Braunschweig'sche Verbrechen - Till Burgwächter - E-Book

Braunschweig'sche Verbrechen E-Book

Till Burgwächter

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Beschreibung

True-Crime aus der Löwenstadt. Mal erschreckend und traurig, mal absurd und lächerlich – zwischen Nervenkitzel, Belustigung und totalem Wahnsinn: Da treiben Ganoven im Umfeld der Eintracht ihr Unwesen. Da wird ein Geschäftsinhaber mit vorgehaltener Pistole überfallen, und ein uralter Brunnen Zeuge eines tödlichen Streits. Und was passierte damals, im Blutjahr '98? Was haben Kriegswaffen auf einem Supermarktparkplatz zu suchen? Nach einem Mord flieht der Täter durch halb Deutschland, und auch die Akten zu den niederträchtigen Geschehnissen in Braunschweigs Westen kommen noch einmal auf den Schreibtisch. Die Top-Ermittler Till Burgwächter und Hardy Crueger rollen Braunschweiger Kriminalfälle auf, die es nicht alle auf die Titelseiten geschafft haben. Wahre Verbrechen – von den Autoren sorgfältig recherchiert und frei nacherzählt. Mit Cartoons von Karsten Weyershausen und einem Nachwort von Erich Bünte.

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Seitenzahl: 156

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Inhaltsverzeichnis
Braunschweig’sche Verbrechen
Vorwort
Wild Wild West: Die Frankfurter Straße
Die Brücke des Zorns
Lethal Weapon: Braunschweiger Parkplatz-Panzerfäuste
Konfusion
Bang Boom Bang: Panzerknacker in der Löwenstadt
Freiwild
Du hast mich tausendmal belogen: Braunschweiger Bauernfänger
Anno ’98
Sex and the City: Die legendäre Bruchstraße
Der Alptraum-Traum
The Road to Hell: Unterwegs auf Braunschweigs Straßen
Der Hoplit
Shoplifters: Langfinger schlagen zu
Das Opfer und sein Mörder
The Boys are Back in Town: Verbrechen in den Farben Blau und Gelb
Muttermord
Steel Church: Unter den Augen des Erlösers
Wie die Dinge sind
A Past and Future Secret: Braunschweigs größter Haderlump
Niedere Instinkte
Nachwort
Über Hardy Crueger, Till Burgwächter und Karsten Weyershausen

Braunschweig’sche Verbrechen

Von Till Burgwächter und Hardy Crueger

Umschlaggestaltung und Cartoons: Karsten Weyershausen

Lektorat: lektorat-lupenrein.de

© Verlag Andreas Reiffer 2022, identisch mit der Printversion

ISBN 978-3-910335-87-5

Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16b, D-38527 Meine

www.verlag-reiffer.de

»Dass die Kriminalität auch in unserer nächsten Umgebung zunimmt, können wir daran erkennen, dass uns immer mehr Menschen gestohlen bleiben können.«

Ernst Ferstl

»Es gibt nichts Stilleres als eine geladene Kanone.«

Heinrich Heine

Mit »TB« gekennzeichnete Texte stammen von Till Burgwächter,»HC« steht für Hardy Crueger.

In den hier versammelten Glossen und Geschichten werden ausschließlich echte Kriminalfälle nacherzählt. Um die Persönlichkeitsrechte der Protagonistinnen und Protagonisten zu wahren, wurden die Namen in den meisten Fällen geändert. Charakter und Habitus aller handelnden Figuren entspringen allein der Fantasie der Autoren.

Vorwort

Dass Braunschweig nicht die Stadt des Verbrechens schlechthin ist, dürfte klar sein. Auch wenn hier hin und wieder auf Straßenbahnen geschossen oder ein Mensch ermordet wird, fühlt man sich doch recht sicher – zumindest bis zum Sonnenuntergang. Dann kann es schon mal ein wenig gefährlicher werden. Und so sind wir bei der Recherche zum Thema »True Crime in der Löwenstadt« auf einige interessante und aufwühlende Verbrechen aus den letzten Jahrzehnten gestoßen.

Dabei haben wir uns ganz bewusst nicht die spektakulärsten Fälle vorgenommen. Der Mord-Pastor Geyer zum Beispiel wurde dermaßen durch den Boulevardsiff geschleift, dass am Ende einfach nicht mehr genug dran war. Und auch über Braunschweigs (historisch betrachtet) wohl größtes Verbrechen aller Zeiten, die Einbürgerung eines kleinen Österreichers mit Stummelschnauz, mögen andere philosophieren.

