Twisted - Riskante Wahrheit - Cynthia Eden - E-Book

Twisted - Riskante Wahrheit E-Book

Cynthia Eden

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Beschreibung

Ein fesselnder Wettlauf gegen die Zeit zwischen heißem Verlangen und dunkler Bedrohung.

LOST-Agent Dean Bannon reist aus einem einzigen Grund nach New Orleans: Er will ein verschwundenes 16-jähriges Mädchen aufspüren. Doch dann trifft er auf die atemberaubende Emma Castille, die Touristen die Wahrheit vorhersagt ...

Emma würde niemals behaupten, dass sie eine besondere Gabe hat. Ihr fallen einfach nur Dinge auf, die andere nicht bemerken. So wie die Angst in den Augen eines weggelaufenen Mädchens - oder den Schmerz im Herzen eines ehemaligen FBI Agenten ... Die Chemie zwischen Dean und ihr ist überwältigend. Und Emma ist schon immer ihrer Leidenschaft gefolgt ... nicht den Anweisungen von irgendjemandem.

Doch dann wird in Emmas Wohnung eingebrochen und der Täter hinterlässt eine verstörende Nachricht: »Du bist die Nächste!« Von nun an lässt Dean sie nicht mehr aus den Augen ...

Cynthia Edens zweiter mitreißender Romantic Suspense Liebesroman um die LOST-Agenten wird dein Herz zwischen erotischer Spannung und fesselndem Thrill schneller schlagen lassen!

»Genau so, wie romantische Spannung sein sollte - mitreißend, rasant und sehr sexy! Mit der LOST Agency hat Eden eine komplexe Gruppe von Charakteren geschaffen, die die Leserinnen lieben werden.« (Karen Rose - Nr.-1-New-York-Times-Bestsellerautorin)

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert!

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Seitenzahl: 471

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumPrologKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnEpilog

Über dieses Buch

LOST-Agent Dean Bannon reist aus einem einzigen Grund nach New Orleans: Er will ein verschwundenes 16-jähriges Mädchen aufspüren. Doch dann trifft er auf die atemberaubende Emma Castille, die Touristen die Wahrheit vorhersagt …

Emma würde niemals behaupten, dass sie eine besondere Gabe hat. Ihr fallen einfach nur Dinge auf, die andere nicht bemerken. So wie die Angst in den Augen eines weggelaufenen Mädchens – oder den Schmerz im Herzen eines ehemaligen FBI Agenten … Die Chemie zwischen Dean und ihr ist überwältigend. Und Emma ist schon immer ihrer Leidenschaft gefolgt … nicht den Anweisungen von irgendjemandem.

Doch dann wird in Emmas Wohnung eingebrochen und der Täter hinterlässt eine verstörende Nachricht: »Du bist die Nächste!« Von nun an lässt Dean sie nicht mehr aus den Augen …

Über die Autorin

New York Times Bestsellerautorin Cynthia Eden schreibt düstere Romantic Suspense und sexy Paranormal-Romance-Romane.

Sie gehörte bereits drei Mal zu den Finalisten des RITA® Award – sowohl in den Kategorien Romantic Suspense als auch Paranormal Romance. Seit 2005 ist sie Vollzeitautorin und hat bislang über 70 Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht.

CYNTHIA EDEN

TWISTEDTÖDLICHE ERINNERUNG

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Neumann

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by Cindy Roussos

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Twisted

Originalverlag: Avon Books

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Natalie Röllig

Lektorat/Projektmanagement: Rena Roßkamp

Übersetzung: Sabine Neumann

Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © shutterstock/conrado

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3437-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

»Was sehen Sie in meiner Zukunft?«

Emma Castille sah langsam von den Karten auf, die ausgebreitet vor ihr auf dem Tisch lagen. Das junge Mädchen, das ihr gegenübersaß, war wahrscheinlich gerade mal sechzehn. Ihr blondes Haar hatte sie im Nacken zu einem unordentlichen Knoten gebunden, ihre Klamotten wirkten abgetragen, und in ihren weit aufgerissenen blauen Augen lag eine Angst, die sie völlig einzunehmen schien.

Emma berührte die Karten auf dem Tisch nicht. Sie sah einfach nur dem Mädchen ins Gesicht und sagte: »Ich sehe eine Familie, die auf dich wartet. Du musst zurück nach Hause. Zurück zu ihnen.«

Das Mädchen reckte das Kinn nach vorne. »Was, wenn sie mich gar nicht wollen?«

»Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, was sie wirklich wollen.« Es dämmerte. Der Tag wich langsam der Nacht. Emma wusste, dass sie den Jackson Square bald verlassen musste. Es wurde Zeit.

Um sie herum packten die anderen ihre Stände bereits zusammen. Hellseherinnen. Künstler. Musiker. Es war ein bunt gemischtes Grüppchen, das sich jeden Tag hier versammelte, um die Aufmerksamkeit der Touristen auf sich zu ziehen, die nach New Orleans kamen.

Emma war keine Hellseherin. Sie war weder musisch noch künstlerisch begabt. Aber sie hatte ein Talent, mit dem sie sich ihren Lebensunterhalt verdiente – Emma konnte Menschen lesen. Sie bemerkte, was anderen entging. Was andere zu leicht übersahen.

»Du läufst vor jemandem davon«, stellte Emma fest. Das Mädchen hatte sich im Laufe des Gesprächs schon mindestens viermal nervös umgesehen. Die Angst stand ihr nicht nur ins Gesicht geschrieben, sie schien sie einzuhüllen wie ein Schleier.

Emma wusste, wie es war, auf der Flucht zu sein. Manchmal fühlte sie sich, als liefe sie selber vor irgendjemandem oder irgendetwas davon.

»Wird er mich finden?«, fragte das Mädchen und beugte sich zu ihr herüber.

Emma war nahe dran, ihre Hand zu nehmen, um sie zu trösten. »Geh zurück zu deiner Familie.« Sie war eine Ausreißerin. Darauf hätte sie ihr Leben verwettet.

Das blonde Mädchen erblasste. »Was, wenn es die Familie ist, vor der man Angst hat?«

Emma erstarrte.

»Sollten Sie mir nicht sagen, dass alles gut wird?«, fragte die Blondine. Sie sprang auf, und ihre Stimme überschlug sich vor Angst. »Sollten Sie mir nicht erzählen, dass ich aufs College gehen, den Mann meiner Träume heiraten und bis an mein Lebensende glücklich sein werde?«

Passanten drehten sich zu ihnen um, denn sie schrie jetzt fast. »Das sollten Sie doch, oder?«

Emma schüttelte den Kopf. Sie glaubte nicht an Happy Ends wie im Märchen. »Geh zur Polizei«, sagte sie sanft. »Du bist in Gefahr.« An den Handgelenken des Mädchens sah sie blaue Flecken, die unter den langen Ärmeln ihres Shirts hervorlugten. Ein langärmliges Shirt im August? In New Orleans? Oh nein, da stimmte etwas ganz und gar nicht. Was für blaue Flecken versuchst du noch zu verstecken?

Das Mädchen machte einen Schritt rückwärts. »Helfen Sie mir.« Ihre Stimme war jetzt nur noch ein verzweifeltes Flüstern.

Emma stand auf. »Ich komme mit dir –«, begann sie.

Aber die Blondine schaute sich schon wieder über ihre Schulter hinweg um. Ihr zu dünner Körper erstarrte, und sie keuchte auf. Dann wirbelte sie herum und rannte los. Drängte sich durch die Touristenmassen, die den Platz bevölkerten. Rannte, als ob ihr Leben davon abhinge.

Und vielleicht war es auch so.

Emma rief ihr hinterher, das Mädchen blieb jedoch nicht stehen.

Lass sie gehen. Lass sie gehen.

Doch Emma war ihr schon auf den Fersen, rannte ihr nach, so schnell sie konnte. Aber New Orleans – oh, New Orleans –, diese Stadt war so vertrackt mit ihren engen Straßen und geheimen Pfaden. Emma konnte das Mädchen nirgends finden. Links, rechts, wo auch immer sie hinschaute – sie sah nichts als lachende Männer und Frauen, die ausgelassen in den Straßen feierten. All die Stimmen. So viele Menschen.

Und keine Spur von dem verängstigten blonden Mädchen.

Emma blieb stehen und lehnte sich außer Atem gegen eine Steinwand zu ihrer Rechten.

Doch diese Wand war … feucht. Sie hob die Hand, und im fahlen Licht der Abenddämmerung sah sie die rote Farbe. Aber das war keine Farbe. Es war –

Blut.

***

»Oh Julia, süße Julia, warum hast du versucht wegzulaufen?«

Er strich mit der Spitze des Messers über Julias Wange. Sie war bereits voller Blut, und sie würde noch mehr bluten, bevor er mit ihr fertig war.

Viel mehr.

Hinter seiner linken Hand schluchzte Julia auf.

