Botanik des Wahnsinns - Leon Engler - E-Book + Hörbuch

Botanik des Wahnsinns Hörbuch

Leon Engler

5,0

Beschreibung

Als bei der Zwangsräumung der Wohnung seiner Mutter durch eine Verwechslung alles von Wert in die Müllverbrennungsanlage wandert, bleibt dem Erzähler wortwörtlich nur der Abfall der eigenen Familiengeschichte. Wie hat es so weit kommen können? Der Erzähler blickt auf die Biografie seiner Familie: ein Stammbaum des Wahnsinns. Die Großmutter bipolar, zwölf Suizidversuche, der Großvater Stammkunde in Steinhof, die Mutter Alkoholikerin, der Vater depressiv. Und er blickt auf seinen eigenen Weg: Eine Kindheit im Münchner Arbeiterviertel. Die frühe Angst, verrückt zu werden. Die Flucht vor der Familie ins entfernte New York. Jahre in Wien mit Freud im Kaffeehaus. Und wie er schließlich doch in der Anstalt landet als Psychologe. Bei der Arbeit mit den Patienten lernt er, dass ein Mensch immer mehr ist als seine Krankheit, dass Zuhören wichtiger ist als Diagnostizieren. Vor allem aber muss er sich bald die Frage stellen, was das sein soll: ein normaler Mensch. Eine aus dem Ruder gelaufene Familienanamnese? Ein Schelmenroman? Ein Lehrstück in Empathie? Leon Englers Debüt ist all das und mehr, ein zärtlicher Befreiungsschlag, die Geschichte einer Versöhnung. Nominiert für den ZDF-"aspekte"-Literaturpreis 2025. Ein fantastisches Buch abgrundtief und doch tröstend. Habs verschlungen. DORIS DÖRRIE Unwiderstehlich. Leichtfüßig und ernst, zärtlich und brutal, ironisch und ehrlich. SIRI HUSTVEDT

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Zeit:5 Std. 46 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Johannes Nussbaum

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Von einem, der auszog, um nicht verrückt zu werden

Als bei der Zwangsräumung der Wohnung seiner Mutter durch eine Verwechslung alles von Wert in die Müllverbrennungsanlage wandert, bleibt dem Erzähler wortwörtlich nur der Abfall der eigenen Familiengeschichte. Wie hat es so weit kommen können? Der Erzähler blickt auf die Biografie seiner Familie: ein Stammbaum des Wahnsinns. Die Großmutter bipolar, zwölf Suizidversuche, der Großvater Stammkunde in Steinhof, die Mutter Alkoholikerin, der Vater depressiv. Und er blickt auf seinen eigenen Weg: Eine Kindheit im Münchner Arbeiterviertel. Die frühe Angst, verrückt zu werden. Die Flucht vor der Familie ins entfernte New York. Jahre in Wien mit Freud im Kaffeehaus. Und wie er schließlich doch in der Anstalt landet – als Psychologe. Bei der Arbeit mit den Patienten lernt er, dass ein Mensch immer mehr ist als seine Krankheit, dass Zuhören wichtiger ist als Diagnostizieren. Vor allem aber muss er sich bald die Frage stellen, was das sein soll: ein normaler Mensch.

Eine aus dem Ruder gelaufene Familienanamnese? Ein Schelmenroman? Ein Lehrstück in Empathie? Leon Englers Debüt ist all das und mehr, ein zärtlicher Befreiungsschlag, die Geschichte einer Versöhnung.

© Niklas Berg

Leon Engler wuchs in München auf und studierte Theater-, Film-, Medien-, Kulturwissenschaft und Psychologie in Wien, Paris und Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele und Kurzgeschichten und wurde 2022 beim Bachmann-Wettbewerb mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Er ist tätig als Autor, Psychologe und Dozent für Psychologie und Literarisches Schreiben. ›Botanik des Wahnsinns‹ ist sein Debütroman.

Leon Engler

BOTANIK DES WAHNSINNS

Roman

Zitat* entnommen aus Ingeborg Bachmann: Male oscuro

© Piper Verlag GmbH, München, und Suhrkamp Verlag, Berlin 2017

E-Book 2025

© 2025 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG,

Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers.

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Angelika Kudella, Köln

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1129-9

www.dumont-buchverlag.de

 

»Wenn du die Begriffe nicht kennst, verliert sich auch die Kenntnis der Dinge.«

Carl von Linné[1]

»Ich darf Ihnen versichern, daß wir keine Begriffe haben. Wir haben die Krankheit.«

Ingeborg Bachmann [2]*

1

Am Ende bleiben sieben Kartons. In diesen Kartons, gestapelt in einem dunklen Lagerabteil in Wien, befinden sich ausgerechnet die Dinge, die meine Mutter aussortiert hatte: alte Rechnungen, Steuererklärungen, Müll.

