Bowie in Warschau - Dorota Masłowska - E-Book

Bowie in Warschau E-Book

Dorota Maslowska

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Beschreibung

David Bowie steigt in Warschau aus dem Zug. Es ist Mai 1973. Die Poplegende betritt einen Buchladen und kauft Platten mit polnischer Volksmusik, die ihn später zum Song «Warszawa» inspirieren. Mit dieser – wahren – Begebenheit beginnt Dorota Masłowskas Roman, in dem auf vergnüglichste Weise Pop und Sozialismus kollidieren, denn Bowie bringt in Warschau gleich eine ganze Lawine an Verwechslungen und skurrilen Verwicklungen ins Rollen: Der Inhaber der Buchhandlung, selbst verhinderter Schriftsteller, glaubt, in Bowie seinen Erzfeind, den Erfolgsautor Krempiński, zu erkennen. Der sensible Polizist Krętek hält den jungen Mann mit der Haartolle für den «Damenwürger», der gerade die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Mittendrin die Buchhändlergehilfin Regina, frisch von der Uni verwiesen, die mit Sarkasmus gegen die Erwartungen ihrer Mutter rebelliert, ihren wurstfingrigen Verehrer loszuwerden versucht und sich fast in die Weichsel stürzt. Jeder schlägt sich mit verdrängten und offenen Begierden, Neid und Ausbruchsfantasien herum – bis David Bowie auftaucht und alles auf eine komische Katastrophe zusteuert … Dorota Masłowska erzählt mit einem unverwechselbaren Sound, schillernd, drastisch und mitreißend – und zeichnet in «Bowie in Warschau» ein ungeschöntes Gesellschaftsbild voller Sprachwitz und schwarzem Humor.

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Dorota Masłowska

Bowie in Warschau

Roman

 

 

Aus dem Polnischen von Olaf Kühl

 

Über dieses Buch

David Bowie steigt in Warschau aus dem Zug. Es ist Mai 1973. Die Poplegende betritt einen Buchladen und kauft Platten mit polnischer Volksmusik, die ihn später zum Song «Warszawa» inspirieren.

Mit dieser – wahren – Begebenheit beginnt Dorota Masłowskas Roman, in dem auf vergnüglichste Weise Pop und Sozialismus kollidieren, denn Bowie bringt in Warschau gleich eine ganze Lawine an Verwechslungen und skurrilen Verwicklungen ins Rollen: Der Inhaber der Buchhandlung, selbst verhinderter Schriftsteller, glaubt, in Bowie seinen Erzfeind, den Erfolgsautor Krempiński, zu erkennen. Der sensible Polizist Krętek hält den jungen Mann mit der Haartolle für den «Damenwürger», der gerade die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Mittendrin die Buchhändlergehilfin Regina, frisch von der Uni verwiesen, die mit Sarkasmus gegen die Erwartungen ihrer Mutter rebelliert, ihren wurstfingrigen Verehrer loszuwerden versucht und sich fast in die Weichsel stürzt. Jeder schlägt sich mit verdrängten und offenen Begierden, Neid und Ausbruchsphantasien herum – bis David Bowie auftaucht und alles auf eine komische Katastrophe zusteuert …

Dorota Masłowska erzählt mit einem unverwechselbaren Sound, schillernd, drastisch und mitreißend – und zeichnet in «Bowie in Warschau» ein ungeschöntes Gesellschaftsbild voller Sprachwitz und schwarzem Humor.

Vita

Dorota Masłowska wurde 1983 in Wejherowo, Polen, geboren. Ihr gefeierter Debütroman «Schneeweiß und Russenrot» wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt und mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien ihr Roman «Andere Leute». 2020 erhielt Masłowska den Göttinger Samuel-Bogumił-Linde-Preis. Ihre Bühnenstücke werden auch in Deutschland aufgeführt. Masłowska lebt mit ihrer Tochter in Warschau.

Impressum

Die polnische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Bowie w Warszawie» bei Wydawnictwo Literackie, Krakau.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2023

Copyright © 2022 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

© 2021 by Dorota Masłowska

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Noma Bar/Dutch Uncle Agency

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01459-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Teil I

1

Die Siebzigerjahre. Der bekannte Musiker David Bowie sitzt im Zug von Moskau zurück nach Berlin. Die stundenlange Reise zieht sich hin. Im Geiste komponiert er, dichtet Songtexte für die neue Platte … Es muss etwas ganz Außergewöhnliches werden, etwas, das die Weltmusik revolutioniert.

