Waldesruhe - Nicki Fleischer - E-Book

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Nicki Fleischer

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Beschreibung

Fünf Frauenleichen im beschaulichen Allgäu: Egi Huber ermittelt in seinem sechsten Fall Als eine junge Frau tot aufgefunden wird, geht der Rechtsmediziner Erich Engstein von einem natürlichen Tod aus. Schließlich wird in Oberstdorf nicht gemordet! Blöd nur, dass der Onkel der Verstorbenen ein Freund vom Chefmeier, dem Leiter der Polizeiinspektion ist, und der drängt nun auf Ermittlungen. PHK Egi erkennt schnell, dass es weitere Morde gab, die miteinander in Verbindung stehen. Jetzt muss auch sein Kollege Rudi das Mittagessen ausnahmsweise im Einsatzfahrzeug verspeisen, schließlich soll der Fall gelöst werden, bevor die Kollegen der Kripo Kempten auf der Matte stehen. Die Spuren führen sie zu einer seltsamen Zusammenkunft bei einer Hütte nahe der Waldesruhe. Irgendein Guru steckt dahinter. Nur wer ist es? Der dubiose Heilpraktiker Sebastian Keim oder doch der fesche Makki vom Bootsverleih? Und dann wäre da noch die Tatsache, dass alle Frauen nur ein Ziel verfolgten: Sie wollten schwanger werden. Bevor sich Egi versieht, steckt er in einem Morast aus Ausbeute, Größenwahn und Niedertracht. Und dann stehen zu allem Überfluss auch noch die Kemptner vor der Tür ... Lust auf mehr Krimis aus dem Allgäu? Alle Fälle von Kommissar Egi Huber: - Band 1: Nebelhorm - Band 2: Breitachklamm - Band 3: Klausentod - Band 4: Seealpmord - Band 5: Kanzelwand - Band 6: Waldesruhe

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Waldesruhe

Die Autorin

Nicki Fleischer wurde in den 1970er Jahren geboren und hat in Essen und Bamberg Informatik studiert. Ihre Masterarbeit zum Thema IT-Forensik hat sie der Polizeiarbeit näher gebracht, dies war der Anstoß für ihre Romane. Heute arbeitet sie für ein Beratungsunternehmen der Umweltbranche und als Autorin. In ihrer Freizeit tanzt sie - auch auf der Bühne. Sie lebt mit ihrer Familie bei Frankfurt am Main und schreibt Allgäukrimis, Thriller und Sience-Fiction.

Das Buch

Fünf Frauenleichen im beschaulichen Allgäu: Egi Huber ermittelt in seinem sechsten Fall

Als eine junge Frau tot aufgefunden wird, geht der Rechtsmediziner Erich Engstein von einem natürlichen Tod aus. Schließlich wird in Oberstorf nicht gemordet! Blöd nur, dass der Onkel der Verstorbenen ein Freund vom Chefmeier ist und auf Ermittlungen drängt, denn irgendetwas stimmt hier nicht. PHK Egi erkennt schnell, dass es weitere Morde gab, die miteinander in Verbindung stehen.  Jetzt muss auch Kommissar Rudi sein Mittagessen ausnahmsweise im Einsatzfahrzeug verspeisen, schließlich soll der Fall gelöst werden, bevor die Kollegen aus Kempten auf der Matte stehen. Die Spuren führen sie zu einer seltsamen Zusammenkunft bei einer Hütte nahe der Waldesruhe. Irgenein Guru steckt dahinter. Nur wer ist es? Der dubiose Heilpraktiker Sebastian Keim oder doch der fesche Makki vom Bootsverleih? Und dann wäre da noch die Tatsache, dass alle Frauen nur ein Ziel verfolgten: Sie wollten schwanger werden. Bevor sich Egi versieht, stecken die Ermittlungen in einem Morast aus Ausbeute, Größenwahn und Niedertracht . Und dann stehen zu allem Überfluss auch noch die Kemptner vor der Tür ... 

Nicki Fleischer

Waldesruhe

Ein Allgäukrimi

Ullstein

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Originalausgabe bei UllsteinUllstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Oktober 2023 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®E-Book powered by pepyrus.com ISBN 978-3-8437-2997-0

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Rückblick: Januar 2023 – Marie Breitner

Heute

Rückblick: März 2023 – Betty Horn

Heute

Rückblick: April 2023 – Rosa Berg

Heute

Rückblick: Mai 2023 – Paula Zimmer

Heute

Rückblick: Letzte Woche – Simone Kunze

Heute

Uroma Brunis Gedichtle zum Fall

Leseprobe: Goldtransport und Stauseemord

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Rückblick: Januar 2023 – Marie Breitner

Rückblick: Januar 2023 – Marie Breitner

Abartig, dieser Geruch. Und das, obwohl sie erst seit einigen Minuten tot war. Ihr Körper dünstete schon den Gestank des Todes aus. Verwesendes Fleisch. Richtig gezappelt hatte die gerade auf ihrem Küchenstuhl. Und das Jammern erst. Er hasste das Jammern. Er hasste diese Frauen. Nein, Frauen konnte man sie nicht nennen. Nutzlose Hüllen, Wracks, ein Dreck waren die, nichts wert, absolut nichts! Als er ihr vor zehn Minuten gedroht hatte, sie aus dem Fenster zu werfen, hatte sie unsäglich gejammert. Die Fenster hatte sie eigentlich gerade putzen wollen. Eimer, Lappen und Abzieher hatte sie sich bereits zurechtgelegt. Es war später Nachmittag, aber draußen bereits stockdunkel gewesen.

»Warum? Was habe ich dir getan? Lass mich doch, ich habe nichts verbrochen. Wir haben uns doch so gut verstanden! Warum tust du mir das an? Ich bin unschuldig«, hatte sie herumgeheult, während er in ihrer Küche vor ihr gehockt und ihren linken Oberarm fest umfasst hatte, damit sie nicht vom Stuhl aufstehen und weglaufen konnte.

»Das ist mir vollkommen egal, Marie«, hatte er ihr direkt ins Ohr gefaucht. »Du bist gleich nur noch eine leblose Hülle, Marie! Weil du nie, ja, nie zu etwas zu gebrauchen gewesen bist, Marie. Kapiert?«

Er hatte in ihre verheulten Augen gestarrt. Verdammte Scheiße noch einmal, er war einfach nicht auf dieses Jammern vorbereitet gewesen. Auf Beschimpfungen, boxende Fäuste, kratzende Fingernägel und Tritte ins Schienbein, auf das schon. Auch mit dem Zappeln und vielleicht auch mit dem Gestank hatte er gerechnet. Leichen stanken halt, damit konnte er umgehen. Aber dieses unerträgliche Jammern hatte er nicht erwartet! Keine Wut, keine Vorwürfe, nur Gejammer. Er wollte es nicht wahrhaben, aber es hatte ihm ein schlechtes Gewissen bereitet. Leise und verzweifelt hatte ihr Jammern geklungen, die seichte akustische Begleitung ihres panischen Todeskampfes. Ihr verkrampfter Körper, die weit aufgerissenen Augen und ihre verzerrte Fratze. Aber leise war sie dabei gewesen. Sie hatte ihn nicht angeschrien, nein, der Schrei war ihr in der Kehle stecken geblieben. Nur das Jammern hatte ihre Lippen verlassen, auch als er sie samt Stuhl hochgehoben und zum offenen Küchenfenster getragen hatte. Bis zur letzten Sekunde, bis zu ihrem verdammten letzten Atemzug hatte sie gejammert. Ihr Atem hatte helle Schwaden in der kalten Winterluft vor dem Fenster hinterlassen, selbst als sie schon längst unten im Schnee lag. Ihr Jammern hatte sich nach dem Sturz in die Tiefe seicht von ihm entfernt. Die Schwaden nicht.