Wir haben uns den kleineren, manchmal skurrilen, aber oft nicht weniger bösen Taten gewidmet und die Fälle ausgewählt, die uns auf irgendeine Art berührt haben. Sei es das Unverständnis über eine Mordtat oder die Dreistigkeit oder auch Dummheit der Täterinnen und Täter. Wir haben versucht, uns in Opfer hineinzuversetzen so gut es ging und in die Straftäterinnen und Straftäter so weit wie nötig. Als Quellen haben wir nicht ausschließlich Pressemeldungen verwendet, sondern auch Schilderungen von Menschen, die direkt von einem Verbrechen betroffen waren. Das kann tragisch, manchmal aber auch saukomisch sein. Es muss ja nicht immer gleich Blut fließen.

Parallel zur Fertigstellung dieses Buchs gab es zwei Funde von menschlichen Knochen in Braunschweig, die zum Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht zugeordnet werden konnten. Und auch im Fall der seit vielen Jahren verschwundenen Maddie McCann führt eine Spur direkt in die Löwenstadt, bis heute ohne konkrete Ergebnisse. Das Verbrechen kennt eben keine Frühstückspause.

An dieser Stelle ein Dankeschön an unsere Exekutive, die, wie wir bei unseren Recherchen festgestellt haben, oft sehr gute Arbeit macht.

Wir schließen mit den Worten des großen Rudi Cerne und schauen Ihnen dabei treuherzig in die Augen: Bleiben Sie sicher!

Till Burgwächter & Hardy Crueger

PS: In diesem Buch kommen weder Dr. Mark noch Lydia Benecke zu Wort.

Wild Wild West: Die Frankfurter Straße

Städte sind ein lebendiger Organismus. Das gilt auch für Braunschweig, selbst wenn man das als Bewohner oder Beobachter nicht immer für möglich halten sollte. Verschiedene Bezirke in unserer Löwenstadt verändern sich, werden vom Schmuddelkind zur angesagten Gegend für Tatzenjackenträger und umgekehrt. Momentan lässt sich das gut im westlichen Ringgebiet beobachten, wo eigentlich nur noch ein Starbucks und ein übergroßer Bio-vegan-fair-gehandelt-kein-Plastik-wir-haben-euch-doch-alle-lieb-die-Schokolade-kostet-übrigens-vier-Euro-Laden fehlen, um die Gentrifizierung abzuschließen. Vor allem die Ecke rund um den Frankfurter Platz wehrt sich noch ein kleines bisschen, ist dem Gegner aber im Grunde chancenlos ausgeliefert.

Vor rund 20 oder 30 Jahren sah das freilich noch ein wenig anders aus. Da regierte rund um den Platz, der damals optisch noch gar keiner war, die Anarchie. Im Wurmfortsatz der Frankfurter Straße stand eine Videothek, in der sich schon weit vor Sonnenuntergang fragwürdige Gestalten herumtrieben und den gut getarnten Durchgang in die Erwachsenenabteilung suchten. In dem Laden roch es typischerweise nach einer Mischung aus ungewaschener Jogginghose, Vorfreude und Popcorn, hinter dem Tresen langweilten sich Studenten oder ehemalige Studenten, die den Absprung verpasst hatten und irgendwann hauptberuflich Videobänder zurückspulen und Kunden beschimpfen mussten. Ein paar Meter neben »Video Buster« existierte laut Außenwerbung eine ominöse Kegelbahn, die kein lebender Mensch je mit eigenen Augen gesehen hat, es gab einen Kiosk, in dem bei der richtigen Frage auch im Mai osteuropäische Feuerwerkskörper den Besitzer wechselten, die eine oder andere Kneipe und weitere Kioske. Was da unter der Ladentheke herumlag, entzieht sich der Kenntnis des Verfassers dieser Zeilen. Aber es werden keine Goldbären von Haribo gewesen sein.

