluss ab. Er steckte seine Hand in meine Hosentasche.

»Nichts zu machen, Paddy, die hat ja ’n Loch.«

Er versuchte es mit der anderen. »Die ist in Ordnung. Ich steck dir hier deine Zigaretten, Streichhölzer und den Kaugummi rein.«

Ich richtete mich auf und trocknete mich ab.

»Die Zeitung stecke ich dir ins Hemd, damit der alte Schnüffler nicht drüber stolpert.« Er hielt mir die News of the World an den nackten Oberkörper.

»Hierdrunter wird er sie nicht finden, Paddy.«

»Dank dir, Kumpel«, sagte ich.

»Schon gut, Kumpel. Und, Paddy, ich heiße Charlie.«

»Danke, Charlie.«

»Schon gut, Kumpel. Wenn ich mehr Stoff kriege, schanze ich dir vielleicht morgen was zu rauchen und Schokolade zu. Und noch eins, Paddy«, sagte er lebhaft, »ich weiß ein paar irische Lieder. Ich sing dir eins vor, wenn wir wieder in den Zellen sind. Die anderen alten Säcke da kommen heute vor Gericht. Ich wohne eine Treppe höher. Du kannst mich von dort gut hören. Ich lege den Mund an den Spion.«

Die Tür des Waschraums wurde aufgeschlossen, und der große Wärter kam herein. »Fertig? Alles rasiert, gepudert und pomadisiert für Seine Gnaden?«

Die Gefangenen lachten und marschierten hinter ihm hinaus, dann schloss er jeden Einzelnen der Reihe nach in seine Zelle ein.

»Wiedersehn, Pad«, flüsterte Charlie, stieß mich mit dem Ellbogen an und ging in seine Zelle.

»Bei dir dreh ich den Schlüssel zweimal rum«, sagte der Wärter zu ihm. »Ihr Londoner Jungs seid eine gerissene Bande. Regelrechte Zauberer seid ihr.«

Ich blieb mir selbst überlassen.

»Nun, Guy Fawkes, führ uns den Weg zum Kerker!«

Ich stieg die Treppe hinunter.

»Dort gibts Platz genug. Eine ganze Suite für dich.«

Ich sagte nichts.

»Aber ich verwette meinen Kopf, dass du immer noch nicht zufrieden bist. Der typische Ire, wie er leibt und lebt. Immer habt ihr was zu meckern.«

Er schloss die Tür auf. »Und leg gefälligst deine Scheißdecken zusammen. Du wohnst hier nicht im Schweinestall, verstanden?«

Ich holte tief Luft, um nicht zu stottern. »Ich weiß nicht, ob die Gefängnisordnung Beschimpfungen zulässt. Worauf es mir aber im Augenblick ankommt: Ich möchte ein Frühstück, und wenn ich es nicht von draußen bestellen kann, nehme ich mit Bestimmtheit an, dass Sie mir eins besorgen.«

Da – es war heraus, ich blickte zu ihm auf. Ich hatte meinen Vater und meinen Onkel oft sagen hören, diese Art zu sprechen habe während des Aufstands Wunder gewirkt, da die Soldaten, Polizisten und Gefängniswärter zum größten Teil ungebildetes Pack waren. Das war freilich lange her, damals stand ganz Irland in Waffen und hatte die Sympathien der ganzen Welt auf seiner Seite. Ich beobachtete sein Gesicht, bemüht, keine Ängstlichkeit zu verraten. Aber obgleich er den Mund öffnete, um loszubrüllen, wusste ich dennoch erleichtert, dass er etwas verblüfft war.

»Einen Scheißdreck bestellst du von draußen, und die Hausordnung geht dich ’n Dreck an, die Hausordnung mache ich hier, und wenn du noch mal so ’ne Lippe riskierst, knall ich dir eine! Spiel dich hier bloß nicht auf, du kleiner Penner, und hab gefälligst Respekt vor Constable Houlihan und so weiter.« Leck mich am Arsch, Constable Houlihan, sagte ich mir; und zu ihm: »Ich werde mich beim Richter über Ihre ausfallende Sprache beschweren.« Nun sieh zu, was du damit anfängst, du alberner Affe.

Sein Nacken wurde feuerrot, er knallte die Tür zu und stapfte schwerfällig die eiserne Treppe hinauf.

Ich hielt es für richtiger, vorerst nicht zu rauchen. Stattdessen steckte ich mir einen Kaugummi in den Mund, begann in der Zelle auf und ab zu gehen und im Rhythmus der Schritte zu kauen. Drei Kaubewegungen pro Schritt. Der Vorteil meiner Zelle war, dass ich auf niemanden unter mir Rücksicht zu nehmen brauchte. Nicht dass es mir etwas ausgemacht hätte, ihm auf dem Kopf herumzutrampeln, ich hätte höchstens ein grässliches Proletengebrüll gehört, wie: »Hey, du verdammtes Arschloch, hau dich endlich hin. Du da oben, geb Ruhe!« Gottlob war unter mir nichts mehr, nur noch Australien, sodass ich meinen Morgenspaziergang in Ruhe und Frieden machen konnte.

Jetzt hörte ich Schritte auf der Treppe und blieb mitten im Raum stehen. Sie kamen näher. Jesus, vielleicht hätte ich das von der Hausordnung nicht sagen sollen – oder noch schlimmer, ich hätte dem alten Hurenbock nicht sagen sollen, dass ich mich beim Richter beschweren würde.

Jetzt waren die Schritte im Gang. Die können dich leicht umlegen und nachher einfach sagen, du hättest Ärger gemacht. Das ist alles schon vorgekommen. Hier würde kein Hahn danach krähen.

Zu Hause wäre es etwas anderes, dort würde man mir meinen Mut zugutehalten. Gebt uns den geschundenen Leichnam unseres Märtyrers heraus! Gedämpfter Trommelklang. Umflorte Dudelsäcke, Trauermarsch.

