Breiten des Verlangens - Shubhangi Swarup - E-Book

Breiten des Verlangens E-Book

Shubhangi Swarup

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Beschreibung

Breiten des Verlangens folgt den miteinander verbundenen Leben von verschiedenen Protagonist:innen, die auf der Suche nach wahrer Intimität und Nähe sind, während sie sich quer über den indischen Subkontinent wagen, um eine epische Liebesgeschichte zu erzählen. Wir folgen einem Wissenschaftler, der Bäume studiert, und einer Hellseherin, die mit ihnen spricht; einem Geologen, der sinnlose Kriege um einen Gletscher beenden will; einem achtzigjährigen Liebespaar; einer Mutter, die darum kämpft, ihren revolutionären Sohn zu befreien; einem Yeti, der menschliche Gesellschaft sucht; einer Schildkröte, die wundersame Verwandlungen erlebt; und dem Geist eines verdunsteten Ozeans, der so ruhelos ist wie die Kontinente. Sie alle verbindet eine Vision des Lebens, die so groß ist wie das Universum selbst.

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Seitenzahl: 467

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Originalausgabe:

Latitudes of Longing © by Shubhangi Swarup, 2018

By agreement with Pontas Literary & Film Agency

© 2023 Kommode Verlag, Zürich

Alle Rechte an der deutschen Übersetzung vorbehalten.

Übersetzung: Milena Adam

Lektorat: Matthias Jügler

Korrektorat: Gertrud Germann, Torat GmbH

Cover, Satz und Gestaltung: Anneka Beatty

Druck: Beltz Grafische Bertriebe

www.kommode-verlag.ch

Shubhangi Swarup

Breiten des Verlangens

INHALT

INSELN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

VERWERFUNGEN

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

TAL

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

SCHNEEWÜSTE

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

DANKSAGUNG

INSELN

Stille ist auf einer Tropeninsel das unablässige Rauschen des Wassers. Die Wellen sind, wie der eigene Atem, immer da. Seit zwei Wochen schon werden die Wellen übertönt vom Gluckern und Grollen der Wolken. Regen trommelt aufs Dach, strömt über die Kante, klatscht in die Tiefe. Prasselt, peitscht, tropft und klatscht. Die Sonne ist tot, heißt es.

In dem Rauschen ruht die Saat einer elementaren Stille. Lautlos wie Nebel, starr wie Eis.

Girija Prasad und Chanda Devi sind frisch vermählt und haben sich in ihr Schicksal gefügt – als Fremde in einem Schlafzimmer, das schwül ist vom Begehren und überflutet von Träumen. Denn in diesen Tagen träumt Girija Prasad mit aller Heftigkeit. Regen beflügelt die Fantasie, das ist Tatsache, wenn auch unbewiesen. Als der Regen eines Nachts plötzlich abreißt, wird er wach. Seine Ohren hatten sich an die tropische Geräuschkulisse gewöhnt wie Eheleute an das Schnarchen von der anderen Bettseite. Er schreckt aus einem feuchten Traum hoch und fragt sich, was passiert ist. Wer ist aus dem Zimmer gegangen?

Von seinem Doppelbett schielt er zu Chanda Devis einfacher Matratze auf dem Boden, wo sie nicht ihm, sondern dem offenen Fenster zugewandt liegt. In der Dunkelheit lässt er erregt den Blick über ihre Kurven wandern. Bei der Hochzeitszeremonie hatten sie sieben Mal das heilige Feuer umrundet, waren mehrere Leben lang vereint gewesen, und sie war seinen Schritten bereitwillig gefolgt, fest davon überzeugt, dass beide ein weiteres Mal in wiedergeborener Gestalt, in einem neuen Avatar zusammengeführt würden. Doch in diesem Leben würde er den Weg zu ihrem Herzen erst noch finden müssen. »Bis dahin«, hatte sie ihm in der ersten Nacht eröffnet, »richte ich mich auf dem Boden ein.«

Sie ist hellwach, verstört von den jenseitigen Schreien. Es ist der Geist einer Ziege. Der Geist hat zahllose Sphären hinter sich gelassen und wandert nun auf ihrem Dach umher. Jetzt haben die rastlosen Hufen ihn bis unter das geöffnete Fenster getragen, und Schuldgefühle strömen ins Zimmer und in ihr Gewissen.

»Hörst du das?«, fragt Chanda Devi. Sie spürt seinen Blick im Rücken.