»Bitte niiii-«

Den scheiß Küchenstuhl, auf dem sie gesessen hatte, hatte er gleich mit hinuntergeworfen. Er hatte einen Holzsplitter in seinem rechten Daumen hinterlassen. Durch den Einweghandschuh hatte er sich in die Haut gebohrt. Blut war an seiner Hand heruntergelaufen. Während er das Blut abgeleckt hatte, hatte er immer noch ihre jämmerliche Stimme gehört, obwohl sie längst stumm unten auf dem Asphalt gelegen hatte. Es hörte nicht auf, in seinen Ohren zu dröhnen. Er war hinunter in den Innenhof gerannt, um zu schauen, ob sie noch lebte. Und jetzt stand er vor ihr im Schnee und roch ihren Gestank. Nein, sie lebte nicht mehr. Mitte dreißig musste sie gewesen sein. Er stellte sich neben ihre Leiche und schaute sich um. Verdammt, der Stuhl! Er war in mehrere Teile zerbrochen. Warum nur hatte er sie mit dem Stuhl in den Tod gestürzt? Ihr Jammern hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Und dazu schauten seine Schuhabdrücke bedrohlich aus dem Schnee zu ihm hoch, als wollten sie ihn schon jetzt an den nächstbesten Passanten verraten. Ein Klappern war zu hören. Er zuckte zusammen, warf den Kopf herum. Niemand zu sehen. Scheiß auf den Stuhl, er musste schnellstens von hier verschwinden. Er zog seine Jacke aus und verwischte mit ihr seine Spuren im Schnee. Es schneite noch leicht, hoffentlich würde der Neuschnee bald alles bedecken. Als er durch die Straßen von Oberstdorf rannte, verfolgte ihn immer noch ihr unsägliches Jammern.

Und ab diesem Moment an jede verdammte Nacht. Hätte sie nicht einfach die Schnauze halten und stumm sterben können? Oder vernünftig schreien? Nein, das hatte sie nicht. Sie hatte bis zu ihrem Tod gejammert, ihn angefleht. Gebettelt, es aufzugeben, sie zu töten. Er hatte sogar kurz darüber nachgedacht, es aufzugeben, weil sie so sehr gejammert hatte. Verdammtes Gewissen! Aber er hätte es sowieso nicht lassen können, egal, wie lange er sich den Kopf darüber zerbrach. Verzweifelt hatte er erkannt, dass es kein Zurück mehr gab. Erst da war ihm klar geworden, dass er von diesem Moment an ein Mörder war. Nein, falsch, er war ja schon längst ein Mörder. Tief in seinem Inneren hatte er diesen Umstand seit Jahrzehnten erfolgreich vergraben. Jetzt kam es wieder hoch.

Ihr leises, ohrenbetäubendes Jammern war es gewesen, das ihn erinnert hatte. Er fand seitdem kaum mehr in den Schlaf. Schon bevor er sich in sein Bett legen wollte, überkam ihn jedes Mal dieses verfluchte Jammern. Es war wie in seinen Ohren einprogrammiert. Abend für Abend hörte er es, er konnte die Uhr danach stellen. Jammern. Spätestens um 22:30 Uhr begann sein Martyrium, alle vierundzwanzig Stunden. Jeden Abend wälzte er sich in den Schlaf, schweißgebadet, schreckte in der Nacht mehrmals hoch. Jammern. Er konnte es nicht vergessen, nicht zur Seite schieben, nicht verdrängen. Und das alles nur wegen dieser ekelhaften Schlampe. Dabei hatte sie ihn zur Tötung gezwungen mit ihrer Unfähigkeit. Und auch die anderen mussten jetzt weg, ja, der Startschuss für sein großes Vorhaben war endlich gefallen. Also würde, nein, musste er es wieder tun. Trotz Jammern. Und er würde es wieder tun, ab und zu. Nicht sofort. Er würde einige Zeit verstreichen lassen, bis keiner mehr Maries plötzlichen Tod mit ihrem unsäglichen Scheitern in Verbindung bringen würde. Und er würde die anderen auch nicht aus dem Fenster werfen. Es gab schließlich noch andere Wege. Denn laufen lassen konnte man sie alle nicht, zum Leben hatten sie kein Recht mehr. Nicht nach dem, was sie versaut hatten. Sie würden nur die Menschheit verseuchen. Und einer musste diese Drecksarbeit schließlich übernehmen. Die anderen mussten sauber bleiben. Und genau deshalb tat er es. Trotzdem.

Heute

Polizeihauptkommissar (PHK) Egon Huber, der Egi, wälzte sich mit einem Mal im Bett herum. Sein Schlaf war durch ein Geräusch gestört worden. Ein Geräusch, das ihm seit über dreißig Jahren nur zu vertraut war. Noch verstand er es nicht, er befand sich in einem seligen Dämmerzustand und wollte partout nicht aufwachen. Er kniff die Augen zusammen, presste die Lippen aufeinander, aber er konnte sich nicht dagegen wehren. Wilde, bedrohliche Bilder aus seiner Vergangenheit traten ihm nun im Halbschlaf vor die Augen. Bilder von Betrügern, Verbrechern, Mördern. Als wollten sie sich allesamt auf ihn stürzen und sich dafür rächen, dass er gerade nicht aufwachen wollte. Doch dann hielt er die traumatischen Bilder nicht mehr aus, schreckte hoch und riss die Augen auf. Nun hockte er gerade wie eine Eins im Bett, schaute sich irritiert im Schlafzimmer um und fragte sich, was nur passiert war. Ein abscheulicher Traum? Nein … Sirenen! Die Sirenen hatten ihn aus dem Schlaf gerissen. Er warf einen hastigen Blick auf seinen Wecker: 03:08 Uhr. Seine Gattin schnarchte leise neben ihm, sie schien nichts zu hören. Blaues Licht drang flackernd durch die Schlitze der heruntergelassenen Rollläden. Egi sprang auf. Er stolperte aus dem Bett, seine Beine verfingen sich in der Bettdecke. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem Rums lang gestreckt auf den Holzfußboden.

»Kruzifix!«, fluchte Egi und rappelte sich wieder auf.

Er pellte sich aus seiner Decke und lief nackt zum Schlafzimmerfenster. Dann zog er einen Rollladen halb hoch und warf einen Blick auf die Straße vor seinem Mehrgenerationenhaus. Ein Rettungswagen raste vorbei. Egi rieb sich über den langsam grau werdenden Vollbart und atmete auf. Beruhigt ging er zurück zum Bett, hob die Decke vom Boden auf, wickelte sich darin ein und legte sich wieder hin. Wäre es eine Polizeisirene gewesen, hätte er nun rausgemusst.