Ich gehe die Kartons durch. Einer davon ist randvoll mit ungeöffneten Briefen. Schreiben von Inkassobüros und Anwälten, Vollstreckungsbescheide und fristlose Kündigungen. Ihre Bedrohlichkeit haben die Briefe längst verloren. Die Poststempel darauf sind sieben Jahre alt. Ich setze mich auf den Boden, öffne den ersten Brief. Das Licht geht aus. Ich hebe meinen Arm. Das Licht geht wieder an.

Immer wieder stoße ich zwischen Schreiben von Ämtern und Anwälten auf Dankeskarten von Greenpeace und World Vision. Ihre Miete konnte meine Mutter nicht mehr zahlen, doch sie spendete noch Geld für den Bau von Trinkwasserbrunnen in Äthiopien und die vom Aussterben bedrohte Karettschildkröte. Bis zuletzt war es ihr wichtiger zu helfen, als Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Drei Tage, bevor die Wohnung meiner Mutter zwangsgeräumt werden sollte, rief sie mich an. Als sie mir davon erzählte, klang sie unbeteiligt, fast gut gelaunt. So, als würde es nicht ihr widerfahren, so, als hätte sie nur in der Zeitung davon gelesen. Nicht einmal das. Weder Selbstmitleid noch Mitleid lagen in ihrer Stimme.

Sie klärte mich darüber auf, was nun passieren würde, so, als würde sie mir ein altes Familienrezept für schlesische Mohnklöße durchgeben. In gewisser Weise war es ein altes Familienrezept, die Wohnung zu verlieren.

Niemand hatte etwas geahnt. Schließlich hatte sie ein paar Jahre zuvor noch einen sechsstelligen Betrag auf dem Konto gehabt. Vielleicht war sie selbst überrascht. Denn ein Jahr lang hatte sie bereits keine Briefe mehr geöffnet. Morgens erwachte sie mit Panik und Todesangst. Durch den Tag schaffte sie es nur mit Alkohol. Hinzu kam eine schwere Depression, die sie außer Gefecht setzte.

Ich lebte damals in Wien. Einen Tag vor der Räumung fuhr ich zu ihr nach München. Gemeinsam gingen wir durch ihre Wohnung. Auch ich war unbeteiligt, fühlte wenig bis nichts. Wir fühlten nicht mehr viel, sprachen nicht mehr viel. Schon immer herrschte eine seltsame Sprachlosigkeit in unserer Familie vor. Das Leben wurde gelebt, nicht besprochen.

Ich fragte meine Mutter, ob es Dinge gebe, die ich aufbewahren soll. Alte Fotoalben? Den Schmuck ihrer Urgroßeltern? Kinderzeichnungen? Sie schüttelte den Kopf. Das werde alles eingelagert. Jetzt sitze ich in der Lagerhalle und schüttele den Kopf.

Am Tag der Zwangsräumung saß ein Mann in ihrer Küche. Er, groß, alt, mit einem hängenden Gesicht, das an gewisse Hundearten erinnerte, stellte sich vor. Meine Mutter hatte nun einen rechtlichen Beistand. Doch sie behandelte ihn, als sei er Möbelpacker eines Umzugsunternehmens, das sie selbst beauftragt hatte. Es sei sowieso an der Zeit für einen Ortswechsel, sagte sie kühl, während sie sich einen Kaffee in der Küche zubereitete, die gleich nicht mehr ihre sein würde.

Sie lachte. Dieses Lachen hat sich eingebrannt. Der Betreuer, ein routinierter Verwalter menschlichen Elends, wirkte im Kontrast zu ihr umso ernster.

Was mir sonst noch in Erinnerung geblieben ist von diesem Tag: wie scheußlich ihr Kaffee schmeckte. Nach Sand und nach verbranntem Gummi. Ich mochte ihn trotzdem. Meine Mutter trank immer zu starken Instant-Kaffee. Wenn ich heute einen halben Löffel zu viel Pulver dieses Kaffees in die Tasse gebe und mit Wasser aufgieße, kehre ich für einen Moment zurück in ihre Küche, zu ihr.

Später schritt die Gerichtsvollzieherin durch die Wohnung. Sie war auf der Suche nach Dingen, die noch zu Geld gemacht werden konnten, um die Schulden meiner Mutter zu tilgen: ein Klavier, auf dem meine Mutter nie spielte; ein alter Schreibtisch, an dem sie nie saß; eine Nähmaschine, mit der sie nie nähte. Der Erlös würde gerade mal reichen, um eine Monatsmiete zu begleichen.

Dann machten wir uns an die Arbeit. In einem Zimmer sammelten wir den Müll, im anderen Dinge von persönlichem Wert. Meine Mutter erklärte ihrem Betreuer die Aufteilung. Ein Entrümpelungsunternehmen sollte den Müll entsorgen und die persönlichen Gegenstände einlagern. Es war nicht sonderlich kompliziert, dazu eine Zwei-Zimmer-Wohnung.