Doch was hilft es, die kreative Blockade will nicht weichen. Dagegen hatte die Moskaureise helfen sollen. Der Star war jedoch nicht recht zufrieden mit seinem Aufenthalt dort. (Balletttänzerin Mascha, mit der er eine Art Affäre begonnen hatte, schmiss sich an ihn ran, steckte alles klaglos ein. Nicht abzuwimmeln, wollte überall bei ihm sein, ihn überallhin begleiten, ins Museum und in die Oper.

Außerdem wurde dort zu viel getrunken. Den Abschiedswodka, scharf wie flüssige Rasierklingen, auf dem Bahnhof mit Mascha gekippt, spürt er noch immer irgendwo in den Schläfen, dazu ihre feuchten, hysterischen Küsse, das kratzig schwarz gefärbte Haar und den Schafsmief ihrer Felljacke. Sie gab ihm vier hart gekochte Eier mit auf die Reise. Aus lauter Langeweile pellte er jedes einzelne, und jedes Mal erfüllte erneut ein intimer Schwefelgestank das Abteil. Niemand regte sich groß darüber auf.)

Derweil fährt der Zug schon durch … durch Polen. Noch so ein Land … Er hat davon gehört. Seufzend zieht er seine neueste Erwerbung hervor, einen der neuen Taschenrechner, die zu dieser Zeit im Westen in Mode sind – zum Erstaunen der Mitreisenden, die diese Erfindung nicht kennen und gaffen wie Kinder vor dem Schaufenster des Spielwarengeschäfts.

Um die Zeit totzuschlagen, beginnt er schläfrig zu rechnen:

88374

+ 2842840

– 2929087 …

Das Ergebnis kümmert ihn gar nicht. Er tippt immer neue Additionen und Divisionen ein, nur aus Spaß daran, immer größere und größere, immer seltsamere Zahlenwerte einzugeben, die niemand kennt … Ziffern, so groß, dass sie nur noch Raum ausdrücken. Den Kosmos. Ist er eingenickt? Vielleicht auch nicht.

 

Er öffnet die Lider. Es dämmert. Draußen verdickt sich das Grün endloser Wiesen. In der Ferne kann er zwei kleine, funkelnde Silhouetten ausmachen. Das sind Mädchen, die Kühe hüten: Er meint sogar, ihre verwegenen, schier liebestrunkenen Rufe den Raum durchbohren zu hören.

MÄDCHEN 1: «Hoi, Helena, weiden sie schön?»

MÄDCHEN 2: «Sie weiden schön, nur dich kann ich von Weitem nicht sehen!»

MÄDCHEN 1: «Hoi, hoi!»

Er musste eingeschlummert sein. Als er zu sich kommt, hält der Zug in Warschau. Den Worten eines respektablen Herrn, der vorzüglich Englisch zu sprechen meint, glaubt er entnehmen zu können, dass der Aufenthalt von längerer Dauer sein wird. Das dumpfe Dunkel des Bahnsteigs riecht nach Eisengerümpel, Pisse und Holunder, dahinter der Mief von gekochtem Kohl aus einer abgelegenen Speisewirtschaft. Vorsichtig verlässt er die stickige Winterhöhle des Abteils und taucht ein in die undurchdringliche, von spärlich schwachen Lichtern gesprenkelte Finsternis der fremden Metropole.

 

David Bowie verliert sich in der Dunkelheit des Bahnhofs.

Zugleich steigt aus ihr das Innere einer kleinen Wohnung in einem Plattenbau auf. Ein einziger Raum, in den viele Räume gestopft sind. Die Konturen der hier kumulierten Lebensüberfülle werden sichtbar.

Kinderwagen, Roller, Farnkräuter, Kristalle; labile Wäschestapel im Wandschrank.

Gestaute, ansteckende Gestalten, die des Nachts Ungeheuer gebären.

Dieser Saustall spricht nicht schlechthin für die Schlampigkeit der Bewohner, er dürfte eher ein Zeichen für die Vielzahl der miteinander unvereinbaren Interessen und Funktionen sein, für die diese Stube als Bühne und Lagerraum herhalten muss.

Schlitten. Saftpresse. Weckgläser. Am Kleiderständer, neben der Lammfelljacke und den Dufflecoats der Kinder, eine Milizmütze mit Streifen.

Auf Yogi-Sofas schlummern mit ausgebreiteten Ärmchen die Kinder. Auf der Schlafcouch wälzt sich schlaflos unter der Reproduktion eines Gemäldes von Wyspiański Polizei-Zugführer Wojciech Krętek.