Erich Engstein nahm seine Lupe, schnallte sie sich um seinen Kopf und knipste das integrierte Lämpchen an. Er betrachtete den Leichnam, der ihm gerade vom Rettungsdienst übergeben worden war. Eine junge Frau, Mitte dreißig, halblange, rotblonde Haare, abgesehen von den ausladenden Hüften war sie schlank. Es hatten sich bereits Leichenflecken im Gesicht, am Nacken, am Rücken sowie an der Hinterseite der Arme und Beine gebildet. Um sie sich näher anzuschauen, beugte sich der Gerichtsmediziner über das linke Bein, bewegte seinen Kopf hin und her, um das Licht der Stirnlampe besser ausrichten zu können. Verdammt anstrengend war das. Vor allem, weil ihr lieber Onkel wie der Vorwurf in Person neben ihm stand.

»Sehen Sie das denn nicht? Verdammt noch mal!«, zischte er Erich an, wie eine Klapperschlange, die gleich zubeißen wollte.

Erich beugte sich noch tiefer hinab. Er widmete sich dem Oberschenkel der Nichte, weil der Onkel es partout verlangte. Für Erich war die Sache bereits klar. Aber nun starrte er wider Willen durch seine neue Brille auf ihre helle, mit Totenflecken übersäte Haut. An der Außenseite, knapp über ihrem Knie, war ein winziger roter Punkt. Erich ging so nah heran, dass seine Nase fast ihr Bein berührte. Sie stank bestialisch, er hielt die Luft an.

»Und?«, bohrte der Onkel weiter. »Was meinen Sie denn jetzt?«

Nichts meinte Erich. Absolut nichts. Stumm griff er nach einer Pinzette und drückte sie auf die rote Stelle, die oberhalb ihrer dunkelblau bis lila verfärbten, toten Haut lag. Dann klemmte er die Hautstelle zwischen die Pinzetten-enden und quetschte sie zusammen. Das rötliche Gewebe wölbte sich hoch, durch seine Lupe mit integriertem Lämpchen, die er sich vor seine neue Brille geschnallt hatte, konnte er erkennen, dass sich in der Mitte des roten Fleckes ein klitzekleines Loch befand. War es einmal ein Pickel gewesen? Oder eine entzündete Haarwurzel? Eigentlich egal, an einem Pickel oder einer entzündeten Haarwurzel starb man nicht. Erich stemmte die linke Hand in seinen Rücken, richtete sich auf. Endlich konnte er wieder einatmen. Der Gestank hing trotzdem noch in seiner Nase. Er trat mehrere Schritte zurück. Dann ging er zum Schrank, legte die Pinzette zur Seite, nahm die Lupe vom Kopf und knipste das Lämpchen wieder aus.

»Todesursache unbekannt«, urteilte er knallhart, duckte sich und erwartete ein Donnerwetter vonseiten des Onkels.

So kam es denn auch unverzüglich: »Ja, sind Sie denn total deppert? Peilen Sie das selbst durch Ihre Glasbausteine nicht? Das ist ein Einstichloch von einer Spritze!«

»Warum?«, fragte Erich desinteressiert und fügte schnippisch hinzu: »Sie sagten doch, sie wäre kerngesund gewesen. Hat Ihre Nichte sich regelmäßig etwas gespritzt? Medikamente, Drogen?«

Er klang, als wäre seine Nase verstopft. Und das seit vielen Jahren. Die gehässigen Kollegen der Kripo nannten seine chronische Nasenkrankheit Leichenschnupfen, weil er seinen Riechkolben mittlerweile seit vielen Jahrzehnten in Abertausende Leichensäcke gesteckt hatte. Und nun thronte seit Kurzem auch noch eine neue Glasbaustein-Brille auf der Schniefnase, da waren Hänseleien vorprogrammiert gewesen. Er ignorierte sie konsequent.

»Natürlich nicht! Sie war kerngesund und …«

»Na, dann ist ja alles klar. ›Todesursache unbekannt‹ schreibe ich jetzt auf den Wisch.«

Erich nahm sich noch einmal den Totenschein vor. Todesursache unbekannt hatte auch der Notarzt eingetragen.

»Sehen Sie? Der Notarzt sieht es genauso. Auf Wiedersehen.«

»Aber sie muss auf dem Rücken gelegen haben, als sie starb. Die ersten Totenflecken treten immer an den unten liegenden Körperteilen auf. Wie erklären Sie sich dann die Flecken im Gesicht um den Mund herum? Ihr muss etwas ins Gesicht gepresst worden sein, vielleicht, damit sie nicht schreien kann, damit ihr Mörder ihr in Ruhe die Spritze setzen konnte. Und Insulin spritzt man in den Bauch oder ins Bein. Kapieren Sie das nicht?«

»Die Flecken sind bestimmt von der Sauerstoffmaske, die der Rettungsdienst ihr vergebens auf die Nase gedrückt hat. Sie gehen jetzt am besten, Herr Kollege. Legen Sie sich erst einmal schlafen. Verarbeiten Sie den Tod Ihrer Nichte, es ist nicht mehr zu ändern.«

Erich bugsierte den meuternden Onkel hinaus und knallte die Tür hinter ihm zu.

Er ging durch den Flur zurück in sein Büro und kratzte sich am Kopf. Der Kollege Notarzt hatte in der Nacht zum heutigen Samstag anscheinend keine Lust mehr gehabt, war müde gewesen, hatte nur nach Hause gewollt und irgendetwas auf das Papier gekritzelt. Das Einstichloch hatte er gewiss übersehen. Verständlich. Aber hatte der Onkel der Toten nun etwas Wichtiges gefunden? Oder nicht? Handelte es sich wirklich nur um einen Pickel oder eine entzündete Haarwurzel? Erich ärgerte sich mittlerweile schwarz darüber, die Wochenendschicht übernommen zu haben, nun musste er sich mit diesem mickrigen, roten Punkt an ihrem Oberschenkel herumplagen. Es handelte sich schließlich um die Leiche einer jungen, vollkommen gesunden Frau. Wie war sie nur gestorben? Er hatte keine äußere Einwirkung feststellen können. Das erste Blutbild hatte nichts Auffälliges zutage gebracht. Erich rieb sich müde die Schläfen, schob die Leiche zurück in ihr Kühlfach und schloss die Klappe.

»Egi, gut, dass du kommst, die dicke Lohmeier war grad noch hier gestanden. Sie hat Anzeige erstattet«, begrüßte der wohlbeleibte Chefmeier, seines Zeichens Leiter der örtlichen Polizeiinspektion, seinen Polizeihauptkommissar (PHK) mit gefletschten Zähnen. Chefmeiers Haarkranz gab den Blick frei auf seine stark gerötete Stirnglatze. Er schien mächtig erregt. Es war früher Morgen, er hatte wohl oder übel die verfluchte Samstagsschicht in der Polizeiinspektion (PI) Oberstdorf übernommen und nun diese absurde Anzeige am Hals.

»Gegen wen denn?«, wunderte sich Egi und stellte sich die korpulente Oberstdorfer Bürgerin Berta Lohmeier vor, die rund um die Uhr präsent war und an jeder Ecke herumschnüffelte wie eine läufige Hündin.