»Gott mit dir, Frankie Doherty, und lass dir sagen:

Kaum sechzehnjährig hast du ohne Klagen

Der Iren Kreuz und Schande stolz getragen!«

Zuerst müsste ich freilich die Schinderei über mich ergehen lassen.

Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt. In deine Hände befehle ich meinen Geist, Herr Jesus, nimm meine Seele zu dir. Die Tür ging auf. Hinter dem Schließer stand ein Häftling, einen Becher Kakao und drei Scheiben Brot in der Hand. »Hier ist Frühstück, und mehr, als du verdienst.«

Ich nahm es entgegen und hätte mich bedankt, wenn er gewartet hätte. Es war aber besser so. Ich wäre ihm sonst erleichtert um den Hals gefallen.

 

Im Stock über mir ging man zum Gericht. Türen wurden geöffnet, und Schritte entfernten sich im Gang.

Mit verschränkten Beinen, mein Frühstück zwischen den Knien, saß ich auf meiner Bank. Das Brot war hauchdünn mit Margarine bestrichen. Frühere Zellenbewohner schienen den Kakao nur als Wandverzierung benutzt zu haben. Aber Hunger ist der beste Koch. So trank ich, schlug genießerisch meine News of the World auf und las einen tröstlichen Artikel. Ein Richter aus Hull hatte sich selbst zu zwei Jahren verurteilt, weil er sich an elf- und dreizehnjährigen Mädchen, Töchtern eines Arbeitslosen, vergangen hatte. Er hatte ihnen dafür Gemüse aus dem Lebensmittelladen bei ihm um die Ecke geschenkt. Die Lehrerin des älteren der beiden Mädchen hatte festgestellt, dass es schwanger war.

In Somerset hatten Landarbeiter einen Kameraden in einem Pub überfallen, ausgezogen, Paraffin über ihn gegossen und ihn angezündet.

Als ich mein Frühstück beendet hatte, steckte ich mir eine meiner Players an und legte mich auf den Rücken, um das Kreuzworträtsel zu studieren.

Dann hörte ich Gesang, einen jungen, hellen Bariton.

Wohin sind die Tage in Kerry beim Tanz,

Der Klang der Pfeifen, die Lust, der Glanz?

Ach, kehrte nur eine der frohen Stunden,

Die wie unsre Jugend zu früh entschwunden …

Ich erkannte Charlies Akzent, aber er hatte den Mund wirklich an den Spion gelegt. Ich konnte jedes Wort verstehen.

Da alle außer ihm und mir auf dem Gericht waren, regte sich kein Laut.

Der Morgen ist immer eine gute Zeit – bis gegen elf Uhr, wenn er sein Alter zu spüren beginnt.

Die Sache mit der Toilette war mir peinlich. Der Sitz stand in einer Ecke, genau gegenüber dem Spion. Im Lager bei den Fiannas[9] oder in der Berufsschule war ich nicht befangen gewesen. Dort bat ein Lehrling, der auf dem Klo saß, ruhig einen anderen um Feuer. Oder man tat so, als sei man nach einer Sauferei am Abend vorher mit jedermann dick befreundet, und rief: »Komm mal einer her und halt mir den Kopf!« Wenn aber ein Lehrer oder Werkmeister kam, schlug man die Tür zu und hielt den Mund, bis er vorbei war. Die Idee, die Toilette unter den Augen dieses verdammten Polizisten zu benutzen, wollte mir nicht behagen. Daher war jetzt die Gelegenheit günstig, da er mit den anderen zum Gericht gefahren war.

Ich saß und las die Zeitung, bereit, sie hinter dem Sitz zu verbergen, sobald ich Schritte auf der Treppe hörte. Die Romanfortsetzung nahm eine ganze Seite ein. Nicht gerade Hemingway oder O’Flaherty, dachte ich und machte mirs bequem und neigte den Kopf. Die Geschichte hieß Kein Stern geht verloren und war weit weniger interessant als alles Übrige in der Zeitung.

»He, Paddy.«

Leck mich, Charlie, sagte ich bei mir, ich bin noch nicht fertig. Er brüllte wieder herunter.

Schon gut, ich bin gleich da.

Der Fortsetzungsroman war sehr geeignet, da auf seiner Rückseite nur Anzeigen für vermisste Angehörige standen. Ich zog die Wasserspülung und trat an den Spion.

»Hallo, Charlie.«

»Hallo, Paddy, bist du’s?«

Wer zum Teufel solls denn sonst sein?

»Hat dir das Lied gefallen, Paddy?«

»Toll, Kumpel.« In zwei Tagen werde auch ich wie ein geborener Engländer reden.

Das Echo unserer Stimmen hallte durch das leere Gefängnis. »Sing du eins, Paddy! Ein irisches Lied.«

»Auf Irisch?«

»Ja, Mutter Machree oder Galway Bay.«

– Mutter Machree oder Galway Bay. Ich singe ein Lied, das ich in der Schule gelernt habe. Irland, das nach dem schottischen Bonnie Prince[10] schmachtet. Nicht dass er oder sein Alter oder irgendeiner von seinen Landsleuten jemals etwas für uns Iren getan hätten! Aber ein schönes Lied war es doch!

»Ah bhuachail aoibhinn, aluinn-ó

Ba leathan do chroi, is ba dheas do phó …

Blonder, schöner, schrecklicher Knabe,

Dein Herz war mein Hort, dein Blick meine Labe,

Wann werden wir uns wiedersehn?

Is go dteighidh tu, a mhuirnm, slän,

Gib acht, Liebster, gib acht.

Gelockt ist dein Haar, schneeweiß deine Lenden,

Süße und Qual deine Lippen spenden,

In deinem Kuss wollt ich vergehn …

Is go dteighidh tu, a mhuirnm, slän,

Gib acht, Liebster, gib acht …«

»Hör zu, Paddy. Ich hab kein Wort verstanden. Sing doch mal Kevin Barry.«

Bedächtig, wehmütig sang ich durch die verlassenen Gänge:

»Und eh’ er vor den Henker trat, hinaus in die Helle,

Barry von den Briten gefoltert ward, in düsterer Zelle,

Nur weil er sie nicht nennen wollte,

Die Namen seiner Gefährten,

Und anderes, was er sagen sollte.

