Breitachklamm - Nicki Fleischer - E-Book

Breitachklamm E-Book

Nicki Fleischer

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Der neue Fall für den PHK Egi aus Oberstdorf nervt, aber gewaltig. Sakradi! Kaum hat PHK (Polizeihauptkommissar) Egi Huber seinen ersten Fall gelöst, taucht schon wieder eine Leiche im idyllischen Oberstdorf im Allgäu auf. Genauer gesagt schwimmt sie in der Breitach. Noch schlimmer: Die verhassten Kollegen der Kripo Kempten mischen sich wieder ein und der Chefmeier liegt ihm in den Ohren, den Fall schnell abzuschließen. Doch die Allgäuer sind ein eigenartiges Völkchen. Keiner scheint etwas über die Tote Annet Balder zu wissen, und wenns drauf ankommt haltens z'sammen, die Einheimischen. Da muss Egi seinen ganzen Charme und seine gewieften Kollegen alle ihre Ermittlungskünste spielen lassen. Denn von der Kemptener Kripo lässt sich der PHK nicht vorführen. Wenn schon in seinem Revier gemordet wird, will Egi denn Fall auch selbst lösen… Lust auf mehr Krimis aus dem Allgäu? Alle Fälle von Kommissar Egi Huber: - Band 1: Nebelhorm - Band 2: Breitachklamm - Band 3: Klausentod - Band 4: Seealpmord - Band 5: Kanzelwand - Band 6: Waldesruhe

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Die Autorin

Nicki Fleischer, in den 1970er Jahren im Sauerland geboren, wuchs in nur 240 Metern Höhe auf. Schon früh wollte sie hoch hinaus und besucht seit Kindheitstagen die Alpen. Während ihres Informatik-Studiums beschäftigte sie sich mit IT-Forensik und Polizeiarbeit. Als Verwandtschaft aus dem Allgäu angeheiratet wurde, kam sie zu dem naheliegenden Schluss, Allgäukrimis zu schreiben. Dabei schaut sie mit viel Augenzwinkern in das mordsmäßig schöne Oberallgäu und auf dessen örtliche Gepflogenheiten.

Das Buch

Der neue Fall für den PHK Egi aus Oberstdorf nervt, aber gewaltig.

Sakradi! Kaum hat PHK (Polizeihauptkommissar) Egi Huber seinen ersten Fall gelöst, taucht schon wieder eine Leiche im idyllischen Oberstdorf im Allgäu auf. Genauer gesagt schwimmt sie in der Breitach. Noch schlimmer: Die verhassten Kollegen der Kripo Kempten mischen sich wieder ein und der Chefmeier liegt ihm in den Ohren, den Fall schnell abzuschließen. Doch die Allgäuer sind ein eigenartiges Völkchen. Keiner scheint etwas über die Tote Annet Balder zu wissen, und wenns drauf ankommt haltens z’sammen, die Einheimischen. Da muss Egi seinen ganzen Charme und seine gewieften Kollegen alle ihre Ermittlungskünste spielen lassen. Denn von der Kemptener Kripo lässt sich der PHK nicht vorführen. Wenn schon in seinem Revier gemordet wird, will Egi denn Fall auch selbst lösen…

Von Nicki Fleischer sind bei Midnight erschienen:NebelhornBreitachklamm

 

Nicki Fleischer

Breitachklamm

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinMai 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95819-140-2

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Mörderische Schlucht

Erschwerte Bedingungen

Spuren im Cyberspace

Gehirnjogging und Zumba

Kein Licht im Dunkeln

Aussagen und andere Lügen

Dem Mörder auf der Spur

Epilog

Leseprobe: Nebelhorn

Empfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Sakradi, so a Graus, da lag ja eine Leiche in seinem Kofferraum! Dabei hatte er die drei leeren Bierkästen reinstellen wollen. Jetzt war gar kein Platz mehr dafür. Und besonders appetitlich sah das Ganze auch nicht aus, die war etwas angetaut und hatte ihre Körperflüssigkeiten in seinem Heck abgesondert. Pfützen gespickt mit winzigen Gewebefetzen schwammen auf dem blanken Stahl. Und es roch penetrant. Da hätte jetzt keiner mehr Ambitionen, etwas daneben zu platzieren, das später noch einmal Verwendung in der Nahrungs- oder besser Genussmittelkette finden sollte.

»Schätzele, worauf wartest denn? Pack die Kästen endlich nei«, rief seine Frau herüber. Sie stand an der Haustür und hatte noch zwei hinausgestellt. Ihre rote Lackhandtasche hing an ihrem Unterarm, und sie wollte gerade die Tür abschließen.

Was für eine verzwickte Situation. Die sollte besser nix davon mitkriegen, sonst würd die einen Riesenaufstand machen. Eine junge Tote in seinem Kastenwagen, halb nackt. Die würde doch wieder brutal eifersüchtig werden und denken, es wäre eine Beziehungstat vorgefallen. Eine, die er begangen hätt! Hatte er aber gar nicht.

Schweißperlen bildeten sich auf seiner krausgezogenen Stirn. Er hob sein altes Das Höchste-Cappy an und kratzte sich am glänzenden Köpfle. Er überlegte fieberhaft, woher er die Kleine kannte und was er jetzt mit der machen sollte. Einfach nur loswerden wollte er sie, aber wie nur?

»Weißt was, Mäusle, ’s ist so schön heut, da fahr ich mit’m Rad. Kannst daheimbleiben.« Er knallte die Kofferraumtüren wieder zu und verriegelte fix sein geschändetes Gefährt. Zum Glück gab’s aktuell nur einen Schlüssel dafür im Haushalt, und den hatte er. Wo der zweite grad war, wusste er genau.

»Bist jetzt total deppert? Fünf Kästen mit’m Rad?«, merkte seine Angetraute an und schloss die Tür wieder auf.

»Passt schon. Ich häng den Bollerwagen dran.«

Er holte sein klappriges Herrenrad aus der Garage und hängte den Bollerwagen dran.

»Du hast s’ nimmer alle beisammen!« Sie schüttelte den Kopf, ging zurück ins Haus und warf ihr Handtäschle auf den Schuhschrank.

Erleichterung pur war das für ihn. Er stapelte das Leergut aufeinander und fixierte es mit Spanngurten am Bollerwagen. Er bestieg sein Rad. Das stammte noch vom Vatter und hatte nur drei Gänge. Man hörte von Weitem die Flaschen klimpern, als er anfuhr. Er trat in die verrosteten Pedale und machte sich keuchend auf den Weg zum Getränkemarkt FRISTO. Da musste er fünf neue Getränkekästen kaufen, eine schwere Sache würd’s werden. Aber die Strapaze hatte ihren Wert, jede andere Alternative wäre erheblich unbequemer für ihn ausgefallen.

Noch schwerer würd jedoch das anstehende Gespräch wiegen, das mit dem Mann, dem er heute in der Früh den Kastenwagen geliehen hatte. Er trug den Spitznamen Beelzebub.

Mörderische Schlucht

Ihre Mutter hatte sie kurz nach ihrer Geburt vor der Tür des verdutzten katholischen Pfarrers in Bad Hindelang abgestellt. Der war vielleicht erschüttert gewesen! Er hatte damals bereits ein uneheliches Kind und konnte kein weiteres brauchen. So viel Aufwand war’s gewesen, das zu vertuschen. Zig mal war er deshalb versetzt worden, weil ihm die Allgäuer Schäfle in seinen neuen Kirchengemeinden immer wieder auf die Schliche kamen. Er wollte seinen Sohn schließlich hin und wieder sehen. Letztendlich war er bis in die Oberpfalz versetzt worden, wo ihn niemand kannte. Als er nach zwölf Jahren endlich wieder im Allgäu predigen durfte, hatte sie auf seiner Fußmatte gelegen, mit winzigen blauen Lippen und rotem Näsle, eingepackt in Wolldecken, in einem geflochtenen Korb. Einige seiner kircheninternen Gegner wollten ihm sowieso an den Oratorianerkragen. Die würden bestimmt behaupten, dass es sein Bastard wäre, den er da loswerden wollte. Seine Tage in Bad Hindelang waren nach wenigen Wochen gezählt.