Dabei kaute er genüsslich an einer Semmel mit Allgäuer Bergblumenkäse belegt, die Uroma Bruni ihm in die Hand gedrückt hatte, als er vor einigen Minuten aus dem Haus gegangen war. Das machte Uroma Bruni (mittlerweile stolze achtundneunzig Jahre alt) seit letztem Winter jeden Tag, weil sie ihr Frühstück nicht mehr schaffte. Schuld daran waren ihre schlecht sitzenden vierten Zähne.

»Gegen dich, du depperter Depp, du!«, bellte Egis Vorgesetzter.

Egi hielt inne und fummelte sich ein paar Krümel aus dem Bart. Eine Anzeige gegen ihn? Hatte er sich verhört? Wäre nicht verwunderlich, so wie der Chefmeier schwätzte. Der Chefmeier, mit amtlichem Namen Erwin Bachmeier, war ein waschechter Franke, der seit immerhin achtzehn Jahren als PI-Leiter in Oberstdorf ansässig war und seitdem versuchte, den Allgäuer Dialekt zu imitieren.

»Was hast du gesagt, gegen wen?«, wiederholte Egi seine Frage und schluckte schmatzend den letzten Bissen von Uroma Brunis köstlicher Käse-Semmel hinunter.

»Na, gegen dich, du Rindviech, du blödes!«, wetterte der Chefmeier mit verräterisch rollendem fränkischem R und fuchtelte mit erhobenen Armen in der Luft herum, als könnte er so die bösen Geister verscheuchen, die ihn umtrieben.

Egi hatte sich schon an der Eingangspforte zur PI gewundert, warum der Leiter der Polizeiinspektion Oberstdorf persönlich am Empfang hockte. Das passierte so gut wie nie. Und wenn es passierte, dann hatte der eine Laune, wie sie mieser nicht sein konnte. So wie jetzt.

Die Tür vom Damen-WC öffnete sich, und Daniel trat heraus.

»Griäß di, Egi«, sprach er und schloss den Hosenbund seiner Polizeiuniform.

»Was soll ich denn verbrochen haben?«, wunderte sich Egi und schob hinterher: »Die Lohmeier Berta, das vermaledeite Weibsstück!«

»Was ist los?«, wollte Daniel wissen.

»Halt die Gosch’n, Bua!«, richtete der Chefmeier ein Minimum an Worten an den jungen, unerfahrenen Daniel, der erst vor rund fünf Jahren seine Polizistenausbildung mit Bravour abgeschlossen hatte. Danach fiel der Chefmeier direkt wieder über seinen PHK Egi her: »Du hast sie belästigt, du Triebtäter, du elendiger. Nackt hast dich vor sie gestellt, mitten in der Nacht, du Saukopf!«

Daniel blieb mit offenem Mund vor Egi stehen.

»Die dicke Lohmeier Berta … Egi, warum denn nur?«, presste er verstört hervor.

»Nix hab ich! Spinnts ihr denn jetzt alle?«, echauffierte sich Egi. »Wann soll das denn gewesen sein?«

»Heut Nacht, das wirst du ja noch wissen!«

»Schmarrn, da war ich in meinem Schlafzimmer im Bett gelegen, und zwar mit meiner Frau«, verteidigte sich Egi. Dann erinnerte er sich jedoch, wie er heute Nacht hüllenlos seinen Rollladen hochgezogen hatte. Eventuell hatte das Blaulicht eines vorbeisausenden Rettungswagens seine unverhüllte untere Körperhälfte am Fenster angestrahlt. »Was läuft die dicke Berta denn auch um drei in der Früh durch Oberstdorf? Hinterfotziges Weib.«

»Soso, um drei Uhr war’s gewesen, als du nackt da gestanden bist? Genau das hat sie auch ausgesagt.«

»Gib die Anzeige her, Chefmeier!«, drängte Egi und machte sich auf den Vormarsch zur Empfangstheke.

»Erwin heiß ich, ERWIN! Und a Deufel werd ich tun! Von mir kriegst nix. Die Anzeige wird jetzt an die Großkopferten in Kempten weitergeleitet, wie’s sich gehört in einer anständigen PI. So eine Schande, ein Polizeihauptkommissar, der des Nachts Frauen mit seinem nackten Schniedl belästigen tut!« Der Chefmeier drehte sich herum und legte das persönlich gestempelte und unterschriebene Dokument auf den Scanner, um es in digitaler Form an die für Kapitalverbrechen zuständige Kripo Kempten zu senden.

Hinten im Büro war Rudi, ein weiterer Kollege, durch den geräuschvollen Schlagabtausch geweckt worden. Er stampfte nun mit seinen einhundertdreißig Kilo Kampfgewicht um die Ecke und sah hinter dem Rücken vom Chefmeier, wie Egi dem PI-Leiter einen Vogel zeigte und dabei sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verzog. Rudi, ein gebürtiger Lindauer, am einzigen Großhafen Bayerns aufgewachsen, verstand sofort. Er trat neben den Chefmeier, hob just in dem Moment, als das Licht des Scanners aufflackerte, den Deckel des Gerätes hoch und griff nach dem Dokument. Er zerriss es vor den Augen des PI-Leiters. Die Schnipsel warf er demonstrativ in den Papierkorb, der neben dem Scanner stand. Der war mittlerweile so voll, dass die Überbleibsel von Berta Lohmeiers Anzeige zusammen mit einigen zerknüllten Blättern zu Boden fielen. Rudi warf einen letzten Blick darauf und rieb sich zufrieden die Hände.

»Rudi!!! Ja, hast nicht mehr alle Tassen im Schrank?«, polterte der Chefmeier unverzüglich los und versuchte, Rudi an die Wäsche zu gehen.

»Jetzt wart halt, Chefmeier, reiß di z’samm!«, forderte Daniel und hechtete Kollege Rudi zu Hilfe.

Egi sprang auf seine Kollegen zu und warf sich unter äußerster Anstrengung über die Empfangstheke, um sich an den drei Streithähnen vorbeizuquetschen und sich die Papierschnipsel zu schnappen, damit der Chefmeier sie nicht wieder zusammenkleben konnte. Nachdem er einen Großteil des Altpapiers an sich gerissen und wieder in den stählernen Papierkorb geworfen hatte, zog er ein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete den Inhalt an.

Der geräuschvolle Tumult rief nun auch Beate, die im Vorzimmer vom Chefmeier saß, auf den Plan. Sie stürmte vor zum Empfang und erschrak, als sie die brisante Szenerie erblickte.

»Erwin, jetzt lass dat«, ruhrpöttlte sie (Beate stammte aus dem Ruhrgebiet, genau genommen aus Essen, und lebte seit fast zwanzig Jahren in Oberstdorf – sie hatte es jedoch bis heute nicht geschafft, ihren Slang abzulegen).

Beate griff nach einem Kopierpapierpaket aus dem Regal neben dem Scanner und schlug damit die ungehobelten Männer auseinander, wie sie es aus ihrem Kulturkreis kannte. Eine äußerst effektive Methode. Währenddessen begann der brennende Inhalt des Mülleimers Flammen zu werfen und fürchterlich zu stinken. Schwarze Rauchschwaden zogen über die kämpfenden Polizisten, die noch nichts davon mitbekommen hatten. Außer Egi, der riss nun den Feuerlöscher von der Wand hinter der Empfangstheke und ging damit der Brandursache entgegen. Er zog den roten Sicherungskeil ab und drückte voller Elan auf den großen gelben Knopf. Ein Schwall weißen Schaumes ergoss sich über den Papierkorb, als dem Chefmeier gerade die Feuersbrunst ins Blickfeld geriet und ihn aus heiterem Himmel ein Packen Kopierpapier am Hinterkopf traf.