›Werd Spitzel bei uns, und wir lassen dich laufen!‹

Doch Kevin rief stolz: ›Mich könnt ihr nicht kaufen!‹

Er war ein Bursch von kaum achtzehn Jahr.

Niemand kann’s leugnen, denn es ist wahr:

Er trat in den Morgen und ging in den Tod

Und trug den Kopf senkrecht wie ein Lot.«

Als die Gefangenen vom Gericht zurückkamen, hörte ich sie rufen. Einige waren in die Untersuchungshaft zurückgeschickt, andere für mindere Vergehen zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Alle schienen darauf aus, noch vor dem Abendessen ins Gefängnis überwiesen zu werden. Dort, hieß es, sei der Fraß besser als das, was wir hier bekamen. Jesus, nenn mir den, der schlechter sein kann.

Gegen zwei Uhr nachmittags hörte ich die Bullen hinten im Hof vorfahren. Die Gefangenen wurden verladen, und wieder wars im Gefängnis still.

Nach einer Weile hörte ich, wie Charlies Tür geöffnet und geschlossen wurde, dann kamen Schritte die Treppe herunter. Meine Tür ging auf, und der Wärter reichte mir mein Essen, drei schwärzliche, halb verfaulte Kartoffeln auf einem Emailleteller, zwei Scheiben altbackenes Brot und einen Becher Wasser.

Ich sah den Teller an.

»Was ist los?«, fragte der Wärter. »Hast du plötzlich keinen Hunger mehr? Ihr seid mir schöne Soldaten, Junge, Junge! ›Hoch die Republik‹ und ›Lang lebe Altirland‹, das könnt ihr gut brüllen, wenn ihr samstagsabends in einer schottischen Straßenschenke sauft, aber kaum kriecht ihr ein paar Stunden im Graben, geht euch der Arsch auf Grundeis. Was willst du dann nach zwanzig Jahren Knast sagen? Denn die kriegst du, wenn du Schwein hast und sie dich nicht aufknüpfen. Der Fraß ist gut genug für dich und besser als das, was sie dir zu Hause zu futtern geben, in eurem hungrigen Irland, ’n stinkigen Hering und eine Kartoffel.«

Ich nahm Teller und Becher, er schlug die Tür hinter sich zu und schlurfte weiter.

Ich wanderte in dem kalten Licht auf und ab. Im Fenster oben graute es schon. Ich schaute auf den Teller, der auf der Bank stand, und trank einen Schluck Wasser. Das machte mich noch kälter, die Kälte trieb mir Tränen in die Augen, und um mich zu wärmen oder müde zu werden, ging ich noch eine Weile auf und ab und warf dem Teller jedes Mal einen skeptischen Blick zu, wenn ich auf meiner Wanderung von der Wand auf die Tür zuschritt. Schließlich setzte ich mich und aß. Dann kaute ich noch ein Kaugummi, trank einen Schluck Wasser, rauchte eine Kippe und wickelte mich mit neu erwachten Lebensgeistern in meine Decken, bis es wieder an der Zeit war, meine Wanderung bis zum Abend von Neuem aufzunehmen.

Im Laufe des Nachmittags gab es jedoch eine unerwartete Abwechslung. Mitten in meiner Zellenwanderung wurde ich zum Fotografieren gerufen. Ein neuer Polizist öffnete die Tür und gab keinen Laut von sich.

Der Fotograf war ein junger Mann mit Eierkopf und Schnurrbärtchen in Sportjacke und Flanellhose. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er lachen konnte oder sich für etwas anderes interessierte als ein Cricketspiel. In der Hoffnung auf eine Unterhaltung fragte ich ihn, wie spät es sei. Aber er antwortete nicht. Sein pflichtschuldiges Schweigen schien undurchdringlich.

»Den Kopf hierher!« Er hängte mir ein hölzernes Schild um den Hals, das die Aufschrift »IRA«, eine Nummer und meinen Namen in Kreide trug. Auf so einer Aufnahme musste ich wie ein gesuchter Straftäter aussehen, der Gedanke gefiel mir, abgesehen davon, dass ich wünschte, dass jemand mich suchte.

»Jetzt zur Seite!«

Dreh du doch den Kopf zur Seite und renn dir dabei den Schädel ein, das gibt dir vielleicht etwas mehr Mumm.

Als er seine Arbeit beendet hatte, wurde ich wieder in meine Zelle geführt. Wieder ging ich auf und ab, trank von Zeit zu Zeit einen Schluck Wasser und pisste, um die Zeit totzuschlagen. Dann brachte mir der Wärter einen Becher Kakao und meine drei Scheiben Brot. Mit verschränkten Beinen setzte ich mich auf meine Bank, legte mir eine Decke um die Schultern und aß mein Abendbrot. Das Licht wurde eingeschaltet, ich machte mein Bett und schlüpfte hinein. Als Höhepunkt der Genüsse und in der Hoffnung, der Wärter würde nicht zurückkommen, steckte ich mir eine Kippe an und las die Hälfte der News of the World, die ich mir für den Abend aufgehoben hatte. »Gute Nacht, Paddy, gute Nacht.«

Es war mir zu kalt, aus dem Bett auf die Steinfliesen zu springen, aber Charlie hatte es getan. Er wartete im Hemd, seine bloßen Beine bis zu den Schenkeln hinauf hochrot vor Kälte, das Gesicht an den Spion gepresst.

Ich sprang aus dem Bett und legte die Lippen an den Spion.

