Taken - Eiskalte Jagd - Cynthia Eden - E-Book

Taken - Eiskalte Jagd E-Book

Cynthia Eden

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Beschreibung

Er schwor, sie zu beschützen. Aber das Versprechen kann sie beide zerstören ...

Bailey Jones konnte sich und eine andere Geisel aus den Fängen eines brutalen Killers befreien - des »Todesengels«, wie sich der Killer selbst nannte. Doch nach ihrer Flucht verschwand Baileys Mitgefangene plötzlich spurlos. LOST-Agent Asher Young wird der Fall übertragen. Bailey fühlt sich augenblicklich zu dem charismatischen und geheimnisvollen Ex-SEAL hingezogen.

Aber Asher kann nicht zulassen, dass seine wachsenden Gefühle für Bailey ihn von seinem Job ablenken. Er will nicht, dass die Dämonen seiner Vergangenheit auch sie heimsuchen. Doch nur sie ist es, die seine Albträume lindern kann. Bailey hat die Mauern des toughen Soldaten längst durchbrochen, aber die Gefühle, die er für sie hat, sind genauso dunkel und gefährlich wie die Vergangenheit, der er versucht zu entgehen.

Als immer mehr Frauen Opfer des Todesengels werden, muss Asher den brutalen Killer stoppen. Doch der Serienkiller setzt alles daran, sein nächstes Opfer in seine Gewalt zu bringen: Bailey ...

Ein packender Romantic-Suspense-Liebesroman der New York-Times-Bestseller-Autorin Cynthia Eden - erotische Spannung und atemberaubender Thrill.

»Genau so, wie romantische Spannung sein sollte - mitreißend, rasant und sehr sexy! Mit der LOST Agency hat Eden eine komplexe Gruppe von Charakteren geschaffen, die die Leserinnen lieben werden.« (Karen Rose - Nr.-1-New-York-Times-Bestsellerautorin)

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Seitenzahl: 470

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Inhalt

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungDanksagungPrologKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnEpilog

Über dieses Buch

Er schwor, sie zu beschützen. Aber das Versprechen kann sie beide zerstören …

Bailey Jones konnte sich und eine andere Geisel aus den Fängen eines brutalen Killers befreien – des »Todesengels«, wie sich der Killer selbst nannte. Doch nach ihrer Flucht verschwand Baileys Mitgefangene plötzlich spurlos. LOST-Agent Asher Young wird der Fall übertragen. Bailey fühlt sich augenblicklich zu dem charismatischen und geheimnisvollen Ex-SEAL hingezogen.

Aber Asher kann nicht zulassen, dass seine wachsenden Gefühle für Bailey ihn von seinem Job ablenken. Er will nicht, dass die Dämonen seiner Vergangenheit auch sie heimsuchen. Doch nur sie ist es, die seine Albträume lindern kann. Bailey hat die Mauern des toughen Soldaten längst durchbrochen, aber die Gefühle, die er für sie hat, sind genauso dunkel und gefährlich wie die Vergangenheit, der er versucht zu entgehen.

Als immer mehr Frauen Opfer des Todesengels werden, muss Asher den brutalen Killer stoppen. Doch der Serienkiller setzt alles daran, sein nächstes Opfer in seine Gewalt zu bringen: Bailey …

Der neue packende Romantic-Suspense-Liebesroman der New York-Times-Bestseller-Autorin Cynthia Eden – erotische Spannung und atemberaubender Thrill jetzt bei beHEARTBEAT.

Über die Autorin

New York Times Bestsellerautorin Cynthia Eden schreibt düstere Romantic Suspense und sexy Paranormal-Romance-Romane.

Sie gehörte bereits drei Mal zu den Finalisten des RITA® Award – sowohl in den Kategorien Romantic Suspense als auch Paranormal Romance. Seit 2005 ist sie Vollzeitautorin und hat bislang über 70 Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht.

CYNTHIA EDEN

TAKENEISKALTE JAGD

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Neumann

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe

Copyright © 2016 by Cindy Roussos

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Taken

Originalverlag: Avon Books

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2018 Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Julia Funcke

Lektorat/Projektmanagement: Anne Pias

Übersetzung: Sabine Neumann

Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: wtamas

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5407-2

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Dieses Buch widme ich meinen Leserinnen – meinen wundervollen, fantastischen Leserinnen.

Tausend Dank für eure Unterstützung. Viel Spaß beim Lesen.

Danksagung

Zuallererst danke ich all den talentierten Mitarbeitern bei Avon. Es ist mir ein Vergnügen, mit euch allen zusammenarbeiten zu dürfen!

Außerdem möchte ich meiner liebenswerten und scharfsinnigen Agentin Laura für ihren immer goldrichtigen Einblick danken.

Es macht mir so viel Spaß, die LOST-Bücher zu schreiben, und ich hoffe, dass meinen Leserinnen die Geschichten auch weiterhin gefallen werden. Es wird Zeit für neue Rätsel und Wendungen … und einige alte Bekannte tauchen auch wieder auf.

Prolog

Bailey Jones wollte nicht sterben. Nicht so. Nicht gefesselt, gefoltert und mutterseelenallein in diesem verdammten Verschlag. Sie spürte ihre Finger nicht mehr. Eigentlich hätte ihr das Angst machen müssen – diese schreckliche Taubheit –, aber Angst hatte sie schon lange nicht mehr. Stattdessen war sie außer sich. So verdammt wütend. Wie hatte das passieren können? Wie hatte ihr das passieren können? Und warum, warum ließ das Arschloch, das sie gefangen hielt, sie nicht einfach gehen?

Sie lag mit dem Gesicht auf dem rauen Holzboden der Hütte und zerrte an dem Seil, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren, aber es lockerte sich nicht. Vor einiger Zeit hatten ihre Handgelenke geblutet, da war sie sich sicher. Aber hatten sie inzwischen aufgehört? Vielleicht blutete sie noch immer – entweder aus den Wunden an den Handgelenken oder aus den zahlreichen Stichverletzungen, mit denen ihr ganzer Körper übersät war. Bailey wusste es nicht.

Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie jetzt seit fast drei Tagen in dieser Hütte lag. Das Licht, das von draußen in den Raum fiel, verriet ihr, ob es gerade Tag oder Nacht war. Ihre Lippen waren rau und aufgesprungen, und sie hatte Halsschmerzen – vom Schreien und vor Durst. Der Bastard, der sie hier festhielt, hatte ihr nur ein paar winzige Schlucke Wasser gegeben. Und nichts zu essen. Nicht das winzigste bisschen. Keine Möglichkeit, auf die Toilette zu gehen.

Nur Schmerz.

Sie kroch langsam über den Fußboden, bewegte sich wie ein Wurm vorwärts. Wenn sie nur auf die andere Seite des Raumes gelangen könnte, wo die Tür war. Wenn sie diese Tür erreichte, konnte sie entkommen.

Ihr Entführer hatte einen Fehler begangen. Nachdem er sie das letzte Mal mit dem Messer bearbeitet hatte, hielt er sie für bewusstlos. Das hatte Bailey schnell gelernt: Er hatte nur Spaß daran, ihr wehzutun, wenn sie bei Bewusstsein war. Wenn nicht … hatte er auch keine Lust mehr, sie zu verletzen. Er liebte es, sie leiden zu sehen. Liebte es, zu hören, wie sie ihn anflehte.

Elf Messerstiche … er hatte laut mitgezählt. Nach diesen elf hatte er aufgehört, völlig außer Atem, am ganzen Körper zitternd. Und als er innegehalten hatte …

Habe ich einfach so getan, als wäre ich nicht mehr bei Bewusstsein. Und der Freak mit der Skimaske ist aus dem Raum gestürmt. Er war so in Eile gewesen, dass er die Tür hatte offen stehen lassen. Sie hatte sich vom Bett auf den Boden fallen lassen – und jetzt würde sie aus dieser Hütte verschwinden. Ihre Wut gab ihr die Kraft, die sie brauchte, um weiterzukriechen. Sie würde die Tür erreichen. Hier rauskommen und …

Ihr Shirt blieb an einem Nagel hängen. Sie hatte ihn noch nicht mal gesehen, aber als sie weiterrobbte, spürte sie seinen Kopf, der groß und rund aus dem Holzboden herausragte. Vor Aufregung ging ihr Atem noch schneller. Bailey drehte sich so, dass das Seil, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren, den Nagel berührte. Dann versuchte sie krampfhaft, die Fesseln damit zu durchtrennen. Arbeitete immer hektischer und verzweifelter. Ihr Atem kam viel zu schnell, und ihre Lippen fühlten sich immer trockener an, ihre Zunge immer geschwollener.

Ich schaffe es hier raus. Ich werde entkommen.