Das Neugeborene hatte trotz allem großes Glück gehabt, dass er sein Geschrei gehört hatte. Es war bitterkalt gewesen, damals im Februar 1992, und er hatte es dann doch hereingeholt. Der Herr würd’s ihm hoffentlich beim jüngsten Gericht anrechnen. Um sicherzugehen, hatte der überrumpelte Pfarrer sich dreimal bekreuzigt, danach den Korb mit dem Schreihals kurz vor das Vordach getragen, das lautstarke Bündel hoch über den Kopf gehoben und ein emotionales Gebet emporgesprochen. So könnt der Herr die Rettungsaktion gewiss nicht übersehen. Denn hätte die Kleine länger dort gelegen, sie hätte vierundzwanzig Jahre eher ihr Leben gelassen.

Nun lag sie, wie Gott sie geschaffen hatte, in der Breitachklamm. Nur ihre Füße ragten aus dem eisigen Bach, der Rest ihres Köpers befand sich unter Wasser. Ihre schwarzen Haarsträhnen wirkten in der tödlichen Strömung wie sich windende Schlangen. Die hellbraunen Augen, immer noch weit aufgerissen, starrten leblos gen unschuldigen Azurhimmel. Die Sonne schlich gerade über die hohen, noch schneebedeckten Berggipfel und kroch langsam in die düstere Schlucht. Ihr Licht brachte die eben noch im Schatten liegenden Farben zum Vorschein. Sie entriss die grausige Szene der Dunkelheit. Ihre gnadenlosen Strahlen wanderten über die kräftig grüne Flora zur glitzernden Breitach und erhellten die leblosen Zehen.

Es war Anfang Mai. Die Breitachklamm war nach der Schneeschmelze bis Mitte April wegen Aufräumarbeiten für zwei Wochen gesperrt gewesen. Heute, am Montag um 10:00 Uhr, ging es los. Christian Berg hatte die Aufgabe, den Weg durch die Schlucht erneut zu inspizieren, da am Wochenende doch noch einige Bäume unerwarteterweise unnötigen Ballast abgeworfen hatten. Für die drohenden Touristenmassen, die den Allgäuer Bergfrühling begaffen wollten, sollte alles tipptopp sein. Die ersten von ihnen hatten sich am Sonntag unverzüglich in der Touristeninformation über den unzulänglichen Zustand der Breitachklamm beschwert. Also musste Christian sich jetzt schon wieder durch die Schlucht quälen. Es war das sechste Mal seit letztem Monat. Er kannte jeden Stein in- und auswendig. Aber der Boss wollte halt heute den finalen Abschlussbericht auf dem Tisch haben. Also schlurfte Christian wiederholt los, mit Rucksack, Klemmmappe, Checkliste und Kugelschreiber im Anschlag.

Er betrat die Breitachklamm am unteren Ende, folgte dem schmalen Weg, angelegt für die Massenabfertigung kraxelwütiger Besucher. Permanent so nah am Abgrund, das war nur was für Schwindelfreie. Christian grinste bei der Vorstellung, wie einige trotz des horrenden Eintrittspreises von vier Euro pro Erwachsenem nach einigen Schritten umkehrten. Meist kamen die Sandalenträger in knielangen Trekkinghosen und kariertem Hemd mit dem zur Verfügung stehenden einem Meter nicht klar. Hinter dem Geländer ging’s steil runter, unten der reißende Bach, das war nix für die schwachen Tourinerven.

Christian machte das nichts aus, er war ein Bergfex und lebte seit seiner Geburt am Abgrund. Er lief nun durch die offen stehende Holztür in den sparsam in den Fels gehauenen, dunklen Tunnel. Die Luft darin war feucht, an den unteren Teilen der Wände klebten vereinzelt Moosplacken, und es tropfte frisches Felswasser von der Decke. In regelmäßigen Abständen platschte es auf Christians Kopf und lief ihm kalt über die Wangen. Er schnallte seinen Helm vom Rucksack ab, setzte ihn auf und schritt tiefer in die Dunkelheit. Bald würde der Tunnel Tausende Touristen verschlucken und an seinem anderen Ende wieder ausspucken. Zumindest die, die nicht an Klaustrophobie litten und schon nach zwei Schritten kehrtmachten. Und damit einen Tumult verursachten, weil die Rentner mit Krückstock und Familienväter mit quäkenden Kleinkindern in den Kraxen keinen Platz machen wollten. War ja auch nicht ausreichend vorhanden, der Platz; der Tunnel war noch enger als die unzumutbaren Wege.

Jetzt war es aber noch ruhig vor dem Ansturm. Als Christian aus der Finsternis heraustrat, war er geblendet vom rücksichtslosen Sonnenschein. Er musste die vom Licht überforderten Augen zusammenkneifen, Falten eroberten sein junges Gesicht. Als er wieder besser sah, begutachtete er den Untergrund, prüfte die zurückgeschnittenen Äste, sah sich die Felswände an und schätzte den Wasserstand.

Die anderen Bergfexe hatten gute Arbeit geleistet. Die Breitachklamm war während des Jahreszeitenwechsels nicht sehr touristenfreundlich. Nach dem Winter warf sie mit allerlei Objekten natürlichen Ursprungs um sich. Die Kollegen hatten während mehrerer Einsätze die nach der Schneeschmelze abgestürzten Felsbrocken, Bäume und abgeknickten Äste weggeschafft. Das überflüssige Biozeug fristete nun sein Dasein in der Kompostieranlage. Der Weg war frei für die Banausen, die die Natur hier demnächst wieder verschandeln würden mit dem Verpackungsirrsinn der modernen Konsumgesellschaft.

Christian schrieb seine Beobachtungen fein säuberlich in den obligatorischen Abschlussbericht, der gleich heute Nachmittag auf Nimmerwiedersehen in einer Aktenmappe verschwinden würde. Es sei denn, es würde sich wieder jemand über den Zustand der Breitachklamm beschweren. Zum Beispiel, weil er über einen leicht zu übersehenden Baumstamm gestolpert wäre und sich den Fuß verstaucht hätte. Dann würde der Boss den Bericht hervorholen, um damit seine Unschuld zu untermauern oder zumindest zu beweisen, dass die Breitachklamm nach Vorschrift von hinterhältigen Fußangeln und Stolpersteinen befreit worden war.

Christian nahm sich nun den nächsten Abschnitt vor, begleitet von dem stetig dröhnenden Rauschen des in der Klamm herabstürzenden Wassers. Er ging einige Schritte weiter, begab sich dazu um eine vorragende Felswand und schaute auf der anderen Seite in den reißenden Bach. Verwunderung. Vielleicht hatte er sich getäuscht? Er schüttelte sein Haupt, um es von dem trügerischen Bild zu befreien, aber es verschwand nicht. Stattdessen wurde es noch deutlicher, als er erneut herüberschaute. Es schnürte ihm die Kehle zu, denn er blickte in zwei Augen. So gesehen nix Schlimmes, aber bei genauerem Hinsehen schon. Das aufgerissene Augenpaar befand sich unter glasklarem Wasser. Er wollte es nicht begreifen, schaute noch einmal hin. Da lag tatsächlich ein nackter Frauenkörper in den Fluten. Sie war noch jung, wahrscheinlich jünger als er. Aber ziemlich tot, so konnte sie ja nicht atmen. Als er verstand, sah er sich abrupt gezwungen, sich seines Mageninhalts zu entledigen.

