Braunschweig'sche Weihnacht - Till Burgwächter - E-Book

Braunschweig'sche Weihnacht E-Book

Till Burgwächter

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Beschreibung

Spannende, besinnliche, lustige, ergreifende und skurrile Geschichten und Glossen zum Fest der Liebe an der Oker. Till Burgwächter und Hardy Crueger erzählen in 24 Episoden von vielfältigen Möglichkeiten, das Weihnachtsfest in der Löwenstadt zu begehen. Von den jährlichen Ausschweifungen bei geistigen Getränken und dem beliebten Schrottwichteln. Oder ganz besinnlich mit eben noch fremden, aber ganz herzlichen Menschen auf einem Weihnachts-Floß. Als Baumschmückbeauftragter im Klinikum oder als Privatdetektiv auf den Spuren der geheimen Werkstatt des Weihnachtsmannes und seiner Helfershelfer. Selbstverständlich von vielen Besuchen auf dem weit über die Stadtgrenzen bekannten Weihnachtsmarkt. Per verzweifelten Versuchen, dem ganzen Trubel als Weihnachtsskeptiker aus dem Weg zu gehen. Als Kleinkrimineller, der einer alten Dame ein unvergessliches Fest bereitet. Und natürlich darf ein Blick in die Geschichte der Braunschweig'schen Weihnacht und seiner Zukunft nicht fehlen. Mit Cartoons von Karsten Weyershausen und einem Vorwort von Peter Schanz.

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Seitenzahl: 139

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Inhaltsverzeichnis
Braunschweig’sche Weihnacht
Bevorwortung
Weihnachten in Braunschweig
Matschmann
Das Weihnachtslied vom Adventskalender
Weihnachten ’69
Schneeflöckchen, Weißröckchen
Der Weihnachtsstern
Macht hoch die Tür
Ruprechts Knechte
Morgen kommt der Weihnachtsmann
Himmelfahrt
Süßer die Glocken
Schrottwichteln
Von drauß vom Walde
Stairway to Heaven
A, a, a! Das Kindlein lieget da
Schnee von gestern
In der Weihnachtsbäckerei
Ein Weihnachtsmärchen
Dein König kommt in niedern Hüllen
Das Familienfest
Weihnachtsmarkt am alten Dom
Holonacht – die böse Bescherung
Alle Jahre wieder
Der letzte Schneeengel
Über Till Burgwächter, Hardy Crueger und Karsten Weyershausen

Braunschweig’sche Weihnacht

von Till Burgwächter und Hardy Crueger

Umschlaggestaltung und Cartoons: Karsten Weyershausen

Vorwort: Peter Schanz

Satz und Layout: Andreas Reiffer

Lektorat: Manja Oelze

© Verlag Andreas Reiffer, 1. Auflage, identisch mit der Printversion

ISBN 978-3-945715-84-0 (E-Book)

Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine

www.verlag-reiffer.de

www.facebook.com/verlagreiffer

Mit »TB« gekennzeichnete Texte stammen von Till Burgwächter, »HC« steht für Hardy Crueger.

»Die meisten Leute feiern Weihnachten,

weil die meisten Leute Weihnachten feiern.«

Kurt Tucholsky

Bevorwortung

von Peter Schanz

Wenn es für irgendein Genre nun wirklich keines einführenden Vorwortes bedarf, dann für dieses. Schließlich ist nichts häufiger erzählt und besungen worden als jene Geschichte von der Geburt in einem zugigen Stall, die sich vor gut 2025 Jahren ereignete, die man vor etwa 1950 Jahren zu feiern begann – und somit vor etwa 1160 Jahren zwangsläufig auch in Braunschweig. Auch wenn es erst seit knapp 850 Jahren einen Namen dafür gibt: Weihnachten. Und seit die Weihnachtsgeschichte gefeiert wird, wurden und werden unzählige weitere Geschichten über die Arten und Weisen des Feierns dieser Geschichte erzählt.