Die ersten vierundzwanzig Stunden hatte sie geglaubt, in einem Alptraum gefangen zu sein. Das alles für ein Riesenmissverständnis gehalten. Es war einfach nicht möglich, dass sie hier gefesselt und geknebelt in dieser dreckigen Hütte lag. In der Gewalt eines kranken Freaks mit einer Skimaske, der immer wieder mit seinem Messer auf sie einstach und lachte, wenn sie schrie. Das konnte ihr einfach nicht passieren.

Nicht … ihr.

Sie hatte die Berichte im Fernsehen verfolgt in den letzten Wochen. Berichte über Frauen, die in den Bergen North Carolinas verschwunden waren. Tragische Geschichten. Ihre armen Familien, die um Hinweise flehten. Sie hatte sie gesehen, und sie hatte Mitleid empfunden. Trauer. Aber …

Diese Frauen waren Fremde für sie gewesen. So etwas geschah nur Menschen, die man nicht kannte. Bemitleidenswerten Menschen, die man im Fernsehen sah.

Nicht mir. Das kann nicht mir passieren.

Aber es war passiert.

Und ich habe keine Familie, die im Fernsehen um meine Rückkehr fleht. Keine verzweifelten Eltern … ich habe sie schon vor langer Zeit verloren.

Und jetzt hatte Bailey Angst, in dieser kleinen Hütte ihr eigenes Leben zu verlieren.

Eben war sie doch noch an der Uni gewesen – hatte ihren Mittwochabend-Geschichtskurs für Erstsemester gehalten. Den letzten Kurs vor den Semesterferien. Sie war zum Auto gegangen, die Finger fest um den Schlüsselbund geschlungen, und dann – dann hat er mich niedergeschlagen. Mitgenommen. Und ich bin in der Hölle aufgewacht.

Das Seil um ihre Handgelenke löste sich. Bailey schluchzte laut auf, als die Taubheit nachließ und sie ihre Finger wieder spüren konnte – den Schmerz.

Einen stechenden, brennenden Schmerz. Aber sie biss sich sofort auf die Unterlippe vor Angst. So fest, dass ihr Blut das Kinn hinuntertropfte.

Hatte er sie gehört?

Würde er zurückkommen?

Bailey hielt inne und wartete mit angespanntem Körper. Wartete mucksmäuschenstill. Sie hörte leise Schritte, und ihr Herz verkrampfte sich.

Er kommt. Er hat mich gehört. Er …

Dann ertönte ein Schrei. Der Schrei einer Frau, der in der Hütte widerhallte. Laut und lang und verzweifelt. Voller Schmerz. Bailey biss sich noch fester auf die Unterlippe. Es war nicht sie, die da schrie. Es war jemand anderes. Oh Gott, der Freak mit der Skimaske hatte noch eine Frau in dieser Hütte.

Ich bin nicht allein. Es gibt noch ein zweites Opfer.

Als ihm der Spaß an Bailey vergangen war, als sie sich bewusstlos gestellt hatte, hatte er seine Aufmerksamkeit einfach der anderen Frau zugewandt.

Bailey fuhr hoch. Ihre Finger waren steif und zitterten, als sie versuchte, ihre Füße von den Fesseln zu befreien.

Der Schrei erstarb.

Ihre Nägel brachen ab, und ihre Finger wollten ihr einfach nicht gehorchen.

Noch ein Schrei –

Und das Seil lockerte sich. Bailey sprang auf die Füße und versuchte loszulaufen, aber ihre Beine gaben nach, und sie stürzte zu Boden. Also kroch sie, hievte sich selbst in Richtung Tür. Sie musste zu dieser anderen Frau gelangen. Musste ihr helfen. Bailey griff nach der Tür, schob sie mit der rechten Hand ein bisschen weiter auf. Ihr Atem dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie Angst hatte, der Mann würde es hören.

Sieht so aus, als hätte ich die Angst doch noch nicht hinter mir gelassen. Vielleicht werde ich das nie.

Draußen im Flur erkannte sie zwei weitere Türen. Eine war geschlossen. Die andere stand offen.

Die Schreie kamen aus dem Raum hinter der geschlossenen Tür.

Er ist mit ihr da drin.

Dieses Mal gelang es Bailey, aufzustehen. Auf zitternden Beinen bewegte sie sich auf die geschlossene Tür zu, stützte sich dabei an der Wand ab. Sie brauchte eine Waffe. Irgendetwas, womit sie sich gegen diesen Bastard zur Wehr setzen konnte.

Der nächste Schrei war so laut, dass sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

»Hilfe! Bitte, helft mir!« Die Frau brüllte. Schluchzte. Flehte. »Oh Gott, bitte! Hilfe!«

Und dann hörte Bailey das Lachen. Das gleiche höhnisch kichernde Lachen, das der Bastard von sich gegeben hatte, als er sie mit dem Messer bearbeitet hatte. Als sie dieses grauenhafte Geräusch hörte, konnte Bailey nicht mehr klar denken. Stattdessen übernahmen primitive Instinkte ihren Körper. Sie stürzte vorwärts und riss die Tür auf. »Lass sie in Ruhe!«, bellte sie.

Er stand mit dem Rücken zu ihr. Auf dem Bett vor ihm lag eine Frau. Er hielt ein Messer in der Hand. Ein blutverschmiertes Messer. Dasselbe Messer, mit dem er zuvor mit so viel Freude auf Bailey eingestochen hatte.

»Bist du gekommen, um ihr zu helfen?«, flüsterte er, noch immer mit dem Rücken zu Bailey. Er flüsterte immer, wenn er sprach. »Ah, Bailey? Du willst ihr also helfen?«

Die Frau auf dem Bett bewegte sich nicht.

Bailey stürzte sich auf ihn. Sie hatte keine Waffe, und in diesem Raum gab es nichts, was sie stattdessen hätte benutzen können. Keine Lampe. Keinen Tisch. Das einzige Möbelstück war das Bett – das Bett, auf dem die Frau lag. Also griff Bailey ihn mit ihrem Körper an. Mit all ihrer Kraft. Und stieß dabei einen kehligen Schrei aus.

Er fuhr herum, stach mit dem Messer nach ihr, aber sie hielt nicht inne. Die Klinge schlitzte ihren linken Arm auf, als sie gegen ihn prallte und sie beide zu Boden gingen.

Im Fallen verlor er das Messer, und es rutschte über den Holzboden.

»Du Schlampe«, krächzte er an ihrem Ohr. »Dafür wirst du bezahlen …«

Sie war jetzt auf ihm und rammte ihm mit aller Kraft das Knie in den Unterleib. Als er aufheulte, verzogen sich ihre blutigen Lippen zu einem Lächeln. Endlich bekam er mal zu spüren, wie sich Schmerzen anfühlten.

Aber dann holte er aus, und seine Faust traf ihre rechte Wange. Sie fiel nach hinten, rollte über den Boden.

Bailey hörte hektische Schritte auf dem Holz. Die Frau auf dem Bett – sie war aufgestanden und rannte zur Tür hinüber. Sie war nicht gefesselt gewesen wie Bailey, bewegte sich schnell und geschickt. Bailey sah ihre langen dunklen Haare, ihre blasse Haut, ihr blaues Shirt –

»Warte«, stieß Bailey krächzend hervor. »Bitte –«

Lass mich nicht allein.

An der Tür zögerte die Frau für den Bruchteil einer Sekunde. Hoffnung keimte in Bailey auf. Ja –

Dann drehte sich die Frau um und rannte weiter. Schaute nicht noch einmal zurück.

Er lachte wieder. Ihr Entführer. Ihr Mörder?

»Du hast versucht, mich aufzuhalten …«, flüsterte er. »Oh, süße Bailey. Ich werde dir zeigen …«

Seine Hände schlossen sich um ihren Hals. Er trug Handschuhe. Sie spürte das glatte Leder an ihrer Haut. So weich. So sonderbar weich, als er anfing, sie zu würgen.

»Ich kann so weitermachen, bis du bewusstlos bist …«

»H-H…« Sie versuchte, um Hilfe zu rufen. Versuchte, die Frau zurückzurufen, aber seine Hände schnürten ihr die Luft ab.

»Und dann werde ich dich wieder fesseln. Mein Messer schärfen … und dir damit die Haut durchschneiden …« Aus dem Augenwinkel sah Bailey die Klinge auf dem Boden funkeln. Sie streckte die rechte Hand danach aus. Das Messer war so nahe. So verdammt nahe …

»Bist du immer noch froh, dass du versucht hast, sie zu retten? War sie dein Leben wert?«

Die andere Frau war verschwunden. Bailey hörte keine Schritte mehr im Flur.

»Ich werde mich um dich kümmern«, versprach er, während vor ihren Augen schwarze Punkte tanzten. »Und um sie.«

Das Messer. Es lag direkt da drüben. Sie musste irgendwie drankommen …

Er drückte fester zu. Keine Luft. Keine Hoffnung. Kein verdammtes Messer.