Letztes Jahr im Juni hatten sie bereits die Vermutung gehabt, dass sie schwanger war, aber es war ein Fehlalarm gewesen. Drei Monate später war sie es dann wirklich. Völlig ungeplant, um genau zu sein, ungewollt. Der Egi hatte mit seinen sechsundvierzig Jahren schon eine enorme Last zu tragen. Seine zwei Kinder, der vierzehnjährige Tommi und die mittlerweile neunjährige Annabelle (die Belli) strapazierten sein Nervenkostüm ins Unermessliche. Ein Entkommen aus dem turbulenten Familienleben war nun vollends unmöglich. Wenn das dritte Kind erst einmal da wäre, sähe es schlecht aus um seinen Seelenfrieden. Er machte sich auf das Schlimmste gefasst: einen pubertätswütigen Sohn, eine zickige Tochter und ein rund um die Uhr schreiendes Baby, dazu eine Ehefrau, die ihn in unzumutbarem Maße Haushaltsaufgaben aufbrummte. Und bei alledem sollte er auch noch Hochdeutsch reden.

Nun, da die zweiundvierzigjährig Elli (seine Ehefrau Elisabeth) mit seinem dritten Kind schwanger war, kam des Öfteren seine Schwiegermutter aus dem Kleinwalsertal zu Besuch. Blöderweise hatte sie heute Geburtstag. Ellis Mutter Traude plante seit Wochen, ihren Geburtstag bei ihrer einzigen Tochter zu verbringen. Auch der Vater Konrad, der sich ansonsten nicht weiter als fünfhundert Meter von seinem Biohof entfernte, wollte ausnahmsweise mitkommen. Das war der Traude gar nicht recht gewesen, denn sobald Konrad einen gehoben hatte, wurde er ausfallend. Egi fand’s total deppert, da hätten die auch bei sich im Nirgendwo feiern können.

Elli hatte sich etwas ganz Besonderes für ihre Mutter ausgedacht. Die liebte Alphorn-Musik, und die Elli hatte sich überlegt, dass ihr Sohn Tommi doch das Alphornlied für die Oma Traude blasen könnte. Der hatte sich vor einem halben Jahr zu einem Blasinstrumente-Karussell für Teenies in der Musikschule angemeldet und bereute es jetzt zutiefst. Eigentlich hatte er sich dort unbeobachtet von den Eltern mit seiner Freundin treffen wollen und hatte als Erstes das Alphorn zugewiesen bekommen, von Begabung keine Spur.

Egi hätte das ganze Geburtstags-Trara am liebsten auch ignoriert. Griesgrämig saß er jetzt am Küchentisch und blätterte in seinem eigenen Hochdeutsch-Ordner. Den hatte die Elli ihm zusammengestellt. Sie hatte bemängelt, dass er bei den Ermittlungen im letzten Sommer eine bessere Figur gemacht hätte, wäre er des Hochdeutschen mächtiger gewesen. Vor der Kripo Kempten sollte er nicht noch einmal den Dummbeutel geben, hatte Elli gemeint, auch wenn er davon ausging, dass die sich nie wieder in Oberstdorf blicken lassen würden. Also hatte Elli dem Polizeihauptkommissar (PHK) Egi einige seiner Standardsätze ins Hochdeutsche übersetzt und niedergeschrieben, zum Beispiel »Jetz hock di da nei, du Saupreiß, sonst kriegst a Watschn, das sag i dir!« in »Bitte setzen Sie sich in den Streifenwagen, wir müssen Sie zur Polizeiinspektion Oberstdorf mitnehmen«. Egi las die Phrasen mit einem Kopfschütteln.

Einige Kilometer entfernt saß er und dachte über seine Tat nach. Vor einigen Wochen hatte er sie am Abend wieder beobachtet, als sie auf dem Weg vom Geschäft zu ihrer Wohnung war. Er folgte ihr im Dunkeln. Er schlich sich hinter ihr her, musste sich aber in einem Busch verstecken, weil jemand mit ihr ins Haus ging. Als derjenige wieder verschwand, ging er durch die gerade zufallende Haustür und die Treppe hoch. Sie lag auf dem Bett, nur mit Unterwäsche bekleidet, und schien zu schlafen. Als er sie packte, öffnete sie benommen die Augen. Er drückte ihr das rote Kissen auf das Gesicht, bis ihre gepressten Schreie verstummten, ihre abwehrenden Schläge und Tritte nachließen und sie schließlich regungslos dalag.

Es klingelte an der Tür, aber keiner hörte es. Die lärmende Feiergesellschaft saß am Montagmorgen um 10:00 Uhr bei herrlichem Frühlingswetter im Garten des feinen Mehrgenerationenhäusles vom Egi in Oberstdorf. Das stand in der Ebene in der Nähe vom Moorweiher. Mutter und Vatter hatten es Egi bereits überschrieben und seinen Bruder Volker ausbezahlt. Die Eltern lebten mit Uroma Bruni (Vatters Mutter Brunhilde Huber) im Erdgeschoss.

Seine Eltern waren heute aus gutem Grunde geflüchtet, in die atemberaubende Bergwelt. Aber Uroma Bruni hatten sie daheim im Rollstuhl sitzen lassen. Sie döste nun auf der Hauptterrasse vor dem Wohnzimmer. Die Gäste bestaunten das angerichtete Buffet vom Partyservice Heiß & Scharf. Der Tapeziertisch konnte die Geburtstagsbrunch-Schmankerln kaum tragen, hier reihte sich eine Allgäuer Spezialität an die nächste. Es duftete nach deftigen Krautkrapfen, Kässpatzen, heißem Bergkäse, gerösteten Zwiebeln und Wurstsalat. Dazu gab es Allgäuer Schweineschnitzel für die Nichtvegetarier. Unter einer Glaskuppel wartete noch Zwetschgendatschi, und für die österreichischen Enklaven-Nachbarn gab es eine riesige Pfanne, in der ein XXXL-Kaiserschmarrn schmorte. Das alles für Traudes Feierlichkeiten. Egi hoffte insgeheim, dass er nicht mehr allzu viele Jahre mit ihr verbringen müsste. Als dieser Gedanke wieder hochkam, senkte er seinen Blick und hoffte, dass es ihm niemand ansah, ein bissle makaber war’s ja schon. Traude hatte viele ihre Freundinnen mitgebracht, deren Männer bereits abgetreten waren. Das österreichische Bergleben war hart und die Frauen robuster, vermutete der Egi und befürchtete, dass auch die Traude steinalt werden würde.

Panisch hatte er in den Schränken nach einem geeigneten Stück Stoff gesucht. Erleichtert holte er einen hellgrauen Bettbezug aus dem Kleiderschrank, packte sie grob unter den Achseln, zerrte sie vom Bett und schob sie in den umfunktionierten Leichensack, zog dessen Reißverschluss zu und wartete, bis er draußen keine Geräusche mehr wahrnahm. Dann warf er sich das Bündel über die Schulter, schob seine Kapuze tief ins Gesicht, verließ das Haus und machte sich auf den Weg durch die Dunkelheit.

Es klingelte erneut, nun hörte Egi es. Er war erleichtert, dass es endlich losging, die Horde Senioren in seinem Garten nervte ihn, er sehnte den Abend herbei. Er stemmte sich am Küchentisch hoch und schleppte sich zum Flur. Zwei Kumpel vom Tommi standen vor der Tür und lieferten das Alphorn aus der Musikschule an. Vor einer Stunde, als der Egi noch unter der Dusche gestanden hatte, hatten sie bereits ein grässliches Gerät auf der Terrasse aufgestellt, mit zwei Boxen so groß wie Kühlschränke. Mit Sackkarren hatte Elli sie durchs Wohnzimmer fahren lassen, zum Glück war es das von Egis Eltern. Der PHK lebte mit Frau und Kindern im Obergeschoss. Tommi hatte seinem Vater später erklärt, dass das Gerät ein Karaoke-Player wäre, mit richtig geilen Songs. Egi ließ ihn gewähren. Hoffentlich würde die Halbstarken-Musi die Schwiegermutter und ihre kleinwalsertaler Feiergesellschaft vorzeitig vertreiben.