»Aaaauuuu!« Er duckte sich unter Beates brutalem Schlag. Dann spürte er, wie sich sein Hinterteil mit einem Mal heiß anfühlte. Er vollführte einen panischen Spitzentanz, der entfernt an Tschaikowskis sterbenden Schwan erinnerte, und schlug sich dabei mit den flachen Händen auf den Allerwertesten.

»Dei Fiedle tut brennen!«, rief Rudi dem Chefmeier zu, griff nach einer Flasche Mineralwasser, die auf der Empfangstheke stand, und kippte den Inhalt über das qualmende Gesäß des PI-Leiters. Es zischte.

Plötzlich schlug auch noch der Rauchmelder Alarm.

»A schönen guten Morgen zusammen. Die traute Polizeiinspektion Oberstdorf in Reinkultur, einfach herrlich!«, amüsierte sich Lorenz Küpper mit breitem Grinsen, als er durch die Eingangstür trat.

»Jaja, Dr. Kunze, ich rufe da an und gebe denen Bescheid, damit die Kollegen offiziell darüber entscheiden«, wetterte Erich. »Auch wenn das absolut meinem Obduktionsbericht widerspricht. Damit mache ich mich lächerlich!«

»Sie haben es nicht anders verdient. Und mit der Brille sind Sie sowieso eine Lachnummer«, konterte Dr. Ralf Kunze zufrieden.

Erich kniff die Augen zusammen. Der Onkel war einfach nicht davon zu überzeugen gewesen, dass er endlich heimgehen sollte. Er hatte den Gerichtsmediziner kurz vor sieben am Ausgang der Gerichtsmedizin abgefangen und dazu genötigt, in sein Büro zurückzukehren und die Kripo-Kollegen in Kempten über den verdammten roten Punkt am Oberschenkel der toten Nichte zu informieren, genauso über die angeblichen Hämatome um ihren Mund herum. Immerhin war Dr. Kunze Internist und kannte sich mit Gebrechen hervorragend aus, zumindest bei lebenden Menschen. Gemeinsam standen sie nun in Erichs Büro vor dem Telefon. Genervt griff Erich nach dem Hörer und wählte eine Nummer, die er bereits auswendig kannte. Dann brummte er in die Muschel: »Servus Akay, Erich hier. Noch einmal zu dem Todesfall Simone Kunze aus Oberstdorf, Todesursache unbekannt.«

Einen Moment lauschte er dem Geschwätz seines Gesprächspartners, dann sagte er zerknirscht: »Ja, ich weiß, was der Notarzt in den Totenschein geschrieben hat. Wie du selbst sagst, mit meiner neuen Brille konnte ich das hervorragend lesen. Aber ich hatte den roten Punkt …«

Dr. Ralf Kunze beobachtete Erich kritisch von der Seite und trommelte mit seinen Fingern auf dem Schreibtisch, der Takt klang nach der Melodie von Spiel mir das Lied vom Tod. Erich streckte die Hand aus und drückte auf einen Knopf, um das Telefon laut zu stellen, damit sein Medizinerkollege mithören konnte.

»Sie hat doch an ihrem linken Oberschenkel diesen …«, fuhr er fort, bevor eine Stimme aus dem Lautsprecher ertönte.

»Immer noch Leichenschnupfen? Wo hast du deine ahnungslose Nase wieder reingesteckt? Oder leidet sie neuerdings auch noch unter dem Gewicht deiner filigranen Sehhilfe? Geh endlich ins Bett, Erich, und ruh dich aus. Nach der langen Nacht hast du längst Feierabend«, unterbrach der türkischstämmige Kriminalhauptkommissar den Gerichtsmediziner im astreinen Hochdeutsch. Akay Tok war nicht nur der schönste Ermittler im Allgäu, sondern auch noch der Einzige, der Hochdeutsch perfekt beherrschte. Er war vor Jahren aus Frankfurt am Main in die Provinz versetzt worden, weil er sich in der Hessenmetropole danebenbenommen hatte.

Erich errötete. Jetzt hatte diese Nervensäge Dr. Kunze sein alltägliches Martyrium mit anhören können. Aus den Augenwinkeln konnte er beobachten, wie der Onkel hämisch zu grinsen begann.

Erich atmete tief durch, um noch einmal ansetzen zu können, nicht dass der Onkel Internist ihm nachher noch ein Strafverfahren anhängte: »Akay, du wirst jetzt bitteschön zuhören. Es gibt dieses kleine Loch an Simone Kunzes linkem Oberschenkel, und es könnte von einer Spritze stammen. Darauf wollte ich dich hinweisen, auch wenn in meinem Bericht nur ein roter Punkt genannt wird, der auch von einem Pickel oder so stammen könnte. Nichtsdestotrotz ist nicht auszuschließen, dass es doch Fremdeinwirkung war. Dazu passen würden die … äh … blauen Flecken um ihren Mund herum, es könnten Hämatome durch Fremdeinwirkung, vielleicht auch nur Druckstellen von der Sauerstoffmaske des Rettungsdienstes oder auch einfache Leichenflecken sein. Dieser klitzekleine Verdachtsfall darf in den Akten nicht untergehen, verstehst du? Ich habe einen Notizzettel an den Bericht gehängt. Ihr könnt ihn dranlassen oder nicht. Macht damit, was ihr wollt, ich kann das als Gerichtsmediziner nicht entscheiden. Ich hab ihn mir zur Sicherheit eingescannt, damit mir später keiner was vorwerfen kann, wenn ihr es jetzt ignorieren wollt.«

»Verstehe, Erich. Ich hab mir deinen Obduktionsbericht schon am Bildschirm aufgerufen. Dann erklär mal bitte: Wozu die Spritze? Was soll sie gespritzt haben? Was hast du in ihrem Blut gefunden? Laut Analyse bisher nichts. Oder ist der Bericht falsch?«, quäkte es nicht ohne Ironie aus dem Telefonlautsprecher.

»Nein, er ist nicht falsch!«, echauffierte sich Erich. »Es ist nur so, dass ich keine Spekulationen anführen wollte. Sie könnte aber trotz allem mit Insulin ermordet worden sein, weil sich das innerhalb kürzester Zeit wieder abbaut und dann nicht mehr im Blut nachweisbar ist. Und schon bald wird ihr Körper übersät sein von Leichenflecken, dann können wir keine Hämatome mehr nachweisen. Ich habe Fotos davon zu meinem Bericht gelegt. Vielleicht solltest du das in Betracht ziehen, zum Beispiel, wenn es aktuell noch weitere Verdachtsfälle dieser Art gibt«, schlug Erich dem Kriminalhauptkommissar vor und nickte dem Onkel zu, der ihn zu diesem Quatsch mit dem Insulinverdacht überredet hatte.

»Soso, das soll ich also beachten, sagst du, Erich? Vielleicht muss ich mir dazu erst noch eine Brille besorgen«, amüsierte sich Akay Tok am anderen Ende der Leitung.