Sie konnte es nicht erreichen. Aber mit letzter Kraft hob Bailey den Arm und riss ihm die Maske vom Gesicht.

Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Nein, Bailey … nein …« Und er wirkte beinahe traurig … als er ihr immer fester die Luft abschnürte.

Bailey riss die Augen auf. Schnappte verzweifelt nach Luft. Wieder und wieder. Ihre Lunge brannte, und sie hustete und keuchte.

Ich lebe. Ich bin noch immer am Leben.

Sie streckte die Hände aus und fühlte – Erde.

Es roch nach feuchtkaltem Erdboden, und als sie sich panisch aufsetzte, spürte sie einen brennenden Schmerz. Ihre Arme taten weh, ihr Bauch und –

Das ist eindeutig Erde. Ihre Finger schlossen sich um die weichte, feuchte Masse, und als sie den Kopf hob, sah Bailey den Sternenhimmel. Tausende von Sternen. Ich bin nicht mehr in der Hütte.

Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, diesem Bastard entkommen zu sein. Er hatte sie gewürgt. Die andere Frau war abgehauen, aber nicht sie. Er hatte sie festgehalten.

Und … dann hatte er sie in eine Grube geworfen? Sie setzte sich auf, aber sie konnte das obere Ende nicht erreichen. Das Loch war zu tief. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine gaben unter ihr nach, und als sie sich am Rand der Grube festhielt, rieselte feuchte Erde auf sie nieder.

In der Ferne hörte sie Hundegebell, und Panik stieg in ihr hoch. Gehörten die Hunde ihm? War das ein neues Spiel? Würden die Hunde sie angreifen?

Bailey hielt sich eine Hand vor den Mund, aus Angst, loszuschreien. Ihre Finger rochen nach feuchtem Dreck. Ihre Zunge fühlte sich in ihrem Mund so dick und geschwollen an. Der Alptraum wollte einfach nicht aufhören. Er wurde immer schlimmer.

Das Gebell wurde lauter. Kam näher. Die Hunde würden sie kriegen. Würden sie sich auf sie stürzen und sie in Stücke reißen?

Sie rollte sich in der Mitte der Grube zu einer Kugel zusammen, versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Wenn sie sich nicht bewegte und keinen Ton von sich gab, würden die Hunde sie vielleicht in Ruhe lassen. Sie würden verschwinden, und sie würde irgendeinen Weg hier raus finden. Sie würde entkommen.

Die andere Frau … wo ist sie hin? Was ist mit ihr passiert?

Aber die Hunde verschwanden nicht. Sie wurden immer lauter. Kamen immer näher.

»Hier drüben ist was!«, rief eine Männerstimme. »Erde. Oh, verdammt! Ein Haufen Erde! Könnte eine Leiche sein!«

Sie hob den Kopf.

»Kommt mit den Taschenlampen her!« Eine andere Männerstimme. »Folgt den Hunden!«

Die Hunde …

Vielleicht sollten sie ihr gar nichts tun. Vielleicht sollten sie sie finden. Vielleicht war die andere Frau entkommen und hatte Hilfe geholt. »H-Hilfe …«, flüsterte sie.

Nein … aus ihrem Mund war kein Ton gekommen. Sie hatte versucht zu flüstern, aber es war ihr nicht gelungen. Ihr Hals war zu rau. Ihr Mund zu trocken.

Das Licht von mehreren Taschenlampen zuckte über die Grube, in der sie lag. Nicht in die Grube hinein, sondern darüber hinweg. Da oben waren Leute. Sie mussten zu ihr herunterschauen.

»H-Hilfe …« Noch so ein lautloses Flüstern. In ihrem Inneren schrie sie. Brüllte um Hilfe. Aber sie konnte nicht sprechen. Sie versuchte wieder aufzustehen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Nicht mehr. Hatte sie zu lange nichts getrunken? Nichts gegessen? Hatte sie zu viel Blut verloren?

Ihre Hände krallten sich in den Erdboden. Schaut hier runter! Seht mich an! Guckt hierher!

Ein greller Lichtkegel erfasste ihr Gesicht und blendete sie so stark, dass sie sich wegdrehen musste.

»Sie – sie lebt! Wir haben hier drüben eine Überlebende!« Die Männerstimme überschlug sich fast vor Aufregung – eine Stimme mit einem starken Südstaatenakzent. Und dann war der Mann neben ihr. Er war in die Grube gesprungen und streckte die Hände nach ihr aus.

Sie zuckte zurück.

»Alles ist gut«, beeilte er sich zu sagen. »Ich bin Polizist. Deputy Wyatt Bliss. Sie sind in Sicherheit … wir kümmern uns um Sie.«

Bailey wollte ihm glauben.

Weitere Lichtkegel fielen auf sie. So hell. Sie sah hoch und erkannte die Umrisse mehrerer Leute – Männer und Frauen, die sich um die Grube versammelten.

»Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?« Der Deputy zog seine Jacke aus und hielt sie ihr hin. War es kalt? Sollte sie die Jacke nehmen?

Erst jetzt merkte sie, dass ihre Zähne klapperten.

Sie nahm die Jacke nicht. Ihre Finger würden ihr sowieso nicht gehorchen, und es war anstrengend genug, die Augen offen zu halten.

»Ihr Name, Miss«, wiederholte er mit leiser, mitfühlender Stimme. »Wie heißen Sie?«

»B-B…« Bailey. Aber sie konnte nicht sprechen. Dieses erbärmliche Krächzen war das Einzige, was sie hervorbrachte.

Das Licht seiner Taschenlampe fiel auf ihren Hals, und er stieß einen Fluch aus.

Aber da sprangen schon weitere Männer zu ihnen in die Grube. Einige davon mit Taschenlampen. Sie hoben sie hoch und hievten sie nach oben. Jemand trug sie ein paar Schritte, und dann – dann lag sie auf einer Art Trage. Bailey reckte den Hals und blickte zurück. Da hinten waren so viele Lichter, und die Hunde waren ganz in der Nähe. Sie jaulten.

Sie sah die Grube, aus der sie sie befreit hatten. Ein großes, breites, tiefes Loch. Mit einem gigantischen Haufen Erde und einem Spaten daneben.

War das mein Grab?

»Alles wird gut«, sagte eine Frauenstimme neben ihr. Bailey zuckte zusammen, als eine sanfte Hand ihre Schulter berührte. »Sie sind in Sicherheit.«

Sie fühlte sich aber nicht wie in Sicherheit.

»Ich bin Rettungssanitäterin«, fuhr die Frau fort. »Und ich werde mich um Sie kümmern. Ich …« Sie verstummte. »Ist das alles Ihr Blut?«

Bailey blickte an sich hinunter. Ihr Shirt war komplett durchnässt. Dunkelrot, wie sie im Licht der Taschenlampen feststellte. Rot und dreckverschmiert. Aber war das alles ihr Blut? Ich glaube schon. Bailey nickte.

Es roch nach Asche. Asche und Feuer. Was brennt hier? Sie drehte den Kopf, als sie in den Krankenwagen geschoben wurde. Und da sah sie das Feuer. Riesige rote Flammen, so hell und heiß. Aber … war das die Hütte? Ihr Gefängnis?

»Wegen des Feuers kam die Polizei her«, erklärte die Sanitäterin, die ihre blonden Haare zu einem Dutt geknotet trug. »So haben wir Sie gefunden.« Die Tür des Krankenwagens schloss sich. »Wir haben zuerst die Leichen entdeckt …«

Nein, nein …

»Und dann Sie.«

Neben der blonden Frau sah Bailey einen weiteren Sanitäter. Einen rothaarigen Mann mit Sommersprossen. Er lächelte sie an. »Sie sind in Sicherheit.« Das sagten sie ihr immer wieder. Aber es stimmt nicht. Ich bin nicht in Sicherheit. Sie musste ihnen von der anderen Frau erzählen. Sie mussten sie finden.

Bailey griff nach der Hand des Rothaarigen. Drückte sie, so fest sie konnte.

»Was ist?« Er sah sie fragend an. »Sagen Sie mir, wo es wehtut.«

Es tat überall weh, aber darum ging es nicht. »Fr…au …«, stammelte sie tonlos. Sie hatte einfach keine Kraft, um zu sprechen.

Seine blauen Augen starrten sie unverwandt an.

»Fr…au …« Sie formte das Wort erneut mit ihren Lippen und zitterte dabei am ganzen Körper. »Noch ein … Opf… Opf…er …«

Seine Augen wurden untertassengroß. »Es hat noch ein Opfer überlebt?«

Sie nickte.

»Er hatte da noch eine weitere Frau?«

Sie nickte wieder.

»Jesus!« Er stürzte an ihr vorbei und riss die Tür des Krankenwagens auf. »Die Hunde sollen weitersuchen! Irgendwo da draußen ist noch eine Frau!«

Baileys Kopf sackte zurück. Sie hatte es geschafft. Sie würden die andere Frau finden. Sie würden auch sie retten.