Nun mag man sich darüber wundern, wie eine Religion zur Weltmacht aufsteigen konnte, die alle Jahre wieder am gleichen Tag die Geburt ihres Stifters feiert, dessen Todestag jedoch jedes Jahr an einem anderen Tag begeht. Eine Religion, deren Urvater ewiger Sohn ist und einige Jahre vor seiner Geburt zur Welt kam, und die heute ihre offensichtlich irgendwann allen Religionen innewohnende fundamentalistische Phase zwar endlich überwunden zu haben scheint, dafür sich aber im Stadium ihrer eigenen Verdunstung befindet. Paradoxer Weise erreicht die Weihnachtsgeschichte gleichzeitig ein immer noch höheres Globalisierungs-Level, was gewiss auch daran liegt, dass die christliche Welt mit der kapitalistischen nicht mehr deckungsgleich ist. Wenn also in China fabrizierter Xmas-Nippes für südostniedersächsische Weihnachtsmärkte über internationale Gewässer verschifft wird, fließt dabei viel Geld. Kein Wunder: in Betlehem haben schon vor Christi Geburt die Lobbyisten des Hotel- und Gaststättengewerbes die Kommerzialisierung von Weihnachten erfunden und damit auch gleich die Geburt der Weihnachtsliteratur aus dem Geist der Konsumkritik verursacht. Sie ist damit genauso alt wie die urchristliche Solidarität mit den Mühseligen und Beladenen. Und das ist das ungeheuer Tröstliche an der Braunschweig’schen Weihnacht der apokryphen Evangelisten Till Burgwächter und Hardy Crueger: sie gewähren den Ausgestoßenen, Geschundenen und Abgehängten einen wärmenden Hauch von Weihnachtsliebe, auch wenn der eisige Atem des Sensenmannes schon durchs Schlüsselloch bläst. Und dabei machen sie zu unserer Freude das Fest der anrührenden Stall-Geburt in dieser unserer Stadt ganz konkret dingfest: in der Mandelmeier-Schlange, die vom Landesmuseum bis zu Al Duomo, dem Italiener im Deutschen Haus, reicht; im Seniorenheim Haus Wilhelmsgarten in der Neuen Knochenhauer; im Hermann-Löns-Park der Südstadt, überall.

Oh Du fröhliche Barmherzigkeit unter den Okerbrücken!

Weihnachten in Braunschweig

Gerade noch tropft einem vom letzten Ausflug ins Kennelbad diese Mischung aus schmierigen Seealgen und Kinderpipi aus der Badehose, da dräut am Horizont auch schon ein adipöser Rentner mit extravaganter Gesichtsbehaarung mit dem behandschuhten Zeigefinger. »Mir sind all deine Verfehlungen bekannt, die du letztes Jahr begangen hast«, dröhnt das Männchen und droht unverhohlen mit Geschenkentzug. Nein, wir sprechen hier nicht vom örtlichen Beichtvater oder einem Computerhacker, der auf fremden Festplatten nach peinlichen Website-Besuchen fahndet, um seine Opfer anschließend zu erpressen. Es ist einfach nur Weihnachten. Wie jedes Jahr völlig überraschend, dafür aber mit der vollen Härte eines Naturgesetzes. In der niedersächsischen Wichtelstadt Braunschweig sieht das dann ungefähr so aus:

Irgendwann Mitte November, die Temperaturen betragen ungefähr 18 Grad plus, beginnt es rund um den Dom hektisch zu werden. Etwaige Aufbauten, die andere Veranstaltungen bewerben, wie zum Beispiel Plastikdinosaurier, Plakate für Zirkusaufführungen oder die letzten Überreste einer Open-Air-Bühne für grundsätzlich im Regen stattfindende Opernveranstaltungen werden beiseitegeschafft, um Platz für Buden zu schaffen. Denn Buden müssen an Weihnachten in Braunschweig sein, möglichst eng beieinanderstehend. Dabei ist es völlig egal, was in diesen Buden später angeboten wird, ob vegetarisch produzierte Brühwürste vom Pferd, mundgeblasene Aschenbecher aus Neuerkerode oder Marzipanbrocken, mit denen man den Nachbarshund erschlagen kann. Wichtig ist nur, dass da Buden stehen. Die locken den Braunschweiger nämlich an wie Motten das Licht. Seitdem es in dieser Stadt nicht mal mehr einen professionellen Fußballverein gibt, flüchtet sich der Ostniedersachse bevorzugt in den Alkohol, wenn gerade kein Wolters zur Hand ist gerne auch warm und mit Gewürznelken versetzt. Da stehen sie dann alle, die Beamten der Stadtverwaltung, die Freiwillige Feuerwehr Lehndorf, die Kegelbrüder vom Verein »Schwarze Pumpe Ebertallee«, schütten sich den labberigen Rotweinverschnitt aus Ländern der EU in den Wirsing und erklären den Umstehenden ungefragt die Welt, während ihnen im Rücken von langfingrigen Scheinselbständigen die Geldbörsen aus den Taschen gemopst werden. Seit ein paar Jahren gehören auch noch schwer bewaffnete Polizisten zum Bild dazu, die kümmern sich aber nicht um Taschendiebe, sondern um Rucksackbomber und mit Sprengstoff beladene Drohnen, die die friedliche Weihnachtsstimmung doch nachhaltig stören könnten. Im Schwarzwaldstüberl, der vielleicht bekanntesten Bude unter allen, würde man von so einem Anschlag wahrscheinlich gar nichts bemerken, was einerseits an der Lautstärke und andererseits am Pegel der dort verkehrenden Promillesammler liegt. Hmm, weißer Glühwein mit in Bacardi eingelegten Kirschen. Noch ein Schluck Rum aus dem mitgebrachten Flachmann obendrauf, dann flutscht sogar so ein Teufelsgebräu die Kehle runter wie ein Schlitten den Nussberg. Also damals, vor der Klimaerwärmung. Was soll’s, ne Tüte mit gebrannten Mandeln nehmen alle gerne noch mit, vergessen selbige dann aber für zwei Wochen in der Jackentasche und wundern sich irgendwann, warum die Waschmaschine plötzlich klingt wie Opa Heinrich kurz vor seinem finalen Herzanfall.

Apropos, ein paar Meter weiter versammeln sich die, die mit dem ersten Feierabendschluck bis 17 Uhr warten können, hinter einer Schlossfassade, um noch schnell ein paar Geschenke zu shoppen. Auf mehreren Ebenen schubsen sich hier Männer, Frauen und Teenager von Geschäft zu Geschäft, weil es in den überdachten Arkaden nicht reinregnet oder windet. Dafür steht die abgestandene Luft wie eine Eins, spätestens Anfang Dezember beträgt die Innentemperatur gefühlte 39 Grad, und es riecht dezent nach Pumakäfig. Aber es ist ja so schön praktisch so viele Geschäfte unter einem Dach vorzufinden. Bei Saturn kriegt das Schwesterherz ein neues Notebook, Mutti sahnt ein glitzerndes Armband von Swarovski ab und Vaddern bekommt einen von Hand abgefüllten Whiskey von dem niemand weiß, ob in dem riesigen Glasbehälter nicht doch die Hausmarke von Aldi vor sich hin gluckert. Für Opa reicht, seitdem seine Demenz so schlimm geworden ist, eine eingewickelte Apotheken-Umschau, aber selbst die gibt es in Braunschweigs schönstem Konsumtempel. Beim zentralen Einpackservice des Hauses sollte man dank des Andranges allerdings ein bisschen Zeit und ein gutes Buch mitbringen. Im Zweifelsfall einfach nach Geschenken suchen, die auch an Ostern funktionieren.