Ich weiß nicht, wer die Zimmer verwechselte, der Betreuer, die Entrümpler oder meine Mutter selbst. Fotos meiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, Zeugnisse, alte Liebesbriefe und Lebensläufe, alles landete in der Müllverbrennungsanlage.

Am Abend gingen meine Mutter und ich eine Pizza essen beim Italiener, der sich im Erdgeschoss ihres Hauses befand. Den Besitzer kannte sie gut. Händeschütteln, Vorname, Small Talk, Grappa aufs Haus. Ich fragte nach der Rechnung und sie nach dem Zweitschlüssel, den sie über die Jahre im Tresor des Restaurants aufbewahrt hatte. Sie werde ihn nun zu sich nehmen, sagte sie.

Der Betreuer war später nicht mehr zu erreichen. Seine Nummer existierte nicht mehr. Auch unter seiner Adresse war er nicht zu finden. Wie ein Geist, der kam, um diese Verwechslung zu orchestrieren. Die Entrümplungsfirma sagte am Telefon: So etwas passiert häufiger.

Eingelagert wurden sieben Kartons voller Müll, vor denen ich nun, sieben Jahre später, sitze. Das Aussortierte wurde zum Aufbewahrten. Arbeiterfamilien, heißt es, haben keine Geschichte, keine Traditionen, keine mündlich überlieferten Legenden. Von den Erinnerungen an unsere Familie war nichts übrig. Das Erinnerungsvermögen kann nicht von der Vorstellungskraft getrennt werden. Sie gehen Hand in Hand. Auf die eine oder andere Weise sind wir alle Erfinder unserer Vergangenheit, schreibt Siri Hustvedt.[3] Noch erfinderischer muss man werden, wenn man keine Vergangenheit mehr hat.

Meine Mutter begab sich in die Klinik. So wie ihre Mutter. Dort machte sie einen Entzug und ließ sich wegen ihrer Depression behandeln. Auch so etwas passierte häufiger.

2

Weil ich bereits in München war, beschloss ich damals, auch meinen Vater zu treffen. Er wohnte nicht dort, sondern auf dem Land, in einer kleinen Wohnung am Rand der Alpen. Meistens trafen wir uns aber in München, das war einfacher für ihn und für mich. Noch einfacher war es, sich gar nicht zu treffen.

Nun aber standen wir voreinander, in einer Münchner Straßenbahn, Linie 18. Die ersten warmen Tage des Jahres, die ersten Sommerkleider und T-Shirts. Mein Vater aber trug einen alten, zu großen Mantel.

Ich betrachtete ihn, so genau ich konnte, ohne dass er es merken würde, und fragte mich, ob ich eines Tages aussehen würde wie er. Auf einem Kinderfoto von ihm, das ich im Kopf habe, sieht er bereits aus wie ein Erwachsener. Die Schwermut späterer Jahre steht schon in diesem jungen Gesicht geschrieben. Ein großer, nachdenklicher Kopf, der auf einem Kinderkörper sitzt. Als er nun vor mir stand als Erwachsener, sah er jedoch aus wie ein Kind, wie ein uraltes Kind. Wie hatte er das gemacht? Wie war ihm diese Verjüngung gelungen? Ein mildes Lächeln, Augen, die noch blicken konnten, als würden sie alles zum ersten Mal sehen. Aber er sah aus wie eines jener Kinder, die von anderen Kindern gequält werden.

Straßenbahn, Linie 18, Sonne, Sommerkleider, T-Shirts, dazwischen der Fremde im Mantel. Er schaute aus dem Fenster. München zog an uns vorbei: Sendlinger Tor, Müllerstraße, Fraunhoferstraße. Dieses Gesicht, das unschuldig aus Fenstern blickt, trug mein Vater, seit ich ihn kenne. Immer dieses Gesicht, immer dieser Blick in die Ferne. Wegen dieses realitätsfernen Gesichts hatte meine Mutter ihn verlassen, glaube ich. Lange sagte er nichts, dann, als ich nicht mehr damit rechnete, dass er überhaupt noch etwas sagen würde, flüsterte er etwas. Ich verstand ihn erst nicht.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich.

»Ich gehe jetzt in Rente«, wiederholte er.

»Warum?«, fragte ich.

»Warum?«, fragte auch er.

Wir wurden uns immer ähnlicher. Doch bei ihm war es ein Vorwurf. Warum fragst du mich das? Er war erst Ende fünfzig, darum fragte ich.

Wir sagten nicht, was wir gerne gesagt hätten, das taten wir nie. Wir waren aber auch nie zufrieden mit dem, was wir stattdessen sagten. Es blieb an der Oberfläche. Darunter sammelte sich, wie Staub unter einer alten Couch, das Nicht-Gesagte.