 

Die Putzfrau Anastazja Ładczuk, im Weiteren Frau Nastka genannt, geht mit einem Eimer über die Bühne. Sie ist eine Figur, die nicht ganz in diese Wirklichkeit gehört, sie ist ein Teil von ihr, steht aber auch daneben, leicht transzendent, real und doch fähig, durch Wände zu gehen.

Sie trägt eine nach Schweiß riechende Nylon-Schürze und Turnschuhe mit Korksohle; Impfnarben zeichnen ihre schwammigen Arme wie geheimnisvolle Runen, Schatzkarten.

Ihr Gang ist träge, eher ein Wanken, sie seufzt und blinzelt träge, schaut sich auch die Gegenstände an und schimpft, murmelt etwas wie: «Alles durcheinandergebracht und rumgeschmissen, sie holen’s raus und tun es nicht zurück, kein Respekt, nie Ordnung gelernt, haben einfach von allem zu viel, das ist es. Uns ging das anders, ein kleiner Stock, ein Knopf, eine Glasscherbe, schon war das Kind weg und spielte. Wir wurden geschlagen, aber wir wussten, warum. Wir bettelten darum, noch mehr geschlagen zu werden. Heutzutage, hier, gibt’s alles im Überfluss, alles liegt nur rum …»

Vielleicht lässt sie auch die ein oder andere Sache mit abergläubischem Seitenblick in ihre Schürzentasche gleiten.

 

Zugführer Wojciech Krętek sieht sie nicht. Er ist ein Mann von Anfang dreißig, nach damals gängigen Maßstäben gut aussehend: Schnauzbart, passend zum gestreiften Pyjama.

Seine weit geöffneten Augen glänzen im Dunkel. Metaphysische Qual mischt sich darin mit ganz physischer, körperlicher Gereiztheit.

Neben ihm – seine Ehefrau. Der Zugführer zieht zum Abbau seiner Unruhe vielleicht sogar den Verkehr mit ihr in Erwägung, sie jedoch schläft wie eine Tote. Ihr fett mit Creme bestrichenes Gesicht leuchtet in übernatürlichem Seidenglanz. Der Zugführer begnügt sich damit, sich an ihrer Seite hin und her zu wälzen und dabei zu stöhnen wie jemand, der seine Wut an einem Stein auslässt oder durch hochgezogene Brauen und vernehmliche Seufzer einen Fels bewegen will, ein Lebenszeichen von sich zu geben …

Ganz offensichtlich will ihn etwas zerreißen, lässt ihm keine Ruhe. Etwas ist in ihm zerbrochen, ob Kratzer oder tiefe Wunde – es quält, juckt, verlangt nach Artikulation. Der Zugführer steht auf. Langt nach den Zigaretten, wirft einen anklagenden Blick auf die Schornsteine und Neonlichter vor dem Balkonfenster, die da durch die finstere Gelatine der Maiennacht leuchten. Schließlich knipst er eine kleine Lampe an und setzt sich an den Klapptisch, beginnt ungelenk in die Tasten der Schreibmaschine zu hauen, eine Zigarette nach der anderen aus der Packung zu klopfen, sie aufzurauchen und dann achtlos in dem kolossalen Kristallaschenbecher zu zerdrücken.

Er ist ein ungeübter, dafür glühender Schreiber.

 

ZUGFÜHRER: «Intern heißt er bei uns: der Damenwürger von Mokotów. Es gibt Opfer, gibt Obduktionen, eine Täterbeschreibung und ein Gutachten der Kriminalexperten. Die Sache zieht sich schon an die zwei Wochen hin, bislang gibt es aber noch keine Pressemeldung. Kein Sterbenswörtchen nach außen, Dienstlächeln heruntergelassen, um die Hysterie von Volk und alten Weiblein nicht noch zu befeuern. Vielmehr muss diese im Keim erstickt oder zumindest so lange wie möglich hinausgezögert werden. Denn bislang fehlt ein Teil in dem Puzzle. Welches? Natürlich, der Täter.

Das darf nicht sein in unserem freien demokratischen Volksvaterland.