Sie würden sie finden.

Das Martinshorn schrillte los.

Und Bailey schloss die Augen.

Kapitel eins

Sie war entkommen. Hatte den brutalen Angriff eines Serienmörders überlebt. Asher Young konnte die Augen nicht von der wunderschönen Frau losreißen, die kerzengerade am Konferenztisch saß. Er blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen, hätte niemals damit gerechnet, dass sie seine neue Klientin sein könnte.

Bailey Jones. Bailey fucking Jones. Natürlich kannte er sie. Das ganze Land kannte Bailey.

Die hübsche Bailey. Mit ihren erdbeerblonden Haaren, den hohen Wangenknochen und dem warmen goldenen Teint.

Bailey …

Sie ist entkommen.

Ihr Gesicht war wochenlang in den Nachrichten gewesen. Es hatte unzählige Beiträge in Fernsehsendungen über sie gegeben und Artikel in den Zeitungen.

Ex-Abschlussballkönigin. Traumfrau. Doktorandin. Entführt. Gefoltert. Zurückgelassen in einem Erdloch, das fast zu ihrem Grab geworden wäre …

Aber sie hatte überlebt.

Sie war die einzige Überlebende, die aus den Fängen des brutalen Killers entkommen war, den sie den Todesengel nannten.

Bailey nahm keine Notiz von Asher. Er stand noch immer im Türrahmen wie ein Vollidiot, und sie hatte ihn bisher nicht eines Blickes gewürdigt. Sie sah niemanden im Raum an. Hatte die Hände in ihrem Schoß gefaltet und den Kopf leicht gesenkt, als wäre sie ganz in Gedanken versunken.

Asher hatte keinen blassen Schimmer, was sie hier bei LOST in Atlanta wollte. Klar, es war die Aufgabe des Last Option Search Team, verschwundene Menschen zu finden, aber Bailey – sie war nicht verschwunden. Nicht mehr jedenfalls. Man hatte sie in den Bergen von North Carolina gefunden. Sie lebte. Sie war in Sicherheit. Sie war ganz sicher nicht auf die Dienste des Teams angewiesen.

Also was zur Hölle machte sie hier?

Asher schaute zu seinem Boss und Freund Gabe Spencer hinüber. LOST war Gabes Baby. Sein Kumpel hatte die Organisation gegründet, nachdem seine Schwester verschwunden war. Gabe hatte Amy damals gefunden, aber er war zu spät gekommen.

Zu spät, verdammte Scheiße.

Gabes blaue Augen ruhten auf ihrer Klientin in spe. Er trommelte leise mit den Fingern auf die Tischplatte, und Asher erkannte Mitleid in seinem Blick. Sie waren zusammen bei den Navy SEALs gewesen, und Asher hätte Gabe damals nie für einen Mann gehalten, der eine weiche Seite hatte. Aber der Ausdruck in seinen Augen zeigte jetzt unmissverständlich, dass er sich Sorgen um die zierliche Frau machte, die dort an seinem Tisch saß.

Asher konnte ihm das kaum zum Vorwurf machen, denn Bailey hatte eindeutig etwas an sich, das auch seinen eigenen Beschützerinstinkt wachrief.

Du weißt, dass sie ein Opfer ist. Eine Überlebende.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Gabe ruhig, als er zu Asher herüberschaute. »Ich möchte dir unsere neue Klientin vorstellen, Bailey Jones.«

Sie zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte, und hob den Kopf. Sie sah Asher an – endlich sah sie ihn an –, und ihre Augen hatten den gleichen erstaunlichen Grünton, den sie im Fernsehen gehabt hatten. So hell und leuchtend. Aber …

In ihrem Blick lag Angst. So viel Angst, dass sich jeder Muskel ihres Körpers verkrampft hatte.

Sie befanden sich in der Firmenzentrale von LOST, im obersten Stockwerk eines abgesicherten Gebäudes. Überall waren LOST-Agenten. Sie hatte keinen Grund, sich zu fürchten.

Ich will nicht, dass sie Angst hat.

Er hasste es, wenn Frauen Angst hatten.

Bailey sprang so schnell auf, dass der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, quietschend zurückrollte.

»Hallo«, sagte sie mit leiser, heiserer Stimme. Sexy.

Asher ging auf sie zu. Sah, wie sich ihre Schultern noch mehr verspannten, als er näher kam. Er hielt ihr die Hand hin. »Ma’am.« Er war sich des texanischen Tonfalls in seiner Stimme bewusst. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Ihre wunderschönen grünen Augen blinzelten, bevor sie ihn fokussierten. Ihr Blick glitt langsam über sein Gesicht, während sie ihm die Hand schüttelte.

Verdammt, wie zart ihre Haut war. Er selbst hatte Schwielen und dicke Hornhaut an den Händen, ein Nebeneffekt seines harten Trainings im Fitnessstudio. Einmal SEAL, immer SEAL. Auch wenn er kein aktiver Soldat mehr war, trainierte er doch immer noch wie einer. Er wollte auf alles vorbereitet sein, was sein neues Leben als Zivilist – als LOST-Agent – so mit sich brachte.

Ihr Duft schien ihn einzuhüllen, als er vor ihr stand. Eine süße Note. Leicht. Feminin. Lavendel?

»Asher wird die Leitung Ihres Falls übernehmen«, sagte Gabe mit scharfem Unterton. Ein bisschen zu scharf.

Scheiße. Wie lange halte ich ihre Hand schon fest? Warum benehme ich mich wie ein Vollidiot?

Bailey studierte Ashers Gesicht genau. Ihr Blick blieb kurz an seinem Kinn hängen. Zweifellos wegen der Narbe, die dort zu sehen war. Die feine weiße Linie, die sich das Kinn entlangzog, erinnerte ihn stets daran, dass es verdammt noch mal überall Monster gab. Und dass man darauf vorbereitet sein musste, gegen sie zu kämpfen.

Schließlich ließ sie seine Hand los und zog sich die langen Ärmel ihres Oberteils weit über die Hände. Dabei reichten sie sowieso schon deutlich über ihre Handgelenke hinaus. »Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen«, sagte sie mit heiserer Stimme. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie so klingen würde.

Zu sexy.

Ja, es war nicht zu übersehen, dass Bailey Jones eine attraktive Frau war. Eine wunderschöne Frau. Das war einer der Gründe dafür gewesen, dass ihr Gesicht immer und immer wieder in den Nachrichten auftauchte. Aber sie hatte eine Menge mehr zu bieten als nur ein hübsches Gesicht. Wenn die Geschichten, die er über sie gelesen hatte, stimmten, hatte sie Nerven wie Drahtseile.

Sie war kein Opfer. Sie war eine Überlebende. Und das machte sie noch heißer.

Aber was wollte sie hier bei LOST? Da Gabe ihm soeben die Leitung ihres Falls übertragen hatte … sollte ich wohl endlich mal herausfinden, worum es hier geht.

Gabe setzte sich, und Bailey tat es ihm nach. Wieder quietschten die Rollen ihres Stuhls über den Boden.

Asher warf Gabe einen kurzen, fragenden Blick zu und setzte sich dann ebenfalls – direkt neben Bailey. Sie versteifte sich wieder, fast unmerklich, und schien sich gleich darauf selbst dazu zu zwingen, sich zu entspannen.

Gabe räusperte sich. »Du bist mit Baileys Fall vertraut.«

Asher sah, wie sich ihre Hände in ihrem Schoß verkrampften. »Ja. Ich weiß Bescheid.« Jemand hat sie entführt, tagelang in einer Hütte festgehalten, gefoltert. Dann hat das Arschloch angefangen, sie lebendig zu begraben. Aber dazu kam es nicht. Ein Feuer ist in der Hütte ausgebrochen und hat den Killer eingeschlossen. Er ist in den Flammen gestorben. Und dank des Feuers … wurde Bailey gefunden.

Bailey stieß stockend Luft aus. »Jeder glaubt, es wäre vorbei. Ich verstehe das – es ist sechs Monate her. Sechs lange Monate. Es sollte vorbei sein.«

Er musterte sie mit zusammengezogenen Brauen.

»Es ist aber nicht vorbei.«

Asher schwieg. Er hoffte, sie würde ihn wieder ansehen und –

Sie drehte sich zu ihm um. Ihr erdbeerblondes Haar fiel ihr über die Schultern. Sie blinzelte mit langen Wimpern, als ihr Blick ihn fixierte. »Es gibt noch ein Opfer.«

»Was?« Er starrte sie schockiert an.