Doch wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, weiß, daß die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen.[4]

Das Schwätzen meines Vaters: Er schob seine Nagelhaut mit den Fingernägeln zurück. Der Mund lächelte, die Augen gaben sich Mühe gleichzuziehen. Auch der Bauch sprach. Sein Reizmagen machte ihn zum Bauchredner, als würde sein Körper für ihn sprechen. Wann immer ihm das Leben auf den Magen schlug, bekam er Probleme. Auch der Rücken hatte Mitspracherecht. Genauso seine Depression. Auch sie sprach Bände. Manchmal hörte ich monatelang, manchmal ein ganzes Jahr nichts von ihm. Manchmal vergaß ich, dass er überhaupt noch lebte.

Er litt unter melancholischen Schüben, als ob ihm jemand eine Pferdedosis Betäubungsmittel verabreicht hätte. Wochenlang lag er dann im Bett, aß nichts mehr, trank nichts mehr, wusch sich nicht. Phasen der Einkehr nannte er es. Schwere chronische Depression nannten es die Psychiater. Wie bei seinem Vater. Dass er wochenlang in einer Klinik gewesen war, fiel in einem Nebensatz.

München im Frühling, der Vater in Frührente. Wir stiegen aus der Straßenbahn und spazierten zum Gärtnerplatz. Dort setzten wir uns auf eine Bank. Mein Vater betrachtete die perfekt renovierten Häuserfassaden, die Wasserfontäne und das angelegte Blumenbeet. Er kannte die Namen aller Pflanzen und Bäume, hatte sie mir aber nie beigebracht. Inzwischen kannte ich selbst einige davon: Hyazinthen, Ranunkeln, Kirschblüten.

Mit einem Mal erzählte mein Vater mir, dass er aufgehört habe, seine Biografie zu schreiben. Er schrieb seine Biografie? Weshalb? Maschinenschlosser schrieben in der Regel keine Biografien. Das Schreiben habe er nun aufgeben müssen. Denn seit meiner Geburt könne er sich an nichts erinnern. Beiläufig erwähnte er es. Morgen soll es regnen, und übrigens: Mit deiner Geburt ist meine Erinnerung erloschen. Ein halbes Leben, vergessen. Und all die Leben davor. Denn als Baby war er zur Adoption freigegeben worden. Auch er hatte keine Familiengeschichte. Nur an die ersten 30 Jahre seines Lebens erinnerte er sich noch. Schwierige Jahre waren das. Ein 30-jähriger Krieg.

Der Medizin ist diese Form der Amnesie unbekannt. Was steckte hinter seinem Vergessen? Wünschte er, ich wäre nie geboren worden? Fühlte er sich bedroht? Es ist ein uraltes Motiv der Mythologie und der kollektiven Erinnerung: Die Geburt des Sohnes ist das Ende des Vaters. Odysseus, König Laios und Darth Vader wären gute Zeugen, hätten ihre Söhne sie nicht ermordet.

In seinen Aufzeichnungen, die er mir später schickte, tauchte mein Name nicht auf. Der letzte Eintrag handelte von einem Pferd. Kurz darauf kam ich zur Welt, doch das war nicht mehr beschrieben.

Vater und Sohn sitzen auf einer Bank. Der Sohn ist älter als der Vater. Es ist nicht die Haut, nicht der Körper, dennoch. Vor ihnen ein Blumenbeet von grausamer Schönheit, inmitten einer Stadt von grausamer Schönheit. Der Vater spricht selbstvergessen vor sich hin. Es fällt ein Satz, der den Sohn erschüttert. Der Vater tut es nicht mit Absicht, sondern aus Naivität, das ist das Schlimmste.

Meine Familie zerfiel. Wir hatten keine Geschichte mehr, nur Leere. Es schmerzte mich. Nein, das stimmt nicht. Wenn ich genau bin, ehrlich bin, dann muss ich schreiben: Ich fühlte nichts. Es war mir egal. Sie hätten sterben können, und ich hätte es hingenommen wie einen Wetterumschwung. Ich weiß nicht, warum, aber so war es.

Nun sitze ich im Lagerabteil, inmitten von Kartons und Briefen, suche im Müll nach dem Überrest einer unerzählbaren Geschichte.

3

Der erste Mensch, von dem ich denke, dass er verrückt ist, ist meine Deutschlehrerin. Sie trägt mit der Schere abgeschnittene Krawatten. Das tut sie, damit sie ihr nicht in die Suppe hängen. Dabei isst sie nie Suppe, sondern immer nur Döner. Darin seien alle Nährstoffe und Vitamine enthalten, die der Mensch zum Leben braucht, behauptet sie. Dazu liest sie Nietzsche und sagt, dass darin alle Gedanken enthalten seien, die der Mensch zum Leben braucht. Unter unserer Schule, auch das sagt sie, führe ein unterirdischer Tunnel bis nach Istanbul. Als sie dort eines Nachts überfallen wird, fragen die Diebe sie, ob sie allein sei. Nur der Teufel reist allein, ist ihre Antwort. Sie ist speziell. Vielleicht sogar skurril. Sie ist meine Lieblingslehrerin. Ihretwegen sagen wir nicht länger: Du bist doch nicht mehr ganz richtig im Kopf. Wir sagen: Deine Krawatte ist doch abgeschnitten. Nur verrückt ist meine Deutschlehrerin nicht.