Wer sich nach vierstündiger Shoppingtour wieder nach draußen gekämpft hat, hat sich den Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt jedenfalls redlich verdient. Und das Portemonnaie kann ruhig geklaut werden, ist ja eh nichts mehr drin. Zu Hause angekommen wird noch schnell ein Blick in die Braunschweiger Zeitung geworfen. Das einzige relevante Presseerzeugnis der Löwenstadt passt sich der besinnlichen Zeit Jahr für Jahr mit Freuden an und degradiert Kriege, Hungersnöte und Naturkatastrophen temporär zu Nebensächlichkeiten. Dafür wird seitenweise über andere wichtige Dinge berichtet: »Kinderchor singt Weihnachtslieder in St.-Martini-Kirche«, »Kinderchor singt Weihnachtslieder in St.-Petri-Kirche«, »Kinderchor singt Weihnachtslieder in St.-Magni-Kirche« oder »Kinder führen Krippenspiel in St.-Jakobi-Kirche auf.« So geht das wochenlang, bis selbst die Eltern all dieser singenden und spielenden Kinder spontan einen Urlaub auf den Weihnachtsinseln buchen. Denn dort, man höre und staune, wird das Fest der Liebe gar nicht gefeiert. In Lehndorf hingegen wird gefeiert, und zwar auf US-amerikanische Art. Mehrere stolze Besitzer von Eigenheimen liefern sich in diesem Stadtteil seit Jahren einen Wettstreit, wer die meisten Blinkelichter, Figuren und anderen Tinnef in Haus und Garten verbauen kann, ohne den Katastrophenschutz auf den Plan zu rufen. Wahrscheinlich verkleiden diese LED-Fetischisten selbst ihren Schornstein von innen mit Lichterketten, damit der Weihnachtsmann auch garantiert den Weg findet. Ein ausführlicher Artikel über das Höher-Schneller-Weiter-Funkeln in der Braunschweiger Zeitung? Ist doch Ehrensache!

Am 24.12. steht der anständige Braunschweiger dann zu nachtschlafender Zeit im Dom, preist den Herrn und versucht Karpfen, Kartoffelsalat und Krimsekt bei sich zu behalten, während er im Kopf schon den morgigen Pflichtbesuch bei der buckeligen Verwandtschaft mütterlicherseits und den anschließenden, unvermeidbaren Spaziergang um die Teiche zu Riddagshausen durchgeht. Das wird wieder ein echter Krampf, müsste man vorher noch was trinken. Hat der Weihnachtsmarkt eigentlich noch auf? (TB)

Matschmann

Schnee. Eine weiße, blitzsaubere Decke, die die Geräusche dämpfte, als seien die Ohren mit Watte verstopft. Eine reine Schicht keuscher Weißheit, die mit ihrer Unschuld alles bedeckte. Alle Unterschiede auslöschte, alle Farben, so dass nur sanfte Formen übrigblieben, wenn genug gefallen war.

Aber es rieselte kein Schnee vom Himmel, es regnete. Nicht gerade monsunartig, aber stetig, und das seit Tagen. Helene Krause stand an der Terrassentür und schaute auf das nasse Gras und die blattlosen, triefenden Äste in ihrem trostlosen Garten. Wieder keine weiße Weihnacht. Keine Schneeballschlacht, keine Rodelpartie am Nussberg, und auch mit dem Schlittschuhlaufen auf dem Kreuzteich würde es wohl nichts werden, genauso wie kein einziger Schneemann in nächster Zeit das trübe Licht dieser Dezemberwelt erblicken würde. Winterfreuden konnte es ohne Schnee nicht geben.

Frau Krause seufzte schwer. Ließ ihren Blick durch das trübe Zwielicht zu der Baustelle auf dem Nachbargrundstück wandern. Überall Dreck, Matsch, Müll und Bauschutt. Jedes verfügbare Fleckchen Erde wurde heute zugebaut, auch hier in der Maibaumstraße. Aber nicht nur die Welt, auch ihr eigenes Leben befand sich in einem stetigen Wandel. Der Sohn war schon vor längerer Zeit nach »Pomerode« ausgewandert. Das klang weniger schlimm als es in Wirklichkeit war, denn der Ort lag in Brasilien. Ihr Mann war schon seit einigen Jahren tot, aber nun hatten auch zwei ihrer besten Freundinnen das Zeitliche gesegnet. Die beiden, mit denen sie immer Weihnachten gefeiert hatte. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, dass es nicht schneite, denn dann wäre ihre Melancholie wohl unerträglich.