Er bohrte ihr die Klinge tiefer in die Wange. »Jetzt muss ich dich noch mehr bestrafen. Das weißt du, oder?« Er flüsterte, denn die andere Frau war in der Nähe – die mit den dunklen Haaren und den zu blauen Augen. Sie war seiner Julia gefolgt. Stand nur ein paar Meter entfernt. Hatte nicht gemerkt, dass er mit Julia in die leer stehende Bar geschlüpft war.

Sie wusste nicht, dass er sie in diesem Augenblick im Arm hielt.

Die Frau sah auf ihre Hand hinunter.

Ah, hast du Julias Blut entdeckt?

Er hatte ihren Kopf gegen die Steinwand geschmettert. Damit sie nicht mehr weiterrennen konnte.

»Du wirst mir nicht entkommen«, flüsterte er Julia zu, während sich die Frau da draußen der Bar näherte. Die Fenster und Türen waren mit Brettern vernagelt, aber er hatte einen Weg hineingefunden. Mit Julia. »Ich behalte immer, was mir gehört.«

Die dunkelhaarige Frau hatte sie jetzt fast erreicht. Durch die schmalen Ritzen in den Brettern sah er ihre schlanke Silhouette. Ihr langes Kleid.

Er spürte, wie der Nervenkitzel der Jagd sich in ihm ausbreitete, und lächelte. »Immer …«

Kapitel eins

New Orleans war verdammt heiß. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Verdammt. Heiß. An diesem Septembernachmittag legte sich die Hitze wie eine Decke um Dean Bannon. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, die Krawatte abgelegt, aber das half alles nichts.

New Orleans war der Vorhof zur Hölle. Davon war er überzeugt. Aber er hatte hier eine Aufgabe zu erfüllen.

Die sechzehnjährige Julia Finney wurde hier vermutlich zum letzten Mal gesehen. Ihre Mutter war verzweifelt, doch die Polizei vor Ort hatte Besseres zu tun, als nach einer Ausreißerin zu suchen. Deshalb waren die Agenten von LOST aus Atlanta gekommen, um das Mädchen zu finden.

Dean bahnte sich langsam seinen Weg durch die Bourbon Street. Die Sonne war noch nicht mal untergegangen, aber die Straße platzte schon aus allen Nähten. Betrunkene Studenten und betrunkene Sechzigjährige torkelten in seltsamem Einklang von Bar zu Bar. Und Mädchen, die aussahen, als wären sie viel zu jung, standen in dunklen Eingängen und winkten die Männer heran.

Ann Finney hatte Angst, dass ihre Tochter Julia vielleicht zu einer dieser Frauen geworden war. Allein auf der Straße, ohne Geld und ohne Freunde … wo sollte sie sonst enden?

Dean wusste, dass es verdammt viele Alternativen gab.

Er nahm das Foto von Julia, das er dabeihatte, und zeigte es den Mädchen. Aber ihre glasigen Blicke glitten über das Bild hinweg. Niemand erkannte Julia. Keiner schien sie zu kennen.

Offenbar war sie niemandem aufgefallen.

Jetzt war Dean auf der Suche nach ihr, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es vielleicht schon zu spät war. Dennoch suchte er weiter, klapperte sämtliche Straßen ab, bis er schließlich zum Jackson Square kam.

Der Platz war voller Straßenkünstler. Jazzmusiker, Tänzer, die den Touristen für ein bisschen Kleingeld eine Show boten. Besuchermassen schoben sich über den Platz. So viele Menschen. Zu viele.

Es war nicht verwunderlich, dass ein sechzehnjähriges Mädchen hier einfach so verschwinden konnte, ohne eine Spur zu hinterlassen.

»Nach wem suchen Sie?«

Er hörte die leise, heisere Stimme einer Frau ganz in der Nähe. Er drehte sich um, und da war sie – eine Frau mit schwarzer Lockenmähne und den blauesten Augen, die er je gesehen hatte. Sie saß im Schatten eines großen blauen Sonnenschirms, hinter einem kleinen Tisch, auf dem ein Schild ihn wissen ließ, dass eine »Beratung« zwanzig Dollar kostete.

Er kniff die Augen zusammen und musterte sie.

Als sie ihn anlächelte, bildeten sich tiefe Grübchen auf ihren Wangen. »Keine Angst, Hübscher. Ich beiße nicht.« Ihre zierliche, gebräunte Hand deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. »Kommen Sie schon.«

Warum? Sah er etwa aus wie ein Tourist, der in der Stimmung war, sich abziehen zu lassen? Da irrte sie sich gewaltig.

Aber wenn die Frau hier auf dem Markt arbeitete, sah sie jeden Tag eine Menge Menschen kommen und gehen. Und vielleicht, nur vielleicht, hatte sie auch Julia gesehen.

Dean zog den Kopf ein und trat in den Schatten des Schirmes. Aber er setzte sich nicht. Er blieb stehen, sodass die Frau den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm hochzusehen.

Ihr Lächeln und die Grübchen verschwanden. Und Dean ging nur ein Gedanke durch den Kopf –

Sie ist wunderschön.

Das Gesicht der Frau war verblüffend perfekt. Hohe Wangenknochen. Eine gerade Nase. Große, faszinierende Augen. Ein zierliches Kinn. Ihre Lippen waren voll, sexy und rot. Und auch wenn der Rest ihres Gesichts aussah wie das eines Engels, verliehen diese Lippen und die dunklen Locken ihr etwas Sündhaftes.

Nicht hier, nicht jetzt.

Dean hatte eine eiserne Regel, wenn es um Arbeit und Vergnügen ging: Er trennte beides strikt voneinander. Er war hier in einem Fall unterwegs. Und für ihn stand sein Auftrag an erster Stelle. Immer.

»Kein Cop«, sagte sie und hob eine Augenbraue. »Aber ein Regierungsbeamter …«, sie schürzte die Lippen. »FBI?«

Sollte er jetzt beeindruckt sein? Er war zehn Jahre lang beim FBI gewesen, hatte rund um die Uhr Gewaltdelikte aufgeklärt. Das, was er während dieser Zeit erlebt und gesehen hatte, würde den meisten Menschen bis an ihr Lebensende Albträume bescheren.

Dean hingegen träumte gar nicht. Wenn er schlief, war um ihn herum nur Dunkelheit.

Er zog das Foto aus der Tasche. Ihm entging nicht, dass der Blick der Wahrsagerin daran hängenblieb und sie erstarrte. Nur für den Bruchteil einer Sekunde.

»Ich wette, Sie sehen hier jeden Tag eine Menge Leute vorbeikommen.«

Sie sah wieder zu ihm hoch. »Ich bin nicht jeden Tag hier.«

Dean machte einen Schritt auf sie zu. Sie verspannte sich. Dean legte Julias Foto auf den Tisch. Als er sich näher zu der Frau beugte, hätte er schwören können, einen Hauch von Jasmin an ihr zu riechen. Auf der Farm seines Großvaters, wo er aufgewachsen war, hatte es auch immer so gerochen.

Sie sah das Foto nicht an.

»Die meisten Menschen verschwinden aus einem guten Grund«, sagte sie, ohne den Blick von seinem Gesicht abzuwenden. »Sie wollen nicht gefunden werden.«

Was für ein Pech. »Es ist mein Job, sie aufzuspüren.«

Sie legte den Kopf noch ein bisschen weiter in den Nacken, und eine dunkle Locke fiel ihr über die Schulter. Sie trug goldene Ohrringe, Creolen, die sich sanft bewegten, während sie ihn musterte. Diese Ohrringe, ihre Haare, ihre wunderschönen Augen – ja, all das verlieh ihr eine verführerische, geheimnisvolle Aura. Die Touristen mussten sie lieben.

Aber Dean wusste, dass die Frau vor ihm nichts Geheimnisvolles an sich hatte. Nur ein weiteres hübsches Gesicht, hinter dem sich Lügen verbargen. Sie war eine Schwindlerin, die all diejenigen über den Tisch zog, die dumm genug waren, auf ihre Masche hereinzufallen.

»Schauen Sie sich das Foto an«, sagte er leise.

Sie sah auf den Tisch hinunter.

Ihre Augen weiteten sich, nur einen kurzen Moment lang. »Was hat sie getan?«

Interessante Frage. »Ihre Familie sucht sie.«

Die Frau hob eine Hand. Ihre Finger berührten das Foto. »Sie sollte nach Hause gehen. Ich … habe es ihr gesagt.«

Dean umfasste ihr Handgelenk mit einer blitzschnellen Bewegung. »Sie haben sie gesehen.« Er spürte eine leichte Unregelmäßigkeit auf ihrer sonst glatten Haut. Eine Narbe?

Sie sah noch immer auf das Foto. »Es ist bestimmt schon länger als eine Woche her. Sie kam abends zu mir. Kurz bevor die Sonne unterging.« Ihre vollen Lippen verzogen sich, und sie wirkte traurig. »Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass Sie sie finden werden.«

Zur Hölle.