Meine Großmutter trägt keine abgeschnittenen Krawatten, sondern Inkontinenzeinlagen, kann mit ihren Zähnen keine Döner mehr essen, sondern nur noch Suppe, glaubt nicht an Nietzsche, sondern an Gott. Inzwischen ist sie eine arme Alleinreisende. Eigentlich befindet sich ihr Zimmer direkt über meinem. Doch sie lebt in einer eigenen Welt. Ein seltenes Talent: Sie sieht, was sonst niemand sieht, und hört, was sonst keiner hört. Ab und zu verschwindet sie, so als würde ein unterirdischer Gang von unserem Haus zur Psychiatrie führen. Ich habe Angst vor ihr, fürchte, dass ihr Wahnsinn auf mich überspringen könnte, wenn sie geistesabwesend im Bad auftaucht und einfach zu pinkeln beginnt.

Im Biologieunterricht nehmen wir die Vererbungslehre durch. Die Nachkommen von Meisen sind Meisen. Die Nachkommen von Kürbissen sind Kürbisse. Was sind dann die Nachkommen meiner Großmutter? Ich mache eine erste Hochrechnung.

Alkoholabhängigkeit: zu etwa fünfzig Prozent genetisch beeinflusst.

Tablettenabhängigkeit: gehäuftes Auftreten innerhalb der Familie.

Depression: etwa dreifach erhöhtes Erkrankungsrisiko, wenn Verwandte ersten Grades bereits erkrankt sind.

Bipolare Störung: zu etwa achtzig Prozent durch Erbanlagen bestimmt – eine der höchsten Erblichkeiten aller psychiatrischen Erkrankungen.

Schizophrenie: Das Risiko, zu erkranken, steigt exponentiell mit dem Grad der genetischen Verwandtschaft.

Psychopathie: Etwa fünfzig Prozent der Unterschiede in psychopathischen Merkmalen sind auf genetische Faktoren zurückzuführen.

Es sieht nicht gut für mich aus. Meine Großmutter ist nicht die Erste in meiner Familie, die in der Psychiatrie gelandet ist. Auch der leibliche Vater meines Vaters hat sein halbes Leben dort verbracht. Darum stelle ich mir bald die Frage: Wann bin ich dran?

Sobald ich die Schule abgeschlossen habe, flüchte ich aus München, aus diesem vorbelasteten Haus, um nicht selbst verrückt zu werden. Ich ziehe nach New York. Dabei habe ich nur einen Koffer und meine DNA.

Wochenlang suche ich nach einer Wohnung. Nicht selten wirken die Vermieter selbst verrückt. Am Union Square treffe ich einen erfolglosen Schauspieler. Erst zeigt er mir unter Tränen alte Fernsehserien, in denen er mitgespielt hat. Dann zeigt er mir mein Zimmer: fünf Quadratmeter in einer Halle, abgetrennt mit alten Holzschränken, darin ein Feldbett. Im West Village treffe ich einen älteren Mann, der mir ein Zimmer mit Blick über ganz Manhattan anbietet. Es ist spottbillig. Dafür sind in der gesamten Wohnung Porzellanpuppen drapiert, Hunderte, Tausende, die mit ihren schwarz schimmernden Augen in meine Seele zu blicken scheinen.

Ich finde eine Wohnung in Brooklyn mit drei normal wirkenden Mitbewohnern. Für jede Porzellanpuppe aus der vorherigen Wohnung gibt es hier eine Kakerlake. Das Erste, das mein neuer Mitbewohner sagt, während er sich in Unterhose ein Stück Fleisch brät: If you do drugs, share ’em. Wir teilen auch sonst alles: Auch hier habe ich kein eigenes Zimmer, sondern nur einen kleinen, mit einem Vorhang abgetrennten Bereich.

Ich will Normalität, also suche ich mir das Normalste der Welt: einen Bürojob. Ich kaufe mir zwei billige Anzüge, schwarz und grau, dazu zwei Krawatten, die ich nicht abschneide.

Jeden Tag um sieben Uhr morgens mache ich mich bereit. Hinter dem Vorhang ziehe ich einen der Anzüge an, binde die Krawatte. Dann stehe ich in der L-Train, stelle mir die Gedanken der anderen Menschen vor. Ich versuche zu denken, was der Rest der Menschheit denkt, mich zu bewegen, wie die anderen sich bewegen. Abends laufe ich fünfzig Blocks durch Manhattan, gehe und gehe, bis die Sonne hinter den Hochhäusern verschwindet.

Jede Nacht bringt mein Mitbewohner eine andere Frau mit nach Hause. Ich liege allein im Bett und höre mit. Schlafmangel kann zu Halluzinationen führen. Fehlende Liebe auch. Noch dazu geht mir das Geld aus. Auch Armut soll krank machen. Mein Lebensstil ist nicht gesund. Ich liege wach, höre das Stöhnen. She is losing her mind. He is losing his mind. I am losing my mind. Wir teilen alles, selbst das Verrücktwerden.