Der PHK öffnete den Halbwüchsigen die Tür und sprang erschrocken zurück. Die beiden Alphorn-Lieferanten trugen knallbunte T-Shirts in Übergröße mit grellen Skateboard-Aufdrucken, dass Egi die Augen wehtaten. Darunter baumelten Jeanshosen, die mindestens fünf Nummern zu groß waren und deren Schritt ihnen bis zu den Knien hing. Bruno, Egis Golden Retriever, stand schwanzwedelnd vor ihnen, er schien sie trotz der fürchterlichen Gewänder zu mögen. Tommi traute sich nicht an die Tür, er war nicht angemessen gekleidet.

»Servus Egi, hier kommt noch das Horn«, meinte einer von den beiden und drückte Egi einen monströsen Koffer in die Hand. »Der Tommi weiß, wie man’s zusammenschraubt. Wird bestimmt eine heiße Party! Ciao!«

Die beiden lachten und verschwanden in einem klapprigen hellblauen VW-Bus, der von einem älteren Kumpel gefahren wurde. Hoffentlich war der schon achtzehn, dachte sich der PHK. Egis Mundwinkel zeigten gen Süden. Ihm graute vor der abscheulichen Party. Elli kam schnell hinzu, um Egi samt Koffer auf die Terrasse zu bugsieren. Er trottete mit Bruno vor ihr her in den Garten. Das siebzigjährige Geburtstagskind hockte dort bereits erwartungsvoll am ersten Tisch und tätschelte ihrem Enkel Tommi die Hand. Der verzog sein Gesicht, als er den Koffer sah. Einen Ausweg sah er nicht, also ergab er sich in sein Schicksal. Heute Morgen hatte ihn seine Mutter Elli bereits in krachlederne Hosen und Rüschenhemd gesteckt, nun ging die Tortur weiter.

Uroma Bruni schnarchte noch immer neben dem Buffet in ihrem Rollstuhl. Tommi setzte ihr seinen grünen Filzhut mit angestecktem Edelweiß auf, was sie mit einem Grunzen kommentierte. Nun hieß es, das Alphorn fachmännisch zusammenzubauen. Es bestand aus fünf Teilen: Mundstück, Handrohr, Mittelrohr und Becherrohr mit Becher sowie einem Füßchen. Das dicke Becherrohr legte Tommi auf die Terrasse und schob die schmaleren Teile ineinander. Dabei entfernte er sich immer weiter von dem Becher, das Alphorn war über drei Meter lang. Er lief wieder nach vorne auf die Terrasse und legte den Becher des Alphorns auf das Füßchen, dann spazierte er zurück zum Mundstück und hob das ganze Monstrum hoch an seine Lippen.

Einige Autofahrer hatten ihn am Abend gesehen, aber er hatte sich mit seinem Schal so vermummt, dass ihn niemand erkennen würde. Außerdem regnete es, und sie hatten bestimmt schlechte Sicht. Ihm war das auch ganz egal, er wollte sie nur noch wegschleppen und verstecken. Er nutzte jeden Schatten, um darin zu verschwinden, bevor ihn jemand erspähen konnte. Er kroch mit dem schweren Sack von hinten an sein Grundstück. Sie schien nicht ganz tot zu sein, ihr Körper zuckte manchmal kaum merklich.

Das Geburtstagskind Traude saß direkt neben dem hölzernen Ungetüm und schaute es liebevoll an, ihre Augen wurden feucht. Sie legte sich ein mit Häkelrand verziertes rosafarbenes Taschentüchle bereit. Elli war begeistert. Sie schob Egi auf die Terrasse und drückte ihm ein Mikrofon in die Hand.

»Was soll das denn?«, fragte er verblüfft.

»Na, du machst jetzt deine Ansprache zum Geburtstag, Brummerle!«, fauchte Elli.

Egi fasste sich mit der Hand an die Stirn. Wenn doch bloß etwas passieren würde, damit er hier verschwinden könnte.

Er begann mit den Worten »Liebe Gäste«, und ein unerträgliches Pfeifen tönte aus den Mammutboxen. Die Geburtstagsgäste verzogen ihre Gesichter und steckten sich die Finger in die Ohren bzw. hielten sich die Hände vor die Hörgeräte. Elli drehte den Ton etwas leiser und setzte sich zu ihrer Mutter an den Tisch.

Egi versuchte es noch einmal: »Liebe Gäste, unsere Traude, die wird heut siebzig Jahr! Das ist doch ein Grund zu feiern, oder nicht?«

»Ja!«, »Juhu!«, »Und ob!«, johlten die Gäste und klatschten.

Jetzt konnten Traudes Freundinnen die Im-Ohr-Geräte wieder zur vollen akustischen Versorgung ihrer Hörorgane freigeben.

»Die Traude liebt Alphornmusik, und darum bläst unser Tommi ihr nun ein alpenländisches Liedle. Bitt’ schön!«

Er schlich sich mit dem zuckenden Sack durch die knarrende Tür. Er zog schnell den regennassen Bettbezug ab, der würde in der Gefriertruhe bestimmt festfrieren. Dann würde er die Leiche mit dem Stoff später nur noch schlecht wieder herausbekommen. Er nahm eine Rolle Gefrierbeutel vom Tisch, zog sie aus der Packung und legte sie einzeln auf seine tiefgefrorene Schweinehälfte, die auf mehreren Säcken mit Eiswürfeln ruhte. Darauf bettete er sie.

Wieder ein markerschütternder Ton, dieses Mal kam er nicht aus den Boxen. Tommi versuchte sich gerade an einem Fis, dem Grundton seines Alphorns, darauf sollte der tiefste Ton, ein Ges, und danach unterschiedliche Melodien von ihm erzeugt werden, womit er die Schönheit der alpenländischen Landschaft in akustischer Wehmut darbieten sollte. Es gelang ihm nicht, das ganze Gejaule war eine unmögliche Tonfolge. Verwundertes Gemurmel kam auf. Traude machte eine erschrockene Miene. Hatte Tommi das Alphorn richtig zusammengebaut?

Bruno, der die ganze Zeit auf der Terrasse gesessen und seine Familie mit großem Erstaunen beobachtet hatte, fing nun an zu jaulen. Uroma Bruni zuckte mit geschlossenen Augen. Tommis grüner Filzhut wippte auf ihrem hängenden Haupt. Nun holte er ein blau kariertes Tüchle aus der Gesäßtasche seiner Krachledernen und wischte das Mundstück ab. Sein Kopf war bereits hochrot, und er war völlig außer Atem. Dann probierte er es noch einmal, aber jetzt ging ihm langsam die Puste aus. Er schraubte verzweifelt das Mundstück ab, und statt zu blasen, röhrte er nun Töne in das offene Handrohr, um das Alphornlied mit seiner verstellten Stimme zu imitieren. Sein Stimmbruch gab dem Ganzen eine zusätzliche Note, es hörte sich an wie ein in Rage geratener Elefant.

Konrad, Ellis Vater, hatte bereits einige Male auf den Geburtstag seiner Frau angestoßen und in kurzer Zeit drei Weizenbiere hinuntergestürzt. Er beobachtete die Aufführung der ungewohnten heimatlichen Klänge mit breitem Grinsen und verklärtem Blick. Tief betroffen saß seine Frau Traude neben ihm. Die ersten Tränen rollten, dann heulte sie los und griff nach ihrem für den Ernstfall bereitgelegten Taschentuch. Was war nur aus ihrem kleinen Enkel geworden? Sie wies Elli bereits seit Jahren darauf hin, das Egis Erziehungsstil völlig unakzeptabel wäre. Aber es hörte ja niemand auf sie.