»Nacht, Charlie.«

»Nacht, Pad.«

Wieder im Bett, hörte ich die Straßenbahnen in der Ferne vorbeifahren, schwerfällig fuhren sie um die Kurven und nahmen auf der Geraden Anlauf für die Steigungen.

Damals, in Dublin, als ich klein war, hörte ich sie auf der Nordseite des Flusses, wenn ich im Bett lag und das Auge des Herz-Jesu-Bildes an der gegenüberliegenden Wand vermied. Das Haus, in dem wir wohnten, war das Stadthaus eines reichen Herrn gewesen, bevor es ein Mietshaus wurde, sodass vor meinem Bett ein hoher Kamin aus schwarzem Kilkenny-Marmor stand. Wenn die Seelen wirklich aus dem Fegefeuer zurückkehrten, kamen sie bestimmt da heraus. Ein Ave-Maria war daher nicht verkehrt, aber der Lärm der Straßenbahnen beruhigte mich mehr. Sie waren ja beleuchtet und voller Menschen. Alte Männer, singend und gutmütig krakeelend, und Jungs, die ihre Mädels nach der Kinovorstellung nach Drumcondra[11] heimbegleiteten.

Hier war die Nacht zerrissen vom Geschrei und Gestampf, von Fluchen und trunkenem Singen. Einige der anderen Gefangenen brüllten in ihrer englischen Aussprache: »Haldieschnauze, du Arschloch«, aber ich glaube, sie brüllten nur, um zu zeigen, dass sie das Vorrecht hatten, zu brüllen und gleichzeitig auf der Seite des Wärters zu sein. Mir machten der Lärm und das Singen nichts aus. Sie gaben mir im Gegenteil das Gefühl, vom Samstagabendbetrieb nicht völlig abgesondert zu sein. Ich musste ja noch den ganzen Sonntag hinter mich bringen und auf Vorrat schlafen, was dann etwa so war, als täte ich etwas in die Sparbüchse.

Im Waschraum trafen Charlie und ich uns mit den anderen. Ich freute mich auf ihn, und auch er war froh, mich zu sehen. Natürlich gab es keinen Grund, warum er nicht hätte da sein sollen. Und doch lächelte ich erleichtert, als ich ihn erblickte. Wir fanden Becken nebeneinander, und während wir uns wuschen, sagte er, die Scheißkerle hätten letzte Nacht einen Höllenlärm gemacht. Ich stimmte zu und sagte, einer über mir habe immer wieder dasselbe Lied gesungen, wenn man das singen nennen wollte. Eigentlich hatte es sich mehr wie ein Todesröcheln angehört.

Charlie sagte, der Wärter habe ihm bisher keine Zigaretten oder Zeitungen gebracht, obgleich er sie gleich morgens bestellt habe, er könne mir aber eine Kippe und etwas Kaugummi geben. Ich dankte ihm und sagte, ich hätte noch zwei Zigaretten übrig, auch etwas Kaugummi und sei somit versorgt. Er hatte für mich eine Zeitung mit heruntergebracht, und ich sagte, mehr brauche ich nicht. Ich schob sie unters Hemd, und wir sagten, wir würden uns wohl auf dem Weg zum Gericht wiedersehen und dann zusammen in den Knast abgeschoben werden.

Unterwegs stieß er mich mit dem Ellbogen an, bevor er in seine Zelle zurückging, und murmelte »Wiedersehn, Pad«. Ich ging die Treppe hinunter, wurde in meine Zelle eingeschlossen, legte mich auf meine Bank und blickte zum Fenster auf, bis das Frühstück kam.

Ich hätte gern gewusst, ob hier Messen gelesen wurden. Es wäre schön, die Messe auf Irisch zu hören, solange es nicht Polizist Houlihans Stimme war, und plötzlich verlangte mich mehr nach der Religion meiner Väter als in Freiheit zu Hause.

Aber darüber erfuhr ich nichts, und als der Wärter mein Frühstück brachte, fragte ich auch nicht danach. An diesem Morgen war er friedlich, und ich hielt es für das Beste, ihn nicht aus der Ruhe zu bringen.

Nicht dass wir nicht auch auf andere Weise an den Sonntag erinnert worden wären.

Die Glocken von hundert Kirchen klangen und dröhnten mir den lieben langen Morgen in den Ohren. Das war nicht übel, zumal ich den Vormittag mag, und der Tag begann erst trübe zu werden, als das Licht gegen Nachmittag aus dem Himmel wich. Dann läuteten die Glocken von Neuem, und ich ließ ihr Hallen wehrlos und trostlos über mich ergehen.

Ich konnte nicht einmal auf und ab wandern, ich kauerte, in die Decken gewickelt, auf meinem Bett, Tränen im Herzen, Tränen im Sinn, und wünschte, ich könnte erwachen und feststellen, dass ich nur geträumt hatte, könnte zu Hause aufwachen und sagen: So etwa fühlst du dich, wenn du in England geschnappt wirst, keine Paraden mehr mitmachen kannst, aus der IRA ausscheiden musst, wenn du dich von jetzt an um deinen eigenen Kram kümmern kannst, zum Tanzen oder dergleichen ausgehst und heiratest. Wenn mir bei der Ostersonntagparade, während beim Dröhnen der Trommeln und Kreischen der Dudelsackpfeifen die vier Bataillone der Dubliner Brigade mit »Augen links« und gesenkten Fahnen langsam an der Oberpostdirektion vorbeimarschieren und die dicht gedrängte Menschenmenge zu beiden Seiten der O’Connell Street die Köpfe entblößt – wenn mir an diesem Festtag das Blut in die Schläfen schießen würde, könnte ich immer an die Nacht zurückdenken, als ich träumte, ich sei in Liverpool von der Polizei festgenommen worden, und gleich würde mein Blut beruhigt und gleichmäßig durch die Adern kreisen.