Dr. Ralf Kunze musste denken, dass der Kripobeamte seinen Gerichtsmediziner nicht ernst nahm.

»Sag ich ja, sie könnte auch ermordet worden sein«, bestätigte Erich, seine Geduld war nun am Ende.

»Erich, geh schlafen!«

Erich legte auf und drehte sich zu Dr. Ralf Kunze herum.

»Sie sehen es, verehrter Dr. Kunze, es bleibt höchstwahrscheinlich bei Todesursache unbekannt.«

»Was sagst du, Lorenz? Die ham schon wieder a Leich in Oberstdorf gefunden?«, fragte der Chefmeier wie in Trance.

Es war Samstagnachmittag, und das kleine Feuer im Papierkorb der PI war erfolgreich bekämpft worden. Was Lorenz Küpper zu berichten hatte, hatte den Chefmeier blass um die Nase werden lassen. Egis Schandtat der vergangenen Nacht und die daraus resultierende Anzeige von Berta Lohmeier hatte er mit einem Schlag vergessen. Um die Hüften trug der Chefmeier nun eine geblümte Tischdecke, weil das Feuer seine Hose zerstört und damit seinen stattlichen Hintern freigelegt hatte. Die Handtücher in der PI waren für diese Notlösung allesamt zu klein gewesen.

»Sag ich doch, die fünfte seit Januar. Wieder eine Frau. Vollkommen gesund und Todesursache unbekannt. Wobei …«, druckste Lorenz herum.

Lorenz Küpper war Chef der Spurensicherung bei der Kripo Kempten und hatte die Gerüchte über den Unwillen des zuständigen Hauptkommissars Akay Tok beim Kaffeetrinken in einer der Etagenküchen aufgeschnappt. Das Interesse an diesen Todesfällen schien bei dem Kollegen gering, Lorenz waren die Frauen jedoch zu jung und zu gesund für einen mehr oder weniger erklärbaren Tod gewesen. Und als er mitbekommen hatte, dass es mittlerweile fünf solcher Fälle aus Oberstdorf gab, war er zur PI gefahren, um Egi (seinen alten Schulfreund) darüber zu informieren. Lorenz wohnte immer noch in Oberstdorf und war auf dem Heimweg bei der örtlichen Polizei vorbeigefahren. Nun hockte er vor dem Chefmeier in dessen Büro und stand Rede und Antwort zu Hintergründen, die er selbst nicht kannte. Und die er auch in keinem Fall außerhalb der Kripo Kempten preisgeben durfte. Fünf Augenpaare starrten ihn erwartungsvoll an.

»Was ist da los? Jetzt rück schon naus mit der Sproich!«, forderte der Chefmeier und zwirbelte nervös an seinem Nasenhaar, das blöderweise von Jahr zu Jahr länger wurde und langsam begann, immer weiter aus seinem Riechorgan herauszuragen.

Ihn erfasste jedes Mal ein tiefes Unbehagen, wenn in Oberstdorf Leute auf unergründliche Weise starben. Jedes Jahr hatte es hier einen Mord gegeben, seit Egi Huber PHK geworden war. Das war nun sechs Jahre her. Letztes Jahr waren sie ausnahmsweise einmal verschont geblieben. Nun gab es jedoch gleich fünf Leichen innerhalb eines knappen halben Jahres. Und dieses Jahr war noch jung, es war erst Mai.

»Nun ja, der Erich hat halt so einen Pickel an ihrem Oberschenkel gefunden«, gab Lorenz zu bedenken.

»A Pickel! Jesses, Maria und Josef, a Pickel! Man tut doch nicht an einem Pickel sterben, Lorenz«, wetterte der Chefmeier weiter.

Er sprang von seinem Bürosessel auf. Die Tischdecke rutschte von seinen Hüften. Beate stand hinter ihm, bedeckte seinen entblößten, stattlichen Po wieder mit dem geblümten Tuch und drückte ihn sanft zurück in die Lederpolster. »Tu dich ma abregen, Erwin, dat is gar nich gut für dein Herz. Weißte noch vor zwei Jahren? Da warste inna Klinik deshalb.«

Zum Glück saßen alle gegenüber vom Chefmeier vor dessen Schreibtisch, ihnen blieb der Anblick seines Unterleibes erspart – außer Rudi, der hockte neben dem Chefmeier, weil dort der letzte freie Stuhl gestanden hatte.

»Jetzt sag schon Lorenz«, bohrte nun Egi weiter. »Was hatten die denn alle für Gebrechen, wenn die so jung gestorben sind?«

»Keine, die waren alle soweit gesund. Also, es waren natürlich verschiedene Dinge, die zum Tod geführt haben. Eine ist beim Fensterputzen samt Stuhl aus ihrem Küchenfenster gestürzt, eine durch den Stich einer verschluckten Wespe im Rachen erstickt, eine ist besoffen in der Badewanne ertrunken, eine ist warum auch immer durch eine kleine Wunde am Arm verblutet. Und die von gestern Nacht hatte halt einen Pickel am linken Oberschenkel.«

»Jetzt hör schon auf mit diesem scheiß Pickel! Das ist doch lächerlich. Die wissen in Kempten schon, was die tun, wenn sie das nicht weiterverfolgen. Da muss man denen einfach mal vertrauen«, schloss der Chefmeier das unangenehme Thema für sich ab und stand auf.

Wieder rutschte die Blümchentischdecke von seinen Hüften und gab den Blick auf seine unappetitliche Rückseite frei.

Egi, Daniel, Beate und Lorenz schauten ihn verstört an. Warum nur wollte der Chefmeier diese nach Aufklärung schreienden Todesfälle nicht weiterverfolgen?

»Aaahhh, Chefmeier, knote dir mal die Tischdecke richtig fescht«, maßregelte Rudi, neben dem Chefmeier saß, und wandte seinen Blick ab.

»Komm, Erwin, ich mach dat für dich«, eilte Beate zur Hilfe, die sich genau für diesen Fall hinter ihm positioniert hatte.

»Erwin, so kenn ich dich gar nicht«, wunderte sich Lorenz über Chefmeiers Zurückhaltung bei diesen fünf undurchsichtigen Todesfällen.

»Ich auch nicht, ich will auch dem seinen Hintern gar nicht weiter anschauen!«, grunzte Rudi, stand auf und ging zum Fenster.

»Rudi!«, zischte Beate und drückte den Chefmeier wieder auf seinen Ledersessel zurück.

»Ich hab die Schnauze voll von diesem türkischen Schönling mit seiner blonden Schnalle!«, brüllte der Chefmeier.

Damit war allen klar, was er meinte, und warum sein Interesse an den fünf toten Frauen dermaßen gering war. Er meinte damit Akay Tok, den für Oberstdorf zuständigen Kriminalhauptkommissar aus Kempten, und Dr. Silvia Stern, die promovierte Polizeipsychologin. Die beiden waren in den letzten Jahren immer zusammen in Oberstdorf aufgeschlagen, um auf unmögliche Art und Weise Mordfälle zu lösen, die der Chefmeier in ein oder zwei Tagen selbst aufgeklärt hätte, wenn die beiden ihn nicht jedes Mal dermaßen behindert hätten. Er schlug zur Untermauerung seiner befehlsgebenden Meinung mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch. Das Telefon machte einen Satz und landete scheppernd an der Tischkante. Es kippte und drohte auf den Boden zu stürzen. Egi neigte sich auf seinem Stuhl vor, schnappte es geistesgegenwärtig und schob es zurück an seinen vorgesehenen Platz. Dann lehnte er sich zurück und zwinkerte Lorenz zu.