Leider hatten sich einige der Gefrierbeutel verschoben, als er sie unter Keuchen und Stöhnen auf die Schweinehälfte gehievt hatte, ohne dabei den Rand der Kühltruhe zu berühren. Kleine Hautpartien lagen nun direkt auf dem toten Schwein. Aber egal, wenn man das Tier später zubereiten würde, würde davon keiner mehr etwas schmecken. Wichtig war ihm jetzt nur, dass sie nicht die Wände der Kühltruhe berührte und so keine DNS-Spuren hinterließ.

Traude stieß ihren Mann an und raunte ihm aufgelöst zu: »Konrädle, jetzt unternimm doch was! Der Tommi hat hier wieder mal was Unmögliches veranstaltet, der ungezogene Lausbub.«

Konrädle zeigte keine Reaktion, er wankte weiter auf seinem Gartenstuhl. Tommi legte das Alphorn daraufhin beiseite, lief auf die Terrasse und schnappte sich das Mikrofon, um seine Oma wieder etwas aufzuheitern. Er behauptete: »Liebe Oma Traude, liebe Gäste, ich muss euch was verraten. Mein Papa Egi hat sich auch was überlegt. Er möchte der Oma unbedingt ein Ständle singen!«

Das war jetzt in keinster Weise mit Egi abgesprochen gewesen. Sein Sohn warf den Karaoke-Player an. Er zog Egi am Ärmel nach vorne und stellte ihn vor den Bildschirm, auf dem nun ein Text eingeblendet wurde. Tommi reichte ihm das Mikrofon. Egi wurde schwarz vor Augen, der DJ-Ötzi-Hit »Ein Stern, der deinen Namen trägt « jaulte aus den Boxen.

Auch wenn der Egi solch Liedgut nicht kennen wollte, musste er nun gute Miene zum bösen Spiel machen. Wenig textsicher kam Egi beim Refrain an und beging einen verhängnisvollen Fehler, den die kühlschrankgroßen Boxen gnadenlos preisgaben. Er versang sich vor der heulenden Schwiegermutter »Ein Stein, der deinen Namen trägt«. Den Kleinwalsertaler Gästen blieb der Mund offen stehen. Das Oberstdorfer Publikum brüllte los, einige hielten ihre Hände hoch und formten mit ihren Zeigefingern Kreuze über ihren Köpfen. Egi schoss eine Hitzewelle ins Haupt. Die dachten jetzt alle, er meinte damit einen Grabstein mit Traudes Namen drauf!.

»Egi, bist du eigentlich total deppert? Was fällt dir ein, meiner Mutter so etwas anzutun?«, kreischte Elli. Sie war aufgesprungen, ihr Bauch schien sich dabei noch mehr aufzublähen. Es war zu befürchten, dass hier und jetzt eine Sturzgeburt drohte.

Dem armen Bruno war das alles nicht geheuer, Herrchen und Frauchen im kampfwütigen Streit. Er versteckte sich unter dem Buffet-Tisch. Uroma Bruni wachte von dem Gerumpel auf. Als sie eingeschlafen war, hatte sie noch in der Küche gesessen, jetzt befand sie sich auf der Terrasse und blinzelte in eine illustre Runde. Dort sah sie gackernde Teenager, schreiende Senioren, einen tobenden Greis mit Dreitagebart, einen erzürnten Egi, eine giftspritzende Elli und ein monströses Alphorn auf sich gerichtet. Die Bruni konnt’s sich nicht erklären, also schloss sie die Augen wieder und schlummerte weiter. Es war bestimmt nur ein absonderlicher Traum, ihr mittlerweile sechsundneunzig Jahre altes Hirn spielte ihr halt des Öfteren einen Streich.

»Konrädle, verstehst nit? Der will mi killen!«, schrie das Traudele.

»Du bisch a ganz großes Arschloch, Egi!«, brüllte das Konrädle, ohne die Aussage seiner Frau weiter zu hinterfragen.

Er verschloss die Kühltruhe mit einem Vorhängeschloss und zog den Schlüssel ab. Den würde er die nächste Zeit verstecken. Dann ging er zurück, betrat sein Wohnzimmer und warf den Bettbezug in das Kaminfeuer. Es knackte und zischte, Funken schossen hoch. Bald war nur noch ein schwarzer Haufen zu sehen, der in kurzer Zeit zwischen den lodernden Holzscheiten verschwinden würde. Er war sich sicher, dass sie das Bewusstsein nicht mehr wiedererlangen würde. Und selbst wenn, sie würde nicht aus ihrer Eishöhle fliehen können. Irgendwann müsste er sie noch loswerden. Aber das hatte Zeit.

Bruno bekam Angst, hechtete unter dem Tapeziertisch hervor und brachte damit das Buffet zum Wanken. Einige Schüsseln fielen klirrend zu Boden. Der Golden Retriever rannte in das Wohnzimmer und verkroch sich hinter das Sofa. Uroma Bruni riss die Augen auf. Tommis grüner Filzhut stürzte von ihrem Kopf in eine Schüssel Wurstsalat. Das angesteckte Edelweiß brach dabei ab und lag nun dekorativ auf einer öligen Zwiebelscheibe.

»Ögi, hosch osch ho hös?«, schrie sie zitternd. Sie war fast taub, hörte ihre eigene Stimme kaum noch. Die dentalen Konsonanten waren aus ihrer Greisinnensprache verbannt worden. Ihr Gebiss, ein antiquarisches Produkt der Zahnmedizin, hatte bereits vor Jahrzehnten die Zunge in Mitleidenschaft gezogen. Ihr Genuschel verstand niemand mehr.

Egi trat zu ihr herüber, hielt ihr die Hand und schrie, damit sie ihn verstand: »Alles gut, Uroma Bruni, alles gut. Das Hündle hat nur ein paar Schüssele runtergeworfen, gell?«

Grad jetzt, um 10:38 Uhr, ertönte aus Egis Beinkleidern scheppernd eine Melodie, die immer lauter wurde. Die Gäste verstummten. Es war Resi, i hol di mit mei’m Traktor ab, der Klingelton von seinem Handy. Er fingerte hektisch in seiner Hosentasche herum, zog es heraus und starrte auf das Display. Er erkannte den Anrufer sofort, eine Erlösung für ihn. Daniel Müller rief ihn aus der Einsatzzentrale der Polizeiinspektion Oberstdorf an. Egi lauschte der femininen Stimme und befand die Nachricht als glückliche Fügung, es war jemand ermordet worden. Der PHK musste die Feierlichkeiten unverzüglich verlassen.

»Meine lieben Gäste, ich muss euch leider allein weiterfeiern lassen, hab jetzt einen Einsatz. Macht ihr mal schön weiter!«

Er machte sich unverzüglich auf den Weg zur Breitachklamm.»Ögi, hosch mo no ohoi!«, schrie Uroma Bruni hinter ihm her.

Erschwerte Bedingungen

Egi fuhr mit seinem Streifenwagen auf den großen Parkplatz vor dem unteren Eingang der Breitachklamm. Als er ausstieg, sah er, dass er in einer blau verfärbten Kieselsteinschicht geparkt hatte. Anscheinend war dort vor Kurzem ein Lkw mit einer Ladung Kies gekommen, von dem ein kleiner Teil eine Farbmarkierung abbekommen hatte. Einige blaue Steinle blieben im Profil des PHK-Schuhs klemmen. Er musste sie später unbedingt herauspulen, sonst käme er gleich mit dem nächsten Angriffspunkt heim. Er nahm sich vor, die Schuhe einfach draußen vor dem Haus stehen zu lassen, damit er nicht das Parkett damit zerkratzte.