»Was denn?«

»Die meckernde Ziege da draußen.«

Seine nutzlose Erektion verabschiedet sich. Nun ist er geistig ganz bei Chanda Devi und dem Dilemma, vor das sie ihn stellt.

»Hier ist keine Ziege«, erwidert er resigniert.

Sie richtet sich auf. Das Meckern ist lauter geworden, als wollte es dem unbedarften Ehemann ausrichten lassen: »Du hast mir mein Leben genommen, aber mein Nachleben nimmst du mir nicht, du Fleischfresser!«

»Sie steht direkt vorm Fenster«, sagt seine Frau zu ihm.

»Hast du Angst vor ihr?«

»Nein.«

»Bedroht dich die Ziege?«

»Nein.«

»Dann könntest du sie vielleicht ignorieren und weiterschlafen.« Er hatte »solltest« statt »könntest« sagen wollen, doch ihm fehlt der Mut zur Strenge. Seine Frau, so viel hat er begriffen, reagiert auf Argumente oder Zwang ungehalten. Eigentlich reagiert sie auf beinahe alles ungehalten. Wäre sie nur nicht so attraktiv, dann könnte er sie ignorieren und weiterschlafen.

»Wie kannst du nur schlafen?«, fragt sie. »Du hast diese unschuldige Kreatur massakriert, ihr Fleisch kleingehackt, mit Zwiebeln und Knoblauch gebraten und dann gegessen. Zurückgelassen hast du nur die rastlose Seele, die nun unser Haus heimsucht!«

Würde er tatsächlich von den Seelen aller von ihm verzehrten Tiere heimgesucht, dann wäre sein Haus eine Mischung aus Zoo und Stall, und man könnte darin weder treten, geschweige denn schlafen. Doch das kann der sanftmütige Girija Prasad nicht sagen. Zwei Monate ist er nun verheiratet und hat sich mit der blühenden Fantasie seiner Frau arrangiert. Stur hofft er, dass solches Verhalten auf ihre Vorstellungskraft und nicht auf eine psychische Erkrankung zurückgeht. Seiner ungeborenen Kinder und der zukünftigen gemeinsamen Jahrzehnte willen verkündet er: »Wenn du dann besser schlafen kannst, esse ich kein Fleisch mehr.«

So wird der Fleischesser Girija Prasad zum Vegetarier, was seine Frau und auch ihn selbst sehr überrascht. Für ein paar Stunden Nachtruhe verabschiedet er sich ein für alle Mal von Lamm-Biryani, Rindersteak und sogar Rührei.

Sobald es dämmert, steigt sie aus dem Bett. Sie geht in die Küche, um ein opulentes Frühstück zuzubereiten. In ihren Bewegungen liegt eine neue Lebhaftigkeit, unter ihrem Schweigen lauert ein Lächeln. Da nun das Töten ein Ende hat, ist es Zeit, mit Aloo Parathas die weiße Flagge zu hissen. Zwei Stunden später setzt sie ihm den Teller vor und fragt: »Wie sind sie?«

Mit einem Mal ist Girija Prasad verunsichert, obwohl es eigentlich keinen Grund gibt. Endlich scheint die Sonne. Seine Frau hat ihm zum ersten Mal Frühstück gemacht und war so kühn, ihm eine Serviette über den Schoß zu breiten. Sie streift seine Schultern, haucht warmen Atem auf seine Haut. Er giert nach dem Trost von in Fett gebratenem Fleisch, doch auf seinem Teller ist davon nichts zu finden.

»Und? Wie sind sie?«, fragt sie noch einmal.

»Wer?«, fragt er verwirrt.

»Die Parathas.«

»Wunderbar.«

Sie lächelt und schenkt ihm Tee nach.

Chanda Devi, die Hellsichtige. Sie fühlt mit den Geistern und schätzt die wortkarge Gesellschaft der Bäume. Sie spürt seine unausgesprochenen Begierden durchaus. Doch sie weiß, dass er besser daran tut, dem Fleisch abzuschwören. Alles Fleisch ist so vergänglich wie unzuverlässig, insbesondere im Vergleich mit dem Pflanzenreich. Chanda Devi hat alles gesehen, sogar die Ströme von Blut, die eines Tages aus ihrem Körper fließen werden. Dieses Wissen macht sie standhaft. Es macht sie zu einer anspruchsvollen Ehefrau.