Althochdeutsch: firrucken.

Mittelhochdeutsch: verrücken.

An eine andere, falsche Stelle bringen.

Jemanden aus der Fassung bringen.

Jemandem die Krawatte abschneiden.

New York bringt mich aus der Fassung. Eines Nachts sitzt eine Kakerlake auf meiner Brust, und wir blicken uns lange an. Ich denke: Vielleicht bin ich an der falschen Stelle, am falschen Ort.

Von meinem letzten Geld fliege ich nach Paris. Meine Wohnung finde ich am Anschlagbrett im Supermarkt. Sie ist nicht größer als ein Schuhkarton. Auf dem Balkon kann ich zwar nur mit einem Bein stehen, aber dafür blicke ich auf eine schöne Kirche. Im Goutte d’Or, dem Goldviertel, ist immer jemand auf der Straße. Auch hier treibe ich mich herum zwischen den Märkten, kleinen Bars und Läden, die nur Koriander und Minze verkaufen und bis unter die Decke stapeln. Kleine Klostergärten inmitten der Großstadt. Doch die Decke meiner Wohnung senkt sich. Bilde ich mir das ein? Ich messe nach mit einem Zollstock. Die schon winzige Wohnung wird immer kleiner. Man wird nervös in der Stadt. Die Stadt macht mich nervös.[5] Ich will schon Kräuter stapeln, um die Decke zu stemmen. Eine Firma zieht Sprieße ein. Ich flüchte, bevor mir wirklich die Decke auf den Kopf fällt.

Ich ziehe um nach Wien – angeblich die Stadt mit der höchsten Lebensqualität. Wer gut lebt, hat vielleicht weniger Grund, den Verstand zu verlieren, rede ich mir ein. Vielleicht steckt auch mehr hinter dieser Entscheidung.

Mein Vater und die Psychoanalyse sind in Wien geboren. Ich kenne beide nicht besonders gut. Ich schreibe mich für ein Studium der Theaterwissenschaft ein und weiß nicht, weshalb.

Die Einführungsveranstaltung hält eine Professorin, Tweed, Silberbrille, graue Locken, eine Karikatur ihrer selbst. Das hier sei kein Studium, sagt sie, sondern eine Fehlentscheidung. Hier werde man nicht zum Schauspieler, nicht zur Regisseurin ausgebildet. Nicht Coppola. Nicht Belmondo. Dann folgt ein langatmiger Vortrag über die Funktion der Maske im antiken Theater.

Nach den Vorlesungen streune ich durch die Stadt und beobachte Menschen. Stundenlang kann ich das, sitzen, schauen, staunen. Ich betrachte, was geschieht, wenn nichts geschieht. Meine Augen richte ich am liebsten auf das Belanglose. Ich habe das Gefühl, dass dort etwas verborgen liegt, in den Nebensächlichkeiten, die ungesehen vorbeiziehen.

Bald mischen sich wieder andere Gedanken dazwischen: Stadtbewohner haben ein vierzig Prozent höheres Risiko, psychisch zu erkranken, als Landbewohner. Das Risiko für Schizophrenie ist dreimal erhöht. Also ziehe ich an den Stadtrand. Dort ist es ruhig, aber nicht zum Verrücktwerden ruhig, nicht die Ruhe der Inseln und Klöster. Auch die Natur soll psychischen Erkrankungen vorbeugen, also verbringe ich viel Zeit in den Steinhofgründen, dem Ottakringer Wald, den Weinbergen bei Nußdorf.

Ich wohne im Altbau, günstig und heruntergekommen, in einer ehemaligen Kofferfabrik. Die Küche befindet sich im Flur, die Dusche in der Küche, die Toilette auf dem Gang. Alles dort ist an der falschen Stelle. Im Winter droht mein Urin zu gefrieren, also pinkle ich immer öfter in das Küchenwaschbecken. Meine Hände wasche ich schon immer etwas zu lange. Ich entwickle Anflüge magischen Denkens, darf nicht mehr auf die Ritzen im Gehweg treten, klopfe ständig auf Holz. Zwang ist gefrorene Angst. Doch dieser kleine Zwang gibt mir die Illusion von Kontrolle zurück. Aber was will ich kontrollieren?

Eigentlich beginnt mein Leben erst, doch ich lebe schon jetzt wie ein Pensionist. Auf meinem Stockwerk befindet sich nur eine andere Wohnung, viermal so groß wie meine. Darin wohnt ein Mann, viermal so alt wie ich, der den ganzen Tag mit sich selbst spricht. Nie bekomme ich ihn zu Gesicht. Doch ich rieche ihn, denn er raucht den ganzen Tag. Der Qualm zieht in meine Wohnung. Und ich höre ihn. Die Wände sind dünn. Wie falsch adressierte Briefe landen seine Selbstgespräche bei mir. Es stört mich nicht. Mir gefallen seine Gedanken. Sie sind interessanter als meine. Ich beginne sie aufzuschreiben und meine Ideen durch seine zu ersetzen. Ein kleines Notizbuch lege ich an.