Egi drehte sich um und trottete los. Sein Kollege Rudolf Ströber stand bereits dort, seine Frau hatte ihn hergebracht und war wieder heimgefahren. Rudi ging mit seiner nicht gerade berauschenden Intelligenz eher zurückhaltend um, aber Egi konnte sich auf ihn verlassen. Polizeioberwachtmeister Rudi stammte aus Lindau am Bodensee und lebte seit seiner Versetzung bereits viele Jahre in Oberstdorf, er war fast ein Einheimischer. Zu diesem Status war er gelangt, indem er sich aufopferungsvoll um die Ungeschicke der Oberstdorfer gekümmert und sie vor hässlichen Konsequenzen bewahrt hatte, damit sie weiter ihrem geschäftigen Treiben nachgehen und Attraktivität wie Bilanz der Touristenhochburg aufwerten konnten. Recht und Gesetz waren Auslegungssache, den Tipp hatte ihm der Egi zu Beginn seiner Dienstzeit in der Marktgemeinde gegeben. Auswärtige bekamen hier also bei guter Führung eine Chance, immerhin hatte es der amtierende Oberstdorfer Bürgermeister (ein Norddeutscher) auch geschafft.

»Servus, Egi! Siehst schon vor der Leichenschau so gebeutelt aus. Was isch los?«, bemerkte Rudi.

Hochdeutsch war für ihn bis letztes Jahr eine unbekannte Fremdsprache gewesen, aber auch er hatte gepaukt. Die PI-Leute hatten alle einen Hochdeutsch-Kurs belegen müssen, nachdem die Kripo Kempten sich damals über sie lustig gemacht hatte. Der pensionierte Grundschullehrer Hans Kurz hatte sich bereit erklärt, einmal wöchentlich zwecks Unterrichtung in die PI zu kommen. Im Ruhestand war er samt Frau in seine Oberstdorfer Ferienwohnung gezogen und hatte sein Haus in der Hauptstadt Niedersachsens verkauft. Als Hannoveraner galt Hans Kurz als Inbegriff der hochdeutschen Sprachkunst.

»Servus, Rudi! Frag lieber nicht. Lass uns hochgehn.«

Sie marschierten ohne weitere Worte los. Sie wanderten ein Stück durch die Breitachklamm. Auf dem Weg waren bereits von der Spurensicherung Abdrücke mit Farbspray und Fähnchen markiert worden. Sie konnten nicht erkennen, worum es sich dabei handelte. Egi und Rudi versuchten, sie zu umgehen, um später keinen Ärger zu bekommen.

Kurz vor dem Felstunnel fragte Egi: »Was weißt denn schon?«

»Nur, dass da eine junge Frau tot im Bach liegen tut«, antwortete Rudi. »Einer der Aufräumarbeiter hat’s gefunden, hat mir der Daniel verzählt.«

»Dann weißt auch nicht mehr als ich. Die Gerichtsmedizin ist schon vor Ort. Der Kollege war wie immer schneller als wir«, sagte Egi und meinte damit Erich Engstein, den schwäbischen Gerichtsmediziner mit der verstopften Nase. Verwunderlich, dass der bereits da war. Er wohnte in Memmingen, nicht weit von seinen Arbeitsräumen, die mit den tödlichen Überresten der Allgäuer Verbrechensopfer gefüllt waren.

Egi und Rudi gingen durch den Tunnel und um den Felsvorsprung herum, wie es kurz zuvor Christian Berg getan hatte. Nur wussten sie, was sie erwartete. Sie schauten hinunter auf das steinige Ufer. Dort hockte der kleine, korpulente Erich, wie eine Presswurst in einen weißen Schutzanzug gehüllt, und wühlte seinem Beruf entsprechend im Dreck. Von oben konnten sie gut seine polierte Glatze erkennen. Die junge Tote lag immer noch mit weit geöffneten Augen im Bach und wurde von allen Seiten fotografiert. Stockstarr sah sie aus. Der Bereich war mit einem rot-weißen Band abgesperrt. Egi missachtete dasselbige und kroch darunter hindurch in den Sperrbereich. Die Felsen waren rutschig, und er schlitterte einige Meter in der Hocke auf Erich zu. Er war erleichtert, als er zum Stehen kam und das PHK-Gleichgewicht wiederfand.

»Egi, sei froh, dass ich fast fertig bin, sonst würdest du jetzt großen Ärger bekommen«, fauchte der Gerichtsmediziner.

»Mach nicht so einen Aufstand, Erich! Was soll da schon passieren?«

»Ich sag dir, was passieren kann«, giftete er Egi schwäbisch an. »Du könntest die Fußspuren hier vernichten, die zusammen mit den anderen bereits entdeckten Hinterlassenschaften des Täters beweisen, dass die Tote in den Bach hineingeschleift wurde!«

Das war Egi nun doch etwas peinlich. Er trat einen Schritt zurück, rutschte erneut aus und landete auf seinem PHK-Hintern. Als er hektisch aufstand, bemerkte er, dass seine Hose im Schritt nass war. Erich grinste schadenfroh.

Rudi meinte: »Komm doch wieder da naus, Egi. Du störst den Erich nur.«

Egi folgte seinem Ratschlag und betrachtete mit dem Rudi von oben die nackte Frauenleiche. Verdammt jung war sie. Welche Hintergründe hatten zu dieser Tat geführt? Egi konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, über ihm waren marschmäßige Schritte im Kies zu hören.

Er hockte oben hinter einem Baum und fädelte das Sicherungsseil vom Stamm ab. Er beobachtete dabei die Tätigkeiten der Spurensucher unten in der Breitach. Sehr schön, sie fotografierten sein Kunstwerk. Er hatte sich sehr viel Mühe mit Annets Position gegeben. Bestimmt würde es einem schlauen Kommissar auffallen.

»Na so was, da seid ihr ja schon«, kam’s von oben. »Hast du dir in die Hosen gemacht, Egi?«

Egi kannte die Stimme, er schaute entsetzt hoch. Er hatte sich leider nicht getäuscht, dort stand Akay Tok, der fünfunddreißigjährige türkischstämmige Kriminalhauptkommissar, aus Frankfurt am Main ins Allgäu importiert. Neben ihm Dr. Silvia Stern, die vierunddreißigjährige promovierte Polizeipsychologin und Profilerin, in München geboren und aufgewachsen, dem Zentralien Oberbayerns. Beide schafften seit gut zwei Jahren für die Kripo Kempten. Egi und Rudi kannten sie seit ihren letzten gemeinsamen Mordermittlungen im vergangenen Juni. Jetzt mussten sie schon wieder zusammen ein Tötungsdelikt aufklären, Egi konnte sich etwas Schöneres vorstellen. Aber gut, er musste dafür nun nicht mit seiner Schwiegermutter und der mies gelaunten Elli feiern.

Silvia blieb stumm, Akay grinste Egi an. Danach wandte der Türke den Blick ab und gaffte die Tote an.

»Sehr guter Körperbau«, erkannte Akay mit geschultem Auge.