Vor seinem Aufbruch nach Oxford hatte Girija Prasad seine Heimat Allahabad noch nie allein verlassen. Während der viertägigen Reise mit Pferdekutschen, Fähren und einem Zug, bevor er endlich nach England einschiffte, hatte er sich von vielem getrennt: Gläsern voll mit Eingemachtem und Ghee Parathas, die wohl ein Menschenleben überdauert hätten, Bildern ausgewählter Gottheiten sowie seiner Familie, darunter ein Porträt seiner Mutter, das er selbst gemalt hatte.

Zwar hatte er es als Erleichterung empfunden, die Götter hinter sich zu lassen – insbesondere Rama, den pflichtbewussten Sohn, der ohne guten Grund seine Frau verlassen hatte, und den Baba vom Flussufer, der gar kein Gott war, sondern bloß ein seniler, ausgemergelter Mann –, doch sich des Porträts seiner Mutter zu entledigen, ohne einen Zusammenbruch zu erleiden, war ihm unmöglich erschienen. Doch dieser würde ihn ebenso ereilen, wenn er, Ozeane entfernt, ständig auf ihr Gesicht starren würde. Um die Trennung zu bewältigen, musste er ein neues Leben beginnen. Und zwar ein radikal anderes – beim bloßen Gedanken daran bekam er schon Hämorriden. Übers endlose Meer treibend, geriet er in eine Muschelspirale der Stille. Totgeborene Tränen manifestierten sich als hartnäckige Verstopfung. Als versierter Pflanzenarchivar hatte Girija Prasad kiloweise Flohsamenschalen für genau diesen Anwendungszweck dabei. Zudem befanden sich in seinem Gepäck getrocknetes Königsbasilikum, Neemblätter, Ingwer, Kurkumapulver, Zimtrinde und zerstoßener Pfeffer zur Behandlung weiterer körperlicher Leiden. Bei seiner Ankunft in Dover hielten ihn die Zollbeamten für einen Gewürzschmuggler.

Gleich an seinem ersten Tag am Blimey College in Oxford wurde Girija Prasad Varma von den mit Hindi-Namen unvertrauten Dozenten »Vama« getauft. Noch am Abend seiner Ankunft trank er zum ersten Mal Alkohol und brach auch das Generationen alte Tabu, etwas zu sich zu nehmen, das jhoota war, »verunreinigt durch den Mund eines anderen«. Als der gewaltige Bierhumpen unter den Erstsemestern herumgereicht wurde, stand er vor der Wahl, offenen Herzens auf die neue Kultur zuzugehen, oder ewig an der Schwelle zu versauern. Auf seinem Schreibtisch standen keine Porträts oder Gottheiten, die ihn hätten tadeln können. Am nächsten Morgen probierte er zum ersten Mal ein Ei, stieß das salzige gelbe Rund mit der Gabel an und beobachtete, wie es bebte. Bald würde er Geschmack daran finden, wie vielschichtig und unvorhersehbar das Leben war.

Fünf Jahre später kehrte Girija Prasad Varma, der erste indischstämmige Commonwealth-Stipendiat, mit einer Doktorarbeit nach Indien zurück, die mit zwei Worten in seiner Muttersprache schloss: Jai Hind. Seinem Doktorvater erklärte er die Bedeutung mit »es lebe die indische Nation«. Auf Geheiß des jungen indischen Premierministers wurde er 1948, im Jahr der Unabhängigkeit, mit dem Aufbau des Forstamts auf den Andamanen betraut.

Die abendlichen Gespräche der Teegesellschaft in Allahabad drehten sich um weit hergeholte Theorien, die den illustren Junggesellen mit den Anwesenden in Verbindung bringen sollten. Warum nur, fragten die Damen, hatte er sich auf die Andamaneninseln versetzen lassen, die man höchstens wegen verschleppter Freiheitskämpfer und nackter Ureinwohner kannte? Gerüchten zufolge gab es auf der Insel keine einzige Kuh, sodass man dort gezwungen war, den Tee schwarz zu trinken.

Chanda Devi, eine der Teetrinkerinnen, war erleichtert. Ihre Goldmedaillen in Mathematik und Sanskrit waren ihr im Wege wie ein Keuschheitsgürtel. Nur ein höher qualifizierter Mann würde es wagen, eine intelligente Frau zu ehelichen. Am allerliebsten hätte sie ja einen Baum geheiratet. Männer und Frauen missfielen ihr gleichermaßen, umso mehr, wenn sie Fleisch aßen, vor allem Rind. Doch im Jahr 1948 wurden auch Misanthropinnen verheiratet, und sei es nur, um ihre Sippe zu vergrößern.