Sie zog ihr Handgelenk zurück, aber Dean ließ sie nicht los.

»Dieses Mädchen ist sechzehn Jahre alt«, sagte er. »Sie ist von zu Hause weggelaufen, aus Atlanta, und ihre Mutter ist verzweifelt auf der Suche nach ihr. Sie will, dass sie wieder nach Hause kommt.«

»Ich glaube nicht, dass sie zurückwollte.«

Die Wahrsagerin stand auf und trat aus dem Schatten des Schirms hervor. Sie war kleiner, als er angenommen hatte. Dean war 1,90 m groß und die Frau vielleicht gerade einmal 1,65 m. Als sie versuchte, sich von ihm zu befreien, verstärkte er den Griff um ihr Handgelenk.

»Lassen Sie mich los.«

Er gab sie nicht frei, aber seine Hand glitt ein Stück höher, und er spürte noch mehr Narbengewebe auf ihrer Haut. Neugierig geworden, sah er hinunter und drehte ihren Arm um. Es waren definitiv Narben. Schwache weiße Linien, die sich die Innenseite ihres Unterarms entlangzogen und …

Er löste ihre Finger, die sie zur Faust geballt hatte. Auch ihre Handfläche war voller Narben. Kleine Einschnitte.

Die Wut, die sich in ihm breitmachte, überraschte ihn. »Wer hat das getan?«

»Es ist unhöflich, so etwas zu fragen«, entgegnete sie, und es klang, als würde sie ihn rügen wie eine strenge Lehrerin. »Haben Sie beim FBI keine besseren Verhörtechniken gelernt?«

»Ich bin nicht beim FBI.«

»Nicht mehr«, sagte sie. Ihr Lächeln blitzte wieder auf, und er merkte, wie er sich davon ablenken ließ. Verdammt, in diesem Lächeln verloren sich bestimmt ständig irgendwelche Männer.

Aber er war nicht irgendein Mann.

Und er ließ sich nicht von einem hübschen Gesicht aus der Fassung bringen.

»Das Mädchen«, stieß er hervor. »Erzählen Sie mir alles, was Sie über sie wissen.«

Ihr Blick glitt nach links. Nach rechts. Und Dean merkte, dass die Leute um sie herum sie beobachteten.

»Sie schaden meinem Geschäft.« Sie klang verärgert. »Es sieht so aus, als wären Sie ein wütender Liebhaber, der mir in der Öffentlichkeit eine Szene macht. Sie müssen mich jetzt wirklich endlich loslassen.«

Ein wütender Liebhaber? Okay, er war ihr wirklich ziemlich nahe gekommen. Dieser süße Jasmingeruch ging definitiv von ihr aus. »Sagen Sie mir, was ich wissen muss, und –«

»Gibt es hier ein Problem?« Die Stimme eines Mannes. Nahe. Scharf.

Dean drehte den Kopf und sah in das Gesicht eines uniformierten Cops, der sie stirnrunzelnd beobachtete.

»Ms. Castille? Belästigt Sie dieser Kerl hier?«

Dean speicherte gedanklich den Nachnamen der Lady ab, während er einen Schritt zur Seite trat und sie losließ. »Ich belästige sie nicht.« Na ja, irgendwie hatte er sie schon bedrängt.

Der Cop kam näher und musterte Dean argwöhnisch. Er war jung, vielleicht Anfang zwanzig und definitiv noch nicht lange bei der Polizei. »Es sieht aber ganz so aus. Deshalb schlage ich vor, dass Sie jetzt weitergehen, Freundchen.«

»Das ist schon okay.« Ms. Castille legte dem Cop eine Hand auf die Schulter. »Danke, Beau. Gut zu wissen, dass Sie auf mich aufpassen.«

Beau lächelte sie an. Er schien ganz hin und weg zu sein von dem Eine-Million-Watt-Lächeln, das sie ihm jetzt schenkte – Grübchen inklusive.

»Stets zu Ihren Diensten, Ma’am«, sagte er und errötete dabei ein bisschen. Dann wandte er sich wieder Dean zu, und sein Lächeln erlosch. »Ich würde gerne Ihren Ausweis sehen.«

Verdammt.

Aber was soll’s. Dean gab dem Cop seine Brieftasche.

Beau zog den Führerschein hervor. Ms. Castille stand direkt neben ihm, als er vorlas: »Dean Bannon, sechsunddreißig, aus Atlanta, Georgia.« Beau pfiff durch die Zähne. »Ich bin Fan der Braves.«

Dean wartete.

»Was führt Sie nach New Orleans?«, wollte der Cop wissen.

»Meine Visitenkarte ist im Portemonnaie«, entgegnete Dean.

Beaus Stirnrunzeln vertiefte sich, als er die Karte hervorzog. »LOST«, sagte er. »Davon … habe ich schon mal gehört.« Er sah Dean an. »Das LOST-Team hat doch vor Kurzem diesen Serienmörder auf Dauphin Island geschnappt!«

Ja, das stimmte. Und da Dauphin Island, Alabama, nicht allzu weit weg war von New Orleans, überraschte es Dean nicht, dass der Cop von den Vorfällen auf der Insel gehört hatte. »Wir haben ihn nicht lebend gefasst«, sagte Dean. Der Ladykiller hatte ihnen keine Wahl gelassen.

»Aber Sie haben ihn gestoppt.« Beau klang beeindruckt. »Und das ist die Hauptsache, wenn Sie mich fragen.«

LOST. Die Organisation, für die Dean arbeitete, bekam immer mehr Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit. Das Last Option Search Team. Deans Kumpel, der Ex-SEAL Gabe Spencer, hatte das Team zusammengestellt. Eine Gruppe von Experten aus unterschiedlichen Bereichen, die wussten, wie sie ihren Job zu erledigen hatten.

Wenn die lokalen Behörden die Suche aufgaben, die Familien der Vermissten dazu aber noch nicht bereit waren, wandten sie sich an LOST.

So wie Ann Finney. Niemand sonst hatte ihr geholfen, Julia zu finden. Ausgerissene Teenager verschwanden jeden Tag. Die Cops hatten also nicht gerade viel Zeit in die Suche nach ihr investiert …

Aber Dean würde nicht aufgeben.

»Auf Ms. Castilles Tisch liegt das Foto eines vermissten Mädchens«, sagte Dean. »Wir haben gerade über sie gesprochen, weil ich dachte, sie wüsste vielleicht, wo ich Julia finden kann.«

Beau gab Dean seine Brieftasche zurück. Dann sah er sich das Foto an.

Die Frau rührte sich nicht. Sie hielt den Blick weiterhin auf Dean gerichtet. »Ich habe Julia über eine Woche nicht gesehen«, sagte sie mit sanfter Stimme, »aber so viel kann ich Ihnen versichern: Als ich sie das letzte Mal sah, hatte sie Angst.«

Er erstarrte. »Woher wissen Sie das?«

Das Funkgerät des Cops meldete sich. Beau trat zur Seite, drehte den Kopf und widmete sich dem Gerät.

»Weil ich weiß, wie es aussieht, wenn jemand Angst hat.« Sie presste die Lippen zusammen. »Und ich weiß auch, wie blaue Flecken aussehen. Sie hatte welche an den Handgelenken. Jemand hat Julia wehgetan.«

Dean trat näher auf sie zu. »Warum zum Teufel haben Sie mir das nicht schon vorhin gesagt?«

Sie schielte zu Beau hinüber, der in sein Funkgerät sprach und dabei immer noch auf das Foto starrte. »Weil Sie gesagt haben, dass Sie sie wieder nach Hause schicken würden. Julia wollte das nicht. Sie hatte Angst vor ihrer Familie.« Sie sah ihn traurig an. »Es gibt einen Grund, wenn Menschen von zu Hause abhauen, wissen Sie? Wenn ihr Leben perfekt gewesen wäre, warum hätte ein Mädchen wie sie dann weglaufen sollen?«

Der Cop kam wieder auf sie zu. Er steckte das Funkgerät ein. »Kommen Sie doch mit zur Wache«, sagte er zu Dean. »Sie können mit den Detectives –«

»Meine Partnerin ist bereits vor Ort.« Während er sich hier draußen umsah, stattete Sarah Jacobs den lokalen Behörden einen Besuch ab, um dort Informationen einzuholen. Auch wenn Dean sich diesbezüglich keine großen Hoffnungen machte. Aber wenn er schon mal einen Cop vor sich hatte, konnte es ja nicht schaden zu fragen. »Haben Sie das Mädchen gesehen, Officer?«

Beau schüttelte den Kopf. »Ich sehe jeden Tag Hunderte Mädchen wie sie. Sorry.« Sein Funkgerät sprang wieder an. »Ich muss los. Bis bald, Ms. Castille.«

Während der Cop in der Menge verschwand, donnerte es in der Ferne. Dean sah zum Himmel hoch, wo dunkle Wolken aufzogen.