Der Chef kriegt Druck von oben, und er selbst gibt den Druck an uns weiter. Man munkelt, sogar das Ministerium habe schon Wind von der Sache bekommen …

Auf der Dienststelle drückende, leicht entzündliche Atmosphäre. Es hagelt ‹Scheiße› und üblere Flüche. Unser Bösewicht ist weiter auf freiem Fuß, tut sich keinen Zwang an, und niemand weiß, wo er das nächste Mal aufkreuzen wird, bums, rauf auf sein nächstes Opfer. Kürzlich war es eine Kantinenmitarbeiterin am Parkplatz bei den Filmstudios, gestern wiederum zwei halb nackte Jugendliche, die erhitzt aus dem Hotel Bristol gerannt kamen, weil ihnen schlecht war. Minderjährig. Wer die wohl auf die Tanzfläche gelassen hat – vermutlich der Garderobenmann, für ein paar Złoty.»

 

(Die Ehefrau des Zugführers erwacht. Sie setzt sich auf der Couch auf, desorientiert und verschlafen, nimmt die Watte aus den Ohren. Es handelt sich um eine Frau um die dreißig, mit Lockenwicklern und Nachthemd im Gemüse-Kräuter-Muster. Das können Pastinaken, Kapern, Dill oder Mohrrüben sein, die in die Saftpresse fallen. Ohne Sympathie sieht sie ihrem schreibenden Mann zu.)

 

ZUGFÜHRER(sieht das nicht oder tut so, denn schon tippt er rascher, und seiner Stimme ist Ärger anzuhören. Seine Notizen können durch Fotos aus Obduktionen und Kriminalgutachten illustriert werden): «Haartracht zerstört, Aussage wirr. In Tränen und Seufzern ein konzentrierter Hauch Weinbrand. Die eine arg lädiert, Augenverletzung, Schock, erinnert sich an fast nichts. Die andere war ohnmächtig geworden, aufgeschlagene Knie, hässlich eingerissenes Ohr, angeblich hat er sie mit dem Schal gewürgt, sie erinnert sich einzig an das Schneeflockenmuster und die fremdsprachige Aufschrift SKI. Bis zur Hochzeit ist das heil. Aber einstweilen spielt dieser verfluchte Pimpelfritze Katz und Maus mit der Miliz.

Die Führung zerbricht sich den Kopf, wie sie die Sache unter dem Teppich halten kann. Eine geheime operative Ermittlungsgruppe wurde gebildet, in der gesamten Stadtmitte sind verstärkte Patrouillen im Einsatz. Wir sollen die Augen vorn und hinten aufhalten, um den Damenwürger zu finden und den Triumph und Erfolg der Bürgermiliz so bald wie möglich verkünden zu können.

Aber um das zu tun, müssen wir diese Augen vor allen anderen, keineswegs weniger schwerwiegenden …»

EHEFRAU(unsicher): «Wojtek …?»

ZUGFÜHRER: «… Untaten und Entartungen verschließen.»

(barsch zu seiner Frau) «Was?»

(fährt fort) «Es heißt, der Milizionärsberuf lasse den Menschen rasch verhärten. Ist das wirklich so? Wie oft habe ich mir schon eingebildet, ich wäre imprägniert, abgehärtet gegen Widerwärtigkeit, Gewalt und Verfall. Wozu schreibe ich dann hier?

Ist das hier das Tagebuch eines Backfisches, in dem ich wie das erstbeste Weichei Dampf ablasse, weil ich das Unmaß von Verlogenheit, Unanständigkeit und Schmutz nicht mehr mitansehen kann? Unschöne Literatur?

Prächtig herausgeputzt die Fassade, bunt das alles, die Flaggen flattern bei den Parteiumzügen, und neue Wohnblöcke schießen in die Höhe …

In den dunklen Gassen dagegen, am Stadtrand, wimmelt das Ungeziefer. Ein Herz aus Kunststoff haben? Nichts spüren, nichts sehen? Der Alltag auf den Müllhalden vor der Stadt, wo alte Menschen – ja, sind es denn noch Menschen? – sich mit Brennspiritus betäuben …»

EHEFRAU(noch immer leise, aber schon vorwurfsvoller): «Wojtek!»

ZUGFÜHRER: «Gewächshäuser, in denen die obdachlose Jugend haust, ganz ohne Ziele und Ideale, in einem fort betrunken.»

(zu seiner Frau, wütend) «Was?»

EHEFRAU: «Darf man erfahren, wozu du nachts die Lampe anhast?»

ZUGFÜHRER(unwirsch): «Ich hab mir einen Bericht mit nach Hause genommen.»

(schreibt weiter) «… Ohne Aufsicht und ethische Vorbilder wird den Kindern die Straße zur grausamen Schule, zur ach so strengen und wirksamen Erzieherin. Bedürfnisanstalten, wo Päderasten für ein paar Złoty Halbwüchsige der Unzucht zuführen … moralisch ebenso wie körperlich.»