»Die Cops … sie behaupten, ich hätte sie mir eingebildet. Aber so war es nicht. Sie war da. Ich habe sie gesehen. Ich habe sie gehört. Er hatte eine zweite Frau da draußen – und sie war keines der armen Opfer, die er bereits getötet und begraben hatte.« Sie sprach jetzt immer schneller, aber nach wie vor mit leiser, heiserer Stimme. »Ich habe Fotos von ihnen allen gesehen. Die Polizei hat alle Leichen in diesen Gräbern identifiziert. Sie war nicht dabei.«

Asher schaute kurz zu Gabe hinüber. Gabe wählte die Fälle für LOST immer sehr sorgfältig aus. Er nahm beileibe nicht jeden Fall an. Wenn sein Boss ihr bereits zugesichert hatte, ihr zu helfen …

Dann muss Bailey irgendetwas gesagt haben, was Gabes Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.

»Ich bin nicht verrückt«, sagte sie jetzt.

Sein Blick wanderte zurück zu ihr. »Das habe ich nie behauptet«, begann er vorsichtig. Er war ganz bestimmt niemand, der mit Worten wie verrückt unbedacht um sich schmiss. Nicht bei seiner Vergangenheit.

Ihre Wangen färbten sich rot. »Die Behörden haben mir nicht geglaubt. Und mein Psychiater … glaubt mir auch nicht. Er meint, ich hätte sie mir ausgedacht, um irgendwie die Kontrolle wiederzuerlangen, um diesen Alptraum besser ertragen zu können.« Die Hände in ihrem Schoß lockerten sich ein wenig. »Das ist Bullshit«, sagte Bailey geradeheraus und hielt dabei seinem Blick stand. »Ich weiß, dass ich durch die Hölle gegangen bin, aber ich weiß auch, dass ich nicht alleine dort war. Es war noch eine Frau mit mir in dieser Hütte. Wirklich.«

Okay. Asher lehnte sich zurück und dachte über ihre Worte nach. »Wie Sie bereits sagten, Ma’am: Das Ganze ist sechs Monate her.«

Sie presste die Lippen aufeinander.

»Die Gegend ist gründlich abgesucht worden. Überall waren Leichenspürhunde im Einsatz.« Sie musste das alles doch wissen. »Wenn es eine weitere Leiche gegeben hätte –«

»Sie ist entkommen«, erklärte Bailey.

Seine Augen weiteten sich.

»Ich – ich habe ihr geholfen zu entkommen.«

Scheiße. Dieser Teil der Geschichte war garantiert nicht in den Nachrichten gewesen.

»Ich konnte mich befreien … nein, ich bin meine Fesseln losgeworden. Ich wollte gerade aus der Hütte fliehen, als ich sie schreien hörte. Ich konnte sie nicht einfach dort zurücklassen …« Sie leckte sich über die Lippen. »Also bin ich in das andere Zimmer gelaufen. Ich habe mich auf ihn gestürzt. Sie konnte entkommen. Ich habe sie an mir vorbeirennen sehen, als er mich auf den Boden drückte.« Sie hob die Hand, um sich an den Hals zu fassen, hielt dann aber inne und ließ sie wieder sinken. »Sie war ungefähr so groß wie ich, ein bisschen dünner, vielleicht fünf oder sechs Kilo leichter. Weiß. Sie hatte lange schwarze Haare.«

Schweigen.

Asher wollte zu Gabe hinübersehen, um seinen Gesichtsausdruck zu deuten, aber er konnte seinen Blick um nichts in der Welt von ihren grünen Augen losreißen.

»Ich habe sie mir nicht ausgedacht«, beharrte Bailey. »Sie war echt. Und ich muss wissen, was mit ihr passiert ist.«

Jetzt verstand Asher, was LOST mit alldem zu tun hatte.

»Ich bin nicht verrückt«, wiederholte Bailey. »Sie war dort, und ich will, dass Sie mir helfen, sie zu finden. Der Sheriff vor Ort – er tut überhaupt nichts. Sie haben die Leiche des Mörders in der Hütte gefunden, und damit ist der Fall für sie abgeschlossen.« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Er ist aber noch nicht abgeschlossen. Sie war dort.«

In ihrer Stimme lag eine solche Intensität. In ihrem Gesichtsausdruck eine solche Gewissheit. Ja, jetzt war ihm klar, warum Gabe ihren Fall angenommen hatte. Ich glaube ihr jedes Wort. Ihre Emotionen waren einfach zu echt, zu ungefiltert.

»Bailey möchte, dass wir das verschwundene Opfer finden«, erklärte Gabe.

Okay.

»Und sie will mit dem Agenten vor Ort sein, der den Fall leitet.«

Was? Eine Zivilistin im Einsatz? Asher schüttelte automatisch den Kopf.

»Ich komme mit«, sagte Bailey ungerührt. »Das war Teil der Abmachung. Ich werde bei den Ermittlungen dabei sein. Ich muss bei den Ermittlungen dabei sein.«

In seinen Ohren klang das nach einer echt schlechten Abmachung, aber er war hier schließlich nicht der Boss.

Gabe war der Boss – und er nickte. Verdammt. Asher wandte sich Bailey zu. »Okay. Aber wenn wir da draußen sind, folgen Sie meinen Anweisungen, verstanden?« Er wollte nicht, dass sie irgendetwas unternahm, womit sie sich vielleicht in Gefahr brachte. Ihre Sicherheit würde höchste Priorität haben. Die verschwundene Frau zu finden – sollte sie irgendwo da draußen sein – kam erst danach.

Für den Bruchteil einer Sekunde schien ein Lächeln über Baileys Gesicht zu huschen. »Klingt, als wären wir hier beim Militär.«

Alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab. »Jawohl, Ma’am«, entgegnete er. Das Lächeln hatte ihre Augen zum Strahlen gebracht, einige der dunklen Schatten in ihrem Blick verdrängt. Er wünschte, all diese Schatten würden verschwinden.

Es klopfte an der Tür, und kurz darauf steckte Gabes Assistentin den Kopf ins Zimmer. »Ich habe den Papierkram fertig«, verkündete sie.

»Großartig.« Gabe winkte sie herein und nickte dann zu der neuen Klientin hinüber. »Bailey, Sie können hierbleiben, während Sie die Unterlagen ausfüllen und unterschreiben. Asher und ich müssen draußen noch etwas besprechen.«

Bailey nickte. Ihr Lächeln war verschwunden. Viel zu schnell. Asher hätte es gerne noch ein wenig länger gesehen.

Er folgte Gabe aus dem Konferenzraum – nicht ohne sich im Hinausgehen ein- oder zweimal zu vergewissern, dass mit Bailey alles in Ordnung war.

Gabe schloss die Tür hinter ihnen und hinderte Asher so daran, sich noch ein drittes Mal umzudrehen. »Sei sehr vorsichtig mit ihr«, warnte er.

Asher hob die Augenbrauen.

»Ich habe eine Kontaktperson im Sheriffbüro oben in Brevard, North Carolina … ich habe bei denen angerufen, nachdem sie hier aufgetaucht ist. Laut ihnen fanden sich keinerlei Anzeichen dafür, dass ein weiteres Opfer mit Bailey in dieser Hütte war. Die Cops haben alles abgesucht, aber absolut überhaupt nichts entdeckt.« Er flüsterte fast. »Und es gibt da oben ein paar Leute, die der Meinung sind, der Vorfall habe Bailey eine Menge abverlangt. Zu viel. Sie glauben, sie hätte womöglich einen Zusammenbruch erlitten.«

Wut stieg in Asher hoch. »Du hast die Frau gehört … sie ist nicht verrückt.«

»Auf sie wurde elf Mal mit einem Messer eingestochen, sie wurde fast zu Tode gewürgt und dann in einer Grube zum Sterben zurückgelassen. Nach so einem Scheiß würde jeder verrückt werden.« Gabe fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Wenn du sie für verrückt hältst, warum hast du dann ihren Fall angenommen?«

»Weil … verdammte Scheiße … als ich ihr in die Augen gesehen habe, wollte ich ihr helfen. Sie ist durch die Hölle gegangen, und vielleicht können wir ihr helfen, mit der Sache abzuschließen.«

»Du glaubst nicht, dass es ein zweites Opfer gab …«

»Ich will, dass du mit ihr in die Berge fährst. Das Gelände absuchst und dir das anschaust, was von dem Tatort übrig ist. Solltest du wirklich eine Spur finden, die etwas hergibt, werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um diese andere Frau aufzuspüren.«

»Ich soll das alleine machen? Ohne einen Partner?« Normalerweise waren die LOST-Agenten immer mindestens zu zweit vor Ort.

»Vorerst.« Gabe ließ die Hand sinken. »Wade soll in NamUs nach verschwundenen Personen suchen, die mit der Beschreibung übereinstimmen, die Bailey uns gegeben hat. Es ist möglich, dass es ein weiteres Opfer gibt. Und dass die Frau untergetaucht ist, nachdem sie entkommen konnte.«

Sie hat Bailey einfach dort zurückgelassen? Bei diesem Killer?