»Hier im Süden kommen Gewitter wie aus dem Nichts. Dann wüten sie eine Zeit lang und sind so schnell wieder weg, wie sie gekommen sind.« Die Frau wandte sich ab. Begann ihren Stand abzubauen. »Viel Glück bei der Suche nach dem Mädchen.«

Glaubte sie wirklich, dass er einfach so abhauen würde? »Sie sind meine wichtigste Spur.« Bisher war sie die einzige Person in dieser Stadt, die Julia wirklich gesehen hatte.

Natürlich immer vorausgesetzt, dass sie ihn nicht verarschte.

Sie klappte den Sonnenschirm ein. »Bourbon Street.«

Er sah sie fragend an.

»Als ich sie das letzte Mal sah, war sie dorthin unterwegs. Aber da landen wohl die meisten früher oder später, richtig?«

Dean zog eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich an.«

Sie nahm die Karte nicht. »Mir fällt nichts mehr ein.«

Dean griff nach ihrer Hand. Legte ihr die Karte auf die Handfläche. Starrte auf die feinen Narben. »Das sind Abwehrverletzungen«, stellte er fest, während es in der Ferne erneut donnerte.

Ihre leuchtend blauen Augen faszinierten ihn.

»Jemand hat Sie mit einem Messer angegriffen. Sie haben die Hände gehoben und dieser Jemand –« Ein verdammter Bastard. »– hat Ihnen Schnittwunden zugefügt. Die Klinge hat Ihre Handflächen verletzt. Und Ihren Unterarm.«

Ihre Finger schlossen sich um die Visitenkarte. »Sie haben das FBI verlassen, weil Sie die Schnauze voll hatten von all dem Tod um sich herum.«

Er erstarrte.

»Sie haben Narben unter Ihren Klamotten. Narben auf Ihrer Haut – unter der Haut.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Sie glauben nicht wirklich daran, dass Sie Julia lebend finden werden.«

Was zur Hölle?

»Aber immerhin versuchen Sie es.« Sie wandte sich von ihm ab. Nahm ihre Tasche, ihren Tisch und ging los. »Auf Wiedersehen, Dean Bannon.«

»Warten Sie!« Er hatte nicht vorgehabt, so laut zu rufen.

Sie drehte sich zu ihm um.

»Brauchen Sie … Hilfe?« Und warum stotterte er jetzt wie ein Teenager?

»Ich habe noch nie Hilfe gebraucht.« Sie ging weiter. »Ich hoffe, Sie finden sie.«

Dean rührte sich nicht, während er ihr nachsah. Sie ging auf einen kleinen Laden an der Ecke zu, den er vorher gar nicht wahrgenommen hatte.

Ein Esoterikladen.

Ich hoffe auch, dass ich sie finde.

Und die sexy Wahrsagerin hatte falschgelegen. Er wollte Julia lebend finden. Er wollte alle Vermissten retten.

Dean hatte in seinem Leben schon zu viele tot geborgen.

Er steckte Julias Foto wieder ein, spürte einen dicken Regentropfen auf seinem Arm, aber er rührte sich nicht. Die dunkelhaarige Frau war jetzt verschwunden. Irgendetwas an ihr kam ihm vertraut vor. Etwas, das an ihm nagte.

Noch ein Tropfen.

Wo habe ich Sie schon einmal gesehen, Ms. Castille?

Und … wer zum Teufel hat Ihnen wehgetan?

***

Im Hotel zog Dean sein durchnässtes Hemd aus und warf dabei einen Blick aus dem Fenster. Draußen zuckten Blitze über den Himmel. Dank der Lage seines Zimmers im 38. Stock hatte er einen sensationellen Ausblick über die Stadt. Unten schlängelte sich der Fluss durch die Straßen, dunkel und aufgewühlt, und hier oben kamen ihm die Wolken so nahe, dass er das Gefühl hatte, sie berühren zu können, wenn er die Hand ausstreckte.

Stattdessen riss er sich vom Fenster los und schaltete seinen Laptop ein. Er war auf der Suche – nach ihr.

Castille.

Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor, rief Erinnerungen an einen lange zurückliegenden Fall hervor. Damals hatte er gerade erst beim FBI angefangen.

Ms. Castille schätzte er auf Mitte zwanzig, und der Vorfall musste ungefähr zehn Jahre her sein.

Dean öffnete eine Suchmaske, die ihm Zugang zu Akten und Informationen gab, die nicht für jeden bestimmt waren, aber dem LOST-Team schon seit Langem zur Verfügung standen. Er gab ihren Namen ein.

Castille …

Dean erinnerte sich dunkel an den Fall, mit dem der Name in Zusammenhang stand.

Er tippte … Castille … Hellseher.

Die Suche ergab zahlreiche Treffer.

Haus des Todes … Hellseher John Castille kommt zu spät, um vermisste Teenager zu retten …

»Verdammt«, murmelte Dean. Er beugte sich vor, um den ersten Artikel zu lesen.

***

Er war wieder da.

Emmas Blick ruhte auf der Kundin, die ihr gegenübersaß und auf sie einredete, aber tatsächlich galt all ihre Aufmerksamkeit dem großen, dunkelhaarigen und viel zu gefährlichen Mann, der ein paar Schritte entfernt stand.

Dean Bannon.

Er war heute anders gekleidet. Er trug ein gestärktes weißes Hemd in der unerbittlichen Hitze von New Orleans. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, als würde das irgendetwas bringen. Außerdem trug er eine andere, teuer aussehende Hose.

Dieser Typ wirkte hier so was von fehl am Platz … und er sah aus, wie FBI-Agenten eben aussahen. Natürlich hatte sie seinen Beruf sofort erraten. Was erwartete er?

»Vielen Dank, Liebes«, sagte Mrs. Jones. Sie war eine Stammkundin, die Emma einmal wöchentlich aufsuchte. Eine liebevolle Großmutter Anfang siebzig. »Unsere Gespräche bedeuten mir sehr viel.«

Fast hätte Emma gelächelt. Ein echtes Lächeln gezeigt, aber sie verkniff es sich gerade noch rechtzeitig.

Mrs. Jones hielt ihr einen Zwanzigdollarschein hin. Emma streckte die Hand aus, aber anstatt das Geld zu nehmen, beugte sie sich näher zu der älteren Dame hinüber und hielt ihre zitterige Hand fest. »Ich will, dass Sie morgen zum Arzt gehen.«

Mrs. Jones sah sie mit großen Augen an. »W-warum?«

Weil sie deutlich spürte, wie die Finger der älteren Frau zitterten und sie blasser war als in der Woche zuvor. Weil sie kurzatmig klang, obwohl es dazu keinen offensichtlichen Grund gab. »Weil Sie sich mal wieder untersuchen lassen sollten. Sie waren viel zu lange nicht beim Arzt.«

»Ich … woher wissen Sie das?«

Emma sah ihr in die Augen. »Ich mache mir Sorgen um Sie und möchte, dass Sie so bald wie möglich einen Arzt aufsuchen.«

Dean kam näher. Belauschte er sie? So armselig.

»Ich – ich glaube, mir geht es gut …«

Emma schob den Geldschein zu Mrs. Jones zurück. »Habe ich Sie jemals falsch beraten?«

Mrs. Jones schüttelte den Kopf. »Nein. Deshalb komme ich ja zu Ihnen.«

Nein, sie kam zu Emma, weil sie einsam war und mit jemandem reden wollte, der ihr zuhörte.

»Dann vertrauen Sie mir. Gehen Sie zum Arzt.«

Mrs. Jones nickte. Dann stand sie auf und eilte davon. Dean Bannon kam auf Emma zu. Großartig. Sie kniff die Augen zusammen. »Sie sind nicht gut fürs Geschäft.« Hatte sie ihm das nicht schon gestern gesagt?

Er lächelte, aber es war wirkte unecht. Das wusste Emma, weil sie sich mit Körpersprache auskannte. Deans Lächeln zog sich zwar über seine sinnlichen Lippen, aber es erreichte seine Augen nicht. Der Mann war gut aussehend, vielleicht ein bisschen zu herausgeputzt. Für ihren Geschmack hätten seine Haare etwas länger sein können. Sie hätte gerne gesehen, wie sich seine leicht gebräunten Wangen vor Leidenschaft röteten, und –

»Sie sind nicht, wer Sie vorgeben zu sein.«

Oh, oh.

Sie musterte ihn, während sie sich fragte, was der Kerl wohl über sie herausgefunden hatte.

Es konnte gut sein, dass er zu viel wusste. In Zeiten des Internets ließen sich Geheimnisse mit nur einem Mausklick enttarnen.

Dean Bannon war noch näher gekommen. Sein muskulöser Körper bewegte sich mit einer Anmut, die man ihm auf den ersten Blick nicht zutrauen würde. Er war beherrscht … definitiv viel zu kontrolliert. Alles an dem Kerl schrie Selbstbeherrschung. Emma hingegen … na ja, sie hatte für so etwas nie viel übriggehabt.