Schon oft haben Träume den Menschen vor Unheil bewahrt, das er über sich bringen würde, sofern er sich nicht änderte. Draußen dachte ich nie an solche Dinge, und wenn ichs tat, nur, um darüber zu lachen. Aber hier waren solche Dinge durchaus denkbar, sodass es gut war, still zu sein. Freilich hieß still sein hier nicht, den Republikaner spielen. Selbst Roger Casement, den die Loyalisten zu Hause achteten – jede Zeitung, einschließlich der Irish Times und des Independent, forderten einstimmig die Auslieferung seiner sterblichen Überreste, und W.B. Yeats hatte ein Gedicht verfasst, in dem es hieß: »Der Geist von Roger Casement klopft an unsere Tür« –, selbst Casement wurde geschmäht und von dem Hauptinspektor am Freitagabend als »der alte Hurensohn Roger Casement« betitelt.

Nun, ich begann zu begreifen, dass darin eine gewisse Gerechtigkeit lag. Er konnte es hier tun, wir konnten die alte Hunger-Königin zu Hause schmähen oder die Black and Tans, und so jeder Mensch im eigenen Land. Wenn einer aber hierherkam und Bomben legte, konnte er nicht erwarten, dafür noch gelobt zu werden. Vielmehr konnte er nur noch aufwachen und den Traum als Warnung nehmen oder zusehen, wie er aus der Sache herauskam. Verdammt, selbst freigelassen zu werden und nie mehr heimfahren zu können, war ein Ausweg. Würde es den Briten nicht Geld sparen, von allem anderen abgesehen? Ja, so konnte man die Sache sehen. Wenn ich das Gericht anerkannte und mich schuldig bekannte oder erklärte, jemand habe mir das Zeug zum Aufbewahren gegeben und ich hätte, bis ichs in meinem Zimmer hatte, nicht gewusst, was es enthielt, würde ich dann vielleicht nur ausgewiesen werden?

Ich hörte Schritte auf der Treppe, der Wärter öffnete die Tür und holte mich in den erleuchteten Gang hinaus. Dort lagen meine Schuhe, Socken und meine Hosenträger auf dem Boden.

»Zieh sie an«, sagte er.

Ich werds tun, bei Gott, Sir, ich danke Ihnen. Vielleicht würde ein Wunder geschehen. Vielleicht würden sie mich nach Hause schicken und sagen: »Lass dich hier nicht mehr blicken!« Ich würds tun, weiß Gott, und dankbar dafür sein.

»Komm mit, oben will dich jemand sprechen.«

Ich ging dicht auf seinen Fersen hinter ihm her und wurde in ein Zimmer geführt. Dort standen mein Sergeant und Vereker, der mich anlächelte. Der Sergeant deutete blinzelnd auf einen Dritten, einen ziemlich großen, gut gekleideten, gut aussehenden Mann. Er hatte die dünnen Lippen eines Engländers, auch das war in Ordnung – war es nicht sein Land, und konnte er nicht die Lippen haben, die er wollte?

»Das ist Mr O’Sullivan, Brendan«, sagte der Sergeant.

Noch besser, er nannte mich Brendan, und der gut gekleidete Herr war Ire – vielleicht von der Sankt-Vincent-de-Paul-Gesellschaft oder etwas Ähnlichem – und wollte mich nach Hause bringen. Er lächelte sogar kurz und sagte:

»Ich bin Ire, genau wie du. Ich bin aus Cork.«

»O’Sullivan ist ein Name aus der Grafschaft Cork, Sir«, antwortete ich.

»So ist es«, sagte er, »aber was für ein Name ist Behan?«

»Ein altirischer Name, Sir. Der Name einer Schriftstellerfamilie, die einst in South Leinster berühmt war. Die irische Form ›O Beachäin‹ von ›beach a bee‹, also einer, der Bienen hält, Angilcé, ›Behan, Beggan, Beegan‹. Es steht in Sloinnte Gad agus Gail. Das ist irisch, Sir. Die Namen der Iren und Normannen ist der englische Titel. Vielleicht lesen Sie nicht irisch, aber es ist eine zweisprachige Ausgabe, irisch auf der einen, englisch auf der anderen Seite. Auch Ihr Name steht darin, Sir.«

»Ich lese kein Irisch, Behan. Ich spreche es auch nicht. Was sollte ich auch damit anfangen? Was nützt Gälisch schon außerhalb Irlands?«

»In Neuschottland, Sir, in Cape Breton, wird nur Irisch gesprochen. Dort gibt es eine Zeitung in gälischer Sprache.«

»Das ist schottisches Gälisch – eine völlig andere Sprache.«

Ich wusste, dass das nicht zutraf, der einzige Unterschied in der Ausdrucksform »es ist« bestand zum Beispiel darin, dass die Schotten »Thá« sagten und wir Iren »tá«. Es wäre jedoch unklug gewesen, den Besserwisser zu spielen oder meinen Besucher bloßzustellen. »Wenn mans genau überlegt, haben Sie vermutlich recht, Sir.«

»Wie alt bist du, Behan?«

»Sechzehn, Sir.«

»Du bist dir vermutlich darüber im Klaren, dass du für diese Geschichte unter Umständen den größten Teil deines Lebens im Knast verbringen wirst. Die letzte Fünfergruppe, die in London verurteilt wurde, bekam zusammen hundert Jahre Zwangsarbeit. Zwanzig Jahre pro Kopf. Der sechste, der mit ihnen festgenommen wurde, sitzt in Birmingham, zum Tode verurteilt. Wegen eines feigen Mordes.«

»Es war kein Mord«, rutschte es mir raus.

»Es war kein Mord?« Seine Lippen pressten sich zornig zusammen. »Eine Bombe in eine überfüllte Straße zu werfen und fünf unschuldige Menschen zu töten?«

Die Empörung ging mit ihm durch, seine Stimme wurde schrill, und der Ton veränderte sich blitzartig. »Du verdammter kleiner Hurensohn!«, schrie er und holte mit der Hand aus, als könne er sich nicht mehr beherrschen, knirschte mit den Zähnen und trat auf mich zu. »Ich werde dir zeigen, was Mord ist.«

Der Sergeant und Vereker hielten ihn zurück, beide blickten mich vorwurfsvoll an. Ich senkte den Blick und wich einen Schritt zurück.