In den ansehnlich heruntergerockten Wohnblocks wohnten Arbeitslose, kommende Arbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund, Anhänger von bewusstseinserweiternden Substanzen, Taschendiebe, politische Extremisten, potenzielle Attentäter und weitere Subkulturen, die sich einer genaueren Spezifizierung entziehen. Die Atmosphäre in den verschachtelten Straßenzügen zwischen Ekbert-, Schöttler- und Luisenstraße wirkte zu jeder Tag- und Jahreszeit, wie soll man es ausdrücken, ein wenig angespannt. Lange bevor das Kontorhaus wie ein ausgespuckter Walzahn die Gegend verschandelte oder man im Zucker für ein Monatsgehalt eine Consommé vom Auerhahnhirn und über den Löffel balbierte Kaldaunen des Husumer Hochlandhirsches verspeisen konnte, war der Ton in dieser Ecke der Löwenstadt gerne etwas rauer. Gut, es war zu keiner Zeit wie in Caracas oder Tijuna, aber es fühlte sich, vom Wetter abgesehen, ein bisschen so an. Um das Jahr 2000 herum entwickelte sich ein ansehnlicher Konflikt zwischen den politischen Extremen. Einige haupthaarlose Männer zwischen 20 und 30 hatten sich in der Straße eingenistet, feierten tagtäglich ihre ganz persönliche Reichskristallnacht, indem sie Bierflaschen aus dem Fenster warfen, unverständliche Parolen brüllten (die wenigsten Gebisse waren vollständig) und eine Reichskriegsflagge schwenkten. Weil die Polizei in diesem Fall und wie zu oft lieber eine beobachtende Position einnahm und den braunen Mob mal machen ließ, fühlten sich die natürlichen Erzfeinde der nationalistisch eingestellten Nachttopfschlürfer bemüßigt, ihrerseits einzugreifen. Die Antifa hatte ihr Büro praktischerweise gleich um die Ecke und sandte einige Mitarbeiter, um die Brut zu beobachten und in die Schranken zu weisen. Es bedarf nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass aus dieser Konstellation schnell ein veritabler Kleinkrieg erwuchs, der die ganze Gegend in Atem hielt. Fensterscheiben gingen zu Bruch, Autos wurden zerkratzt, Beleidigungen herumgebrüllt. Gruppen von jungen Menschen hetzten sich plötzlich gegenseitig durch die Straßenschluchten, mal von links nach rechts, dann wieder von rechts nach links. Und das in jeglicher Hinsicht. Für Außenstehende war es im Dämmerlicht nicht immer einfach zu erkennen, wer da gerade wen vor sich hertrieb, und ich bin mir sicher, dass sich so mancher Protagonist hier und da versehentlich der falschen Gruppe anschloss, nur um zu merken, dass er gerade seinen eigenen Kameraden hinterherjagte. An einem besonders schönen Sommertag saß der Verfasser dieser Zeilen in einer bis heute dort existenten Bar (beziehungsweise im Biergarten der selbigen), einen Tonkrug mit Bier in der Hand, als die beiden Parteien mal wieder ihrem Hobby frönten und an uns vorbeiliefen. Wie im Comic kehrten sie, dieses Mal unter umgekehrten Vorzeichen, wenige Minuten später wieder zurück. Der damalige Chef des Ladens stand zufällig gerade hinter mir und verfolgte das Geschehen wortlos. Als die Meute schließlich zum zweiten Mal in einer der Seitenstraßen verschwand, wandte er sich an mich. »Du weißt, ich bin Kurde. Kannst du mir das mal kurz erklären.« Ich rang damals nach Worten und hätte auch heute Probleme, einem Menschen, der vor Krieg, Folter und Gewalt geflohen ist, diesen politisch angehauchten Kindergarten adäquat zu umschreiben. Leider scheint die Auseinandersetzung nach einigen Jahren Pause in der letzten Zeit wieder aufzuflammen. Eine neue Generation von Faschistenmurmeln kullert in der Gegend herum und provoziert Gegenmaßnahmen. Geschichte scheint sich zu wiederholen.