Zwei Stunden später. Die SOKO Breitachklamm saß in einem Konferenzraum der PI Oberstdorf. Der PI-Leiter Erwin Bachmeier, ein ehemaliger Franke, der sich in das Allgäu eingeschlichen hatte, befand sich gerade im Urlaub. Der herrschsüchtige Weisungsbefugte wollte in Sachen Mord immer involviert werden. Eigentlich hatte er seinem PHK Egi, der ihn aktuell als PI-Leiter vertrat, untersagt, Tötungsdelikte in Oberstdorf zuzulassen. An Tagen wie diesem ließ sich das jedoch nicht vermeiden, Egi konnte ja nicht überall vor Ort sein und sämtliche potenziellen Mörder von der Fragwürdigkeit ihrer Vorhaben überzeugen. Zum Glück war der PI-Leiter gerade abwesend, er feierte mit seiner gebieterischen Frau den dreißigsten Hochzeitstag. Er musste mit seiner Angetrauten die Tage in der Karibik totschlagen. Das von seinen Leuten heimlich »Chefmeier« genannte PI-Oberhaupt wurde in Oberstdorf alles andere als vermisst. In ein paar Tagen wäre er jedoch zurück, bis dahin musste Egi wieder alles unter Dach und Fach haben. Als PHK sollte er gefälligst die Oberstdorfer Kriminalität im Keim ersticken, hatte der Chefmeier ihm aufgetragen. Das war dem Egi heute nicht gelungen, deshalb saß er jetzt mit Akay und Silvia zusammen. Die Kripo Kempten musste sich hier zwingend verabschieden, bevor der grantige Chefmeier wieder in die PI Oberstdorf hereinspazierte.

»Erich, was kannst zum Todeszeitpunkt sagen?«, wollte Egi sofort wissen.

Auf Akays Stirn bildete sich eine Zornesfalte, er war der Untersuchungsleiter und wollte sich nicht vom Egi reinreden lassen. Das fing gleich wieder so an wie beim letzten gemeinsamen Fall.

»Das ist äußerst schwierig«, meinte Erich, bevor Akay sich beschweren konnte. »Ich weiß nicht, wo die Tote vorher lag und wie lange sie dort verweilt hat. Ich müsste die Umgebung untersuchen und messen, welche Temperatur geherrscht hat. In der Breitach waren es auf jeden Fall 5,2 Grad Celsius. Die hätten nicht zu den Erfrierungen führen können, die sie aufweist. Und wenn sie vorher in einer Sauna gelegen hat ...«

»Davon geh i mal nit aus«, meinte Egi immer noch unter dem üblen Einfluss der verkorksten Geburtstagsparty stehend. Das Hochdeutsch gelang ihm aus diesem Grunde noch nicht so, wie es laut PI-Anordnung sein sollte.

»Heißt das, du kannst uns nichts zum Todeszeitpunkt sagen, Erich?«, schaltete sich Akay ein.

»Nein, nicht solange ich nicht weiß, wo die Tote sich vorher befunden hat. Es wäre reine Spekulation, und das bringt euch nichts. Sicher ist nur, dass sie sich irgendwo mehr als unterkühlt hat.«

»Und was haben wir für eine Todesursache? Die hat sich ja nit frierend dahin gelegt und ist in Ruhe ertrunken, oder?«, wollte Egi nahezu hochdeutsch wissen.

»So, wie du es schilderst, ist es natürlich eher unwahrscheinlich. Außer winzigen Schürfwunden, die ihr vermutlich nach ihrem Tod durch die Verlegung in die Breitach zugefügt wurden, konnte ich keine äußeren Verletzungen feststellen. Sie scheint sich auf jeden Fall nicht gewehrt zu haben. Das spricht dafür, dass sie schon vorher bewusstlos oder sogar tot war. Ihre Kleidung konnte nicht gefunden werden. Die Spusi hat die Felswände, Geländer und den Weg untersucht. Sie konnten nur Abdrücke von Schuhen und Gewebereste entdecken. Ich vermute, dass sie woanders ermordet und von dort weggeschafft worden ist. Und es müssen dort Minusgrade geherrscht haben. Ihr müsst den Obduktionsbericht abwarten, Akay. Lasst mich jetzt an die Arbeit gehen, dann wisst ihr morgen mehr.«

»Okay, Erich, tu das. Ich rufe dich heute am späten Nachmittag an«, drohte Akay.

»Kannst du gern versuchen.«

Erich verschwand. An der Tür begegnete ihm Silvia Stern. Sie kam herein und setzte sich neben Akay. Sie sollte wie gewohnt ein Profiling vornehmen. Egi konnte die eingebildete Psychologin nicht ausstehen, sah sich seine Fingernägel an und pulte den Dreck darunter hervor. Der stammte noch von der Blumenerde der Alpenrosen, die er seiner Schwiegermutter als Tischdekoration in mehrere Töpfle gepflanzt hatte.

»Silvia, ich hoffe, du kannst uns im Gegensatz zum Erich mehr sagen. Was denkst du über den Täter?«, fragte Akay.

»Der Erich hat mir in der Breitachklamm bereits erklärt, dass die Tote dorthin geschleppt und abgelegt worden ist. Das an sich ist schon sehr ungewöhnlich«, antwortet Silvia.

Rudi nahm eine ablehnende Haltung an, und Akay fixierte die Wölbungen unter ihrer Bluse.

»Es ist ein Kraftakt, so etwas zu bewerkstelligen. Der Täter muss über viel Kraft und Ausdauer verfügen, wie Akay«, erläuterte Silvia mit einem Blick zu ihrem Intimkollegen.

Akay zog sein Jackett aus, die Temperatur stieg in der PI.

»Naa, bitte nicht, Akay«, bat Rudi, der mit dem strahlend schönen Türken nichts anfangen konnte. »Ich möcht gleich noch essen gehn.«

»Unterbreche mich nicht mit solchem Unsinn, Rudi. Lass mich meine Gedanken zu Ende bringen«, zischte Silvia. »Also, der Täter muss gut trainiert sein. Er hat sie über einen Kilometer getragen und gezogen, ist dazu bergauf gelaufen und hat es geschafft, sie über das Geländer sowie die Felsen hinunter zu bugsieren und in die Breitach zu ziehen. Sie hatte nur kleine Schürfwunden. Er hat sie nicht hinuntergeworfen. Vermutlich sollte sie genauso dort liegen, wie sie aufgefunden worden ist. Er hatte eine gewisse Vorstellung von ihrer Position in der Breitach und wollte ein rein zufälliges Herabstürzen vermeiden. Er könnte zwischen zwanzig und fünfzig Jahre alt sein, kannte die Tote und wollte mit der Tat etwas Bestimmtes ausdrücken.«

Egi gruselte es. Mit solch einem gestörten Mörder hatte er noch nie zu tun gehabt. Er stand auf und kritzelte mit zittriger Hand die ersten Punkte zu dem Täter auf ein Flipchart: »Männlich, sportlich, kräftig, zwanzig bis fünfzig Jahre alt, Bekannter der Toten, Fundort-Bedeutung.«

»Warte mal, Egi«, unterbrach ihn Akay. »Das hat Silvia so gar nicht gesagt. Warum kann es keine Frau gewesen sein? Die sind heute auch kräftig. Weiß deine Generation anscheinend nicht.«

Egi hätte ihn anspringen können. Bestimmt war es keine Frau gewesen, die mordeten doch immer mit Gift. Die junge Generation wusste das anscheinend noch nicht.

»Stimmt, Akay, ich habe vergessen, ein Fragezeichen dahinterzuschreiben«, meinte Egi und schmierte eines hinter das Wort »Männlich«.

»Gut aufgepasst, Akay«, lobte Silvia. »Da die Tote ein Fliegengewicht war, hätte das auch eine sehr kräftige Frau schaffen können. Sie hätte aber vermutlich mehr Zeit gebraucht. Wenn Erich uns mehr zu Todesursache und Todeszeitpunkt sagen kann, sollten wir das Geschlecht des Täters weiter eingrenzen können. Dann muss man sich natürlich fragen, warum er oder sie das alles getan hat. Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Die Breitachklamm hat eine besondere Bedeutung für den Täter. Er hat einen großen Hass auf die Tote. Er will sie für etwas bestrafen. Er möchte den Verdacht auf jemand anders lenken. Er möchte die Ermittler ärgern. Er ist wahnsinnig. Irgendetwas davon könnte es sein.«

»Sehr aufschlussreich, Silvia«, meinte Akay.