 

(Der Zugführer, verärgert von der Unterbrechung seines Flows, aber auch peinlich berührt, weil seine Frau ihn beim nächtlichen Tagebuchschreiben ertappt hat, einer Beschäftigung, die nicht im Geringsten zur eisernen Psyche eines Polizisten passt, greift ostentativ zur nächsten Zigarette, obwohl er die letzte gerade eben ausgedrückt hat.)

 

EHEFRAU: «Was für ein Bericht?»

ZUGFÜHRER: «Na, was für einer schon. Meinst, ich führe hier Poesiealbum? Betreibe Literatur?»

EHEFRAU(mit tiefem Vorwurf, steckt sich auch ungeschickt eine Zigarette an): «Immer bist du nur am Arbeiten.»

ZUGFÜHRER: «Nicht wahr? Und trotzdem reicht es hinten und vorne nicht.» (stülpt theatralisch die Schlafanzugtaschen nach außen) «Ein neuer Anorak für den kleinen Piotr, dann wieder neue Sandalen, für dich ein Päckchen Watte, obwohl du gerade erst eins gekauft hattest. Ich weiß nicht, was du mit dieser Watte anstellst, stopfst du sie dir in die Ohren, wenn ich mit dir rede? Wozu rauchst du?» (reißt ihr die Zigarette weg und drückt sie aus) «Wo du gar nicht rauchst.»

(grob, als wollte er durch die harsche Weisung die Angelegenheit samt Hierarchie wieder ins Lot bringen) «Mach mir lieber einen Tee.»

 

(Obwohl verletzt von seinem Ton, bewegt sich die Ehefrau gehorsam in Richtung Kochnische, mit einem bravourösen Hindernisslalom durch das Gerümpel der Geräte. Sie setzt den Teekessel auf.)

 

ZUGFÜHRER: «Und wenn ich hier nach der Dienstzeit sitze, mir Augen und Gesundheit ruiniere, ist es auch nicht recht. Weil dich das Licht stört.»

EHEFRAU: «Wir haben gerade die Stromrechnung bekommen.»

ZUGFÜHRER: «Seit wann trinke ich ohne Zucker?»

 

(Ehefrau geht gehorsam die Zuckerdose holen.)

 

ZUGFÜHRER(versöhnlich): «Na ja. Nun guck nicht so.»

EHEFRAU: «Und ich … und wir?»

ZUGFÜHRER: «Was – und wir?»

EHEFRAU: «Wir haben fast gar keinen … Im letzten Monat vielleicht, in diesem überhaupt gar nicht. Nicht einmal mein neuer Schlafrock ist dir aufgefallen.»

ZUGFÜHRER(seufzt): «Doch, ist er, Anilana.»

EHEFRAU: «Vielleicht hast du jemand anderes?»

ZUGFÜHRER: «Schlaf, Dummchen … Siehst du nicht, dass ich überarbeitet bin?»

 

(Ehefrau zuckt mit den Schultern. Legt sich schlafen, zieht sich die Decke über den Kopf. Wenn sie weint, dann lautlos; einzig ein trockenes Schluchzen lässt die Couch beben.)

 

ZUGFÜHRER(blickt hinaus in die bodenlose Nacht, um Inspiration zu schöpfen, und beginnt wieder zu schreiben. Der Ton seiner Notizen ist jetzt noch bitterer, voller Sarkasmus): «… Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, das Warschau des neuen Zeitalters. Des Atomzeitalters.

Neue Stadtviertel schießen empor, prosperierend, modern.

Aber was hilft’s, wenn die alten verkommen. Schnapsnester. Kuppelbuden. Versiffte Löcher an der Aleje, darin fünfzehnjährige Prostituierte. Von ihren Stenzen werden sie kurzgehalten. Ich nenne sie Zahnärzte, denn die Mädchen kriegen regelmäßig ihre Vorderzähne per Faust entfernt. Aber sie lieben ihre väterlichen Beschützer, würden sie mit Klauen und Krallen gegen die Miliz in Schutz nehmen. Traumwandelnde Gammler liegen zwischen Levkojen und dreckigem Spritzbesteck in den Beeten. Toxikomanen. Denen die Hand reichen? Denen helfen? Nachher beschimpfen sie die bösen Bullen, ziehen sie in den Dreck.

Was soll’s? Bei all ihrer Scheußlichkeit, ihrer Dekadenz sind sie wenigstens aufrichtig, eindeutig.