Einmal, als ich die Wohnung verlasse, klopfe ich aus Aberglauben an meine Holztür. Der Nachbar missversteht mein Klopfen, öffnet und bittet mich herein. Über seiner Tür hängt ein Spruch: Im Jahr des Heils 2001, im einundsechzigsten Lebensjahr, am neunzehnten Tag des Mai, meinem Geburtstag, habe ich mich, seit Langem der Stadt, den Menschen und der Arbeit müde, in voller Schaffenskraft in den Schoß der gelehrten Musen zurückgezogen, wo ich in Ruhe und aller Sorgen ledig die Tage verbringen werde, die mir noch zu leben bleiben.[6]

Seine Wohnung wirkt wie eine Mischung aus Bibliothek, Museum und Altenheim. Ich sehe stapelweise Bücher, die wie Burgmauern um ein Pflegebett hochgezogen sind. Ich denke, damit hält er sich auch etwas vom Leib.

Er starrt mich an mit Augen wie Bahnhofsuhren, redet und redet, ich höre zu und schreibe mit. Auch zu zweit bleiben es Monologe. Der Nachbar lebt nur in seinem Kopf. Sein Körper scheint nur dazu gemacht, Bücher aufzuschlagen. Eigentlich bräuchte er nur Hände, Augen und Gehirn.

Wenn ich eines seiner Bücher etwas zu lange anschaue, zweieinhalb Sekunden etwa, dann drückt er es mir in die Hand, damit ich es lese. So komme ich zu den Büchern.

Von da an besuche ich ihn regelmäßig. Ich beneide ihn um seine Gedanken und um seine Toilette, die sich in der Wohnung befindet. Als ob ich so meinem Schicksal entgehen könnte, beginne ich damit, mich mit Psychologie zu beschäftigen. Bald habe ich alles gelesen, was ich beim Nachbarn finde. Freud bis Kristeva, Skinner bis Linehan, Watzlawick bis Satir. Als man noch an Magie glaubte, hätte man gesagt: ein Abwehrzauber. Als man noch an die Psychoanalyse glaubte: ein Abwehrmechanismus.

»Warum interessiert dich das so?«, fragt er mich, und ich sage irgendetwas, nur nicht die Wahrheit. »Lies lieber Romane«, sagt er, auch weil er mich immer wieder mit Freud erwischt. »Die Schriftsteller können das besser. Freud hat alles nur geklaut.«

Dann erzählt er mir von seinem Lieblingsbaum. Halb Orange, halb Zitrone. In der Orangerie stehe dieser Baum. Die Literatur, das seien die Zitronen, die Psychologie die Orangen. Beides eine Familie, beides hänge am selben Stamm. Aber die Zitrone sei botanisch gesehen älter. Dann ist da noch die Philosophie, wenn man so will die Erde, auf der beides wächst. Oft redet der Nachbar von Bäumen, Früchten und Pflanzen, dabei hat er nicht einmal einen Balkon.

Er drückt mir Dostojewski, Bachmann und Hustvedt in die Hand. Das ist eine Falle. Schriftsteller sind eine Hochrisikogruppe. Ich will nichts mit ihnen zu tun haben. Öfter als alle anderen leiden sie unter psychischen Krankheiten und Alkoholismus und nehmen sich das Leben. Ich gebe die Bücher ungelesen zurück.

Um Heizkosten zu sparen und nicht allein zu sein, verbringe ich die Winter im Kaffeehaus. Es gibt gute und schlechte Kaffeehäuser. Das Kaffeehaus, in das ich gehe, ist ein in die Jahre gekommenes, staubiges, stinkendes, mieses Lokal mit fünfzig Jahre alten Gardinen, noch älterem Teppich, verwaisten Billardtischen, wo tagsüber andere Pensionisten durch fleckige Brillen schauen, eine Zeitung vor sich ausbreiten und nicht lesen, den Mittagsteller gabeln und irgendwann von Kaffee zu Bier oder weißem Spritzer übergehen. Kurz: Es ist ein gutes Kaffeehaus.

Ich bestelle eine Melange und trinke sie so langsam wie möglich. Die Kellner, Unfreundlichkeit ist ihre Würde, scheinen froh, dass ich weiter keine Arbeit mache. Im November bestelle ich eine Melange, im März zahle ich und gehe.

So komme ich unter Menschen. Der Nachbar schickt mich immer wieder zu ihnen, sagt, ich solle nicht wie er werden. Ich solle mich nie von den Menschen abwenden, nie gegen den Strich leben, sonst würde ich irgendwann noch auf die Idee kommen, goldene Schildkröten zu züchten. Ab und zu überrede ich ihn, mit mir vor die Tür zu kommen. Dann gehen wir in sein Kaffeehaus. Der Kellner begrüßt den Nachbarn als »Herr Doktor«, führt ihn zu seinem Stammplatz. Einem Arzt kann ich mich anvertrauen, denke ich. Eines Tages erzähle ich ihm von meiner Furcht, verrückt zu werden. Der Nachbar lacht nur. Wir zeichnen einen Stammbaum und überschlagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit mich welches Schicksal ereilen könnte: Schizophrenie? Sucht? Depression? Bipolare Störung? Mein Stammbaum ist befallen von so ziemlich jeder Plage, die in den Bibeln der Psychiatrie zu finden ist. In wessen Fußstapfen soll ich treten? Welche verirrte Linie weiterführen? Die Depression meines Vaters? Die Schizophrenie meines Großvaters? Die Todessehnsucht meiner Großmutter? Die Abhängigkeit meiner Mutter?

4

Meine Mutter war eine begnadete Schauspielerin. Doch sie spielte nicht für andere, sondern für sich selbst.

Ihr Leben begann im Jahr 1979 in München. Geboren wurde sie siebzehn Jahre vorher, doch über diese siebzehn Jahre sprach sie lange Zeit nicht.

1979 war meine Mutter hochschwanger. Ihre Mutter: bipolar und psychotisch. Ihr Vater: todkrank.

Der Vater war wie Fels. Er freute sich auf sein Enkelkind, hatte schon einen Kinderwagen besorgt, ein Zimmer hergerichtet. Als das Kind auf der Welt war, landete er wegen Herzproblemen auf der Intensivstation. Eigentlich ein geduldiger Mann, wartete er nicht mehr mit dem Sterben, bis er seinen Enkel das erste Mal zu Gesicht bekommen konnte. Ankunft und Abreise waren getaktet wie im Schichtdienst. Das Kind hatte den Großvater abgelöst.

Die Mutter meiner Mutter war wie Wasser. Ständig in Bewegung, ständig den Zustand wechselnd. Heute Dampf, morgen Eis. Heute manisch, morgen halb tot. Gemeinsam wohnten sie in einem riesigen Haus, wo noch die Dinge ihres kürzlich verstorbenen Vaters herumstanden: seine Schuhe, seine Akten. Überreste seiner Lebendigkeit.

Meine Großmutter versuchte, meiner Mutter das Baby wegzunehmen, um es selbst zu adoptieren. Dem Jugendamt erzählte sie, ihre Tochter sei drogensüchtig und Mitglied einer Sekte. Vielleicht waren das schon Vorboten der Paranoia, an der meine Großmutter später leiden würde.

Das Jugendamt nahm meiner minderjährigen Mutter das Kind nicht weg, sondern stellte ihr einen gesetzlichen Vormund, um sie vor meiner Großmutter zu schützen. Mit dem Frischgeborenen zog sie schließlich in ein Frauenhaus. Es muss etwa zu dieser Zeit gewesen sein, als meine Mutter eine Telefonzelle betrat. Das Baby, das sie sich mit einem Tuch um die Brust gewickelt hatte, schrie nicht. Mein Bruder schrie nie, als habe er meine Mutter schonen wollen.

Sie warf eine Handvoll Münzen ein, wählte die Nummer der Deutschen Journalistenschule und fragte, wie man Journalistin wird. Das Geld reichte nicht, um sich all die Gründe anzuhören, warum sie niemals eine werden würde.

Laut Testament erbte meine Mutter nichts von ihrem Vater. Das war nicht weiter verwunderlich, war das Testament doch datiert auf das Jahr 1959. Damals war meine Mutter noch nicht auf der Welt gewesen. Somit war ihre Mutter Alleinerbin. Ein späteres Testament fand man nicht. Vermutlich hatte meine Großmutter es verschwinden lassen.

Auch der Vater des Kindes war meiner Mutter keine Hilfe. Er hieß Garibald, das klang zwar stattlich, fast adelig, doch alle nannten ihn nur Gary. Das passte besser. Gary hatte nur ein Auge, mit dem er nur das Schlechte sah. Das andere hatte er in einer Barschlägerei verloren. Er sei, so die Sage, verwechselt worden, habe einen Schlagring ins Gesicht bekommen. Nun saß eine kleine Glaskugel in seiner Augenhöhle. Als Gary auf die Knie sank, schwankend, weil er sich nie an die neue Raumwahrnehmung gewöhnt hatte, und meiner Mutter einen Antrag machte, lachte sie ihn nur aus. Gary fand nie wirklich ins Leben, er war ein Unglücksgeschöpf. Er trank und rauchte für zwei und starb zu früh, so wie die meisten seiner Geschwister. Lungenkrebs. Er war vielleicht 43 oder 44 Jahre alt. Ein gutes Herz soll er gehabt haben. Einmal habe ich ihn gesehen, bei einem Besuch in Wien, wo er lebte. Viel öfter hatte mein Bruder seinen Vater auch nicht zu Gesicht bekommen.