Zurück in die Zeit um die Jahrtausendwende, als es in der Gegend eine spezielle Kneipe gab, in der mindestens so viel los war wie auf der Straße davor. Der Laden trug einen griechischen Namen, Athen, Olympia, irgend so ein hellenisches Klischee halt. Wenn das Nazipack mal eine Grölpause einlegte, wummerte unter Garantie Musik aus dem Laden nach draußen. Und die war alles andere als griechisch. Helene Fischer poste zu dieser Zeit zwar noch als Teenager mit der Haarbürste als Mikrofonersatz vor dem eigenen Schlafzimmerspiegel, aber ihre musikalischen Vorbilder der Marke Andy Borg, G.G. Anderson, Mary Roos, DJ Ötzi und Zlatko (»Isch vermisch disch wie die Hölle«) tönten bereits in voller Lautstärke über den Frankfurter Platz. Herrlich. Anders als die Kaschemmen und Gaststuben im Umfeld lockte dieses Etablissement nicht mit dunklem Holzinterieur und Dimmerlicht, bei dem man selbst am hellsten Tag des Jahres den Weg zur Toilette nur mit einer Grubenlampe findet. Nein, dieser an sich nur aus einem länglichen Tresen bestehende Laden war weiß gekachelt. Und, bei Gott, der Besitzer wird gewusst haben, warum. Hier saßen spätestens um High Noon herum die absoluten Spezialisten bei Bier und Magenbitter in trauter Runde beisammen und erklärten sich gegenseitig die Welt. Politiker, Firmenbosse, Vermieter, Fußballer? Allesamt unfähige Kantonisten. Die wahre Elite der Stadt, wenn nicht des Landes, saß auf diesen Barhockern und löste zwischen der dritten Runde Herrengedeck und einem eingeschobenen Wasserglas voller Ouzo die Probleme unseres Planeten. Leider hörte ihnen niemand zu, sie sich wahrscheinlich nicht mal selber. Ab und an schnappte aber doch jemand einen Wortfetzen seines Gegenübers auf, ließ selbigen durch den durchfluteten Brägen sickern und fühlte sich davon herausgefordert. Dann wurde die »Musik« vom Schlachtengetümmel übertönt, dass es für alle Anwohner eine Freude war. Diese Kämpfe in der Superpromilleklasse währten selten lang, dafür fanden sie regelmäßig statt. Die Kondition der Beteiligten war überschaubar, viele Beißerchen zum Rausschlagen gab es auch nicht mehr, insofern lohnte sich der Aufwand meist nicht. Wenigstens ließ sich das Blut relativ gut von den Kacheln putzen. Und zwei Minuten später saßen die ehemaligen Todfeinde auch schon wieder auf ihren Hockern, um sich bei einem Glas sorgsam gekelterten Mariacron lebenslange Freundschaft zu schwören. Waren Messer im Spiel, wurde es auch schon mal unschön. Selbst Taxifahrer überlegten sich zweimal, ob sie an dieser Ecke ihre Türen öffnen sollten.

Über Jahrzehnte fügte sich die schräg gegenüber vom Frankfurter Platz abgehende Hugo-Luther-Straße perfekt ins Stadtbild ein. Hier ging es in 70ern schon hoch her, brennende Matratzen, Autos und Möbelstücke jeglicher Art gehörten zur normalen Wochenendunterhaltung. Schuld daran waren WGs voller subversiver Elemente, die sich in den abbruchreifen Häusern und Hütten ihr Domizil eingerichtet hatten. Noch in den 90ern ging die (nicht ganz wahre) Legende um, Polizeiautos würden es nicht wagen, nach Anbruch der Dunkelheit in die Straße einzubiegen. Ganz so wild war es über weite Strecken wohl nicht, aber näher kam Braunschweig dem Wilden Westen nie wieder. Heute sieht die Gegend zwar immer noch nicht aus, als würde sie zum Hamburger Edelstadtteil Blankenese gehören, beherbergt allerdings eher Mehrgenerationenhäuser, Mütterzentren und Künstlertreffs als Drogen konsumierende Halbstarke mit Hang zur pathologischen Brandstiftung. Ausnahmen bestätigen die Regel. Im September 2019 wurde just in dieser Straße in den frühen Morgenstunden eine 53 Jahre alte Radfahrerin angehalten. Auf Anfrage der Polizei gab sie freimütig an, auf dem Weg zur Tankstelle zu sein, um sich Schnaps zu kaufen. Ein Alkoholtest ergab etwas mehr als drei Promille, die Dame wurde nach Hause geleitet. Für diesen Tag gescheitert, aber in dem stolzen Bewusstsein, eine lange Braunschweiger Tradition fortgeführt zu haben. Die Anzeige wegen Trunkenheit im Straßenverkehr gab es trotzdem. (TB)

Die Brücke des Zorns

Zusammengerechnet waren sie einhundertneun Jahre alt, und jeder der drei hätte bei einer Ü30-Party ohne Probleme Einlass bekommen. Aber es gab keine Party, nur Big Brother im Fernsehen. Gerd stülpte die Lippen über den Flaschenhals, warf den Kopf so weit in den Nacken, bis die Pulle senkrecht in der Luft stand, und ließ das Bier gluckernd in sich hineinlaufen. Als sich nur noch Luft und Schaum in der Flasche befanden, knallte er sie auf die Tischplatte und rülpste.