Mr O’Sullivan knurrte, als sie ihn festhielten: »Loslassen, verdammt noch mal!« Sein Gesicht war schrecklich anzusehen, seine Augen traten hinter seinen Brillengläsern aus dem Kopf. »Verdammt!«, sagte er.

»Na, na, Herr Inspektor«, sagte der Sergeant beschwichtigend.

»Schon gut, Sergeant, schon gut«, sagte Mr O’Sullivan verträglicher. Sie nahmen ihre Hände von ihm weg, und er sprach gleichmütig mit mir weiter.

»Komm mir nicht damit, Behan. Du bist hier nicht bei deiner Mörderbande in Dublin oder Belfast.«

»Jawohl, Sir«, sagte ich leise, etwas benommen, und fragte mich, was ich sagen sollte, um ihn nicht von Neuem aufzubringen. »Ich meinte nur, Sir, dass der Mann nichts damit zu tun hatte.«

Ungläubig blickte er mich an, und Vereker und der Sergeant seufzten und schauten kopfschüttelnd zu mir hin.

»Ich meine, Sir, ich meine …«, stammelte ich.

»Du meinst, die Birminghamer Polizei hat einen Unschuldigen zum Tod verurteilt? Meinst du das, Behan? Ja? Antworte!« Wieder wurde seine Stimme lauter, und der Sergeant und Vereker bewegten sich auf ihn zu, er aber winkte ab und fügte weniger laut hinzu: »Antworte mir!«

Ich schluckte einmal und versuchte, mich vorsichtig auszudrücken. »Ich meine, Sir, dass vielleicht ein Irrtum vorliegt, Sir …«

»Die englische Polizei, Behan, begeht keinen Irrtum. Weder in Birmingham noch in Liverpool.«

»Der Mann ist in London festgenommen worden, zusammen mit den anderen fünf, und war im Gewahrsam von Scotland Yard, bevor die Bombe in Coventry explodiert ist – eine ganze Stunde vorher.«

Ich war bereit, zurückzuzucken, aber er rührte sich nicht.

»Du scheinst ja gut Bescheid zu wissen, Behan. Vielleicht warst du bei der kleinen Operation, wie ihr Soldaten der Irischen Republik eure Morde nennt, beteiligt. Woher weißt du das alles?«

»Weil ichs in den Zeitungen gelesen habe, Sir, in englischen Zeitungen.«

»Du warst also zufällig in England, als das passierte?«

»Nein, Sir, ich war in Irland, zu Hause. Aber man kann in Dublin englische Zeitungen kaufen, Sir.«

»Ich verstehe. Schade, dass du beim Lesen nicht mehr gelernt hast.« Er sprach ganz vernünftig, und ich atmete auf. Dann steckte er seine Hand in die Tasche und zog ein Päckchen Zigaretten heraus, bot sie zuerst dem Sergeanten und Vereker, dann mir an.

»Nimm dir eine«, sagte er.

»Danke, Sir«, sagte ich.

Vereker zündete ein Streichholz an und gab allen Feuer.

»Hör zu, Behan«, sagte der Inspektor, »du bist ja nur ein Schulbub, und deine Anführer sitzen im sicheren Nest zu Hause in Irland oder in Amerika. Wir wollen dir nichts Böses, aber der Einzige, der dir helfen kann, bist du selbst. Du brauchst auf andere Leute keine Rücksicht zu nehmen, die nehmen auch keine Rücksicht auf dich. Aber wenn du uns sagst, wo wir mehr von dem Material in England finden können, schnappen wir es uns, und es werden keine weiteren Fragen gestellt.«

»Ich weiß nicht, wo in England weiteres Material ist, Sir.«

»Bist du ganz sicher?«

»Ganz sicher, Sir. Die IRA weiht mich nicht in alle ihre Geheimnisse ein.«

»Lass das mal aus dem Spiel. Würdest du, wenn du es wüsstest, uns helfen, es zu finden?«

»Da ich Ihnen nicht sagen kann, wo Sie es suchen sollen, spielt es dann eine Rolle? Ich meine, ich könnte lügen und sagen, ich würde es tun, und dann, wenn ichs wüsste, würde ichs vielleicht nicht – was würde es schon ausmachen?«

»Weißt du viel über die Organisation der IRA in Irland? In Belfast?«

»Sehr wenig, Sir.«

»Wie viel?«

»Nichts, was für Sie lohnend wäre, Sir.«

»Das können wir am besten beurteilen. Was weißt du über die IRA in Dublin? Wer sind die Mitglieder des Obersten Hauptquartiers, wie ihr es nennt?«

»Ich weiß natürlich etwas über die IRA in Dublin, aber –«, ich lächelte, »ich gehöre nicht zum Obersten Hauptquartier.«

»Das hat auch niemand behauptet. Und lass gefälligst dein Grinsen. Dies ist eine ernste Angelegenheit und ernster für dich als für jeden anderen hier im Raum.«

»Jawohl, Sir.«

»Wer hat dir das Material gegeben?«

»Ich habe seinen Namen nicht erfahren, Sir.«

»Wer hat dir das Geld gegeben, das bei dir gefunden wurde, wer die Fahrkarte und deine gefälschte Reisegenehmigung? Vermutlich weißt du das auch nicht?«

Ich sagte nichts.