»Lass uns schauen, was du da draußen rausfindest.« Gabe sah zu der geschlossenen Tür hinüber. »Wie ich bereits sagte: Die Frau dort drinnen muss mit der ganzen Sache abschließen, und wir können ihr dabei helfen.«

Ashers Meinung nach brauchte Bailey eine ganze Menge mehr als das. Aber es war immerhin ein Anfang.

»Dein erster Solo-Trip für LOST«, murmelte Gabe und hob dabei die Brauen. »Bist du bereit dafür?«

Er dachte an Baileys Blick. An ihre Angst. »Scheiße, ja. Ich bin bereit.«

Bailey bemühte sich um einen ruhigen, festen Schritt, als sie zum Aufzug hinüberging. Jetzt, da das große Treffen vorbei war, zitterte sie fast vor Erleichterung. Sie hatte es getan. Sie hatte es endlich zu LOST geschafft und die Agenten überzeugt, ihren Fall anzunehmen.

Zu Hause hatte sie wie eine Irre um die Aufmerksamkeit des Sheriffs und seiner Angestellten gekämpft. Sie hatten sie bemitleidet. Sie traurig angeschaut. Sie hatten ihr geraten, sich an ihren Psychologen zu wenden. Mehrfach. Aber sie hatten ihr nicht geholfen.

Und bei allem, was in letzter Zeit so vor sich ging, bei der Angst, die sie plagte …

Muss sich etwas ändern.

Ihr Leben war ein Scherbenhaufen. Dessen war sie sich bewusst. Sie hatte sich aus ihrem Umfeld komplett zurückgezogen. Vor alldem hatte sie … na ja, sie hatte nicht gerade viele Freunde gehabt, aber zumindest einige, die ihr sehr nahestanden. Jetzt hingegen konnte sie es nicht ertragen, in ihrer Nähe zu sein. Sie redeten mit ihr, als wäre nichts geschehen. Sagten ihr, sie solle ganz normal weitermachen …

Ich kann nicht.

Sie hatte es versucht, verdammt noch mal. Einen Monat nach dem Vorfall hatte sie sogar versucht, wieder zu arbeiten. Sie war zum College-Campus gefahren, in ihren Geschichtskurs marschiert, und als sie dann da oben am Pult gestanden und auf ihre Studenten hinuntergesehen hatte, hatte sie nichts anderes mehr wahrgenommen als … das Geflüster. Das Mitleid. Die starrenden Blicke, die einfach nicht aufhören wollten.

Bailey war der kalte Schweiß ausgebrochen. Sie hatte die Stunde mit Mühe und Not überstanden und sich danach in ihrem Büro heftig übergeben müssen.

Sie hatte verdammtes Glück gehabt. An der Uni war gerade eine andere Stelle frei geworden – oder vielleicht hatte ihr Chef sie ebenfalls bemitleidet und dafür gesorgt, dass dieser Job überhaupt ausgeschrieben wurde. So oder so – sie hatte danach nicht mehr vor der Klasse stehen müssen. Sie konnte noch immer ihre geliebten Geschichtskurse geben – aber online.

Ohne starrende Blicke. Ohne Geflüster. Ohne Mitleid.

Sie hasste es, mitleidig behandelt zu werden. Fast so sehr, wie sie die Angst hasste, die sie noch immer so eisern umklammert hielt.

Aber jetzt befreie ich mich davon. Jetzt habe ich LOST an meiner Seite. Bailey streckte den Zeigefinger aus und drückte auf den Aufzugknopf. Sofort öffnete sich die Tür, und sie hastete in die Kabine. Während sich die Tür zu schließen begann, atmete sie langsam aus. Ließ ihre angespannten Schultern sacken. Endlich musste sie einen Moment lang nicht so tun, als ob –

Eine Männerhand schob sich in den Spalt und brachte die Aufzugtür dazu, sich wieder zu öffnen.

Dunkle Augen. Dunkles Haar. Gefährlich. Tödlich.

Asher Young.

Sämtlicher Sauerstoff schien aus dem Aufzug zu entweichen. Sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken an die Spiegelwand hinter ihr.

Sein kantiger Kiefer spannte sich noch mehr an. »Ich will nicht, dass Sie Angst vor mir haben.«

Tja, zu dumm. Heutzutage habe ich vor allem und jedem Angst. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen hatte, ohne ständig schweißgebadet hochzuschrecken. Wann sie nicht bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammengezuckt war.

In letzter Zeit hatte sie sogar das Gefühl, beobachtet zu werden. Selbst in ihrer eigenen Wohnung mit der Hightech-Alarmanlage fühlte sie sich nicht sicher.

Vielleicht werde ich mich nie wieder sicher fühlen. Das war auch so ein Geschenk des Todesengels.

Vorsichtig zog sie sich die Ärmel ihres Oberteils über die Handgelenke. Sie hasste ihre Narben. Noch mehr Geschenke, die ich bis in alle Ewigkeit mit mir herumtragen werde.

Asher trat in den Aufzug und drückte auf den Knopf für die Tiefgarage. Als sich die Tür schloss, fühlte sich der Aufzug viel kleiner an als zuvor. Oder wirkte Asher einfach viel größer?

Sie schätzte ihn auf mindestens ein Meter neunzig pure Muskelmasse. Breite Schultern. Kräftige Arme. Gut gebaut. Der Typ Mann, bei dem sie vor ihrer Entführung durchaus zweimal hingesehen hätte.

Bevor ich vor jedem Menschen Angst hatte.

Und sie hasste diese Angst. So sehr. Der Todesengel war Geschichte, schmorte in der Hölle. Warum also war es ihr nicht möglich, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen?

»Sie können mir vertrauen«, sagte Asher.

»Das mit dem Vertrauen ist für mich nicht so einfach«, antwortete sie. Offen gestanden war es nicht nur nicht einfach, sondern gänzlich ausgeschlossen. Inzwischen. Früher einmal hatte sie die Welt mit anderen Augen betrachtet. Ganz ohne all die Dunkelheit. Sie hatte Menschen blind vertraut. Dumm.

Aber das war vorbei.

Asher. Sie zwang sich dazu, ihn anzuschauen. Ein intensiver Mann. Gutaussehend, auf eine raue Art. Dunkelbraune Augen, eine gerade römische Nase. Seine Haare waren dicht und kohlrabenschwarz, vielleicht ein bisschen lang. Auf seinem kantigen Kinn zeichnete sich der Hauch eines Dreitagebarts ab, und ihr Blick hing an der weißen Narbe, die sich dort über die Haut zog.

Stammt diese Narbe von einem Messer? Bailey war sich ziemlich sicher. Mit solchen Narben kannte sie sich schließlich aus.

Der Aufzug gab ein leises Bing von sich. Die Tür öffnete sich. Weitere Leute kamen herein, und Asher rückte näher an sie heran. Sie schnappte nach Luft und atmete seinen Geruch ein – satt, männlich.

Seine Schulter streifte ihren Arm, und Bailey fuhr zusammen. Verdammt. Sie hasste es, wenn sie so zusammenzuckte. Sie hasste das, wozu sie geworden war.

LOST war in einem Hochhaus in der Innenstadt Atlantas untergebracht. In dem Gebäude gab es zahlreiche weitere Büros, und die Leute im Aufzug gehörten zu diesen anderen Büros. Ein Typ – blond, in einem dunklen Anzug – sah sie mit einem flirtenden Lächeln an. Sie drehte den Kopf weg. Sie flirtete nicht. Nicht mehr. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie überhaupt noch wusste, wie das ging.

Aber sie spürte, wie sein Blick auf ihr ruhte. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, und sie wollte einfach nur, dass sich der Aufzug schneller bewegte. Wie viele Etagen hatte dieses Gebäude? Wie viele –

»Kenne ich Sie?«

Der blonde Typ. Er sprach mit einem leicht näselnden New Yorker Akzent. Sie war schon immer gut darin gewesen, Akzente zuzuordnen.

Asher zum Beispiel … er kam aus Texas. Wahrscheinlich aus der Nähe von Dallas. Sein schleppender Südstaatentonfall hatte sie förmlich überrollt.

Und der Todesengel, er hatte stets geflüstert, sodass sie nicht in der Lage gewesen war, den –

Sie knallte der Erinnerung die Tür vor der Nase zu.

Der Blonde trat näher. »Ich kenne Sie.«

Bailey schüttelte den Kopf, und ihre Schulter drängte sich ein wenig näher an Asher. »Nein, wir kennen uns nicht.« Sie kannte niemanden in Atlanta. Sie war in North Carolina aufgewachsen und dort auch aufs College gegangen. Und ich wäre dort fast gestorben. Klar, sie war schon ein paarmal in Atlanta gewesen, aber nur bei Zwischenstopps auf der Durchreise. Sie hatte hier keine Freunde. Keine Familie. Ich habe nirgendwo Familie, außer auf dem Friedhof.