Emma ließ sich von ihren Gefühlen leiten. Sie lebte für Leidenschaft und für den Augenblick.

Wofür auch sonst? Wenn doch alles andere so unsicher war. Die Vergangenheit ein Albtraum, die Zukunft so ungewiss. Warum also sollte man nicht im wundervollen Hier und Jetzt leben?

Aber leider war die Gegenwart nicht immer einfach nur märchenhaft.

Seine Haare waren ein bisschen zu kurz geschnitten. Der Gesichtsausdruck zu hart. Sein markantes Kinn wirkte verkrampft, und sein Blick war so starr auf sie gerichtet, als wäre er ein Raubtier und sie die Beute.

»Ich dachte, Hellseher dürfen keine negativen Vorhersagen machen.« Damit überraschte er sie. Ich habe ihm nie gesagt, dass ich Hellseherin bin. Emma wählte ihre Worte stets sehr sorgfältig. Wann immer möglich, vermied sie es zu lügen.

Ihr Vater hatte viel zu oft die Wahrheit verbogen. Und Emma hatte schnell gemerkt, dass das nicht ihre Art war. Auch wenn sie seine … anderen Begabungen geerbt hatte. Fähigkeiten, die nicht jedem mundeten und die nicht immer gesetzeskonform waren. In den seltensten Fällen.

»Haben Sie vorgehabt, der Frau Angst einzujagen?«, fragte Dean mit scharfer Stimme.

»Ich wollte sie dazu bringen, zum Arzt zu gehen.« Emma zuckte mit den Achseln. »Ich weiß, es ist furchtbar, wenn man sichergehen will, dass eine Freundin gesund ist. Wahrscheinlich bedeutet das, dass ich ein schrecklicher, böser Mensch bin.«

Er runzelte die Stirn.

Emma seufzte. »Sie würden so viel besser aussehen mit einem Lächeln im Gesicht. Einem echten.«

Dean blinzelte irritiert.

»Wieder nichts.« Also lächelte sie für sie beide. »Was verschafft mir heute die Ehre Ihres Besuchs? Kommen Sie für eine Beratung?«

Emma wollte keine Zeit verschwenden, indem sie mit ihm redete. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und an Julia gedacht.

Jetzt kenne ich den Namen zu dem Gesicht.

Und als Mitternacht vorbei war und sie immer noch nicht schlafen konnte, war Emma aufgestanden und zur Bourbon Street gegangen. Aber auch dort keine Spur von Julia.

Dean zog den Klappstuhl hervor, der an ihrem Tisch stand. Zu ihrer Überraschung warf er einen Zwanzigdollarschein auf den Tisch und nahm ihr gegenüber Platz.

Er hatte ihr Interesse geweckt. Emma setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

»Eine Beratung …«, sagte er.

Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Dieser Mann hatte eine dieser faszinierenden Stimmen, die man als Frau nie wieder vergaß, wenn man sie einmal gehört hatte. Tief und kratzig. Eine Tonlage wie gemacht für die Dunkelheit.

Und Sex.

Eine Stimme, in der sie keinen Akzent ausmachen konnte. Und Emma war gut darin, Details zu erkennen. Akzente, Gewohnheiten, Verhaltensmuster – ihr entging nichts.

Wie zum Beispiel die Art und Weise, wie sich Dean Bannon mit Daumen und Zeigefinger das Kinn rieb. Das machte er, wenn er nachdachte. War er wütend, zuckte sein linker Kiefer. Und –

»Sie heißen Emma Castille.«

Sie beugte sich nach vorne. »Ich kann die Karten legen, wenn Sie wollen. Viele Leute stehen darauf.« Sie wusste, was all die Karten bedeuteten, also war es kein Problem, sie zu lesen. Aber sie arbeitete lieber anders.

»Sie sind keine Hellseherin.«

Also wieder zurück zu diesem Thema?

Sie legte die Hände in den Schoß. Emma hielt nichts von nervöser Gestik. Sie verriet sich nicht gerne durch ihre Körpersprache.

»In Wirklichkeit sind Sie …« Ah, jetzt lächelte er. Ihr Vater hätte es das Grinsen eines Scheißefressers genannt. Höflichere Menschen sprachen wohl eher vom Honigkuchenpferd. Wie auch immer, dieses Lächeln nervte sie. »… eine Kriminelle, Ms. Castille. Eine Betrügerin.«

Erwartete er, dass sie sich theatralisch an die Brust schlug und aufkeuchte? Von wegen. »Wie schön für Sie«, sagte Emma stattdessen. »Sie haben Hintergrundinformationen zu mir recherchiert.« Sie sah ihm in die Augen. »Wahnsinn, was ein Mensch alles findet, wenn er eine Suchmaschine bedienen kann.«

Zwischen seinen Augen bildete sich eine tiefe Furche.

»Wie wäre es damit, dass ich Ihnen sage, was Sie sind?«, fragte Emma. »Ein abgehalfterter FBI-Agent, der mit seinem Job nicht klarkam. Sie haben jeden Tag eisern die Kontrolle behalten, aber die bösen Jungs haben einfach nicht aufgehört, oder? Sie haben sie gejagt, gefangen – und schon waren die Nächsten da. Es war, als würden Sie gegen eine Hydra kämpfen. Die Leichen stapelten sich, und Sie mussten hilflos zuschauen.«

Er sprang so schnell auf, dass der Stuhl hinter ihm auf den Boden knallte.

»Sie und Ihr Vater haben verzweifelte Menschen verarscht«, warf er ihr vor. »Sie haben sich als Hellseher ausgegeben und behauptet, Sie könnten ihre vermissten Kinder finden. Und Sie –«

»Wir haben sie gefunden.« Zwei Mädchen, die verschwunden waren. »Nur nicht rechtzeitig.« Und diese Sache würde sie ganz sicher nicht noch einmal aufrollen.

Emma drehte sich im Sitzen langsam ihrem Nachbarn Manuel zu. Er kannte dieses Signal. Es bedeutete, dass er ihren Stand übernehmen sollte. Sie würde auf keinen Fall hier bei diesem Arschloch sitzen bleiben, während er ihr die schmerzhaftesten Momente ihrer Vergangenheit aufs Brot schmierte.

Manuel, blass, tätowiert und mit Piercings in Lippen und Augenbrauen, reagierte schnell.

Emma sprang auf. Bedankte sich eilig und stürmte an dem Mann vorbei, den sie inzwischen insgeheim Agent Arschloch nannte. Sie drängte sich durch die Menge. Dieser Platz war immer voller Menschen. Deshalb liebte sie ihn so sehr. Es war einfach, hier in der Masse unterzutauchen. Einer von vielen zu sein.

Unsichtbar zu sein.

Im Schutz der Menge drängte sie sich an der Kirche vorbei. Sie kannte diese Straßen wie ihre Westentasche. Emma wohnte ganz in der Nähe. Sie würde nach Hause gehen und Agent Arschloch vergessen.

Ich werde verfolgt.

Sie blieb an der Kreuzung stehen. Eine Kutsche rollte an ihr vorbei. Stimmen hallten ihr entgegen.

Und er berührte sie.

Emma zuckte nicht zusammen. Sie schrie nicht. Sie sah einfach auf die Hand hinunter, die sich auf ihre Schulter gelegt hatte. »Wenn eine Frau vor Ihnen davonläuft, heißt das, dass Sie sich verdammt noch mal von ihr fernhalten sollen.«

Sein Griff verstärkte sich. »Wir sind noch nicht fertig.«

Sie sah zu ihm hoch. Hatte sie den Mann wirklich für gut aussehend gehalten? Lästig – mehr war Dean Bannon nicht.

»Ich muss dieses Mädchen finden. Und Sie sind die einzige Spur, die ich bisher habe.«

»Dann sind Sie kein besonders guter Ermittler.«

Ah, das Kieferzucken. Hervorragend.

»Sie sind auf dem Weg zu Ihrer Wohnung.« Er deutete über die Straße. »Ein Block in diese Richtung, stimmt’s? Der perfekte Ort für eine kleine Unterhaltung.«

Alles klar. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Allerdings hätte er die Zeit, die er damit verschwendet hatte, Nachforschungen über sie anzustellen, lieber dafür nutzen sollen, nach dem vermissten Mädchen zu suchen.

Emma machte einen Schritt nach vorne. Er folgte ihr auf dem Fuße. Sie redeten nicht, während sie sich ihrer Wohnung näherten. Ihrem kleinen Zufluchtsort, den sie so sehr liebte. Über einem Klamottenladen, mit einem Balkon, von dem aus sie auf die engen Gassen der Stadt hinunterschauen konnte. Sie stieg die schmale Treppe hinauf, die zu ihrem Apartment führte, und …

Emma blieb stehen, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Er brachte ihren gesamten Körper zum Zittern.

»Worauf warten Sie?«, wollte Dean wissen.