Dem ausgemergelten, krummen Baba, der am Ufer des Sangam hockte – des Zusammenflusses von Ganges, Yamuna und der mythischen Saraswati –, fiel es zu, sie zusammenzuführen. Dort, an den sandigen Ufern, tummelten sich permanent Gläubige, die lauthals klagten, sangen und beteten und den ortsansässigen Fröschen damit vorgaukelten, es wäre das ganze Jahr über Paarungszeit.

Girija Prasads Mutter suchte, mit einem Ghunghat verschleiert, den Baba auf und bot ihm Bananen und eine Ringelblumengirlande dar. Sie bückte sich, um seine Füße zu berühren, und ihre Sorgen schwappten heraus. Ihr Sohn sei außergewöhnlich klug, außergewöhnlich qualifiziert und sehe einer außergewöhnlich strahlenden Zukunft entgegen. Außergewöhnlich attraktiv sei er außerdem. Er habe die Züge seiner Mutter geerbt und vom Vater nur das Kinn. Eine neugierige Gläubige fragte: »Wo liegt also das Problem mit deinem Sohn, Behenji?«

»Ich finde keine Frau, die seiner würdig wäre!«

»Aber wo liegt das Problem?«, wollte nun auch der Baba wissen.

Girija Prasads Mutter war kurz davor, sich zu wiederholen. Doch als sie den Baba lächeln sah, hielt sie inne. Heilige sprachen oft in Rätseln und Halbsätzen. Stillschweigend aß er eine halbe Banane, nahm die Girlande und warf sie in die Luft. Sie landete auf den Schultern der verdutzten Chanda Devi, die ganz in ihre Gebetshymnen vertieft gewesen war. Und so wurde beschlossen, dass der Mann, der Bäume studierte, und die Frau, die mit ihnen sprach, heiraten sollten.

»Aber Baba« – nun war es an Chanda Devis Vater, sich zu beklagen –, »meine Tochter spricht kein Englisch; sie ist strenge Vegetarierin. Und dieser Mann hat einen Doktor in englischen Pflanzennamen, und außerdem … außerdem … habe ich gehört, dass er Rindfleisch gegessen hat!«

Der Baba schälte eine weitere Banane. »Mein Kind, du siehst nur die Gegenwart«, sagte er und reichte dem Vater die Schale, wie zum Beistand angesichts metaphysischer Wahrheiten.

Eigentlich jedoch hatten die Inseln sie zusammengeführt. Chanda Devi hatte davon geträumt, sich aus der erdrückenden Enge ihres Hauses in die Gesellschaft der Bäume zu flüchten. Bei Girija Prasad war es ein bisschen komplizierter.

Mehr Entgegenkommen, als der umgebenden Andamanensee ihren Namen zu leihen, konnte man von den Inseln nicht erwarten. Die Hühner dort führten sich auf wie Tauben und hockten in den Mangobäumen. Schmetterlinge schliefen mitten im Flug ein und sanken zu Boden wie Herbstlaub. Asketische Krokodile meditierten an den Mangrovenufern. Auf den Andamanen fehlten den Spezies die Namen. Eine Ewigkeit war jeder Kolonisierungsversuch gescheitert, da ihr undurchdringliches Dickicht mehr barg als bloße Naturgeschichte. Es barg Stammesgesellschaften, die mit den ersten Migrationsbewegungen die Küste des Indischen Ozeans entlanggekommen waren. Menschen, die dem Nebel der Sprache das Gedankenlesen vorzogen und nichts am Leib trugen als primitiven Zorn. Nur mit Pfeil und Bogen traten sie der Syphilis der Zivilisation entgegen. Ihre Welt war eine gewaltige Insel, die nicht von der Schwerkraft, sondern von riesenhaften Schlingpflanzen zusammengehalten wurde.