Der Aufzug kündigte erneut sein Halten an. Ein paar Leute stiegen aus. Nicht der blonde Typ. Er kam noch näher. »Ich habe Sie im Fernsehen gesehen«, sagte er mit aufgeregtem Unterton in der Stimme. »Sie sind –«

Ashers sonnengebräunte Hand schob den Mann in Richtung Tür. »Ihre Etage.«

»Was? Nein. Ich muss hier nicht raus.« Der Blonde starrte Asher an.

Asher stellte sich vor sie. »Doch, müssen Sie. Also schieben Sie Ihren Arsch hier raus, verdammt noch mal.« Er war wie eine Wand zwischen ihr und dem blonden Typen. Beschützend. Unerschütterlich. Beängstigend.

Am liebsten wäre Bailey selbst aus dem Aufzug gestürzt. Aber sie blieb wie angewurzelt stehen. Der Blonde knurrte etwas, fluchte und stürmte dann den Flur hinunter. Und er war nicht allein. Tatsächlich verließen jetzt alle den Aufzug – alle außer ihr und Asher. Als sich die Tür wieder schloss, stieß sie langsam den Atem aus, den sie anscheinend angehalten hatte.

Asher drehte sich zu ihr um, als der Aufzug sich wieder in Bewegung setzte. »Passiert Ihnen das oft?«

»Die Leute kennen mein Gesicht. Es war zu oft im Fernsehen.«

Obwohl sie in der ganzen Zeit nur ein Interview gegeben hatte. Ein einziges. Dieses eine Interview hatte gereicht, um ihr zu zeigen, dass die Reporter nur an den blutigen, ekelhaften Details ihres Falls interessiert waren. Sensationsgier.

Und an ihrem Schmerz.

Sie hatte auch die Erfahrung gemacht, dass Leute, sobald sie ihr Gesicht sahen und sofern sie über die Nachrichten im Bilde waren, sofort glaubten, sie zu kennen. Aber sie kannten sie nicht. Niemand kannte all die Geheimnisse, die sie mit sich herumtrug. Und sie hoffte, dass niemand sie je kennen würde. »Ich rede mir immer noch ein, dass mich die Leute endlich vergessen werden, wenn genügend Zeit vergangen ist.«

Er blickte sie unverwandt an – absolut fokussiert auf mich. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand Sie jemals vergessen kann.«

Der Aufzug hielt an. Endlich. Sie waren in der Tiefgarage angekommen. Asher stieg zuerst aus, und sie eilte ihm nach. Ihr Auto stand nur wenige Reihen weiter. Ein paar Sekunden noch, und sie wäre in Sicherheit. Sie war noch immer total angespannt, wann immer sie zu ihrem Wagen ging. Schließlich hatte der Todesengel sie genau so entführt. An ihrem Auto, als sie schon dabei gewesen war, es aufzuschließen. Er war hinter ihr aufgetaucht, hatte sich im Fenster gespiegelt. Groß, stark, mit dieser Skimaske über dem Gesicht. Sie war zu ihm herumgewirbelt, um –

Asher nahm ihre Hand. »Sie zittern.«

Das muss aufhören.

»Ich bin es nur nicht gewohnt, so viele Menschen um mich zu haben«, sagte Bailey. Das war nur eine halbe Lüge. Sie vermied Menschenmengen, weil Typen wie dieser blonde Kerl aus dem Aufzug sie erkannten. Flüsterten. Genau wie meine Studenten geflüstert haben. Sie starrten sie an. Gaben ihr das Gefühl, ein Freak zu sein, wo auch immer sie hinging. Also blieb sie so oft wie möglich zu Hause. Versteckte sich.

»Sie werden sich daran gewöhnen müssen, mich um sich zu haben.«

Seine Finger strichen über ihre Knöchel. Eine Hitzewelle durchströmte ihren Körper, und diese Reaktion kam so plötzlich, so intensiv, dass sie versuchte, sich von ihm loszureißen.

Er hielt sie fest. »Ich bin einer von den Guten. Das schwöre ich.«

Gehört überhaupt jemand zu den Guten?

»Ich werde Ihnen helfen. Aber ich will nicht, dass Sie jedes Mal zusammenzucken, wenn ich in Ihrer Nähe bin. Ich will nicht, dass Sie Angst vor mir haben.«

Sie war nicht bereit, ihm ein Versprechen zu geben, das sie nicht halten konnte. Also wechselte sie das Thema. »Wann kommen Sie nach North Carolina?«

»Wir können kurz bei mir zu Hause vorbeifahren und dann noch heute Abend los, wenn Sie wollen.«

Moment – was?

Er lächelte sie an, und auf seiner Wange bildete sich ein Grübchen. Nein, eigentlich war es zu stark und zu tief für ein Grübchen. Vielleicht eher eine Kerbe? »Deshalb bin ich Ihnen zum Aufzug gefolgt. Es ergibt keinen Sinn, noch auf irgendetwas zu warten. Sie wollten LOST anheuern, und jetzt haben Sie uns. Und für mich fängt der Job genau jetzt an.«

Seine Berührung fühlte sich so gut an. Okay, womöglich hatte sie zu lange wie eine Einsiedlerin gelebt und reagierte jetzt deshalb so intensiv auf ihn. Sie hatte niemanden mehr gedatet, noch nicht mal einen Mann auch nur zweimal angesehen, seit dieser Alptraum begonnen hatte.

Davor hatte ich einen Freund – einen Geliebten. Aber ihm gefiel nicht, was aus mir geworden ist.

Royce hatte sich so schnell von Bailey abgewandt. Und nachdem er sie mutterseelenallein im Krankenhaus hatte liegen lassen, hatte sie sich voll und ganz in sich selbst zurückgezogen.

Asher zog seine Hände ganz langsam weg, aber die Wärme, die sie bei seiner Berührung durchströmt hatte, blieb erhalten. »Fahren Sie mir nach bis zu meiner Wohnung. Ich habe da immer einen gepackten Koffer stehen. Das dauert nur fünf, höchstens zehn Minuten, und dann können wir los.«

Bis zu ihr nach Hause brauchte man nur dreieinhalb Stunden, aber …

Es war schon spät, und es dämmerte bereits.

»Oder wir bleiben noch über Nacht in Atlanta und fahren morgen früh los. Sie entscheiden.«

»Ich – ich habe kein Hotelzimmer gebucht.« Und sie wollte ihm nicht unbedingt auf die Nase binden, dass sie all ihre Ersparnisse zusammengekratzt hatte, um sich LOST leisten zu können. Sie hatte keine Ahnung, wie lange die Ermittlungen dauern würden, und wollte deshalb lieber vorsichtig mit ihrem Geld umgehen. Ich muss sie finden, und wenn es mich in den finanziellen Ruin treibt.

»Ich bin mir sicher, dass wir ein Zimmer für Sie auftreiben«, sagte er. »LOST kann –«

»Nein, danke.« Sie würde heute Abend noch nach Hause fahren. Sie hatten noch genug Zeit.

»Dann lassen Sie uns fahren.« Er sprach so sanft und behutsam mit ihr, aber als er dem blonden Typen im Aufzug entgegengetreten war, hatte er absolut nichts Behutsames an sich gehabt. Alles an ihm hatte Gefahr und Bedrohung ausgestrahlt. »Je früher wir unterwegs sind, desto besser.«

Sie nickte kurz und ging zu ihrem Auto hinüber. Er folgte ihr, und als sie den Schlüssel hob, um den Wagen aufzuschließen, sah sie sein Spiegelbild im Fenster.

Die gleiche Statur. Groß und stark. Genauso wie der Todesengel.

»Sie zittern schon wieder«, stellte Asher fest.

Sie riss die Autotür auf und sprang in den Wagen. »Ich fahre Ihnen nach.« Sie versuchte, die Tür zu schließen, aber er hielt sie mit einer Hand fest und beugte sich zu ihr herunter.

»Bailey Jones …« Er sagte ihren Namen so sanft, als wolle er ihn sich auf der Zunge zergehen lassen. »Es gibt ein paar Dinge, die Sie über mich wissen sollten, bevor wir anfangen.«

Es gibt auch einige Dinge, die Sie über mich wissen sollten. Aber die werde ich Ihnen nicht erzählen … oder Sie werden mir nicht mehr helfen.

»Erstens: Sie müssen keine Angst vor mir haben. Teil meines Jobs bei LOST ist es – nun, sagen wir, Gabe hat mich eingestellt, um noch mehr Stärke zu zeigen. Es ist meine Aufgabe, zu beschützen. Ich werde Sie beschützen und gleichzeitig Hinweise zu dieser verschwundenen Frau suchen. Mit mir an Ihrer Seite wird Ihnen nichts zustoßen.«

Sie nickte, aber –

Das glaube ich Ihnen nicht. Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Ich habe es am eigenen Leibe erfahren.