»Auf geht’s, Rudi. Bist so weit?«, fragte Egi am späten Nachmittag vor Rudis Haustür.

Er wollte sich nach dem ganzen Theater um Lorenz Küppers Erzählungen heimlich mit Rudi auf Spurensuche machen. Heimlich, weil der Chefmeier noch nicht einsichtig genug war, Undercover-Ermittlungen der PI Oberstdorf zu akzeptieren. Hier musste erst noch PHK-Vorarbeit geleistet werden, damit ein entsprechender Antrag unter der Hand durchging. Und dazu mussten Beweise her. Beweise, dass mindestens eine der fünf Frauen ermordet worden war. Und davon war Egi mittlerweile einhundertprozentig überzeugt, das sagte ihm sein PHK-Gespür. Und wenn ihn dieses nicht trügen sollte und sie ohne die Kripo Kempten einen oder gar mehrere Morde in Oberstdorf aufklären würden, bevor die beschränkten Kripo-Kollegen, die die Akten schon abgelegt hatten, davon Wind bekamen, dann würde PHK Egi mit seinem Team bestimmt einen Orden, ein Tapferkeitsabzeichen oder zumindest eine Ehrung vom Bürgermeister erhalten. Egi lächelte.

»Noi, ich hab gar keinen Bock auf deine privaten Recherchen«, jaulte Rudi jedoch entgegen Egis Erwartungen und versuchte, seine Haustür fix zu verschließen. Er schien nicht wild auf Orden, Abzeichen oder Ehrungen zu sein. Zumindest nicht so wie Egi. »Kannst du das nicht mit’m Lorenz allein erledigen? Hab Feierabend.«

Aber Egi hatte längst einen Fuß im Türspalt, ließ sich nicht abwimmeln. Wenn der PHK erst einmal ein Ziel vor Augen hatte, dann war er nicht mehr zu bremsen.

»Feierabend gibt’s für dich als Polizeioberwachtmeister nicht. Und der Lorenz schafft in Kempten und ist da unser Maulwurf, der kann hier nix unternehmen. Sonst fliegt der uns noch auf. Jetzt mach schon! Oder willst du, dass noch mehr junge Frauen in Oberstdorf auf seltsame Art und Weise zu Tode kommen? Irgendwann holt’s doch den Chefmeier auf den Plan, die Kripo Kempten, und so weiter und so fort.«

»Isch ja schon gut, i komm scho, Egi«, grunzte Rudi im Allgäuer Dialekt und stampfte heraus.

Er schlurfte zum Auto, öffnete die Tür, warf seine Arbeitstasche auf die Rückbank und quälte sich schnaufend auf den Beifahrersitz des Streifenwagens, mit dem Egi ihn abgeholt hatte. Sein privates Auto (ein Mercedes-Van in Braunmetallic mit goldenen Ralley-Streifen und goldenen Felgen, den er vor einigen Jahren zum Schnäppchenpreis vom hiesigen Autohändler erworben hatte und der von seinen Kindern Schäm-Mobil genannt wurde) konnte Egi für Undercover-Ermittlungen nicht benutzen, es war in Oberstdorf bekannt wie ein bunter Hund. Hätte darin der Rudi neben dem Egi gehockt, wären unverzüglich Gerüchte aufgekommen, die sie aktuell absolut nicht gebrauchen konnten. Saßen Egi und Rudi jedoch in einem Streifenwagen, war die Oberstdorfer Welt in Ordnung und keiner der rund zehntausend Bürger dachte sich etwas dabei.

Die beiden fuhren nun also mit einem Streifenwagen, den sich Egi eben an der PI für seine Ermittlungen ausgeliehen hatte, durch Oberstdorf und folgten der Nebelhornstraße.

»Sag mal, Rudi, was ist jetzt eigentlich mit der Hochzeit von deinem Sohn und seiner Verlobten?«, wollte Egi wissen.

In der PI wurde sich darüber schon seit Monaten Gedanken gemacht. Die Hochzeit war bereits durchgeplant gewesen. Die gesamte Familie Ströber hatte extra dafür neun Monate Diät gemacht. Rudi hatte dafür sogar gemeinsam mit Egi die unzumutbaren Strapazen eines Yoga-Kurses durchgestanden. Jedoch recht erfolglos. Dann hatte die Corona-Pandemie Rudis Sohn einen Strich durch die Rechnung gemacht, die Hochzeit war wegen des Lockdowns abgesagt worden. Und nun wunderten sich alle, wie es diesbezüglich denn weitergehen würde. Rudi jedenfalls hielt sich mehr als bedeckt, was dieses Thema anging. Daher fragte Egi ihn nun ganz direkt, wo sich endlich einmal die Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen geboten hatte.

»Du, das ist jetzt nicht mehr aktuell«, meinte Rudi nebulös, schaute durch das Seitenfenster und betrachtete die imposante Bergwelt, die sich dahinter bot.

Das Nebelhorn tat seinem Namen alle Ehre, sein 2224 Meter über dem Meeresspiegel liegender Gipfel versteckte sich wie so oft im dichten Dunst. Die neue Nebelhornbahn stand still, die gelben Zehner-Kabinen hingen tatenlos an ihrem Seil. Sie brachten nun keine Besucher mehr in den Berg, im Gegensatz zu Rudi hatten die Mitarbeiter jetzt nach siebzehn Uhr Feierabend. Er beneidete sie.

»Was soll das denn bedeuten?«, bohrte Egi weiter.

»Es isch halt vorbei, Egi«, bellte Rudi. »So, jetzt isch es naus!«

»Wirklich?«, fragte Egi irritiert nach, damit hätte er nun gar nicht gerechnet.

»Ja, soll ich’s jetzt noch fünfmal wiederholen?«, knurrte Rudi.

»Nein, ist schon gut«, beruhigte der PHK seinen Kollegen, er wollte nicht weiter in offenen Wunden bohren.

Nach einigen Abzweigungen ging es dann rechts in die Rechbergstraße. Dort hatte Simone Kunze in einem der Mehrfamilienhäuser in einer Mietwohnung gelebt. Das hatte Beate bereits nach Lorenz Küppers Tipp herausgefunden, genauso wie den Namen und die Telefonnummer des Hausverwalters, den sie direkt heute Morgen angerufen hatte. Egi parkte das Polizeiauto am Straßenrand.

Er öffnete die Fahrertür und wollte gerade aussteigen, da meinte Rudi plötzlich: »Der Armin hat wohl jetzt a neue Flamme.«

Egi wäre beinahe aus dem Auto gestürzt, als er diese Worte vernahm. Armin war Rudis Sohn. Und dass er eine neue Flamme haben sollte, war eine bahnbrechende Neuigkeit. Wenn Egi das gleich daheim erzählen würde!

»Aber erzähl’s keinem«, bat Rudi, warf Egi einen eindringlichen Blick zu und stieg mit finsterem Gesichtsausdruck aus.