Auf diesem knotigen Inselstrang hoffte Girija Prasad, sich seinen Traum zu erfüllen: ein Leben in Einsamkeit. Als unerschrockener Junggeselle und schlichtes Geschöpf der Wissenschaften waren alle Frauen für ihn Schwestern, Schwägerinnen oder Tanten. Er erkannte nicht, dass die Verlockung unberührter Wälder nicht bloß im Unerforschten lag. Sie enthielt auch die Möglichkeit vollzogener Vereinigung. Eines Tages wurde seine Welt von einem Erdbeben erschüttert. Sein Körper bebte, als er bei einer Waldexkursion einen Baum sah, der eigentlich aus zwei ineinander verschränkten Bäumen bestand. Ein Buddhabaum hatte sich um den Stamm eines zwanzig Meter hohen Andamanen-Padauks gewunden. Zum ersten Mal sah er zwei voll entwickelte Bäume in Koitalposition. Ihre Umklammerung versperrte den Blick zum Himmel. Parasitische Orchideen fanden Halt in der Verflechtung. Eine Wucherung weit oben am Stamm drängte sich mit ihrem beinah menschlichen Antlitz in seine Gedanken und ließ ihn glauben, dass die Bäume auch ihn anstarrten. Freiliegende klauenartige Wurzeln krochen wie bleiche Pythons über die Erde. Er spürte sie langsam näherkommen und vor seinen Zehen haltmachen. Als er so dastand, fühlte sich Girija Prasad wie eine rastlose Ameise, die vom Unmöglichen in Versuchung geführt wird.

Als sich seine Mutter also später auf die Suche nach einer Braut für ihn machte, leistete er keine Widerrede. Die Wissenschaft hatte ihn gelehrt, dass jede Schöpfung gleichermaßen männlicher und weiblicher Beteiligung bedarf. Und die Inseln verführten ihn mit der Schönheit des Ganzen.

Einen Monat nach Einsetzen des Monsuns sind die vier Wände und das Dach, die das Paar trocken halten sollen, bloß noch eine symbolische Geste, ein freundlicher Abschiedsgruß der Briten. Denn die Regenfälle sind tief in ihr Sein eingedrungen. Eine unsichtbare Wand ist eingerissen, und sie sind vollgelaufen mit Kuriositäten und Sorgen aus vergangenen Zeiten.

Noch bei seiner Ankunft hatte Girija Prasad an Halbwahrheiten wie »Kein Mensch ist eine Insel« geglaubt. Ein Jahr hatte es gedauert, bis er begriff, dass auch keine Insel eine Insel ist. Jede Insel ist Teil einer größeren geologischen Struktur, die alles Land und alle Ozeane der Welt miteinander verbindet. Keinen Kilometer von seinem Haus entfernt entdeckte er eine lebende Pflanze, die zuvor nur als Fossil aus Madagaskar und Zentralafrika bekannt war.

An dem Tag, der das Ende der Regenfälle und seiner Liebschaft mit Rindersteak besiegeln sollte, verbrachte Girija Prasad seine Arbeitsstunden mit Nachforschungen über die Vorgängerin aller Kontinente: Pangäa. Ein Superkontinent, eine einzige Entität, die zu all den Landstücken zerfiel, die es heute gibt – eine mögliche Erklärung für die Pflanze in der Nähe seines Hauses, denn der indische Subkontinent ist von Afrika abgebrochen und gegen Asien gekracht. Er hatte die vor ihm ausgebreitete Karte studiert. »Ein unmögliches Puzzle«, sagte er laut.

Für die Anstrengungen des Tages wurde er in der Nacht belohnt. Der Bauch Lateinamerikas schlief selig in der Einbuchtung Westafrikas. Das Puzzle fügte sich so wunderbar zusammen – Pangäa erwachte zum Leben. Was ihm tagsüber als zerbröckeltes, auseinandertreibendes Stückwerk erschienen war, erschien ihm nun als ein Lebewesen. Es entzückte ihn, wie sie die Arme weit ausstreckte, von Alaska bis in den Fernen Osten Russlands, wie sie den Kopf hob und zwischen den Polen auf den Zehenspitzen stand. Pangäa erblühte mit der Anmut einer Ballerina. Er war erregt. Doch als der Regenguss abrupt endete, wachte er davon auf. Allein mit seinen Grübeleien über einen halben Traum fragte er sich, warum die Kontinente überhaupt auseinandergetrieben waren. Wasser dringt in die Ritzen, ein Rinnsal wird zu einem Bach, aus Bächen werden Flüsse. Und dann gibt es kein Zurück.