»Und zweitens … Sie brauchen mich nicht zu verarschen.«

Sie blinzelte überrascht.

Er lachte – ein tiefes, kehliges Geräusch, das Bailey gerne hörte.

»Glauben Sie, ich merke es nicht, wenn Sie eine Maske tragen? Sie haben sich selbst ganz fest eingeschlossen, komplett unter Kontrolle, oder? Aber das müssen Sie in meiner Gegenwart nicht. Ich gehöre nicht zu den Cops in North Carolina. Ich werde Sie nicht verurteilen. Und ich bin kein dämlicher Reporter, der Ihre Geschichte in die ganze Welt hinausposaunen will.«

Ich trage eine Maske, weil ich weiß, dass tief im Inneren irgendetwas nicht stimmt mit mir. Seit diesem Feuer. Seit der Grube. Seit dieser Hölle.

»Also würde ich sagen, wir stellen eine Kein-Blödsinn-Regel auf«, murmelte Asher.

Ihre Hände schlossen sich um das Lenkrad. »Regeln befolgen – ist das auch so ein Militärding wie vorhin?«

»Regeln brechen … deshalb habe ich bei den SEALs aufgehört.«

Er war bei den SEALs gewesen? Sie sah zu ihm hoch. »Gibt es noch eine dritte Regel?«

»Dazu kommen wir später …«

Sie startete den Motor. »Ich folge Ihnen zu Ihrer Wohnung.«

»Haben Sie irgendwelche Regeln für mich?«

Tun Sie mir nicht weh. Verurteilen Sie mich nicht. Bemitleiden Sie mich nicht. Bailey räusperte sich. »Das können wir auch später besprechen.«

Er schloss die Wagentür. Durch das Fenster blickte Bailey ihm nach. Er ging nicht auf ein Auto zu, sondern zu einem riesigen Motorrad hinüber. Als er den Motor anließ, erfüllte ein dunkles Grollen die Tiefgarage.

Asher setzte einen Helm auf – einen schwarzen Helm mit einem getönten Visier, das sein Gesicht komplett verdeckte. Ihr Herz schlug in einem schnelleren Takt, während sie ihn beobachtete.

Gefährlich.

Das war ihr erster Gedanke gewesen, als sie ihm in dem Konferenzraum begegnet war.

Aber er war auf ihrer Seite. Keine Bedrohung für sie. Er würde ihr helfen.

Das hoffte sie jedenfalls. Denn wenn sich nicht bald etwas änderte, würden die Cops in North Carolina und ihr Psychiater recht behalten.

Vielleicht werde ich wirklich verrückt.

Der Beobachter ließ sich tiefer in seinen Sitz sinken, als sich die beiden aus der Tiefgarage entfernten. Die Kamera in seiner Hand fühlte sich feucht an, nass von seinem Schweiß.

Bailey. Die wunderschöne Bailey Jones. Er folgte ihr jetzt schon so lange, dass es ihm inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen war.

Als sie North Carolina verlassen hatte, war er neugierig gewesen, wo sie wohl hinwollte.

Normalerweise fuhr Bailey nie weit weg. Sie hatte zu viel Angst. Die große, stolze Überlebende – hatte jetzt Angst vor ihrem eigenen Schatten.

Aber heute hatte sie ihn überrascht. Sie war bis nach Atlanta gefahren. Hatte noch nicht mal gezögert, bevor sie diesen Wolkenkratzer betrat. Sie war in den Aufzug gestiegen und verschwunden. War stundenlang dort oben gewesen, und als sie wieder auftauchte …

War er an ihrer Seite gewesen. Der Typ, der eben ihre Hand gehalten hatte. So sanft mit ihr gesprochen hatte. Im Gespräch mit ihr gelacht hatte.

Böse Bailey. Hast mich getäuscht. Tust so, als wärst du so ein braves Mädchen, dabei hast du in Wirklichkeit einen heimlichen Liebhaber.

Die Rücklichter ihres Wagens verschwanden soeben vom Ausgang der Tiefgarage. Lächelnd startete er sein Auto. So langsam wurde die Sache mit Bailey interessant. Endlich, verdammt noch mal.

Er konnte es kaum erwarten, zu sehen, was als Nächstes geschehen würde.

Komm schon, Bailey. Zeig mir was Gutes. Oder etwas Böses … etwas sehr, sehr Böses.

Kapitel zwei

»Sie hätten nicht mit hierherkommen müssen«, sagte Bailey und drehte sich auf ihrer kleinen Veranda zu Asher um. »Sie hätten einfach in dem Motel im Ort bleiben können.« Sie waren dreieinhalb Stunden durchgefahren, über die dunklen Straßen von Atlanta nach North Carolina. Bailey hatte das Lenkrad mit eisernem Griff umklammert gehalten, während die Berge an ihr vorbeizogen. Sie wollte einfach nur nach Hause. Weg von der Dunkelheit, die sie umgab.

Jetzt waren sie in Brevard, einer kleinen Stadt in Transylvania County, North Carolina. Ihrer Heimat – oder besser gesagt der Heimat ihrer Eltern. Nach ihrer Entführung hatte sie sich in die Sicherheit dieses kleinen historischen Hauses mitten in dem malerischen Städtchen geflüchtet. Idyllisch gelegen am Fuße der Blue Ridge Mountains, war Brevard ein echtes Schmuckstück.

Und es war hier … jetzt sicher. Der Todesengel war nicht mehr auf der Suche nach Opfern. Ihre Heimatstadt würde sie beschützen. Zumindest hoffte sie das.

»Gehört zum LOST-Paket dazu«, murmelte Asher. »Begleitung bis zur Türschwelle.«

Er stand so dicht neben ihr. Wenn jetzt jemand zufällig vorbeikäme, würde der Betreffende denken, sie wären ein Paar, das gerade von einem Date nach Hause zurückkehrte.

Liebhaber. Ja, klar. Sie war sicher nicht Ashers Typ. Royce hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass sie niemands Typ mehr war.

»Bailey? Stimmt irgendetwas nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Danke für den Begleitschutz«, sagte sie mit ihrer leisen, heiseren Stimme, die ein weiteres Andenken an den Todesengel war. »Sie haben das Motel gesehen, an dem wir vorbeigefahren sind, oder? Da können Sie sich ein Zimmer nehmen.«

»Alles klar«, erwiderte er und neigte den Kopf zu ihr hinunter. »Schlafen Sie gut, Bailey. Ich komme morgen früh um acht vorbei.«

Sie nickte. Nichts würde sie davon abhalten, morgen früh bereit zu sein.

Ich werde mir mein Leben zurückholen.

Er drehte sich um und ging die Stufen der Veranda hinunter. Sein Motorrad stand unten an der Straße.

»Asher!«

Nein, sie hatte nicht vorgehabt, ihm nachzurufen. Oder?

Aber er drehte sich schon zu ihr um, und ihr Herz raste in ihrer Brust, während sie fieberhaft überlegte, was sie sagen sollte. »Warum kommen Sie nicht noch kurz herein?« Ich hasse es, das Haus alleine zu betreten. Vor allem spätabends. Wenn es so dunkel ist wie jetzt … und … »Ich würde gerne noch ein bisschen mit Ihnen über den Fall reden.« Das klang gut. Sogar ziemlich selbstbewusst. Nicht verzweifelt. Hoffte sie.

»Okay.« Er straffte die Schultern und kam auf sie zu. Sein ruhiger, lässiger Gang war ihr sofort aufgefallen. Alles andere als hektisch, erinnerte er sie an die Bewegung einer Wildkatze. Die sich an ihre Beute heranpirschte.

Bailey fingerte an ihrem Schlüsselbund herum und schloss die Haustür auf. Alle drei Schlösser. Dann eilte sie zur Alarmanlage hinüber und tippte den Code ein. Asher folgte ihr mit bedächtigem Schritt und blieb dann im Flur stehen. Er war gerade weit genug hereingekommen, um die Tür hinter sich schließen zu können.

»Sie vergessen Regel Nummer eins«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Regel Nummer – oh, richtig. Sie müssen keine Angst vor mir haben.

»Es liegt nicht an Ihnen.« Sie legte ihre Tasche und ihren Schlüsselbund auf dem Flurtisch ab. »Nachts ist es immer schwierig für mich.« Sie zwang sich dazu, ihn anzusehen.

Ein Muskel zuckte an seinem Kinn.

»Kann ich – ähm, Ihnen einen Kaffee anbieten?« Das machte man doch so, oder? Unter normalen Leuten? Man trank Kaffee?

»Nicht um diese Uhrzeit. Danke.«

Oh, Scheiße. Ja, er verbrachte seine Nächte vermutlich mit Schlafen. Schön für ihn.