Sie seufzte noch einmal, drehte sich um und ging zum Wohnzimmertisch, um die vier roten Kerzen auf dem Adventskranz anzuzünden. Weihnachten alleine zu sein war nicht gut. Sie setzte sich auf das Sofa. Legte die Hände über ihr Gesicht und weinte leise. Das musste jetzt sein. Die Traurigkeit musste jetzt raus aus ihr. Danach würde es ihr besser gehen. Und nächstes Weihnachten würde sie rüber in die Seniorenresidenz der BBG gehen oder an der Weihnachtsfeier der Gemeinde Sankt Jacobi teilnehmen oder der von Sankt Joseph. Wenn das zeitlich passte, könnte sie vielleicht zwei oder drei Feiern hintereinander besuchen mit Kaffee, Gesang und Weihnachtskeksen. Jetzt hatte sie ein Jahr Zeit einen Plan zu machen, dachte sie, schaute auf und zuckte erschrocken zusammen. Ein großer, dicker schwarzer Schatten stand vor der Terrassentür. Ein Schatten, der einen Vorschlaghammer hob und schon zerbarst die Scheibe mit einem höllischen Klirren in tausend Splitter.

Noch bevor sie zum Telefon hasten konnte, stand der schwarze Schatten mitten in ihrem Wohnzimmer.

Ein Mann. Massig, mit einem gewaltigen runden Bauch. Die Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Jacke und Hose mit triefendem braunem Schlamm verschmiert. Die Schuhe dermaßen mit Lehm verklebt, dass man sie gar nicht mehr erkennen konnte. Als sei er im Regen über einen frischgepflügten Acker gelaufen, quoll der Matsch bei jedem Schritt darunter hervor und hinterließ einen dreckige Abdruck nach dem anderen auf dem hellen Teppichboden.

»Ganz ruhig, ja«, grunzte er mit einer tiefen, dunklen, rauen Stimme. »Ganz ruhig, dann passiert dir nichts. Geld. Und Kreditkarte. Her damit! Los! Schnell!«

Helene saß da wie erstarrt. Grausame, brutale Szenen aus »Aktenzeichen XY … ungelöst« fegten durch ihren Kopf. Blutige, malträtierte Senioren, zusammengeschlagen in der eigenen Wohnung. Beraubt, halbtot und wahnsinnig vor Angst.

»Ich, ich ...«, stammelte sie.

»Nun mach schon! Ich möchte dir nicht weh tun, Oma!«, grollte er wie schwerer Donner, holte aus und ließ den Hammer auf den Couchtisch krachen, direkt in den bunten Teller hinein. Nüsse und Dominosteine, grüne und rote Schokokugeln, die Apfelsine, der Weihnachtsmann, Spekulatius, Zimtsterne und Lebkuchen, alles flog durch die Luft. Der Adventskranz machte mit flackernden Kerzen einen Satz nach links und Frau Krause stieß einen schrillen Schrei aus.

»Los jetzt!«, befahl der Mann so heftig, dass ihm die Kapuze vom Kopf rutschte. Auch sein dickes, rundes Gesicht war mit Dreck verschmiert, nur eine spitze rote Nase stach daraus hervor. Nach vorn gebeugt stand er da wie ein Sumoringer, keuchte und sie roch den Alkohol in seinem rasselnden Atem.

Helene schaute ihn an. Zitternd und kreidebleich erhob sie sich. Es war egal, sie hatte keine Chance, sie war der Gewalt hilflos ausgeliefert. Mit brüchiger Stimme sagte sie: »Fröhliche Weihnachten. Schön, dass Sie mich besuchen.« Tat wankend ein paar kleine Schritte. »Moment, ich hole Ihnen die Sachen. Ich habe auch noch etwas Schmuck, den Sie vielleicht gebrauchen könnten.«

»Äh?«, grunzte der Mann und beobachtete sie aus Augen so schwarz wie Kohlen. Ein großes Stück Matsch rutschte ihm von der Schulter und platschte auf den Fußboden.