»Hör zu, Behan. Falls du Angst hast vor dem, was dir passieren wird, wenn du nach Hause kommst, so kann ich dir Folgendes sagen: Wenn du uns hilfst, können wir für dich sorgen. Auf eine Weise tust du mir leid. Du bist nichts als ein dummer Junge, der sich in Sachen mischt, die ihn nichts angehen. Du schuldest diesen Leuten nichts. Sie haben dich hier herübergeschickt, und nun musst du die Sache ausbaden, nicht sie. Also: Du weißt eine Menge über die Organisation der IRA in Irland. Du hast mit ihr zu tun, seit du krabbeln kannst – viel hat dabei für dich nicht herausgeschaut –, und du kannst uns von Nutzen sein. Du wirst nicht schuld daran sein, wenn jemand verhaftet wird, weil wir in Irland niemanden verhaften können, aber du wirst uns dabei helfen, diesen Umtrieben ein Ende zu setzen, und, wie ich schon sagte, wir werden für dich sorgen. Du bist ein junger Mann, vielleicht noch nicht einmal das. Wir schicken dich in die Kolonien, vielleicht nach Kanada, setzen dich aufs Schiff, mit Geld in der Tasche.«

Er sah mich an. »Nun?«

Ich sah ihn an, und etwas sagte mir, dass er nicht noch mal auf mich losstürzen würde. Darüber war ich froh.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, Sir.«

»Du meinst, du willst es nicht. Na schön. Bis zur Gerichtsverhandlung geht noch eine gute Weile hin. Denk darüber nach, wenn du im Walton-Gefängnis bist, und wenn du dirs anders überlegst, lass es mich wissen. Ich komme dann gleich rauf.«

Er nickte dem Sergeanten und Vereker zu, und wir gingen hinaus, bis zum Treppenabsatz. Der Wärter kam herauf, und Vereker lächelte mir zu. »Gute Nacht«, sagte ich.

»Gute Nacht, Paddy«, sagte Vereker.

»Gute Nacht, du kleiner Dummkopf«, sagte der Sergeant. Ich ging hinter dem Wärter die Treppe hinunter, bis wir zu meiner Zelle kamen.

»Zieh die Schuhe aus und nimm die Hosenträger ab, ehe du in deine Zelle gehst«, sagte der Wärter.

Bevor ich mich bückte, um meine Schnürsenkel zu lösen, steckte ich die Zigarette in den Mund, um einen Zug zu tun.

Der Wärter hob die Hand und riss sie mir aus dem Mund. »Was soll das«, brüllte er, »wer hat dich geheißen zu rauchen? Wer hat dir die gegeben?«

»Der Herr Inspektor«, antwortete ich, »Mr O’Sullivan.«

»Ist mir egal, wer sie dir gegeben hat«, sagte der Wärter und warf die Zigarette ins Dunkle. »Zieh die Schuhe aus und nimm die Hosenträger ab.«

Ich tat es und betrat meine Zelle. Dort stand mein Kakao und war noch lauwarm. Ich verzehrte mein Abendbrot und ging leidlich gelaunt ein wenig auf und ab. Dabei sang ich ein Liedchen, so laut ich konnte.

»Über Hügel und Küsten flieg ich für dich,

Deine zartweißen Hände tragen mich.

Zu Haus in deiner Kammer, vom Morgen bis zum Abendwind,

Bist du bei mir, schönste Blume, dunkle Rosalind,

Du meine Rosalind.

Jede Stunde am Tag bist du mein im Gemüte,

Blume der Blumen, zarteste Blüte,

Dunkle Rosalind.

Doch die Erde wird erröten in Strömen von Blut,

Erbeben von deinem Schritt und Mut,

Berg und Wald umlodert von Flammenglut.

Kriegslärm wird wecken manch stilles Tal geschwind,

Eh du welkst und vergehst, dunkle Rosalind,

Du meine Rosalind.

Doch erst muss mein letztes Stündlein schlagen,

Bevor sie dich wachsbleich zu Grabe tragen,

Dunkle Rosalind …«

»Bravo, Paddy«, hörte ich Charlie von oben brüllen.

Ich trat an den Spion.

»Morgen kommen wir hier raus, Paddy«, schrie er.

»Gut, Charlie. Feine Sache, was?«

 

Am nächsten Morgen wurde ich jedoch allein in einem Polizeiauto abgeholt. Während der Fahrt überlegte ich, ob es vielleicht ein Sondergericht für die IRA gab, bis wir am Ziel waren und ich in einen Raum geführt wurde, in dem ein Dutzend kleiner Jungen und Mädchen saßen.

Neben mir hockte ein Junge von etwa zwölf Jahren und rauchte eine Zigarette, die er jedes Mal versteckte, wenn die Tür aufging.

»Willst du auch eine?«, fragte er.

»Sehr gern«, antwortete ich.

Er holte ein Päckchen aus der Tasche seines Blazers und gab mir eine zerdrückte Zigarette.

»Vielen Dank«, sagte ich. »Aber wie heißt das hier?«

»Jugendgericht.«

In gewisser Hinsicht war ich froh. Hier würde man wohl kaum zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt werden, anderseits kam es mir komisch vor, dass man hier als Angehöriger der Irisch-Republikanischen Armee verhört werden sollte.

»Gilt für alle unter siebzehn«, sagte der Junge.

Darum also war Charlie anderswohin gebracht worden. Er war drei Monate älter als ich und einige Wochen über siebzehn.

Ich wurde vor Gericht geführt, und eine Dame auf dem Richterstuhl teilte mir höflich mit, dass ihr Gericht nicht ermächtigt sei, gegen mich zu verhandeln, weshalb ich dem Polizeigericht überwiesen würde.

Beim Polizeigericht war die Sache viel umständlicher.

Der Offizialverteidiger fragte, ob der Fall unter Ausschluss der Öffentlichkeit zur Verhandlung komme, und der Richter fragte mich, ob ich etwas dagegen einzuwenden hätte.

Ich sagte, das hätte ich und dass die öffentliche Verhandlung doch ein Rechtsgrundsatz sei.