Emma schüttelte den Kopf. »Jemand ist hier gewesen.« Die Fußmatte vor ihrer Tür war verschoben. Nur ein paar Zentimeter, als wäre jemand mit dem Schuh drangestoßen. Sie sah den Umriss auf dem Boden, wo die Matte eigentlich hätte liegen sollen. Ein bisschen Dreck, ein bisschen Staub. Sie zeigten ihr, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

»Woher wissen Sie das?«

»Die Fußmatte liegt falsch.« Sie streckte die Hand nach dem Türknauf aus, und er bewegte sich viel zu einfach. »Und ich schließe meine Tür ab.« In dieser Hinsicht ging Emma auf Nummer sicher. Immer. Sie hatte einfach schon zu viel erlebt.

Aber jetzt war die Tür nicht verriegelt. Und als sie sie öffnete, keuchte Emma erschrocken auf.

Ihre Wohnung war vollkommen verwüstet. Spiegel zersplittert. Möbel zerschlagen. Kissen zerfetzt.

Dean fluchte, und im nächsten Augenblick packte er sie und zog sie hinter sich. »Bleiben Sie zurück«, befahl er. »Der Bastard könnte noch da drinnen sein.«

Dean stürmte in die Wohnung. Bewegte sich durch den Raum, ohne etwas anzufassen. Er suchte das kleine Apartment ab, während sie nervös in der Tür stand und fassungslos auf das Chaos blickte, das sich vor ihr erstreckte.

Dean verschwand in dem kleinen Nebenraum, in dem sie ihr Schlafzimmer eingerichtet hatte. Unwillkürlich hielt Emma die Luft an und wartete darauf, dass er zurückkam. Aber das tat er nicht.

Sie beugte sich nach vorne, um besser sehen zu können, und kniff die Augen zusammen. Dort war ein roter Fleck. Fast kreisrund.

Blut?

»Er hat Ihnen etwas hinterlassen.«

Sie fuhr herum.

»Hier drin ist niemand mehr«, sagte er knapp. »Wir müssen sofort die Polizei rufen. Vielleicht gibt es brauchbare Spuren.« Er winkte sie heran. »Aber vorher sollten Sie sich das hier ansehen.«

Sie ging zu ihm. Alles in ihr schrie, sie solle sich umdrehen und wegrennen. Nichts wie raus hier. Sie wusste kaum etwas über Dean Bannon. Wer sagte ihr, dass er es nicht gewesen war, der ihre Wohnung verwüstet hatte? Schließlich wusste er schon die ganze Zeit, wo sie wohnte.

Emma blieb stehen.

Deans Augen weiteten sich überrascht. »Sie haben Angst vor mir.«

Verdammt, ja, natürlich hatte sie Angst.

Emma zog ihr Handy hervor. Wählte den Notruf. Als eine Frau abhob, sagte sie: »Jemand ist in meine Wohnung eingebrochen. Er … er hat alles zerstört und ich … ich glaube, da ist Blut.«

Die Frau am anderen Ende fragte nach ihrer Adresse.

»Ich bin hier nicht allein«, sagte Emma ruhig. Weil sie gelernt hatte, niemandem zu vertrauen. Nicht in diesem Leben. »Ein Mann namens Dean Bannon ist bei mir.« Sie wollte, dass sein Name aufgenommen wurde. Nur für den Fall, dass … Scheiße, für den Fall, dass was? Dass er sie angriff, bevor die Cops hier waren? Dean machte keine Anstalten, sich auf sie zuzubewegen. Er stand einfach nur da und beobachtete sie mit seinen dunklen, unergründlichen Augen.

Emma gab der Frau ihre Adresse. »Sagen Sie den Cops, sie sollen sich beeilen, bitte.« Schnell.

Emma legte auf und sah sich um. Die Wohnung war völlig zerstört. Sie hatte hier so viel hineingesteckt, um sich ein Zuhause zu schaffen – einen Zufluchtsort –, und dann machte irgendein Bastard all das innerhalb weniger Stunden komplett zunichte.

»Ich tue Ihnen nichts«, sagte Dean leise. Sie wollte ihm glauben. Aber genau diese Lüge hatte sie schon von zu vielen Männern gehört. »Ich war das nicht, Emma. Ich bin einer von den Guten.«

Sie lachte. »So etwas gibt es nicht.«

Dean presste die Lippen aufeinander und warf einen Blick über seine Schulter in Richtung ihres Schlafzimmers. »Sie werden jemanden wie mich in Ihrem Leben brauchen.«

Sie bekam eine Gänsehaut. »Das bezweifle ich.«

Aber Dean nickte und sagte: »Kommen Sie mit ins Schlafzimmer.«

Emma schüttelte den Kopf.

»Er hat etwas hinterlassen, das Sie sich anschauen sollten.«

Sie starrte auf die Schlafzimmertür und bewegte sich langsam darauf zu. Dean trat einen Schritt zurück, aber seine Schulter streifte ihre, als sie an ihm vorbeiging. Aus irgendeinem Grund versetzte diese kurze Berührung alles in ihr in Alarmbereitschaft. Ihr wurde heiß. War ihr vorher kalt gewesen? Emma wusste es nicht.

»Am Spiegel«, sagte er.

Aber ihr Blick war auf das Bett gerichtet. Anscheinend hatte jemand die Bettwäsche, die Kissen und die Matratze mit einem Messer aufgeschlitzt.

Federn lagen auf dem Boden. Ihre Klamotten waren aus dem Schrank gezerrt und ebenfalls zerfetzt worden. Ihre Shirts. Ihre Röcke. Ihre BHs. Ihre Höschen.

Sie hielt den Atem an, als sie schließlich zum Spiegel blickte. Jemand hatte ihn zerschmettert. Lange Risse zogen sich über die Oberfläche und …

Da stand etwas. Mit roter Sprühfarbe hingeschmiert.

Du bist die Nächste.

Kapitel zwei

Sie hatte Geheimnisse vor ihm.

Dean verschränkte die Arme vor der Brust und sah Emma dabei zu, wie sie die Tür zu dem Esoterikladen öffnete. »Sie wollen wirklich hier übernachten?«, fragte er.

Emma hatte nichts gesagt, seit die Cops in ihrer Wohnung angekommen waren. Mit ausdrucksloser Miene hatte sie zugesehen, wie sie alles untersuchten und potenzielle Beweise eintüteten und mit Etiketten versahen. Als man ihr gesagt hatte, dass ihre Wohnung vorläufig als Tatort beschlagnahmt werde und sie heute Nacht woanders schlafen müsse, hatte sie ihr Apartment verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Im Hinterzimmer steht ein Feldbett«, sagte sie mit leiser, zu ruhiger Stimme. »Zerbrechen Sie sich mal nicht Ihr hübsches Köpfchen, DB, ich habe schon viel Schlimmeres überlebt.«

Sein hübsches Köpfchen? DB? Er hob die Augenbrauen. »Sollten Sie nicht eigentlich aufgewühlter sein? Ich meine, jemand hat gerade –«

»Alles zerstört, was ich besitze? Mein Leben bedroht?« Jetzt bildeten sich leichte Risse in der ruhigen Fassade, aber Dean erkannte keine Angst in Emmas Gesicht. Nur Wut. »Glauben Sie mir, ich bin außer mir. Und wenn ich den Bastard finde, der das getan hat, wird er dafür büßen.«

»Sie wollen ihn jagen?« Shit.

»Nein, aber er wird zu mir kommen. Ich bin die Nächste, oder? Und wenn er mich heimsucht, bin ich darauf vorbereitet.«

Dean schloss die Ladentür hinter sich. Eine kleine Glocke bimmelte, als die Tür zufiel und er sie verriegelte. »Emma Castille. Ich will Ihre Geheimnisse wissen.«

Sie stand an der Ladentheke und drehte sich mit einem Lachen zu ihm um, das viel zu spröde klang. »Ich dachte, die kennen Sie schon. Wie haben Sie mich genannt? Eine Kriminelle? Eine Betrügerin?«

Er ging auf sie zu. Legte die Hände rechts und links von ihr auf die Theke, sodass sie nicht wegkonnte. »Jemand versucht Ihnen wehzutun.« Dieser Angriff war etwas Persönliches gewesen. Viel zu intim. Er war in ihr Zuhause eingedrungen. Emma musste Angst haben.

Dean hatte so etwas schon oft gesehen. Zu oft.

Fixierung.

Der Täter hatte einen intimen Angriff auf die Beute geplant, die er am meisten begehrte. Dean brauchte unbedingt die Meinung seiner Kollegin Sarah Jacobs zu dem Fall. Sie war die Profilerin bei LOST, und wenn es darum ging herauszufinden, was in den Köpfen von Mördern vorging, war sie absolut unschlagbar. Sie könnte ihm sagen –

»Wenn Sie nicht vorhaben, mich zu küssen, dann halten Sie bitte Abstand.«

Seine Gedanken machten eine Vollbremsung, und sein Blick verfing sich an ihren Lippen.