Egi und Rudi verdrehten die Augen. Dieses psychologische Wischiwaschi brachte die Oberstdorfer keinen Schritt weiter.

»Was ist mit Komplizen? Zwei schwächliche Typen hätten s’ zusammen tragen können«, boykottierte Egi und gab sich Mühe mit seinem Hochdeutsch, damit die Kripo Kempten ihn und seine Ausführungen auch ernst nahm.

»Stimmt«, bestätigte Silvia. »Aber der Erich hat die ganze Zeit von einem Täter gesprochen. Wir müssen ihn danach fragen.«

Silvia wollte ihn gar nicht danach fragen, sie wusste schon, dass es nur Schuhabdrücke von einer Person gab. Sie hoffte, dass die beschränkte PI Oberstdorf gleich wieder vergessen hätte, Erich noch einmal darauf anzusprechen.

Er stand vor dem PI-Gebäude und versuchte etwas zu erkennen. Ohne aufzufallen, konnte er jedoch nicht nah genug herangehen. Er stellte sich gegenüber vor das Schaufenster eines Optikers und wartete, dass die Ermittler herauskämen. Er würde sich ihre Gesichter genauestens merken.

»Sag mal, Silvia, warum kann keine natürliche Todesursache vorliegen?«, fragte Rudi. Er bestätigte damit ihre Vorurteile über die Wahrnehmungsbeschränkung in der PI.

»Du meinst, sie hat sich ausgezogen, sich dann am Eisfach ein paar Erfrierungen zugefügt und sich selbst ein einschläferndes Mittelchen verpasst, um sich dann auf den Weg zu machen und sich nackt in die Breitach zu legen, um dort ihre letzten Stunden zu verbringen?«, erläuterte Akay.

Egi hätte ihn killen können, die nahmen die örtliche Polizei offensichtlich immer noch nicht ernst.

»Ja, ein Herzinfarkt oder Schlaganfall bei einem Treffen mit ihrem Freund kann’s doch auch gewesen sein. Und der hat s’ weggeschafft, um nicht verdächtig zu erscheinen«, blieb Rudi bei seiner Theorie.

»Jetzt hör auf mit dem Schwachsinn«, winkte Akay ab. »Wir warten den Obduktionsbericht ab. Ich rufe als Nächstes die Köhler an und frage sie nach den forensischen Ergebnissen. Egi und Rudi, versucht mal herauszufinden, ob es in der Vergangenheit ähnliche Fälle in der Umgebung gegeben hat.«

Akay wollte damit der PI Oberstdorf eine Beschäftigungstherapie im Büro verpassen und selbst in Ruhe weiterermitteln. Silvia nickte zustimmend.

Die Kripo hatte nach ihrem Umzug nach Kempten einige unangenehme Bereiche in Memmingen zurückgelassen. Im Keller wurden die unappetitlichen Arbeiten vorgenommen, und genau dort herrschte die Köhler. Barbara Köhler, Mitte vierzig, stammte aus Hannover und war Leiterin der forensischen Abteilung. Man duzte sich, sprach sich aber nur mit Nachnamen an, um eine gewisse unüberbrückbare Distanz zu ihnen zu halten. Jeder Außenstehende, der den Namen der tiefstimmigen Köhler hörte, vermutete einen Mann in dieser Position. Das brachte die Norddeutsche immer wieder in Rage, die Emanzipation war im Oberallgäu noch nicht angekommen.

Egi wäre ihr am liebsten aus dem Weg gegangen, hatte er sie doch beim ersten Telefongespräch letztes Jahr mit »Herr Dr. Köhler« betitelt. Er rief sie trotzdem sofort nach Akays Verschwinden an. Er wusste, dass die Kripo Kempten jetzt erst zur Offenlegung des kriminalpolizeilichen Bluseninhaltes um die Ecke gegangen war. In Oberstdorf lag der konzentrierte Frühling in der Luft.

»Servus, Köhler!«

»Hallo, Huber!«

»Ich wollt mal fragen, Köhler, ob ihr schon erste Ergebnisse zu der Toten in der Breitachklamm habt. Die Spusi hat dort ja einiges auf den Wegen markiert. Und der Erich hat uns schon ein paar Hinweise gegeben. Wie sieht’s denn damit aus?«

»Warum ruft der Tok nicht an?«

»Ich soll mich jetzt halt um die Spuren kümmern. Akay möcht erst nach Vergleichsfällen aus der Vergangenheit suchen«, log Egi gekonnt in Hochdeutsch, damit er sich vor der studierten Forensikerin nicht blamierte.

»Stimmt, das ist wichtig«, bestätigte Köhler ironisch. »Es ist so, Huber, der Täter ist durch den unteren Eingang in die Breitachklamm gelangt. Dort hat er die Tote noch getragen. Wir konnten Schuhspuren entdecken, hinter denen ab einer späteren Stelle Schleifspuren hinzukamen, die sehr wahrscheinlich von ihren schmalen Fersen stammen. Man konnte das gut erkennen, da Teile des Weges noch ziemlich mit angetrocknetem Schlamm bedeckt waren. Die Tote ist ihm offensichtlich zu schwer geworden. Dann hat er sie hinter sich hergezogen und ist dabei rückwärtsgegangen, die Schuhspuren belegen das. Bis zu der Stelle, an der er sie über das Geländer heben musste, um sie in die Breitach legen zu können. Wir haben Abdrücke genommen. Der Täter trug Schuhgröße 44. Ich gehe daher von einem Mann aus. Die Kleidung und die Schuhe der Toten konnten nicht gefunden werden. Er hat sie vermutlich über das Geländer gelegt, sie dort entkleidet und später alles mitgenommen. Wir konnten ein paar farbige Fasern an dem Stahlstreben sicherstellen. Die untersuchen wir gerade. An einigen Steinen am Ufer konnten wir winzige Hautpartikel und Blut sichern. Das analysieren wir als Nächstes. Wir werden morgen wissen, ob es ausschließlich von der Toten stammt. Mehr habe ich noch nicht, Huber.«

Köhler sprach wie ein ICE bei Höchstgeschwindigkeit. Egi hatte Mühe, ihr zu folgen. Er fragte daher lieber nach, um sicher zu sein: »Du gehst also von einem Mann aus, wegen der Schuhgröße?«

»Ja, Huber. Falls du eine Frau mit Schuhgröße 44 findest, könnte sie es gewesen sein. Oder es handelt sich um eine Frau, die sich größere Herrenschuhe angezogen hat, um eine falsche Fährte zu legen. Dann hätten die Abdrücke auf dem Weg aber anders ausgesehen, weil sie dann einen sehr unsicheren Gang gehabt hätte.«

Egi hatte erst letztes Jahr eine Frau mit übergroßen Füßen ins Gefängnis gebracht, die konnte es also dieses Mal nicht gewesen sein. Eine andere Oberstdorferin auf großem Fuß fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.

»Das mag alles richtig sein, Köhler.«

»Natürlich ist das alles richtig, Huber!«

»Mmh, und sonst habt ihr nix gefunden? Vielleicht an den Felswänden oder unten am Parkplatz?«

»Nein, Huber. Die meisten meiner Leute sind vor zwanzig Minuten aus der Breitachklamm zurückgekehrt. Da ist nichts mehr zu holen. Ach ja, wie unser Täter da wieder rausgekommen ist, wissen wir nicht, von seinem Rückweg haben wir keine Spuren gefunden. Es sind aber noch drei Leute mit dem Parkplatz beschäftigt. Der ist groß, da brauchen sie mehr Zeit. Sie schauen auch unten an der Bushaltestelle nach. Ihr solltet das Busunternehmen befragen, ob ihren Fahrern etwas aufgefallen ist. Theoretisch könnte die Frau ja unten noch am Leben gewesen sein. Erich muss unbedingt den Todeszeitpunkt eingrenzen, damit wir weiterkommen.«