»Aber vorher würde ich Ihnen gerne etwas zu trinken anbieten.« Helene schob sich fahrig an den Wohnzimmerschrank heran. »Ich habe einen wirklich leckeren Weihnachts-Likör. Aus Wöltingerode ist der.«

Der Mann schüttelte wütend den dicken Kopf und etwas Schlamm spritzte umher. »Geld will ich!«, blubberte er. »Und den Schmuck!«

Frau Krause stand vor ihm. Die Hände, die Beine, alles zitterte, nur ihre Stimme war fest. »Ach, kommen Sie. Heute ist doch Weihnachten.« Sie ließ sich nicht beirren und schob die Schranktür zur Seite, hinter der sich die Hausbar verbarg. »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch einen Punsch machen. Aber das dauert etwas.«

»Hm. Also gut. Aber nur einen«, knurrte der Mann. »Und dann her mit dem Geld!«

Ihre Hand zitterte schon weniger, als sie eines der beiden Gläser bis unter den Rand füllte, das andere aber nur einen Fingerbreit. Dann drehte sie sich um, und er griff mit einer großen lehmverschmierten Hand nach dem kleinen Glas.

»Frohe Weihnachten. Prost.« Sie stieß mit ihm an, trank, dann wies sie auf seine Hand. »Wo kommt denn der ganze Matsch her?«

»Bin in die Baugrube gefallen«, brummte er grinsend und zeigte eine Reihe schwarzer Zähne. »Sturmhaube vergessen. Wollte mich maskieren. Mit Matsch.«

»Ach, kein Wunder bei dem Regen seit Tagen. Früher gab es Schnee. Da wären Sie vielleicht als Schneemann in mein Wohnzimmer getapst, nicht als Matschmann.«

Der Räuber lachte laut auf, »Huahuahua, Matschmann!«, raunzte er heiser, »das ist gut!«, und hielt Helene das Glas hin.

»Kommen Sie Herr Matschmann, setzen wir uns. So ein Malheur aber auch«, sagte sie nach einem weiteren Weihnachts-Likör. »Nehmen Sie sich ruhig einen Keks. Hab’ ich selbst gebacken.«

Der Matschmann setzte sich, wobei er einige Bröckchen nasse Erde verlor, lehnte grunzend den schweren Hammer gegen den Sessel, griff zu und hielt ihr grinsend wieder das Gläschen hin.

Als die Flasche leer war, gab Helene ihm all ihr Geld, den Schmuck und die Bankkarte, natürlich mit einer falschen Geheimnummer. Schwankend verließ er ihr Wohnzimmer durch die eingeschlagene Terrassentür.

Sofort griff sie zum Telefon und rief die Polizei an. Beschrieb der Beamtin ganz genau, wie der Matschmann aussah und wohin er geflüchtet war. Ein paar Minuten später hörte sie die Martinshörner herankommen. Vor ihrem Haus halten. Sah die Lichtkegel von Taschenlampen durch den Regen zucken. Kurz darauf die Rufe der Polizisten: »Hallo! Sie da unten! In der Baugrube! Kommen Sie doch bitte mal da raus, ja!«

Es gelang Helene nicht, die Polizisten zu einem Becher Punsch zu überreden. Aber die beiden Glaser – die fix die Terrassentür provisorisch mit einer Plexiglasscheibe reparierten – der Notfallseelsorger und ein paar Nachbarn, die, angelockt von den Polizeiwagen vor ihrem Haus herumlungerten, nahmen gerne einen. Es ging auf zehne, als Helene Krause die ganze schöne Bescherung hinter sich hatte und lächelnd vor dem Fernseher einschlief. (HC)

Das Weihnachtslied vom Adventskalender

Weihnachten ist die Zeit, in der sinnlose Menschen mittels sinnloser Bräuche versuchen ein wenig Licht in ihr sinnloses Leben zu bringen. Klingt nihilistisch, ist aber leider so. Ein gutes Beispiel für diese These ist der so genannte Adventskalender, der es Kindern und in Mathematik nicht ganz so begabten Erwachsenen ermöglichen soll, die Zeit zwischen dem 1. Advent (beziehungsweise dem 1. Dezember) und dem Heiligen Abend ohne größere Probleme abzuzählen.