Egi nickte nur. Als er auf der Straße stand, schaute er sich um. Auf der gegenüberliegenden Seite wartete ein schlecht gekleideter, gedrungener älterer Herr mit Stirnglatze. Er lehnte an seinem weißen BMW X1. Als er den Einsatzwagen sah, stieß er sich von der im Sonnenlicht glänzenden Karosserie ab und kam Egi und Rudi langsam entgegen. Er war kaum größer als ein Gartenzwerg. Rudi musste grinsen.

»Griäß euch! Ihr möchtets euch die Wohnung von der Simone Kunze ansehen, gell?«, fragte der Kleine neugierig. »Hier ist der Schlüssel. Was gibt’s denn da zum Schauen?«

Herr Ramp war über achtzig Jahre alt und duzte alle, die seiner Sichtweise nach noch im Kindesalter waren, so auch Egi und Rudi. Er war in Oberstdorf bekannt dafür, seine knochigen Finger überall mit im Spiel zu haben, seien es Skischulen, Geschäftsräume oder Mehrfamilienhäuser. Wie ein Trüffelschwein suchte er sich Gewinnbringendes heraus und verdiente immer noch gutes Geld. Man nannte ihn auch Rampensau.

»Danke, Herr Ramp. Wir gehen dann gleich mal nei«, sagte Egi und nahm den Schlüssel an sich. An Rudi gerichtet meinte er vieldeutig: »Herr Ramp ist auch hier der Objektverwalter.«

Rudi zuckte mit den Schultern, ihm war nicht bewusst, welch Lokalmatador der Gartenzwerg Herr Ramp in Oberstdorf war. Egi und Rudi gingen auf die Haustür zu. Herr Ramp folgte ihnen. Egi sah den alten Mann fragend an und kratzte sich am Bart.

»Ich zeig euch, wo ihr die Wohnung findet. Zweites OG, erste Tür auf der rechten Seite«, erklärte Herr Ramp.

Seine Schuhe waren ausgelatscht, seine Hose schon vor zwanzig Jahren drei Nummern zu groß gewesen und seine Strickjacke war schief zusammengeknöpft. Aber von diesen Äußerlichkeiten durfte man sich nicht täuschen lassen. Herr Ramp, die Rampensau, war geizig und stinkreich. Den BMW X1 hatte er sich nur geleistet, weil seine Frau keine Ruhe gegeben hatte, nachdem er sein erstes eigenes Auto, einen historischen Golf I, Anfang des Jahres in einer Kurve auf schneeglatter Straße direkt in einen Zaun gelenkt und damit zu Schrott gefahren hatte. Selbst der Chef seiner Werkstatt des Vertrauens hatte auf seine Frage hin, ob der Golf denn noch zu retten wäre, vehement den Kopf geschüttelt. Und zwar mit den Worten, dass er einen schönen Jahreswagen für Herrn Ramp parat hätte, einen weißen BMW X1, der seiner Gattin bestimmt auch gefallen würde. Und mit genau diesem war er vor einer halben Stunde zur Wohnung von Simone Kunze gefahren.

»Das ist nett von Ihnen, Herr Ramp. Mit hinein dürfen Sie aber trotzdem nicht«, klärte Egi den enttäuschten Geschäftsmann auf. »Wir wollen ja nicht, dass später Ihre DNA dort auftaucht, gell? Und das bleibt natürlich alles unter uns, Herr Ramp. Höchste Verschwiegenheitsstufe, was polizeiliche Ermittlungen angeht!«

»Jaja, das versteh ich schon! Aber machts ihr das jetzt, weil es Mord war?«

Egi sah in stumm an und zuckte mit den Schultern. Herr Ramp schien damit nicht zufrieden zu sein. Sie stiegen zu dritt die Treppe hinauf und blieben vor der Wohnungstür stehen. Diese war mit einem Polizeisiegel verschlossen. Herr Ramp bestaunte es von unten, sein Kopf war kaum höher als die Türklinke. Egi kratzte das Siegel mit dem Wohnungsschlüssel auf und öffnete die Tür. Rudi trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, ihm schien der inoffizielle Einsatz gar nicht recht zu sein. Er fragte sich zudem berechtigterweise, wie sie später das zerrissene Siegel erklären sollten.

»Die wurde ermordet, oder?«, versuchte es Herr Ramp noch einmal.

»Wir bringen gleich ein neues Siegel an«, wich Egi der allzu neugierigen Frage aus und zog zwei Paar schwarze, latexfreie Gummihandschuhe und zwei weiße Haarnetze aus seiner Hosentasche. »Die jetzt bitte überziehen, Rudi, willst ja auch nicht, dass wir am Ende verdächtigt werden.«

Rudi rümpfte demonstrativ die Nase, nahm Haarnetz sowie Handschuhe und zog sie sich über. Seine Frage zur Zutrittsberechtigung hatte er längst hinuntergeschluckt. Zu neugierig war er auf die Umgebung, in der die Tote gelebt hatte. Sein Polizistenspürsinn war durch diese abstruse Aktion nun doch noch geweckt worden.

»Ich wart hier auf euch. Dann könnts ihr mir gleich die Schlüssel zurückgeben«, rief Herr Ramp hinter ihnen her und setzte sich ungelenk auf die oberste Treppenstufe. Er hoffte gewiss, dass die zwei später gesprächiger wären.

Beate und Daniel hockten an der Empfangstheke der PI. Beate schlürfte einen Kaffee und Daniel einen heißen Kakao aus dem Automaten.

»Sach ma, Daniel, wat macht denn dein Liebster, der Luigi?«

»Du, wir wohnen jetzt zusammen bei seinen Eltern in der Einliegerwohnung in Sonthofen«, erklärte Daniel und rollte die Augen, »Probleme vorprogrammiert.«

Daniel selbst stammte aus Lindenberg im Allgäu und hatte seinen Eltern immer noch nicht mitgeteilt, dass er schwul war. Es wurde langsam Zeit.

»Warum dat denn?«, fragte Beate.

Sie stellte ihre Tasse auf dem Empfangstresen ab und schaute ihn interessiert an. Sie selbst war vierundfünfzig Jahre alt und hatte bisher keine bedeutende Beziehung geführt, geschweige denn mit jemandem zusammengewohnt. Außer während ihrer Ausbildung in der Polizeiakademie im Schloss Holte-Stukenbrock in Nordrheinwestfalen. Dort hatte sie mit zwei anderen Frauen in einem miserablen Polizeiwohnheim einige Zeit eine Wohnung geteilt und entschieden, dass das Modell des Zusammenlebens für sie nicht geeignet war.

»Seine Eltern sind nicht begeistert, dass sie jetzt allen neuen Nachbarn erklären müssen, dass ihr Sohn mit einem Mann zusammenlebt. Die Familie ist doch erst vor zehn Jahren aus Italien nach Kaufbeuren gezogen. Die haben letztes Jahr das Haus in Sonthofen gebaut, sind gerade eingezogen und nun das. Vielleicht hätte Luigi doch in Kempten bleiben und ich zu ihm ziehen sollen. In einer Großstadt fällt das Schwulsein nicht so auf.«

»Ach wat! Dat wird schon, Schätzeken. Die lieben Nachbarn werden auch langsam erkennen, dat die Welt heute bunt is, und zwar auch im Allgäu!«