»Ich werde den Kerl finden, der das getan hat. Den Mann, der das Schloss zu meinem Apartment aufgebrochen und dabei noch nicht mal einen Kratzer hinterlassen hat, aber trotzdem alles zerstörte, was sich in dieser Wohnung befand.« Sie hob das Kinn. »Ich werde diesen Bastard finden, das verspreche ich Ihnen. Ich lasse mich von diesem Arschloch nicht zum Opfer machen«, zischte sie. »Und ich werde ganz bestimmt nicht die Nächste sein! Was auch immer das heißen soll.«

Ihre Wangen waren rot angelaufen. Ihre Augen funkelten.

Er hatte recht gehabt … diese Frau war verdammt schön.

Und sie war sehr gefährlich.

Er bewegte sich nicht von ihr weg. Stattdessen beugte er sich noch näher zu ihr hinunter. Der Jasmingeruch kitzelte ihn in der Nase. Der Duft hüllte sie vollständig ein. »Woher wissen Sie, dass Sie dieser Hurensohn nicht in diesem Augenblick beobachtet? Was, wenn er Ihnen hierher gefolgt ist?«

Sie blinzelte. »Ich werde die Alarmanlage einschalten. Ich bin hier in Sicherheit.« Sie hob das Kinn und legte ihm eine Hand auf die Brust, um ihn wegzuschieben. »Verdammt, ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen Abstand halten. Es sei denn –«

»Ich habe vor, Sie zu küssen.« Er war versucht, genau das zu tun. Diese vollen roten Lippen auf seinen zu spüren. Sie zu schmecken. Emma Castille schien vor Lebenslust und Leidenschaft nur so zu sprühen. Und ihr Kuss wäre sicher heiß wie geschmolzene Lava.

Er hätte es nur zu gerne herausgefunden.

Aber …

Arbeit und Vergnügen gehören getrennt.

Dean machte einen Schritt zurück. Zwei.

»Ist es einfach, sich selbst so unter Kontrolle zu halten?«, fragte Emma und schlang die Arme um ihre Körpermitte.

Er kniff die Augen zusammen. Ohne diese Selbstbeherrschung würde er im Chaos versinken.

»Zeit, für Sie zu gehen, Dean Bannon«, murmelte sie. »Ich denke, Sie finden allein wieder raus.«

»Wir sind noch nicht fertig.«

Sie lachte wieder bitter. Er hatte ein anderes Lachen erwartet – ein unbeschwerteres, süßeres. Vielleicht klang ihr echtes Lachen auch so. »Oh, ich würde sagen, wir sind fertig. Jemand ist in meine Wohnung eingedrungen und hat so ziemlich alles zerstört, was ich besaß. Dieser Abend war die Hölle für mich, und jetzt will ich einfach nur noch schlafen.«

Sie wurde ihn nicht los, noch nicht. Er brauchte sie zu sehr. »Sie müssen mir von Julia erzählen!«

Sie wurde blass. Irgendetwas blitzte in ihren Augen auf. War das Angst? Aber sie überspielte diese Emotion so schnell, wie sie gekommen war.

»Ich habe Julia seit über einer Woche nicht gesehen. Das habe ich Ihnen bereits erzählt.«

»Sie haben gesagt, sie wäre zur Bourbon Street unterwegs gewesen. Ich war dort und habe mit den Leuten geredet. Niemand hat sich an sie erinnert. Aber, verdammt, Sie wissen genau, dass da jeden Abend andere Leute unterwegs sind. Hunderte von Menschen.« Betrunkene Männer und Frauen, die einem verloren gegangenen Mädchen keine Aufmerksamkeit schenkten. »Sie sind die Einzige, die sie gesehen hat. Die Einzige in dieser beschissenen Stadt, die sich an sie erinnert. Sagen Sie mir, wo sie hinwollte. Was sie anhatte. Sagen Sie mir irgendetwas.« Er atmete tief durch. »Ich muss alles wissen, was ihr helfen kann.«

Schweigen.

Dann … »Eine blaue Bluse mit langen Ärmeln. Sie war zu klein, verwaschen und hatte zwei Löcher auf der rechten Schulter. Dunkle Jeans, mit einem Riss am rechten Knie. Flache schwarze Schuhe mit abgetragenen Absätzen.«

Er runzelte die Stirn.

»Ihre Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden. So sah sie älter aus. Wahrscheinlich könnte man sie für einundzwanzig halten. Sie trug kein Make-up, keine Ringe, überhaupt keinen Schmuck.«

Die Beschreibung war sehr detailliert.

»Ich würde sagen, Julia wog um die fünfzig Kilo, und für ihre 1,75 m war das verdammt wenig.« Emma seufzte. »Sie war viel zu dünn. Sie lebte ganz sicher schon länger auf der Straße. Und sie hatte Angst. Sie war vor irgendetwas oder irgendjemandem auf der Flucht. Ich glaube …« Sie brach ab.

»Reden Sie weiter.«

»Sie hat ständig über ihre Schulter gesehen. Als würde sie jemand verfolgen. Und dann hat sie irgendjemanden entdeckt, der ihr Angst gemacht hat. Jedenfalls ist sie losgerannt. Ich – ich habe versucht, ihr zu folgen.«

Wirklich? Er musterte Emma. Sie hatte die Arme noch immer um ihren Bauch geschlungen.

»Ich bin ihr bis zur Bourbon Street nachgelaufen. Irgendwo bei Jean Lafittes Bar habe ich sie dann verloren.« Sie hob die rechte Hand und sah auf ihre Handfläche hinunter. »Blut.«

»Was?«

»Da war Blut an der Hauswand. Ich weiß, dass es Blut war. An der Backsteinwand vom The Mask.«

»The Mask? Ist das eine Bar?« Der Name sagte ihm nichts.

»Nicht mehr. Sie hat im Frühling zugemacht. Jetzt ist da nichts mehr drin.« Sie hielt kurz inne und wiederholte dann leiser: »Nichts.«

Aber er kaufte ihr diese Geschichte nicht so ganz ab. »Ein Mädchen verschwindet, Sie finden Blut an einer Häuserwand – und was machen Sie? Sie drehen sich um und gehen einfach so nach Hause?«

»Ich habe die Polizei gerufen. Den Cops alles erzählt.« Ihre Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Aber sie war weg. Sie haben das ganze Viertel abgesucht und nichts gefunden. Und ich – na ja, Sie wissen ja, was ich bin, richtig?«

Eine Kriminelle. Eine Betrügerin.

Du bist die Nächste.

»Ich hoffe, Sie finden sie«, sagte Emma heiser. »Ich hoffe wirklich, denn wenn nicht, fürchte ich …«

»Was fürchten Sie?«, bohrte Dean, als sie verstummte.

»Dass Julia tot ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Und ich will nicht, dass sie tot ist. Ich will, dass Sie sie finden und sie in Sicherheit ist.«

Dean streckte die Hand nach ihr aus. Zog Emma an sich, sodass sie gezwungen war, ihn anzusehen. »Ich werde aus Ihnen nicht schlau.« Auf dem Papier war sie eine Frau mit krimineller Vergangenheit. Als Jugendliche war sie ständig mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie und ihr Vater hatten unzählige Menschen betrogen.

Aber dann hatte sich alles geändert. In einer dunklen Nacht vor zehn Jahren.

Er hielt ihre Hände fest. Drehte sie um, sodass er ihre Handflächen mit den feinen Narben sehen konnte. Seine Finger glitten sanft über die Male.

»Wir wollten ihnen auch helfen«, flüsterte Emma. »Die Cops haben uns nicht geglaubt, aber wir wussten, wer der Mörder war. Als sie uns nicht zugehört haben, sind wir selbst auf die Suche gegangen.«

Und ihr Vater war dabei gestorben. Die Polizei hatte ihm die Schuld an dem ganzen Albtraum gegeben.

Steckte etwa mehr dahinter?

»Man ist sich nicht bewusst, wie sehr man leben will, bis der Tod nach einem greift«, sagte sie mit sanfter, trauriger Stimme.

Dean hielt noch immer ihre Hände und konnte den Blick nicht von ihren Augen losreißen. Er hatte noch nie eine Frau mit solchen Augen getroffen. Wenn man zu lange hineinsah, konnte man seine Seele verlieren.

Wenn man eine hatte.

Emma lächelte, aber dieses Mal bildeten sich keine Grübchen auf ihren Wangen. »Sie sollten mich nicht so ansehen.«

»Wie?«

»Als wollten Sie mich küssen.«

Genau das wollte er – und mehr noch. In diesem Augenblick hätte er sie am liebsten verschlungen. Er fühlte sich auf seltsame Weise zu Emma hingezogen, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Normalerweise kannte er dieses Gefühl nicht, einer Frau in die Augen zu sehen und sie sofort zu wollen, nackt, unter sich, seinen Namen schreiend.

Aber bei Emma war es so gewesen.