Die zierliche Frau neben ihm auf dem Sofa kreischte, und Andy, der Mann mit dem fettigen Haar, der ihm gegenüber in dem einzigen Sessel saß, schlug sich grölend auf die Schenkel: »Echt, das haste dem gesagt?« Er lachte, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und drehte sich eine neue.

»Türlich!« Gerd strich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Walrossbart und öffnete mit einem Plopp die nächste Bierflasche. »Ey, na klar! Ich lass mich doch nich verarschen von so nem Idioten! Kann sich sein 1-Euro-Job sonst wo hinstecken! Kann nur froh sein, dass ich auf Bewährung bin. Sonst hätt ich den blutig gemacht, ey!«

Susi legte Gerd die Hand auf den kräftigen Oberarm und fuhr mit ihren als Erdbeeren designten Fingernägeln die blassblauen Konturen des Ankers nach, der seine braune Haut zierte. »Das war aber schlau, mein Guter«, sagte sie und sog an der Zigarette.

Gerd grinste, schmiss seinen fleischigen Arm um ihren Hals und zog sie zu sich heran. Sein Achselschweiß verrieb sich auf der verschlungenen Tätowierung ihrer knöchernen Schulter. »So bin ich, Püppchen«, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie befreite sich kichernd aus seinem Griff, wobei sie ihm den Zigarettenqualm in das Gesicht pustete.

Sein Grinsen versteinerte. Die Pranke krallte sich in die langen blonden Haare des Flittchens, aber bevor er daran zog, rief Andy: »Echt super, Mann! Komm, Stößchen!«, und hielt ihm seine Bierflasche hin. Gerd lachte auf und ließ seine Flasche mit solcher Wucht dagegen krachen, dass sie zerplatzte. Bier und Splitter klatschten auf den Couchtisch und das Zimmer erbebte von einer gewaltigen Lachsalve.

Gerd hatte Susi mal wieder am Kiosk getroffen. Susi war immer in Geldnot, und er hatte ihr Zigaretten und ein paar Biere ausgegeben. Irgendwann war Andy dazugekommen, und sie hatten sich auf eine Parkbank in der Nähe zurückgezogen. Aber das Wetter wurde immer schlechter. Es begann zu regnen, und als der Kiosk schloss, hatten sie sich mit einigen Six-Packs eingedeckt und in Andys Wohnung zurückgezogen, die am nächsten lag. Es war Samstag, Grund genug zum Feiern.

Immer wenn sich die Gelegenheit bot, starrte Gerd auf die Tätowierung, die wie ein Geweih über Susis Gesäß prangte. Die kleine Frau mit den langen blonden Haaren, in das ein paar violette und schwarze Strähnen eingefärbt waren, gefiel ihm. Heute fand er sie besonders sexy. Heute würde er sie sich nehmen. Ständig hatte er eine seiner Flossen auf ihrem Bein oder zog sie im Schwitzkasten zu sich heran. Sie kicherte, rauchte und prostete ihm zu. Aber sie lächelte auch Andy an, und auch ihm prostete sie zu. Vielleicht braucht der Kerl demnächst mal kräftig was aufs Maul, dachte Gerd.

»Was mein ihr, ey, was ich mit der Schwuchtel gemacht hab, die se mir auf die Zelle gelegt haben«, sagte er. Und dann schilderte er die grausame Geschichte mit all ihren brutalen Einzelheiten. »Der war wie tot, ey«, resümierte er stolz.

Susi juchzte, als Gerd von seinem Sieg berichtete. Wieder klirrten die Flaschen. Es war weit nach Mitternacht, als sie feststellen mussten, dass das Bier alle war. Sie hatten nichts mehr zu trinken. Es war schlimm.