Außerdem wollte ich, dass meine Familie zu Hause erfuhr, wo ich war, damit sie mir Zeitungen oder Zigaretten schicken und dafür sorgen konnte, dass ich im Walton-Gefängnis nicht zusammengehauen wurde. Zu Hause wurde nämlich bereits gemunkelt, dass die Wärter in Dartmoor die Sträflinge dazu aufstachelten, unsere Gefährten beim Spaziergang im Hof anzugreifen. Ich hatte keine Lust, tot oder halb tot geschlagen zu werden, ohne dass eine Menschenseele meinetwegen einen Finger rühren konnte. Aber das sagte ich nicht zu dem Richter, sondern sagte nur, dass die Verhandlung öffentlich sein müsse.

Er lächelte mich an, und die anderen Leute im Gerichtssaal lächelten gleichfalls und sagten, die Polizei sei der Auffassung, eine öffentliche Verhandlung könne ihre Arbeit stören und bestimmte Leute aufmerksam machen. Und hier sei er nun unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Daher solle ich eine Woche ins Untersuchungsgefängnis zurückgebracht werden, dann – versicherte er – werde die Verhandlung »so öffentlich sein, wie ich es nur wünschen könne«.

Dann kam der Sergeant zu mir, den ich fragte, ob er eine Zigarette für mich habe. Er hatte keine bei sich, ging aber zum Offizialverteidiger, der ihm zehn Capstan für mich gab. Ich steckte mir eine in den Mund, kurz bevor wir den Gerichtssaal verlassen hatten. Er sagte, ich solle um Himmels willen warten, bis ich in meiner Zelle sei, ob ich ihn und alle anderen unbedingt den Job kosten, ob ich sie in Teufels Küche bringen wolle und mich dazu.

In der Zelle fand ich Charlie und die anderen, die darauf warteten, ins Walton-Gefängnis überwiesen zu werden.

Ich zog mein Päckchen mit den Capstan aus der Tasche, wir zündeten uns eine an und rauchten in Charlies Ausdrucksweise wie »Herrenhurensöhne«.

Am Spätnachmittag wurden wir in die Kammer geführt, wo die Sachen eines jeden Einzelnen aufgeschrieben, quittiert und von dem Kammerbullen in einen Lederbeutel gesteckt wurden.

Als ich abgefertigt war, sagte der Wärter: »Das wärs, und halt mir ein Auge auf den irischen Patrioten da!«

Ich blickte ihn fest an.

»Mach nicht so ’n blödes Gesicht.«

»Schon gut«, sagte der mit dem Lederbeutel, »der kommt wohin, wo sie ihn so lange in den Arsch treten werden, bis er Manieren lernt.«

Ich setzte mich neben Charlie. Uns gegenüber im Polizeiwagen saß ein rothaariger Junge meines Alters, daneben ein untersetzter Mann mit einer gebrochenen Nase, einem Blumenkohlohr und einer verkniffenen Visage. Er war verknackt worden, weil er seine Frau misshandelt hatte. Er war nicht einmal unfreundlich und sagte, sein Name sei Donohoe. Ich sagte, das sei zufällig der Name meiner Mutter. Sie heißt nicht so, aber Höflichkeit kostet nichts.

Der Verkehrslärm auf der Fahrt durch die Stadt war bedrückend. Es war unmöglich, hinauszuschauen, an der Decke waren zwar Schlitze, aber nur für die Lüftung. Donohoe und der Rotfuchs stritten über die Stadtteile, durch die wir angeblich fuhren.

»Jetzt fahren wir durch die und die Straße. Ich erkenne die Sirene der und der Fabrik.«

»Stimmt nicht. Wir fahren in der und der Richtung. Das ist keine Sirene, sondern die Hupe von einem anderen Auto.« Charlie und ich blickten einander gelangweilt an, sagten aber nichts und lauschten nur höflich, wenn Donohoe seine Meinung äußerte.

»Da«, sagte Rotschopf, »was hab ich dir gesagt? Jetzt fahren wir durch die und die Straße, ich kann den Rangierbahnhof hören.«

»Nein«, sagte Donohoe, »das ist nicht der Rangierbahnhof.« Bevor Donohoe sagen konnte, was es war, kam der Wagen mit Getöse so ruckartig zum Stehen, dass wir fast von unseren Sitzen geflogen wären.

Wir hörten den Fahrer mit jemandem auf der Straße streiten. Dann drehte er sich in der Fahrerkabine um und brüllte dem Polizisten ins Ohr: »Das gottverdammte Schwein hat mich geschnitten. Würde ihn am liebsten anzeigen. Beschissener Kohlenlaster!«

Der Polizist wandte sich an uns. »Der hätte uns um ’n Haar zu Brei gefahren.«

Rotschopf meinte: »Beschissene Busfahrer.«

Donohoe sagte: »War doch ’n Kohlenlaster.«

»Na schön, dann eben Kohlenlaster. Die glauben, die Straße gehört nur ihnen.«

Wir hatten alle unseren Spaß an dem, was wir unter dem Lastwagenfahrer zu leiden gehabt hatten, und der Polizist spitzte freundschaftlich die Ohren, als Rotschopf die Geschichte eines anderen Kohlenlasters erzählte, der fast eine Frau mit einem Kinderwagen überfahren hätte, und Charlie sagte, in London seis mit den Hurensöhnen nicht besser bestellt. Ich sagte, in Dublin seien sie berüchtigt für ihr lausiges Fahren.

Der Polizist hörte aufmerksam zu und spielte nur den Tauben, als ich Dublin erwähnte. Als ich bescheiden verstummte, war er freundlich und gesprächig mit den anderen, und ich durfte wenigstens zuhören.

Ja, ja, meinte er, wir hätten uns ohne Weiteres das Genick brechen können, und manch einer von den Fahrern dürfte von Rechts wegen überhaupt nicht am Steuer sitzen.

Bis zum Gefängnistor erörterten wir den knapp vermiedenen Verkehrsunfall. Rotschopf sagte, der Fahrer des Polizeiwagens müsse verflixt geistesgegenwärtig gewesen sein, um in letzter Sekunde zu bremsen. Der Polizist sagte: