Bound - Tödliche Erinnerung - Cynthia Eden - E-Book
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Bound - Tödliche Erinnerung E-Book

Cynthia Eden

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Beschreibung

Ein knisterndes Versteckspiel zwischen unwiderstehlicher Leidenschaft und tödlicher Gefahr.

Wenn niemand mehr weiterweiß, kommt das "Last Option Search Team" zum Einsatz. Gabe Spencer, Ex-SEAL und Firmengründer von LOST, hat in seinem Leben schon viel Ungewöhnliches gesehen. Aber als er auf die atemberaubende Eve trifft, bringt ihn das ganz schön aus dem Konzept: Die mysteriöse Frau ist dem letzten Opfer eines Serienmörders wie aus dem Gesicht geschnitten ...

Eve wacht im Krankenhaus in Atlanta auf und kann sich an nichts erinnern. Doch als sie ihr eigenes Gesicht in der Zeitung wiedererkennt, will sie die Wahrheit herausfinden. Niemals hätte sie vermutet, dass Gabe ihr dabei helfen wird. Schon bald werden die beiden von der unglaublichen Anziehungskraft zwischen ihnen überwältigt. Aber sie dürfen sich von ihren Gefühlen nicht ablenken lassen, denn der Ladykiller wird nicht ruhen, bis auch sein letztes Opfer gefallen ist ...


Hol dir jetzt den packenden Romantic Suspense Liebesroman der New York Times Bestseller Autorin Cynthia Eden und tauche ein in eine Geschichte zwischen erotischer Spannung und atembraubendem Thrill!

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Seitenzahl: 458

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumPrologKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnEpilog

Über dieses Buch

Wenn niemand mehr weiterweiß, kommt das »Last Option Search Team« zum Einsatz. Gabe Spencer, Ex-SEAL und Firmengründer von LOST, hat in seinem Leben schon viel Ungewöhnliches gesehen. Aber als er auf die atemberaubende Eve trifft, bringt ihn das ganz schön aus dem Konzept: Die mysteriöse Frau ist dem letzten Opfer eines Serienmörders wie aus dem Gesicht geschnitten …

Eve wacht im Krankenhaus in Atlanta auf und kann sich an nichts erinnern. Doch als sie ihr eigenes Gesicht in der Zeitung wiedererkennt, will sie die Wahrheit herausfinden. Niemals hätte sie vermutet, dass Gabe ihr dabei helfen wird. Schon bald werden die beiden von der unglaublichen Anziehungskraft zwischen ihnen überwältigt. Aber sie dürfen sich von ihren Gefühlen nicht ablenken lassen, denn der Ladykiller wird nicht ruhen, bis auch sein letztes Opfer gefallen ist …

Über die Autorin

New York Times Bestsellerautorin Cynthia Eden schreibt düstere Romantic Suspense und sexy Paranormal-Romance-Romane.

Sie gehörte bereits drei Mal zu den Finalisten des RITA® Award – sowohl in den Kategorien Romantic Suspense als auch Paranormal Romance. Seit 2005 ist sie Vollzeitautorin und hat bislang über 70 Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht.

CYNTHIA EDEN

BOUNDTÖDLICHE ERINNERUNG

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Neumann

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by Cindy Roussos

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Broken

Originalverlag: Avon Books

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Natalie Röllig

Lektorat/Projektmanagement: Rena Roßkamp

Übersetzung: Sabine Neumann

Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © Shutterstock: Alina G | Volodymyr Tverdokhlib

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3436-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Sie roch das Meer und hörte das Rauschen der Brandung. Über sich sah sie den Himmel, so blau und klar, doch sie konnte sich nicht bewegen.

Seit Stunden spürte sie ihren Körper nicht mehr. Zuerst war die Taubheit ein Segen gewesen. Der Schmerz sollte einfach nur aufhören – und das hatte er getan. Sie hatte längst aufgehört zu schreien. Was brachte das schon? Es würde niemand kommen, um sie zu retten.

Über ihr kreisten schreiende Möwen. Sie wollte nicht, dass sie zu ihr herunterkamen. Was, wenn sie anfingen, nach ihr zu hacken? Bitte lasst mich in Ruhe.

Ihr Mund war trocken und voller Sand. Getrocknete Tränen verklebten ihre Wangen.

»Warum bist du noch am Leben?« Die verwunderte Stimme kam von der Seite. Er war immer noch da und beobachtete sie – seit Stunden. »Warum gibst du nicht auf? Du weißt selbst, dass du einfach nur deine Augen schließen und loslassen willst.«

Es stimmte. Sie wollte die Augen schließen und so tun, als wäre das alles nur ein schlechter Traum. Ein Alptraum. Wenn sie die Lider wieder öffnete, wäre sie an einem anderen Ort. Einem Ort ohne Monster.

Er kam näher, und sie spürte, wie etwas Scharfes dicht neben ihr in den Sand fiel. Ein Messer. Er hatte Spaß daran, es zu benutzen. Es schnitt in ihre Haut, aber dann hob er es auf und drückte ihr die Klinge an die Kehle.

»Ich kann es beenden. Hier und jetzt. Du musst nur was sagen …« Seine Worte klangen dunkel. Verführerisch. »Sag mir, dass du sterben willst.«

Die Brandung war gefährlich nahe. Sie hatte das Meer immer geliebt. Nie hatte sie erwartet, so zu sterben. Sie wollte nicht so sterben. Noch immer flossen die Tränen. Sie vermischten sich mit dem Blut.

»Sag es mir«, forderte er. »Sag mir, dass du sterben willst.«

Sie schüttelte den Kopf. Denn sie wollte den Tod nicht. Selbst nach allem, was er ihr angetan hatte, wollte sie weiterleben.

Sie würde nicht aufgeben.

Das Messer bohrte sich in ihren Nacken. Sie stieß ein heiseres Stöhnen aus. Ihre Stimme hatte vom vielen Schreien schon vor langer Zeit versagt. Dabei waren ihre Hilferufe von Anfang an sinnlos gewesen.

Das hatte er ihr gesagt. Du brauchst es gar nicht zu versuchen, Süße. Es gibt hier nur dich und mich. Bis zu deinem letzten Atemzug.

Ihr Blut wurde eins mit dem Sand. Ihr Peiniger wirkte jetzt wütend. Oder … nein, er war immer wütend gewesen. Sie hatte es nur nicht bemerkt, nicht, bis es zu spät war. Doch sie mied seinen Blick. Was auch immer er ihr noch antat, sie würde ihn nicht ansehen.

Sie wollte sich nicht so an ihn erinnern. Genauer gesagt wollte sie sich überhaupt nicht an ihn erinnern.

Sie schaute in den blauen Himmel. Zu den kreisenden Möwen.

Ich will fliegen, Daddy. Sie war sechs gewesen, als sie das erste Mal auf die Insel gekommen war. Ich will fliegen wie die Möwen.

Ihr Vater hatte gelacht und gesagt, dass sie anscheinend ihre Flügel verloren habe.

Sie hatte mehr als das verloren.

»Ich will fliegen«, flüsterte sie.

»Zu dumm. Du fliegst nirgendwohin. Du wirst hier sterben.«

Aber nicht jetzt. Noch wartete der Tod nicht auf sie, und sie würde ganz bestimmt nicht darum betteln.

Sie sah die Möwen jetzt verschwommen durch einen Schleier aus Tränen.

Er hatte sie im Sand vergraben, ihre Wunden damit bedeckt und die Fläche um sie herum festgeklopft. Nur ihr Kopf und ein Teil des Halses ragten heraus. Die Hände waren gefesselt – zumindest glaubte er das.

Doch unter dem Sand war sie in Bewegung. Die ganze Zeit, während die Minuten so unendlich langsam vergingen und er sie immer weiter quälte.

Er ließ sich Zeit mit seinem kleinen Spielchen. Versuchte, sie in endlosen Stunden zu brechen.

Aber sie würde sich nicht brechen lassen.

Ihre Hände waren jetzt frei. Wenn er nur endlich dieses Messer von ihrem Hals wegnehmen würde …

Schließlich hob er es an und steckte es in den Sand – den Sand, der ihre linke Schulter bedeckte. Sie schrie auf, als der scharfe Schmerz ihre wohlige Taubheit durchstieß.

»Du wirst bald darum betteln«, sagte er. Dann war er wieder auf den Füßen und stakste von ihr weg. »Das tun sie alle.«

Er ließ das Messer in ihrer Schulter zurück und machte den Fehler, ihr den Rücken zuzudrehen.

Sie hatte es bis hierher geschafft … wenn sie schon sterben musste, würde sie bis zum letzten Atemzug kämpfen.

Ihre Finger waren frei. Sie musste jetzt nur noch dem schweren Sand entkommen, den er um sie herum geschaufelt hatte.

Um mich zu begraben.

Feine Risse bildeten sich im Sand, als sie sich bewegte. Die Kraft hatte sie fast verlassen, aber sie konnte das hier schaffen. Sie musste es schaffen. Wenn nicht, war sie tot.

Er drehte sich wieder zu ihr um.

Beweg dich. Sie hörte den Schrei in ihrem Kopf, und es gelang ihr, sich aufzusetzen. Mit der rechten Hand griff sie nach dem Messer. Sie riss die Klinge aus ihrer Schulter und sprang auf die Füße, während der Sand ihren Körper hinabrann.

Er schrie, brüllte sie an. Es war ihr egal. Sie sprang auf ihn zu und rammte ihm das Messer in die Brust. Ihre Blicke trafen sich. Es war das erste Mal, dass sie ihn ansah, seit das Ganze angefangen hatte.

Sie sah den Schrecken in seinen aufgerissenen Augen.

Dann fiel er, sackte in sich zusammen. Sie blieb nicht stehen, um nachzusehen, ob er noch lebte. Es war ihr egal. Sie rannte zum Wasser, zu dem kleinen Boot, das am Strand vor Anker lag. Dann stolperte sie in die Brandung hinein. Das Wasser fühlte sich eiskalt auf ihrer Haut an, und ihr Blut färbte es rot.

Sie hatte keine Angst vor Haien. Männer waren die echte Gefahr. Männer wie …

»Verlass mich nicht!«, schrie er.

Er lebte noch. Er kam hinter ihr her.

Sie fiel ins Boot. Tastete unbeholfen umher. Sie hatte ihr ganzes Leben auf und mit Booten verbracht. Sie konnte den Motor starten, egal wie sehr ihre Hände zitterten. Sie konnte ihn …

Der Motor heulte auf. Sie schob den Gashebel nach vorne. Das Boot schoss weg von dem kleinen Strand und hüpfte über die Wellen.

Er brüllte noch immer. Sie lachte. Weinte. Sah nicht zurück.

Sie würde niemals zurückblicken. Niemals. Er hatte sie nicht gebrochen. Hatte sie nicht getötet.

Sie sah hoch zu den Möwen. Ich will fliegen.

Dann rammte das Boot die Felsen. Sie hatte gewusst, dass sie da waren, aber zu spät umgelenkt. Das Boot drehte sich und hob ab.

Im nächsten Augenblick flog sie wirklich. Sie schwebte und knallte dann mit dem Gesicht voran ins Wasser. Das Wasser war so rot.

Ihr Blut.

Sie versuchte, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Sie würde nicht aufgeben.

Aber ihr Körper war müde. Die Taubheit … sie war verschwunden. Der Schmerz war zurück. Höllenqualen, die sie in jedem einzelnen Muskel spürte.

Die Oberfläche war unendlich weit weg. Sie konnte die Silhouetten der Möwen nur noch erahnen.

Ich will fliegen.

Sie versuchte zu schwimmen. An die Oberfläche zu gelangen. Sie wollte nicht sterben.

Aber sie hatte keine Kraft mehr, um zu kämpfen. Die Wellen begruben sie unter sich, und die Möwen verschwanden.

Kapitel eins

Ihr Magen zog sich zusammen, als Eve Gray zu dem imposanten Gebäude mitten auf der belebten Straße in Atlanta hinaufsah. Vom Gehweg stieg Hitze auf, die sie komplett einhüllte. Jemand rempelte sie von hinten an, und sie stolperte einen Schritt vorwärts.

Nur einen Schritt, dann fing sie sich.

Ihr Herz raste so schnell, zu schnell, und ihre Handflächen waren schweißnass. Eve wischte sie an ihrem engen Rock ab und nahm sich dann einen Augenblick, um ihre Haare glattzustreichen.

Das war er. Der Moment, auf den sie gewartet hatte. Die Leute in diesem Gebäude würden ihr entweder helfen oder …

Nein, es gibt keine andere Möglichkeit. Sie müssen mir helfen.

Eve straffte die Schultern und betrat das Gebäude durch die große Drehtür. Sie hielt den Blick geradeaus gerichtet, während sie auf den Fahrstuhl zuging. Sie musste in den vierten Stock. Zimmer 409.

Die Aufzugtür öffnete sich leise. Männer und Frauen in teuren Business-Outfits stiegen aus und ein. Eve reckte das Kinn hoch. Ihre Klamotten waren alt, abgenutzt, zu leger für dieses Bürogebäude, aber sie hatte keine große Auswahl gehabt.

Genau genommen hatte sie überhaupt keine Wahl.

Der Fahrstuhl hielt, und sie trat schnell auf den Flur des vierten Stocks hinaus. Der dicke Teppich verschluckte ihre Schritte. Dann, ein paar verzweifelte Augenblicke später, stand sie vor einer massiven Holztür. Darauf stand in goldenen Buchstaben geschrieben … LOST.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das sich einfach nur traurig anfühlte. LOST – verloren. Ja, genau das war sie. Und sie war verzweifelt darauf angewiesen, dass die Leute in diesem Büro ihr halfen.

Mit zitternden Fingern drehte Eve den Türknauf und schlich in den Raum hinein. Eine aufgeweckte Rezeptionistin sah zu ihr hoch und schenkte ihr ein Lächeln, das tiefe Grübchen auf ihre Wangen zeichnete. »Willkommen bei LOST, wie kann ich Ihnen helfen?«

Eve musste zweimal schlucken, um die Trockenheit in ihrer Kehle loszuwerden. »Ich muss mit Gabe Spencer sprechen.« Sie hatte in der Zeitung einen Artikel über ihn gelesen. Den taffen Ex-SEAL, der sich mit LOST ein neues Aufgabengebiet geschaffen hatte.

LOST … das Last Option Search Team. Dieses Büro und all seine Angestellten hatten nur eine Aufgabe – verschwundene Menschen zu finden. Nach denjenigen zu suchen, die die Behörden längst aufgegeben hatten.

Die Rezeptionistin, eine hübsche junge Frau mit sonnengebleichten blonden Haaren, schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber haben Sie einen Termin, Ma’am?«

»Nein.« Und Eve wusste, dass die aufgeweckte Dame ihr jetzt sagen würde, sie solle Leine ziehen. Also griff sie in ihre übergroße Tasche – die einzige, die sie hatte – und zog eine sorgfältig gefaltete Zeitung hervor. Sie strich sie glatt und gab sie der Rezeptionistin. »Ich muss mit Mr. Spencer hierüber reden.« Hierüber spielte auf die Mordserie an, über die die Atlanta News vor drei Wochen berichtet hatte. Sieben Frauen waren entführt worden. Gefoltert. Getötet.

Ihr Mörder war nicht gefasst worden.

»Wir … äh … wir jagen hier bei LOST eigentlich keine Serienmörder«, die Rezeptionistin machte große Augen. »Ich bin mir nicht sicher, ob Mr. Spencer da etwas für Sie tun kann –«

Die Bürotür hinter ihr öffnete sich. Bei dem leisen Geräusch drehte sich Eve automatisch um und blickte einem Mann entgegen. Er war groß, attraktiv und muskulös. Sein tiefschwarzes, volles Haar trug er immer noch in einem kurzen Militärschnitt, auch wenn er, wie Eve wusste, nicht mehr bei der Armee war.

Gabe Spencer.

Sie hatte in der Bibliothek einiges über ihn herausgefunden. Fotos gesehen. Seine Biografie gelesen, wieder und wieder. Vierunddreißig. Single. Masterabschluss in Strafrecht. Er war ein mit zahlreichen Orden ausgezeichneter SEAL, hatte die Navy aber verlassen, nachdem seine Schwester vor ein paar Jahren entführt worden war. Gabe hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Amy zu finden und sie nach Hause zu holen.

Und er hatte sie heimgebracht, allerdings nicht lebend.

Seine Augen waren von einem leuchtenden, intensiven Blau, und er richtete sie starr auf Eve. Sie wand sich unter seinem Blick. Unsicherheit machte sich in ihr breit.

Er sah gut aus. Nein, er sah fast schon zu gut aus. Auf den Fotos im Internet wirkten seine Gesichtszüge sanfter. Jetzt, wo er ihr persönlich gegenüberstand, erschien sein Kinn kantig und eckig, die Wangenknochen ausgeprägt, die Nase scharf wie eine Rasierklinge … und seine Lippen so sinnlich. Dieser Mann hatte eine intensive, kraftvolle Ausstrahlung, die den Raum komplett ausfüllte und …

Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn anstarrte. Spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten. Was ist nur los mit mir?

»Ich glaube, wir können Ihnen da nicht helfen«, sagte die Rezeptionistin und schüttelte bedauernd den Kopf.

Aber Eve beachtete sie kaum noch. All ihre Aufmerksamkeit war auf Gabe gerichtet.

Auch er fixierte sie noch immer. Sein Blick glitt von ihrem Gesicht hinunter zu ihren Zehen, die aus den High Heels herausragten, dann wanderte er langsam wieder zu ihrem Gesicht hoch. Seine Stimme war ein tiefes Grollen, als er fragte: »Kennen wir uns, Ms. …?«

Sie hätte fast gelacht. »Ich fürchte, selbst wenn, kann ich mich nicht daran erinnern.«

Eine dunkle Braue schoss in die Höhe, und ein Schleier der Verwirrung legte sich über seine blauen Augen.

»Ich bin hier, um mit Ihnen über etwas zu reden, Mr. Spencer.« Die Worte purzelten ihr aus dem Mund, aber das war ihre einzige Chance. Sie musste sie ergreifen. Eve nahm der Rezeptionistin die Zeitung ab. »Bitte, haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«

Er betrachtete sie. Eve erstarrte. Sie war es gewohnt, dass Leute sie abschätzend musterten. In letzter Zeit machte kaum jemand etwas anderes. Sie abschätzen. Beurteilen. Schwachstellen suchen.

»Sie hat keinen Termin«, warf die nicht mehr ganz so aufgeweckte Rezeptionistin ein. »Ich habe ihr gerade gesagt –«

»Melody, ich denke, ich kann ein paar Minuten aufbringen«, sagte er und trat einen Schritt zurück. Gabe winkte Eve heran und zeigte auf die offene Tür. »Kommen Sie doch herein. Dann können wir in Ruhe reden.«

Eves Knie zitterten, als sie in das Büro eilte. Immerhin war sie nicht hingefallen oder hatte sich sonst wie lächerlich gemacht. Bis jetzt. Dieses Gespräch war wichtig. Nein, dieses Gespräch war alles. Sie musste Gabe Spencer dazu bringen, ihr zu helfen. Wenn er es nicht machte, hatte sie keine Ahnung, was sie noch tun sollte.

Das Büro roch nach Leder. Durch eine große Fensterfront hatte man freie Sicht auf die Innenstadt Atlantas. Gabes Schreibtisch war riesig. Er nahm ein Drittel des Raumes ein. Sie setzte sich auf einen der Ledersessel vor dem großen Tisch und versank fast darin. Sie hatte erwartet, dass er sich an den Schreibtisch setzen würde. Stattdessen ging er links an ihr vorbei und blieb neben ihr stehen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie wieder.

»Wird jemand vermisst?«, fragte er leise, mitfühlend.

Sie nickte kurz und gab ihm dann die Zeitung.

Mit gerunzelter Stirn las er die Überschrift. »Der Ladykiller?« Gabe schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass nach dem letzten Hurrikan einige Leichen gefunden wurden, aber ich verstehe nicht …«

»Sie haben nicht alle Leichen gefunden. Ei–einige werden immer noch vermisst.« Ihre Finger verkrampften sich in ihrem Schoß. Dem Zeitungsartikel zufolge ging man davon aus, dass sieben Frauen entführt und ermordet worden waren. Aber bisher hatte man nur vier Leichen gefunden.

Drei Frauen wurden immer noch vermisst.

Er überflog den Artikel. Dann, nach ein paar Sekunden, sah er wieder zu ihr hinüber. »Sie wollen, dass ich eine der vermissten Frauen finde?«

Er verstand es nicht. »Ö-öffnen Sie die Zeitung.«

Stirnrunzelnd klappte er sie auf. Fotos der vermissten Frauen. Unscharfe Fotos. Schwarz-weiß. Aber …

»Sie müssen für mich keine vermisste Frau finden.«

»Aber das ist unsere Aufgabe hier.« Er sah die Fotos an, nicht Eve. Sie konnte in seiner Art zu sprechen einen leichten Südstaatenakzent ausmachen, nur ein winziges Verschleppen der Silben, kaum wahrnehmbar. »Wir suchen nach Vermissten. Wir –« Er hielt mitten im Satz inne, und seine Augen weiteten sich. Langsam, ganz langsam, wandten sich diese blauen Augen wieder ihr zu. Dieses Mal konnte sie den Blick fast körperlich spüren, als würde er sie wahrhaftig berühren.

Eve leckte sich über die Lippen und sagte: »Sie müssen für mich keine vermisste Frau finden … weil ich mir ziemlich sicher bin … ich glaube … ich glaube, ich bin eine der vermissten Frauen. Ich bin ein Opfer des Ladykillers. Nur dass ich nicht tot bin, wie in der Zeitung behauptet wird.«

Gabe Spencer sagte kein Wort. Also redete sie weiter. Sie wollte nicht, dass er sie für verrückt hielt. Sie war zu sehr auf seine Hilfe angewiesen. »Ich bin nicht tot. Aber ich … ich erinnere mich an nichts. Ich habe alles vergessen, was vor dem 3. Juni dieses Jahres passiert ist.«

»Und was war am 3. Juni?«, fragte er. Seine Stimme war frei von jeglichen Emotionen.

»Das war der Tag, an dem ich im St. Helen’s Krankenhaus aufgewacht bin.« Sie war in einem weißen Zimmer zu sich gekommen, das nach Reinigungs- und Desinfektionsmitteln roch und in dem Maschinen gleichmäßig vor sich hin brummten.

Und es hatte sich falsch angefühlt.

Ich sollte die Wellen hören. Das Meer riechen. Das waren ihre ersten Gedanken gewesen, aber danach erinnerte sie sich an nichts aus ihrem Leben. Keine Namen. Keine Gesichter. Überhaupt keine Erinnerungen.

Gabe starrte sie einfach nur an.

Sie spürte, wie ihr Herzschlag in den Ohren pulsierte. »Ich lüge nicht.« Sie hörte selbst, wie verzweifelt es klang. »Sie können im Krankenhaus nachfragen. Die werden Ihnen alles bestätigen, was ich gerade gesagt habe.«

Dissoziative Amnesie. Laut den Ärzten litt sie unter dieser Erkrankung. Anscheinend hatte sie einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen. Ein gewisser Gedächtnisverlust war nach einer solchen Verletzung normal.

Aber ihr war nicht nur ein Teil ihrer Erinnerung abhandengekommen. Sie hatte ihr Gedächtnis komplett verloren.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Eve, und sie wusste, dass es klang, als würde sie ihn anflehen. Aber so war es eben: Sie bettelte. »Denn es wird tatsächlich etwas vermisst … mein Leben. Ich werde vermisst.« Mit zitternden Knien stand sie auf und ging zum Schreibtisch. Sie sah auf die Zeitung hinunter, die auf der Tischplatte lag. Ihre Finger berührten das Foto der wunderschönen, lächelnden Frau. Einer Frau, die vielleicht sie war. »Wenn ich das bin, dann will ich wissen, was passiert ist.« Sie sah ihn an. »Ich will mein Leben zurück, Mr. Spencer.«

»Nennen Sie mich Gabe.« Es klang wie ein Befehl, während er ihr Gesicht gründlich und eingehend musterte. Sie konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten. Sie hätte alles dafür gegeben, es zu können.

»Waren Sie mit Ihrer Geschichte bei der Polizei?«, fragte er.

Sie presste die Lippen zusammen. »Die Entführungen und Morde sind an der Golfküste passiert. Nicht hier in Atlanta. Sie sehen keine Verbindung.« Und sie hatte das Gefühl, dass der Detective, mit dem sie gesprochen hatte, sie einfach für verrückt gehalten hatte. Und durch die psychologische Beurteilung einer ihrer vielen Ärzte fühlte er sich in seiner Meinung bestätigt.

Zwischen Gabes Augenbrauen bildete sich eine schwache Falte. »Niemand ist bisher dem Ladykiller entkommen.«

»Niemand, von dem Sie wissen.« Ihre Finger zitterten, als sie ihren Nacken berührten. Sie strich ihr Haar zur Seite und deutete auf die lange weiße Narbe, die sich die linke Seite ihres Halses entlangzog. Normalerweise bedeckten ihre Haare diese Narbe. Sie wollte nicht, dass Leute sie anstarrten und ihr Fragen stellten, die sie nicht beantworten konnte. Aber dieses Mal … konnte ihr die Narbe tatsächlich helfen. Vielleicht. »Ich glaube, dass ich ihm entkommen bin.«

Im nächsten Moment stand Gabe direkt vor ihr. Dafür, dass er so ein großer Kerl war, bewegte er sich schnell. Als seine warmen, starken Hände ihre Haut berührten, zuckte Eve zusammen, vollkommen unvorbereitet auf die Welle der Emotionen, die über sie hinwegbrandete. Monatelang hatten Dutzende von Spezialisten an ihrem Körper herumgeschnitten und herumgedoktert – und sie hatte nichts gefühlt. Aber eine einzige Berührung von Gabe …

Sie sah ihm ins Gesicht, fand nichts Sexuelles in seinem Blick. Nein, er hatte die Augen zusammengekniffen und starrte die Narbe an. »Ich – ich habe mehrere Narben«, flüsterte sie. Am Anfang hatte sie sich für ihre zahlreichen Verletzungen geschämt, aber wenn sie als Beweis dienten, wenn sie ihr helfen konnten … »Jemand hat mich mit einem Messer verletzt.« Lange, tiefe Schnitte. Zwei auf dem Bauch. Einer auf dem Oberschenkel. Einer auf dem Rücken. Einer auf der linken Schulter.

Seine Finger liebkosten ihren Nacken, strichen sanft über ihre Haut.

Er war groß, bestimmt 1,95 m. Sie musste also den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht schauen zu können. »Helfen Sie mir? Bitte?«

Ihre Gesichter waren sich so nahe. Wenn jetzt jemand ins Büro gekommen wäre, hätte derjenige wahrscheinlich gedacht, sie hätten sich gerade geküsst. Ein Liebespaar. Und für einen Sekundenbruchteil sah sie etwas in Gabes Augen. Eine Welle der Leidenschaft. Verlangen.

Ihr Körper verspannte sich.

Der Funke verschwand aus seinem Blick. »Ich muss noch mehr darüber erfahren«, sagte er mit zurückhaltendem Unterton. »Dann schaue ich, ob ich den Fall übernehme.«

Sie nickte, weigerte sich, die Hoffnung aufzugeben. Aber da war noch etwas. Leider. Sie reckte das Kinn in die Höhe, als sie zugab: »Ich habe kein Geld. Ich kann Sie nicht bezahlen. Ich meine, wenn Sie –« Ihre Wangen brannten, als sie versuchte weiterzureden. »Ich kann für Sie arbeiten. Ich kann bei LOST mithelfen, ich kann alles Mögliche tun, nur –«

Helfen Sie mir, damit ich aufhören kann, niemand zu sein.

Gabe hob die Schultern und wischte ihre Bedenken weg. »Um die Bezahlung kümmern wir uns später. Falls ich Ihren Fall übernehme.«

Er trat von ihr weg. Sofort vermisste sie die Wärme seines Körpers. Was war nur los mit ihr? Sie reagierte normalerweise nicht so auf Männer. Sie reagierte so auf niemanden.

»Ich muss mir Ihre ärztlichen Diagnosen anschauen. Ich muss wissen, wo man Sie gefunden hat, bevor Sie ins Krankenhaus gebracht wurden. Wer Sie dorthin gebracht hat. Ich möchte mit all Ihren Ärzten sprechen.«

Eve nickte schnell. »Richtig. Natürlich.«

Ein Muskel zuckte entlang seines Kinns. »Wenn Sie mich anlügen, werden Sie das schnell bereuen.«

Seine Worte standen wie eine Drohung im Raum.

»Warum sollte ich lügen?«, flüsterte Eve. Wer suchte sich schon freiwillig solch ein Leben aus? Nein, kein Leben. Ein Nichts.

»Weil die Frau, die Sie angeben zu sein, die Frau auf diesem Bild … Jessica Montgomery … ihre Familie ist sehr, sehr wohlhabend.«

Es ging nicht um das Geld. Es ging darum, jemand zu sein.

»Ich sehe aus wie sie.« Eve klang heiser. Auf keinen Fall hatten sie und diese Frau zufällig das gleiche Gesicht. Das hier war kein Zufall.

»Alle Opfer des Ladykillers sehen sich sehr ähnlich. Blondes Haar, grüne Augen, Mitte zwanzig.« Er machte eine Pause. »Wunderschön.«

Sie trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Wenn ich nicht sie bin, dann bin ich trotzdem irgendjemand. Mein Leben ist mir abhandengekommen. Ich will es zurück. Ich will wissen, was mir passiert ist.«

Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis Gabe schließlich nickte. Doch dann sagte er: »Manchmal sollte man in dieser Welt sehr vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht. Wenn Sie wirklich eines der Opfer des Ladykillers sind, was glauben Sie, wird als Nächstes passieren?«

Auf ihren Armen bildete sich Gänsehaut.

»Allen Berichten zufolge hat er diese Frauen gestalkt. Sie sorgfältig ausgewählt. Sie sind sein Ziel. Seine Beute. Fragen Sie sich nicht, wie er reagiert, wenn er merkt, dass eines seiner Opfer entkommen ist?«

Sie spürte, wie alles Blut ihren Kopf verließ. Einen kurzen Augenblick lang roch sie das Meer. Hörte den Schrei einer Möwe.

Nein, das war keine Möwe. Das war ein menschlicher Schrei. Mein Schrei?

Ihr Mund war ganz trocken vor Angst, aber sie schaffte es trotzdem zu stammeln: »Ich – ich will mein Leben zurück.«

»Dann lassen Sie uns anfangen.« Er neigte den Kopf zu ihr hinunter, und Eve fragte sich, ob sie gerade irgendeine Art Test bestanden hatte. Und ob er sie absichtlich an diesen Punkt gebracht hatte. Sie fragte sich, was wohl passiert wäre, wenn sie den Test nicht bestanden hätte?

***

Die bildschöne Blondine mit den Schlafzimmeraugen und den endlos langen Beinen lebte in einem Heim für Obdachlose.

Gabe beobachtete sie von der anderen Straßenseite. Sie hatte nicht gemerkt, dass er ihr vom Büro aus gefolgt war. Die Frau, die sich selbst Eve Gray nannte, aber behauptete, jemand ganz anderes zu sein – vielleicht Jessica Montgomery –, schien nichts und niemanden wahrzunehmen, als sie sich auf den Nachhauseweg durch Atlantas belebte Straßen machte.

Sie hatte kein Taxi genommen. War nicht in ein wartendes Auto gestiegen.

Sie war zu Fuß gegangen und hatte sorgfältig Kleingeld für den Bus abgezählt.

Und sie hatte noch nicht einmal bemerkt, dass er in denselben Bus gestiegen war.

Sie hielt die meiste Zeit den Kopf gesenkt und redete mit niemandem. Einige Männer warfen ihr bewundernde Blicke zu. Wenn man aussah wie sie, war es schwer, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Ovales Gesicht. Hohe Wangenknochen. Kleine Stupsnase. Rote, volle Lippen. Und diese Augen … ein Blick, und er hatte sich sofort zu ihr hingezogen gefühlt. Wollte sie berühren. Musste sie berühren.

Er erkannte sich selbst nicht wieder. Seine stahlharte Selbstkontrolle war legendär. Er war kein Mann, der in ein paar große grüne Augen schaute und dachte …

Ich will sie.

Jedenfalls normalerweise nicht. Aber heute hatte er genau das getan.

Er wollte sie. Also hatte er sie mit in sein Büro genommen, auch wenn er eigentlich drei andere Termine hatte. Er nahm sie mit, um ihr näherzukommen. Er inhalierte ihren leichten, sexy Duft. Beobachtete, wie sich ihre langen Beine nervös unter ihrem Rock bewegten.

Dann hörte er ihre Geschichte.

Gabe wurde wütend, als er die Narbe an ihrem Hals sah. Die Wucht dieses Zorns überraschte ihn. Während seiner Zeit bei LOST hatte er einige brutale Geschichten gehört, aber diese urgewaltige Wut beim Anblick ihrer Narbe … was zur Hölle hatte die zu bedeuten?

Es war möglich, dass sie ihn verarschte. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand mit einer erfundenen Geschichte bei LOST aufkreuzte. Da draußen gab es unzählige Leute, die bereit waren zu lügen, zu stehlen oder sogar zu töten, um das zu bekommen, was sie wollten.

Und was wollten sie? Meistens Geld.

Die Art von Geld, die Jessica Montgomerys Familie massenweise hatte.

Ein Obdachlosenheim.

Gabe hatte das Gebäude auf der Lortimer Lane sofort erkannt. Er hatte nicht erwartet, dass Eve dort anhalten würde, aber sie ging hinein, als wäre es für sie eine alltägliche Routine. Als gehörte sie dorthin.

Ihre ärztlichen Befunde aus dem Krankenhaus waren auf dem Weg in sein Büro. Als Nächstes würde er mit ihren Ärzten reden. Aber in diesem Augenblick …

Bevor ihm bewusst wurde, was er da tat, überquerte er die Straße und folgte ihr in das Gebäude.

Er war gerade durch die Tür getreten, als ein großer, bulliger Typ ihm eine Hand vor die Brust hielt. »Wo wollen Sie hin, Freundchen?«, wollte der Mann wissen. Seine Stimme klang wie ein Donnergrollen.

Gabe hob die Augenbrauen. »Ich muss mit Eve sprechen.« Er war gespannt, wie der Typ auf den Namen reagieren würde. Wenn Eve hier tatsächlich wohnte, dann –

Die Hand des Mannes grub sich tiefer in seine Brust. Gabe bewegte sich nicht, als der Kerl bellte: »Halten Sie sich von Eve fern!«

Ah, das war nicht Teil des Plans gewesen. Das Gesicht des Mannes nahm eine dunkelrote Farbe an, sein Glatzkopf glühte förmlich, und er sah aus, als wäre er kurz davor, ein paar Schläge auszuteilen.

Gabe schätzte, dass er es mit dem Typ aufnehmen konnte, aber sich den Weg in ein Obdachlosenheim freizukämpfen hatte für heute eigentlich nicht auf der Agenda gestanden.

Sieht aus, als hätte sich der Plan gerade geändert.

»Pauley, hör auf!« Eves Stimme. Hoch. Verängstigt. Dann war sie da, kam den Gang zurück, lief mit klappernden Absätzen auf ihn zu.

Erst jetzt merkte er, dass ihre Pumps alt und abgetragen waren. Dass Oberteil und Rock, die ihre runden Brüste und schmalen Hüften betonten, so eng saßen, weil sie die falsche Größe hatten.

Es sind nicht ihre Klamotten.

Eve legte Pauley eine Hand auf die Schulter. »Er ist ein Freund, Pauley.«

Der Mann sah sie an. Er schüttelte den Kopf und bewegte die Hand keinen Millimeter von Gabes Brust weg. »Niemand … niemand darf dir folgen. Ich bin der Aufpasser. Ich bewache die Tür.«

»Ja, das tust du.« Ihre Stimme klang jetzt beruhigend. Sie lächelte den Mann an. Pauley sah aus, als wäre er Anfang vierzig. Tattoos auf den Armen. Dutzende. Gesichter. Symbole.

»Und du bewachst uns alle sehr gut. Aber es ist okay, dass Gabe hier ist. Er wird mir nichts tun.«

Der Typ zögerte noch einen Augenblick, dann ließ er langsam die Hand sinken.

Gabe bemerkte, wie Eve erleichtert ausatmete. »Danke, Pauley«, flüsterte sie. »Ich bin so froh, dass du hier bist und uns beschützt.«

Pauley ging zurück zur Tür und nahm wieder seine Wachposition ein.

Eve biss sich auf die Lippe. Wahrscheinlich war es nicht ihre Absicht, sexy auszusehen. Er sollte sie überhaupt nicht sexy finden. Aber irgendetwas hatte sie an sich …

Ich bin ihr gefolgt. Habe herausgefunden, wo sie wohnt. Nicht für den Auftrag. Weil ich sie nicht einfach gehen lassen konnte. Er hatte die Termine seiner rechten Hand, Wade Monroe, übertragen, damit er Eve folgen konnte.

»Wir müssen reden«, hörte sich Gabe sagen.

»Sieht so aus.« Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Sie sind mir schließlich gefolgt.« Ihre Wangen nahmen eine zartrosa Farbe an, als wäre sie peinlich berührt. »Vielleicht können wir draußen reden?«

»Wo ist Ihr Zimmer?«, fragte Gabe stattdessen, nur um ihre Reaktion zu sehen.

Das Rosa vertiefte sich. »Wir … wir haben hier keine Zimmer. Nur Betten.« Sie hob das Kinn. Als wollte sie entschlossen und stolz wirken. Mit ihren Augen. Ihrer Haltung.

Pauley stand nur ein paar Meter von ihnen entfernt. Dadurch waren sie nicht ungestört, und Gabe wollte auf alle Fälle ungestört mit ihr sein. Tatsächlich hatte er den Wunsch, allein mit ihr zu sein. »Sie wohnen hier?« Nur um sicherzugehen.

Eve nickte. »Seit ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde.« Sie trat ein paar Schritte zurück und bog in einen kleinen Flur ein. Er folgte ihr.

»Es ist nicht gerade einfach, einen Job zu bekommen, wenn man keinen echten Namen, geschweige denn eine Sozialversicherungsnummer, hat. Und kein Job bedeutet …«

Kein Geld.

Sie räusperte sich. »Das wissen Sie sicher.«

Ja, das wusste er. Gabe sah sich in dem alten Gebäude um. Im nächsten Raum sah er eine Reihe Feldbetten. Keine richtigen Betten. Feldbetten. »Sie sollten nicht hier sein.« Aus irgendeinem Grund machte ihn die Tatsache, dass sie in diesem Heim lebte, wütend. Sie gehörte nicht hierher.

Aber wohin gehört sie?

»Das ist besser, als auf der Straße zu leben.« Sie hatte das Kinn immer noch erhoben. »Und Sie helfen mir jetzt, oder? Sie helfen mir, mein Leben zurückzubekommen? Wenn ich weiß, wer ich bin, kann ich hier raus. Ich kann endlich einen Namen haben. Einen Job. Ein Zuhause.«

Kein Obdachlosenheim.

Ihre Blicke trafen sich. Er wollte sie sofort hier raushaben.

»Helfen Sie mir?«, flehte Eve.

Verdammt. Er hatte noch nicht einmal mit den Recherchen über sie angefangen. Vielleicht spielte diese Frau nur mit ihm. Wenn es so war, würde sie es bereuen. Dafür würde er sorgen. Aber in diesem Augenblick … mit Pauley, der nur ein paar Meter entfernt stand, und einer Sozialarbeiterin, die stirnrunzelnd auf sie zueilte … war alles, was Gabe sagen konnte: »Ja, ich helfe Ihnen.« Er würde ihre Geheimnisse herausfinden. Gute, schlechte und alles dazwischen. Vielleicht würde sie es bereuen. Vielleicht aber auch er. Doch von diesem Augenblick an waren er und Eve aneinander gebunden.

Bis dieser Fall abgeschlossen war.

***

Als Gabe zu LOST zurückkam, pumpte Adrenalin durch seinen Körper. Er warf der Rezeptionistin, Melody Gaines, einen flüchtigen Blick zu. »Rufen Sie das Team in mein Büro.«

Sie nickte mit großen Augen und griff nach dem Telefon.

Er eilte in sein Büro. Die Erinnerung an Eves intensiven Blick folgte ihm. Die Erinnerung an sie folgte ihm.

Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er hatte noch nie einen solchen Fall angenommen. Normalerweise suchten er und sein Team Menschen, die vermisst wurden. Sie übernahmen einen Fall und fanden die Person … oder, was leider wesentlich öfter passierte, deren Leiche. Die sterblichen Überreste.

Dieses Mal begannen sie mit den Überresten. Und zwar mit sehr lebendigen.

Es klopfte leise, dann öffnete sich die schwere Holztür, und Victoria Palmer steckte den Kopf ins Büro. Auf ihrer Nase saß eine kleine Brille, und sie hatte ihre langen, dunklen Haare im Nacken zusammengebunden. »Wir haben einen neuen Fall?« Sie klang aufgeregt.

Er nickte.

Victoria betrat den Raum. »Müssen wir auf die anderen warten, oder kannst du mir schon was verraten?« Sie war wie eine Blase, unter deren Oberfläche jede Menge angestaute Energie nur darauf wartete, herauszuplatzen, endlich losgelassen zu werden. So war Victoria. Angespannt, immer unter Strom, immer an der Schwelle zu … irgendetwas.

»Du musst nicht lange warten«, ertönte eine Stimme vom Flur. »Wir sind schon da.« Wade Monroe betrat den Raum. Keinerlei überschüssige Energie von seiner Seite. Langsame, bedächtige Schritte.

Dean Bannon folgte ihm auf dem Fuße. Sein fragender Blick heftete sich an Gabe. »Ich denke mal, das hier hat etwas mit der hübschen Blondine zu tun?«

»Welche Blondine?«, wollte Victoria wissen. »Ich habe keine …«

»Sarah ist heute in einem anderen Fall unterwegs«, sagte Gabe und bezog sich damit auf die Psychologin, die ebenfalls zum LOST-Team gehörte. »Also macht bitte die Tür zu. Ich werde sie später informieren.«

Dean tat wie geheißen. Gabes Team – sein Top-Team, denn tatsächlich arbeiteten noch ein paar Dutzend andere Mitarbeiter für LOST – kam zu ihm herüber. Sie nahmen in den Sesseln rund um den Tisch Platz und warteten auf seinen Bericht.

Gabe ließ den Blick über ihre Gesichter gleiten. Jedes Teammitglied hatte besondere Fähigkeiten, aufgrund derer er sie ausgewählt hatte. Als er LOST gründete, wollte er sichergehen, dass er nur die besten Mitarbeiter hatte. Er wusste, dass er und sein Team für viele Familien die letzte Chance waren. Diese Familien verdienten die Besten.

Also hatte er Doktor Victoria Palmer aus Stanford abgeworben. Die forensische Anthropologin wandte ihre Talente jetzt in der Praxis an, nicht bloß in einem Hörsaal. Gabe kannte niemanden, der der Wahrheit schneller auf die Spur kam als Wade Monroe, der vielfach ausgezeichnete Ex-Detective aus Atlanta. Wade hatte kein Problem damit, sich die Hände schmutzig zu machen. Tatsächlich schien es, als liebte er diesen Teil der Arbeit besonders. Wade hatte vor nichts Angst. Er blühte in gefährlichen Situationen nur noch mehr auf. Und sein persönlicher Verlust hatte ihn zu einem Spitzenkandidaten für eine Stelle bei LOST gemacht.

»Du spannst uns auf die Folter«, murmelte Dean mit ruhiger Stimme. Völlig emotionslos und akzentfrei.

Dean hatte für das FBI gearbeitet, als Gabe an ihn herantrat. Als Agent in der Abteilung für Gewaltdelikte wusste Dean alles über die wahren Monster, die in diesem Land auf die Jagd gingen. Und er wusste, wie man diese Monster jagte. Bei LOST hatte Dean jede Menge Möglichkeiten dazu, ohne sich mit all den bürokratischen Aspekten herumzuschlagen.

Fehlte noch Sarah Jacobs. Sarah war genauso wichtig für LOST. Sie hatte einen Schrank voller Uniabschlüsse, aber Gabe war ihre Erfahrung als Psychiaterin und Profilerin noch wichtiger. Wenn sie vermissten Personen auf der Spur waren, erstellte Sarah Profile der Opfer – und Profile ihrer Entführer. Ihrer Mörder. Dean jagte die Monster, aber es war Sarah, die in ihre Köpfe hineinsah. Sie begab sich an schreckliche, dunkle Orte, die den meisten Menschen Angst einjagten.

Und Gabe selbst? Seine Aufgabe war die Praxis. Das Wissen, das ihm sein Team übermittelte, anzuwenden. Um die Vermissten zu finden. Er arbeitete mit seinen Mitarbeitern und den lokalen Vollzugsbehörden zusammen, um die Fälle abzuschließen.

Und natürlich war es auch seine Aufgabe, das Kapital für das ganze Unternehmen zu beschaffen.

Jetzt nickte er langsam. »Wir haben einen neuen Fall.«

»Wen sollen wir für die Blondine finden?«, fragte Wade. »Ich hoffe, nicht ihren Ehemann.« Er stieß einen leisen Pfiff aus, der Gabe die Stirn runzeln ließ. »Diese Frau ist nämlich –«

»Tabu«, knurrte Gabe.

Wade hob die Augenbrauen.

»Diese Frau«, erläuterte Gabe, »ist der Fall.« Dann schob er ihnen Eves Zeitung hinüber. »Sie sagt, sie heiße Eve Gray.« Er brach ab und korrigierte sich. »Nein, genau genommen, kennt sie ihren echten Namen nicht. Sie benutzt in der Zwischenzeit nur Eve.« Hatten sie ihr den Namen im Krankenhaus gegeben? Das musste er herausfinden.

»Boss, ich komme nicht mehr mit«, sagte Victoria und warf einen Blick auf die Zeitung. »Was sollen wir für Vielleicht-Eve tun?«

»In der Zeitung geht es um den Ladykiller-Fall.« Dean wirkte plötzlich angespannt. »Das FBI jagt ihn schon seit Monaten. Seit nach dem Hurrikan diese Leichen aufgetaucht sind.«

Hurrikan Albert hatte die südliche Golfküste außergewöhnlich früh in der Saison heimgesucht.

»Wir sollen also eines der Opfer finden? Eines, das noch vermisst wird?«, fragte Victoria und pfiff leise durch die Zähne. »Ganz schön großer Fall.«

»Vielleicht haben wir schon eines der Opfer gefunden.« Gabe deutete auf das Schwarz-Weiß-Foto in der Zeitung.

Im Raum wurde es schlagartig sehr, sehr still.

»Eve erinnert sich an nichts, was vor dem 3. Juni passiert ist. Sie sagt, sie sei an diesem Tag in einem Krankenhaus aufgewacht – ohne jegliche Erinnerungen an irgendetwas.«

»Wir brauchen Sarah«, sagte Wade und richtete sich ein wenig mehr in seinem Sessel auf. »Sie kann herausbekommen, ob die Frau lügt oder –«

»Eve Gray will, dass wir herausfinden, wer sie wirklich ist.«

Stirnrunzelnd sah Victoria zu ihm hoch. »Was hat deine geheimnisvolle Blondine mit dem Ladykiller zu tun?«

»Eines der mutmaßlichen Opfer des Ladykillers ist Jessica Montgomery.« Sechsundzwanzig. Blond. Grüne Augen. 1,70 m groß. Zuletzt gesehen an der Golfküste in Alabama – auf Dauphin Island. »Und Jessica Montgomery sieht zufälligerweise haargenau so aus wie Eve Gray.«

»Definiere ›haargenau so‹«, sagte Dean und beugte sich interessiert nach vorne.

»Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen.« Gabe sah Dean in die Augen. Der Ex-FBI-Agent würde besser als die anderen verstehen, wie wichtig dieser Fall war. Dean hatte während seiner Zeit beim FBI an zahlreichen Serienmörderfällen gearbeitet. Er wusste, wie schwierig es sein konnte, einen solchen Täter zu fassen. Wie unwahrscheinlich es war, dass ein Opfer tatsächlich überlebte. Aber wenn ein Opfer am Leben blieb …

»Wenn sie wirklich Jessica Montgomery ist«, Deans Stimme klang angespannt, »dann könnte sie uns zum Ladykiller führen. Wir könnten ihn finden.«

»Und die anderen vermissten Frauen«, fügte Victoria hinzu. Sie tippte sich mit den Fingern ans Kinn. »Sie wäre dort gewesen, wo er seine Opfer umbringt. Sie hätte alles gesehen.«

Alles gesehen und dann aus ihrem Gedächtnis verbannt?

»Wenn sie die Wahrheit sagt«, warf Wade ein. Weil er immer der Skeptische war. Eve mochte noch so hübsch sein – das bedeutete noch lange nicht, dass sie ihn automatisch um den Finger wickeln konnte. »Willst du, dass ich anfange, sie zu überprüfen?«

Gabe nickte. »Wir müssen jedes Detail über ihren Aufenthalt im St. Helen’s Krankenhaus wissen. Durchleuchte jedes Detail ihres Lebens.«

Des neuen Lebens, das sie jetzt führte. Des Lebens, das erst ein paar Monate zuvor begonnen hatte.

Der Auftrag war grausam, aber er musste erledigt werden. Bevor sie überhaupt daran denken konnten, irgendwelche Schnittmengen, die vielleicht zwischen Eve Gray und Jessica Montgomery existierten, zu verbinden, mussten sie so viel wie möglich über Eves »Genesung« im St. Helen’s herausfinden.

Gabe hatte genügend Familien mit gebrochenen Herzen gesehen. Er würde nicht einfach so bei den Montgomerys anrufen und ihnen verkünden, dass ihre vermisste Tochter aufgetaucht war.

Sein Team würde Eve genau unter die Lupe nehmen. Ihr Leben bis ins kleinste Detail überprüfen. Jedem Geheimnis auf die Spur kommen. Erst danach würden sie den nächsten Schritt gehen.

Und dann konnte es für Eve richtig gefährlich werden.

Ich hoffe, du bist bereit für das, was kommt. Denn wenn sie wirklich einem Mörder entkommen war, würde sie vielleicht nicht bereit sein, sich noch einmal in die Schusslinie zu begeben.

Aber wenn sie wirklich Jessica Montgomery war, hatte sie gar keine andere Wahl. Die Medien würden herausfinden, dass sie überlebt hatte. Das FBI würde sich einschalten.

Und der Ladykiller würde erfahren, dass sie noch lebte.

***

Eve wachte auf. Ihr Herz hämmerte in der Brust, und ihr Körper war schweißbedeckt. Sie griff nach der dünnen Decke und klammerte sich daran fest. Auf den Feldbetten neben ihr schliefen die anderen Frauen. Leise Schnarchgeräusche waren zu hören. Vages Murmeln aus der Ecke, wo Sue Smith im Schlaf sprach. Sue redete immer, egal, ob sie schlief oder wach war. Dieses Gemurmel hätte Eve beruhigen sollen. Ich bin nicht allein. Die anderen sind hier.

Eve suchte mit den Augen die Dunkelheit ab. Sie konnte sich nicht an ihren Traum erinnern. Das konnte sie nie. Aber wahrscheinlich war das ganz normal … schließlich waren ihre gesamten Erinnerungen fort.

Eve stand auf, bewegte sich schnell. Sie schlief immer in ihren Klamotten. Jogginghose und ein weites Top. Die Männer schliefen auf der anderen Seite des Flures, waren getrennt von ihnen untergebracht, doch …

Doch sie machten sie nervös. Die meisten jedenfalls. Nur Pauley nicht.

Sie suchte ihn, weil sie wusste, dass auch er wach war. Er konnte nachts nie schlafen. Er sagte, die Dunkelheit erinnere ihn zu sehr an seine Zeit im Krieg.

Sie war nicht sicher, wo oder wann Pauley gekämpft hatte oder ob er wirklich in einem Krieg gewesen war, aber sie stellte keine Fragen. Er horchte sie auch nicht über ihre Vergangenheit aus. Warum sollte sie es also tun?

Eve fand ihn an der Vordertür, wo er seine übliche Wachposition eingenommen hatte. Er wirkte wie ein großer, gefährlicher Schatten, aber sie wusste, dass er ihr nichts tun würde. Im Inneren war Pauley sanftmütig, gut, aber … auch angeschlagen. Das wusste sie.

Er sprach langsam. Bewegte sich gemächlich.

Es spielte keine Rolle. Er war ihr Freund.

»Jemand beobachtet uns, Ms. Eve.«

Erst hatte Pauleys ruhige Stimme sie zum Lächeln gebracht, aber dann, als sie registrierte, was er sagte, erstarrte sie. »W-was meinst du?«

»Ich spüre die Blicke. Genauso wie im Krieg. Der Feind ist da draußen. Er beobachtet uns.«

Sie schaute aus dem Fenster. Sah nichts als Straßenlaternen. Dunkelheit. »Die Türen sind verschlossen, oder?« Außerdem hatten sie hier im Heim tatsächlich einen Sicherheitswachmann. Allerdings schlief James die meiste Zeit. Pauley machte da einen wesentlich besseren Job.

»Verschlossen. Hab sie alle kontrolliert.« Pauley stellte sich auf die Zehenspitzen. »Viermal.«

Ihr Lächeln kehrte zurück. »Dann sind wir auf jeden Fall in Sicherheit. Erst recht, wenn du hier Wache stehst.« Es hatte leicht und unbeschwert klingen sollen, aber irgendwie hatte sie noch immer das Gefühl, dass etwas Kaltes in der Luft lag, das sie frösteln ließ.

»Nicht in Sicherheit. Wir werden beobachtet.« Er legte die Hände an die Tür und lehnte sich nach vorne. »Ich sollte auf Patrouille gehen.«

Er war im Begriff, die Tür zu öffnen. Nach draußen zu gehen. »Nein!«, entfuhr es Eve wie ein scharfer Befehl, und sie wusste nicht, warum. Sie nahm Pauleys große Hand in ihre und hielt sie fest. »Steh hier drin Wache – mit mir.«

Er schüttelte den Kopf. »Muss auf Patrouille gehen. Patrouille.«

Aber die Dunkelheit machte ihr Angst. Wir werden beobachtet. Was, wenn Pauley da draußen wirklich jemanden gesehen hatte?

Ihre linke Hand wanderte zu ihrem Hals. Strich leicht über die Narbe. In ihrem Kopf hallte ein Schrei wider. »Bleib hier drin bei mir«, flüsterte Eve.

Pauley sah zu ihr hinunter, runzelte die Stirn.

Ihm konnte sie sich anvertrauen wie niemandem sonst. »Ich habe Angst, Pauley«, sagte Eve. Sie fürchtete sich, weil sie gerade in ihrem Leben einen gefährlichen Schritt getan hatte. Eve Gray hatte keine Vergangenheit. Also hatte sie keine Feinde. Nichts zu befürchten.

Aber Jessica Montgomery? Diese Frau war ein Opfer gewesen. Sie war verletzt worden. Angegriffen. Für tot gehalten?

Die zuständigen Behörden waren sicher, dass Jessica Montgomery vom Ladykiller entführt worden war, einem sadistischen Serienmörder, der immer noch auf freiem Fuß war. Immer noch auf der Jagd.

Immer noch auf der Suche nach Jessica?

Sie merkte, dass sie sich zu fest an Pauleys Arm klammerte. »Bleib hier drinnen«, wiederholte sie. Es war zu dunkel da draußen. Und wie ein Kind hatte sie davor große Angst …

In der Dunkelheit warteten Monster.

Kapitel zwei

»Als Eve ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hatte sie Schnittwunden auf Bauch, Oberschenkel, Rücken und Schulter.« Dr. Ben Tyler beugte sich nach vorne, während er erst Eve und dann wieder Gabe ansah. Dabei schien der Blick des Arztes ein wenig zu lange auf Eve zu ruhen, was Gabe überhaupt nicht gefiel. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er es zu genießen schien, Eve zu berühren. »Sie litt unter einem Schädel-Hirn-Trauma und war fast drei Tage lang bewusstlos, bevor sie schließlich aufgewacht ist.«

Eve wirkte angespannt. Der Arzt hatte eingewilligt, mit Gabe zu reden, aber nur, wenn sie im Raum blieb.

»Und wer hat sie hierhergebracht?«, fragte Gabe.

Die Miene des Arztes fror ein. »Sie wurde an einem Rastplatz außerhalb von Atlanta gefunden. Eine Mutter und ihre Tochter haben Eve entdeckt. Sie lag … in der Toilette auf dem Boden.«

Eve zuckte zusammen. Gabe hätte fast nach ihrer Hand gegriffen. Fast.

Stattdessen stand der Arzt auf, ging um seinen Schreibtisch herum und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Er war ungefähr in Gabes Alter, Mitte dreißig, hatte blonde Haare und dunkle Augen. Und diese Augen hingen jetzt wieder an Eve fest.

Schön professionell bleiben, Doc.

Gabe räusperte sich, eigentlich war es mehr ein raues Knurren, und der Blick des Arztes wandte sich wieder ihm zu. Gabe fragte: »Also weiß niemand, wie Eve an diesem Rastplatz gelandet ist?«

»Ich glaube, die Polizei hat mit den Wachmännern dort gesprochen. Ein paar Trucker befragt, aber …« Die Hand des Arztes schloss sich fester um ihre Schulter. »Es ließ sich nichts Entscheidendes herausfinden. Eve wurde um vier Uhr morgens gefunden. Zu der Uhrzeit war da nicht gerade viel los.«

Also war sie einfach vom Himmel gefallen und an dieser Raststätte gelandet? Scheiße, nein, da musste mehr dahinterstecken. Vielleicht konnte Wade herausfinden, wie genau sie dorthin gelangt war. Er war bereits dabei, mit seinen Kontakten bei der Polizei von Atlanta zu sprechen. Bald würden er und Gabe alles über Eve und diesen Rastplatz wissen.

»Ich erinnere mich überhaupt nicht an diesen Ort«, sagte Eve. »Ich wünschte, ich …« Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. Schatten, die gestern noch nicht da gewesen waren. Hatten Alpträume sie wach gehalten? Irgendetwas anderes?

»Sie haben Eve operiert, als sie eingeliefert wurde«, sagte Gabe langsam und suchte dabei im Gesicht des Arztes nach einer Reaktion.

Dr. Tyler nickte. »Ich bin froh, dass ich hier war und ihr helfen konnte.«

Gabe wäre froh, wenn dieser Typ endlich wieder seine Hände von Eve lassen würde. Er ging mit seiner Patientin viel zu vertraut um. Fast schon intim.

»Hat sie im Operationssaal irgendetwas gesagt?«, fragte Gabe. »Ich weiß, dass manche Patienten reden, bevor die Narkose richtig einsetzt –« Er brach ab, als er das kurze Flackern in den Augen des Arztes sah. Sie hat etwas gesagt. »Was haben Sie gehört?«, bohrte Gabe.

Dr. Tylers Blick wanderte zurück zu Eve. »Ach … es ist wahrscheinlich nichts … es wirkte so seltsam … nur zusammenhangloses Gemurmel …«

Eve legte den Kopf in den Nacken und starrte zu ihm hoch. »Was habe ich gesagt?«

Er schluckte. »Sie haben gesagt … ›Ich habe gewonnen. Sagt dem Bastard, ich habe gewonnen.‹«

Das war interessant. »Noch etwas, Doktor?«

Dr. Taylor ließ Eves Schulter los – endlich, verdammt noch mal – und trat ein paar Schritte zurück. »Alles andere steht in meinem Bericht. Wo die Wunden waren. Die Anzahl der Stiche. Die –«

»Amnesie?«, ergänzte Gabe. »Das ist schließlich das Hauptproblem, oder? Die Tatsache, dass sich Eve an kein einziges Detail aus ihrem Leben erinnert.«

Heute trug sie ein Kleid, das ihr ein wenig zu groß war, aber das dunkle Grün ließ ihre Augen sogar noch mehr leuchten. Die Schuhe waren die Pumps von gestern. Schwarz. Leicht abgetragen. Saßen fest an ihren schlanken Füßen.

»Die korrekte Bezeichnung lautet dissoziative Amnesie.« Scheiße. Jetzt ließ der Typ auch noch den Wichtigtuer raushängen. Für solche Spielchen war Gabe gerade überhaupt nicht in Stimmung. »Das kommt nach Verletzungen des Gehirns häufig vor –«

Gabe hatte am Morgen schon einiges zum Thema Amnesie recherchiert und mit Sarah gesprochen – der Frau, die alles über die Geheimnisse des menschlichen Gehirns wusste. »Es kommt aber nicht häufig vor, dass Patienten plötzlich ihr ganzes Leben fehlt.«

Der Arzt runzelte die Stirn. »Nein. Das stimmt.« Jetzt klang er nicht mehr so aufgeblasen.

»War ihre Verletzung so schwerwiegend?« Gabe musste diese Frage stellen. Die Frau hatte kein Geld. Nichts zu beanspruchen. Warum also nicht versuchen, jemand anderes zu sein? Vielleicht war Eve vor jemandem oder etwas auf der Flucht und glaubte, ihrer Vergangenheit zu entkommen, wenn sie einen totalen Gedächtnisverlust vortäuschte.

Er traute ihr nicht. Er hatte es sich zur Regel gemacht, nur seinen LOST-Teamkollegen zu vertrauen. Bei allen anderen … war er vorsichtig.

Er hatte sich schon öfter die Finger verbrannt. Sowohl als Zivilist als auch während seiner Zeit als SEAL. Und gerade die hübschen Gesichter waren manchmal besonders gut darin, Lügen zu verbergen.

Und Unschuldige in den Tod zu schicken.

»Oh … Hirnverletzungen können sehr kompliziert sein –«

Gabe hob eine Hand. »Sie hatte ein Schädel-Hirn-Trauma. Das steht in Ihrem dicken Stapel Akten. Sie haben MRTs und CTs gemacht … das ganze Programm. Also beantworten Sie mir einfach die Frage: Hat die Verletzung ihre Amnesie bewirkt?«

Dr. Tylers Miene verdunkelte sich, und unter der betont kontrolliert wirkenden Oberfläche schien es zu brodeln. »Ich kann diese Diagnose nicht mit absoluter Sicherheit stellen. Nicht bei der Schwere ihres Falles und ihren … weiteren Verletzungen. Es ist gut möglich, dass …« Sein Blick wanderte wieder zu Eve hinüber, und die Verärgerung verschwand aus seinem Gesicht. »Es ist möglich, dass ein … traumatisches Erlebnis Eves Amnesie ausgelöst hat.«

Traumatisches Erlebnis? Wie zum Beispiel … der Angriff eines Serienmörders?

»Eve wurde überfallen«, stellte Dr. Tyler ausdruckslos fest. »Jemand hat ihr über eine lange Zeit hinweg wehgetan. Ihr Körper war voller Prellungen. Drei Finger ihrer rechten Hand waren gebrochen.«

Aus dem Augenwinkel sah Gabe, wie Eve die rechte Hand bewegte.

»Für mich besteht kein Zweifel, dass sie etwas Traumatisches erlebt hat, auch wenn ich kein Psychologe bin –«

Zum Glück hatte Gabe eine Psychologin in seinem Team.

»Es ist möglich, dass Eves Amnesie eine Art Verteidigungsmechanismus ist. Vielleicht will sie sich einfach nicht daran erinnern, was ihr passiert ist.«

Eve sprang auf die Füße. »Sie irren sich, Ben.«

Ben? Nicht Dr. Tyler? Zu vertraut. Und seltsamerweise auch verdammt nervig.

»Ich will mich daran erinnern, was passiert ist. Ich will es mehr als alles andere.« Sie atmete schwer, und ihre Schultern zitterten. »Aber ich kann nicht.« Dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer.

Gabe folgte ihr nicht. Nicht sofort. Er hatte andere Fragen, die er dem Arzt stellen wollte. »Es ist nie jemand aufgetaucht, der behauptete, sie zu kennen?«

Sein Gegenüber hatte die Aufmerksamkeit auf die Tür gerichtet. Er starrt immer noch Eve nach. Sein Kinn zuckte. »Nein.«

»Ihr Foto wurde in der Zeitung veröffentlicht.« So weit war er mit seinen Recherchen schon gekommen. »Wollen Sie mir wirklich weismachen, dass sich daraufhin niemand gemeldet hat?«

»Niemand«, sagte Ben mit ausdrucksloser Stimme. Er ging zur Tür.

Gabe stellte sich ihm in den Weg. »Gibt es andere Verletzungen, von denen ich wissen sollte?«

»Lesen Sie die Akten. Ich –«

»Ihnen scheint Eves Fall ganz schön nahezugehen.« Und er konnte die Versuchung nachvollziehen. Eine Frau wie Eve. Sexy. Verletzlich.

Der Arzt war ihr verfallen.

Das wird mir nicht passieren.

»Was Sie da andeuten wollen, gefällt mir nicht«, fuhr Ben ihn an. Er war rot geworden. »Sie ist meine Patientin. Ich bin verantwortlich für sie.«

»Jetzt nicht mehr.« Gabes Worte waren schonungslos. »Von jetzt an bin ich für sie da.«

Bens Blick bohrte sich in seinen. »Ihnen scheint der Fall auch ganz schön nahezugehen.«

Gabe zuckte mit den Achseln. »Eve hat mich angeheuert, damit ich ihr helfe. Und genau das werde ich tun.«

Der Arzt verschränkte die Arme vor der Brust. »Eve hat kein Geld. Wie konnte sie Sie für irgendetwas anheuern?«

»Machen Sie sich mal keine Gedanken über unsere Finanzen«, murmelte Gabe. Der Arzt konnte vielleicht zum Problem werden. Er trug keinen Ring am Finger, und er hatte viel Zeit mit Eve verbracht. War er seiner Patientin dabei ein bisschen zu nahe gekommen? »Jetzt sagen Sie schon.« Gabe lenkte das Gespräch zurück auf das eigentliche Thema. »Gibt es weitere Verletzungen?«

Seinem Gesichtsausdruck zufolge verstand der Arzt, worauf Gabe hinauswollte. »Sie meinen, ob sie … vergewaltigt wurde.«

Gabe schwieg und wartete.

»Wir konnten nichts in diese Richtung feststellen.«

Gabe atmete erleichtert aus.

»Als sie eingeliefert wurde, war die Polizei hier, aber man hat an ihr keinerlei Spuren gefunden, die auf ihren Angreifer hinwiesen. Sogar die offenen Wunden sahen aus, als wären sie ausgewaschen worden.« Der Arzt presste die Lippen zusammen, bevor er fortfuhr: »Tatsächlich roch sie nach Salzwasser, als man sie herbrachte. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich angenommen, man hätte sie gerade aus dem Meer gefischt. Ihre Haare waren sogar noch nass.«

Gabe speicherte diese Informationen ab und nickte langsam. »Danke, Dr. Tyler. Mein Team meldet sich wieder bei Ihnen.« Er drehte sich um und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

»Eve wurde aus meiner Obhut entlassen.« Der Arzt sprach leise. »Sie ist also nicht mehr meine Patientin. Es spricht nichts dagegen, dass wir eine andere Art von Beziehung aufbauen.«

Gabe merkte, wie seine Schultern verkrampften. Das hätte sich der Typ sparen können. Er wandte sich um und starrte ihn kalt an. »Sie ist nicht mehr Ihre Patientin. Sie ist meine Klientin.« Und Sie halten sich verdammt noch mal von ihr fern.

Aber der Arzt ließ nicht locker. Er machte einen Schritt auf Gabe zu. »Wenn Eve mich will, wenn sie einen … einen Freund braucht, werde ich für sie da sein.«

»Sie wollen keine Freundin«, fuhr Gabe ihn an. »Sie suchen eine Bettgefährtin. Suchen Sie weiter. Diese Frau … kriegen Sie nicht.«

Er legte die Hand auf den Türknauf.