Nach einer intensiven Erörterung der kritischen Lage gab es nur eine umsetzbare Lösung: Man beschloss, gemeinsam an die Biertränken der Stadt zu ziehen. Gegen halb zwei Uhr morgens verließen die drei schwankend das Siegfriedviertel. Von Susi und Andy flankiert, stolzierte Gerd die vierspurige Ausfallstraße entlang, bis die McDrive-Reklame ihn daran erinnerte, dass er seit Stunden keine feste Nahrung mehr zu sich genommen hatte.

Um Susi zu beeindrucken, bezahlte Gerd das ganze Schnellessen und auch das schale Bier, das sie alle so laut und ausgelassen grölen und rülpsen ließ, dass einer der Bediensteten sie aufforderte, den Laden zu verlassen. Entrüstet warf Gerd den Bierbecher auf den Boden, sprang vom Stuhl hoch, plusterte sich auf und ging mit gefletschten Zähnen auf den Mann los. Mutig warf Susi sich zwischen die Streithähne, konnte das Schlimmste – den Kampf bis aufs Blut – verhindern, und der Restaurant-Mitarbeiter kam mit einer kräftigen Kopfnuss und einem Schwall übelster Schimpfwörter relativ glimpflich davon.

Triumphierend setzte die Dreierbande ihren Weg zu den Biertränken fort. Nach der Plörre bei Mäckes hatten sie alle das nicht zu unterdrückende Bedürfnis nach einem frisch Gezapftem. Aber dann stellte Susi plötzlich fest, dass sie keine Zigaretten mehr hatte, und Rettung winkte erst weit, weit weg, hinten, in der Stadt. »Müssen wir wohl zur Tag-und-Nacht-Tanke gehen«, sagte sie.

Gerd wurde ärgerlich. Er wollte nicht länger als nötig durch die Nacht tigern. Der Regen hatte zwar aufgehört, aber es konnte jederzeit wieder losgehen. An der nächsten Kreuzung blieben sie stehen und stritten sich. Susi und Andy standen Gerd gegenüber. Susi schmiegte sich an Andy, schaute aber mit großen, bittenden, herausfordernden Augen auf Gerd: »Entweder wir gehen alle zusammen zur Tanke«, sagte sie, »oder ich geh mit Andy alleine hin, mein Guter.«

Gerd richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er überragte sie alle. Susi um einen ganzen, Andy um einen halben Kopf. Seine Pranke schoss so plötzlich hervor, dass Andy sie weder abwehren noch ihr ausweichen konnte. Der Handteller prallte auf seine Brust und er wurde von Susi fortgeschleudert. Torkelte ein, zwei Schritte nach hinten, aber er konnte sich nicht halten und ging zu Boden. Gerd nahm seinen Platz neben Susi ein, streckte Andy die Hand hin und sagte: »Also gut, ey, gehn wa Kippen holen?«

Andy schlug die Hand aus und rappelte sich vom Boden hoch. »Was soll das denn?«, schrie er. »Biste meschugge, oder was!?«

»Mensch, wieso hauste den denn?«, fragte Susi.

»War ja nich gehaun. War nur geschubst, ey. Immer dieses Gelabere. Lass uns ma losgehen, wa«, befahl Gerd, stopfte die Hände in die Taschen und stieß Susi mit der Schulter voran in Richtung Okerbrücke, hinter der die Tankstelle lag. Sie schwankten die Straße entlang, aber ein bisschen von der lustigen Stimmung war durch den Stoß flöten gegangen.

Andy torkelte hinter den beiden her. In seinem Magen grummelte es. Das viele Bier, die Hamburger, der Stoß, der Sturz – ein dumpfer Schmerz begann ihn zu quälen. Er legte die Hände auf den Bauch und stöhnte. Auf der Brücke wurde er immer langsamer, bis er schließlich stehenblieb und sich am Geländer festhielt.

»Mir ist echt schlecht«, sagte er.

Gerd und Susi blieben stehen und drehten sich zu ihm um.

»Ey, das kommt von der Maces-Plörre«, sagte Gerd. »Steck ’n Finger in Hals und spucks aus, Mann.«

Die blonde Susi trat auf Andy zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Was haste denn, mein Guter«, sagte sie. Ihre Jacke schob sich hoch und gab das auf ihrem Steiß prangende Tribal-Tattoo frei.

»Ich weiß nicht … mir ist … schlecht.« Andy lehnte mit dem Rücken am Geländer der Brücke und streckte den Unterleib vor, beide Hände auf seinen Bauch gepresst.