Also verdiente sie es wahrscheinlich, die Wahrheit zu hören. »Ich könnte gefährlich für Sie sein.«

Sie sah ihn überrascht an. Dann wurde ihr Lächeln noch breiter. »Ein Mann wie Sie? Nein. Ein Mann wie Sie ist zu sehr daran gewöhnt, immer auf dem rechten Weg zu bleiben, um für jemanden wie mich eine Bedrohung darzustellen.« Dann kam sie näher und stellte sich auf die Zehenspitzen. Er senkte den Kopf, und ihre Lippen streiften sein Ohr, als sie flüsterte: »Aber ich könnte sehr gefährlich für Sie sein, DB. Ich könnte Sie zerstören. Und die Selbstbeherrschung, an der Sie so sehr hängen … was wäre dann?«

Er merkte bereits, wie seine Disziplin Risse bekam, weil er ihren sexy Mund auf seinem fühlen wollte. Weil er sie unter sich spüren wollte.

Er merkte, wie ihre Zunge ganz leicht sein Ohr berührte.

Fuck. Er schloss die Augen.

»Also ist es vielleicht besser, wenn wir uns jetzt verabschieden.« Sie machte sich los und trat von ihm weg. »Solange es noch geht.«

Ging es noch? Er öffnete die Lider. Sah ihr ins Gesicht. »Noch eine Sache …«

Sie hob die Augenbrauen.

Dieses Mal würde er sich nehmen, was er wollte. Dean zog sie in seine Arme, drückte den Mund auf ihre Lippen. Seine Selbstbeherrschung ging sowieso gerade den Bach runter, also küsste er sie härter, intensiver, wilder, als er es normalerweise getan hätte –

Und sie erwiderte den Kuss. Mit einer Sinnlichkeit, die ihn mit voller Wucht traf und dafür sorgte, dass er sie noch enger an sich zog. Sein Schwanz reckte sich Emma entgegen, als eine Flutwelle der Erregung über ihn hinwegbrach. Zu schnell, zu heftig breiteten sich tiefe Risse in der Mauer seiner Selbstbeherrschung aus, während er Emma festhielt.

Als sie leise aufstöhnte, hob er sie hoch, setzte sie auf die Theke und glitt zwischen ihre Beine, aber –

Er riss seinen Mund von ihr los. Schlug die Handflächen rechts und links von ihr auf den Tresen und rang nach Luft, doch alles, was in seine Lunge gelangte, war –

Jasmin.

Das Herz hämmerte in seiner Brust und alles, was er wollte, war, unter ihren weiten Rock zu greifen, ihr Höschen zur Seite zu schieben und in Emma einzudringen.

»Ich habe dich gewarnt …« Ihre Stimme war eine einzige sinnliche Versuchung. »Ich habe nicht viel übrig für Selbstdisziplin und Kontrolle.«

Er löste sich von der Theke. Sie sprang herunter, und dabei umspielte der weite Rock ihre Beine. Deans Blick glitt ihren Körper hinauf, ihre Kurven entlang bis zu ihrem Gesicht. Ihre Wangen waren gerötet, die Lippen rot und geschwollen von seinem Mund, und ihre Augen schienen noch blauer zu leuchten, wenn das überhaupt möglich war.

Wenn es eine Frau gab, für die es sich lohnte, die Kontrolle zu verlieren, dann war sie es.

Aber Dean wusste, wie gefährlich es wäre, wenn er sich ablenken ließ. Das letzte Mal hatte es mit dem Tod geendet.

Er ging zur Tür, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Eine Entschuldigung würde sie nicht von ihm hören, denn es tat ihm nicht leid, dass er sie geküsst hatte.

Höchstens, dass er damit aufgehört hatte.

Er öffnete die Tür und trat hinaus in die Nacht. Über ihm klingelte die Glocke.

»Auf Wiedersehen, Dean.« Ihre sanfte Stimme folgte ihm auf die Straße.

***

»Hast du Angst?«

Die Stimme kam aus der Dunkelheit, verspottete sie, erschreckte sie.

Julia Finney erstarrte. Das Seil schnitt in ihre Handgelenke, die bereits wund waren und bluteten, und sie stöhnte vor Schmerzen auf.

»Ich interpretiere das mal als Ja.«

Sie spürte seine Finger auf ihrer Wange. Wie sie die Tränen wegwischten. Sie konnte ihn nicht sehen. Um sie herum gab es nichts als Dunkelheit.

»B-bitte«, flüsterte Julia. »Ich-ich will nur nach Hause …«

»Ich dachte, du verabscheust dein Zuhause? Du hast mir gesagt, dass du es hasst, erinnerst du dich?«

Sie konnte nicht aufhören zu weinen.

»Keine Angst, Baby, ich werde nicht zulassen, dass sie dich kriegen.« Seine Hände glitten jetzt über ihren Hals. Spürten ihren rasenden Pulsschlag. »Du musst nie wieder nach Hause.«

Dann schlossen sich die Finger um ihre Kehle.

***

Er beobachtete, wie Emma aus dem kleinen Laden kam. Es war nach ein Uhr nachts, und eigentlich sollte sie da drin schlafen, in Sicherheit.

Aber sie verließ den Schutz des Ladens.

Emma schaute nach links. Nach rechts. Sie sah ihn nicht, weil er sich in den Schatten versteckt hielt. Über all die Jahre hatte er sich daran gewöhnt, im Dunkeln zu bleiben. Er verschmolz praktisch mit der Finsternis.

Es war also ein Kinderspiel, ihr zu folgen, als sie die Straße hinuntereilte. Er machte kein einziges Geräusch, und Emma, sie bewegte sich schnell. Zeigte keinerlei Zögern. Nur grimmige Entschlossenheit.

Als sie die Bourbon Street erreichten, schlug ihm der Lärm der Menge tosend laut entgegen. Die Straße war voller Menschen, platzte aus allen Nähten. Leute drängten sich auf den Balkonen, erbrachen sich auf dem Gehweg, Paare knutschten in dunklen Ecken und unter hellen Straßenlaternen.

Emma ignorierte all die Menschen um sie herum. Sie eilte weiter, die Straße hinunter, wo die Bars weniger wurden. Wo der Lärm nachließ.

Einmal sah sie kurz über ihre Schulter.

Aber er war immer noch im Schutz der Dunkelheit.

Ihr Blick glitt über ihn hinweg, und sie ging weiter. Dean folgte ihr.

Als sie das mit Brettern verbarrikadierte Gebäude erreichte, zögerte Emma. Sie streckte die Hand aus und berührte die Backsteinfassade.

The Mask. Er sah das alte Schild über der Tür – zwei Masken waren darauf zu sehen. Eine Mardi-Gras-Maske mit einem breiten Grinsen und eine mit gerunzelter Stirn.

Emma ging um das Gebäude herum. Er beobachtete, wie sie versuchte, die Hintertür zu öffnen. Als es ihr nicht gelang, trat sie ein paar Schritte zurück und musterte die alte Bar. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, aber Emma packte eines davon und zerrte daran. Es lockerte sich, und sie benutzte es, um damit die Scheibe einzuschlagen. Glas splitterte.

Ein Einbruch? Sie überraschte ihn immer wieder.

Mit dem Brett säuberte Emma die Fensteröffnung von Glassplittern, bevor sie in das Gebäude kletterte.

Okay …

***

Emma schaltete ihre kleine Taschenlampe ein. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sich vorsichtig vorwärtsbewegte. Sie war hier richtig, das wusste sie genau. Es war hier drin so dunkel wie in einer Höhle. Extrem gruselig.

Aber wenn das Mädchen hier war … Ich muss sie finden.

»Hallo?«, rief Emma. Das alles war vielleicht nicht gerade die beste Idee, aber irgendetwas hatte an ihr genagt, als sie auf dem Feldbett im Hinterzimmer gelegen hatte. Sie war schon einmal im The Mask gewesen. In der Nacht, nachdem sie Julia gesehen hatte. Und sie erinnerte sich …

Emma wandte sich nach rechts. Das Licht ihrer Taschenlampe glitt über eine Wand, die voller Graffiti war. Zeichen und Muster, die ihr nichts sagten. Ein grinsendes Gesicht und –

Du bist die Nächste.

Sie erstarrte, als sie die Worte las. Ja, verdammt, daran hatte sie sich erinnert, als sie auf diesem unbequemen Feldbett lag und nicht schlafen konnte. Sie hatte die alte Bar auf eigene Faust abgesucht, nachdem die Cops weg waren. Und da hatte sie das Graffito gesehen. Allerdings war sie damals voll darauf konzentriert gewesen, Julia zu finden, sodass sie den Schmierereien an der Wand keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Jetzt war das anders.

Sie hörte ein leises Rascheln hinter sich. So leise, dass es vom Wind stammen konnte.

Oder von einer Person.

Emmas rechte Hand glitt in ihre Tasche, während sie mit links die Taschenlampe hielt. Wenn jemand hier drin war, hatte sie sich mit dem Lichtschein sowieso schon verraten.