Über Nacht lassen die Flüsse Risse erkennen, die nur durch Ozeane gefüllt werden können. Es liegt in der Natur des Wassers, die durch Spalten, Spitzen und andere unregelmäßige Symmetrien zerklüftete Leere aufzusaugen. Nur ein Narr würde in den Ufern der Kontinente, den Sandbänken und trockengefallenen Landflecken die Enden der ungebrochenen Wasserfläche sehen. Bestenfalls sind sie Unterbrechungen, Pausen. Oder gedankenloses Geschwätz. Inseln sind gedankenloses Geschwätz in einem meditativen Ozean.

Von seinem komfortablen Doppelbett spähte er hinab auf die Silhouette seiner Frau. Er fragte sich, was sich die Kontinente wohl gedacht hatten. Vielleicht träumte Pangäa von einem Dasein als Millionen von Inseln. Vielleicht träumten die Millionen von Inseln nun vom Einssein. Wie die Matrosen, die von verrückten Königinnen in albernen Anzügen losgeschickt wurden, entdeckten vielleicht auch die Kontinente, dass am Ende einer Welt die nächste beginnt.

Doch welchen Unterschied macht das, dachte er. Wüssten wir die Antwort, wir wären trotzdem einsam. Wie die Insel, auf der er lebte, war er zu weit auf dem Ozean, um die Richtung zu ändern. Nur Gott konnte ihm helfen, die Einsamkeit ihrer getrennten Betten zu ertragen. Einen kurzen Augenblick lang wollte der Atheist an Gott glauben.

Trotz seiner streng hinduistischen Erziehung war Girija Prasads Atheismus kein Akt der Rebellion. Er weitete lediglich seine Weltanschauung aus, so wie Pangäa ihre Arme streckte. Die müßige Schiffsreise zwischen England und Indien, Kolkata und Port Blair hatte ihn verändert. »Auf dem Deck zu stehen und über das Blaugrün nachzusinnen ist das, was dem Blick in die Unendlichkeit am nächsten kommt«, hatte er seinem Bruder geschrieben. »Allein im Angesicht der Unendlichkeit beschäftigt einen nicht das, woran man glaubt, sondern das, was man verworfen hat.«

Näher würden sie einander in dieser Nacht nicht kommen. In ihren Glaubensvorstellungen Kontinente voneinander entfernt, war Gott die unsichere Landbrücke zwischen ihnen.

Und der Teufel war in diesem Moment eine Ziege.

»Hörst du das?«, fragte sie. »Das Meckern?« Und Girija Prasad verlor seine Erektion, die neunundneunzigste in den ersten beiden Monaten ihrer Ehe.

Nicht, dass Girija Prasad über all seine verlorenen Erektionen Buch geführt hätte, doch das Phänomen war bald zum Symbol von Nervosität und nicht vollzogener Liebe geworden, so wie Rosen für die Liebe selbst standen, für die Bekanntgabe dieses unsichtbaren, intimen Dings, das zwei Menschen miteinander teilten.

Als Erwachsener hatte Girija Prasad noch nie mit einer Frau zusammengelebt und kannte den Wirbel, der damit einherging, sein Leben mit einer Dame zu teilen, nur aus seiner Vorstellung. Er räumte die Hälfte seines Kleiderschranks leer und überließ ihr die oberen Regale und Bügel. Nach Beobachtung der Gattinnen anderer Beamter wurde ihm jedoch bewusst, dass seine Frau womöglich verschiedene Saris für unterschiedliche Anlässe und dazu passende Armreife und Sandalen besaß. Entsprechend ließ er einen neuen Kleiderschrank aus burmesischem Teakholz anfertigen. Berauscht von der Schönheit eines Gesichts, das er erst noch erblicken würde, ließ er an der Schranktür einen Ganzkörperspiegel anbringen. Dann war da noch das Problem mit den Vorhängen. Er hatte keine. Die Frage nach der Privatsphäre war eine weibliche, außerdem hatte Girija Prasad gar keine Nachbarn, vor denen man sich hätte verstecken können. Also hängte er seine Lungis, die einzigen ausreichend großen Stoffbahnen in seinem Besitz, vor die Fenster.

Bevor er sich auf die schwierige und hoffnungsvolle Reise machte, die fast alle Tiere auf Partnersuche antreten, dachte er an sie. Zwar hatte er vorfreudig seinen Bau hergerichtet, doch wie konnte er ihr seine Dankbarkeit zeigen? Shakespeare und die Romantiker hatten ihn gelehrt, dass Frauen Rosen oder zumindest Vergleiche mit selbigen mochten, also bestellte er eine Kiste mit den schönsten Rosen, die er je gesehen hatte, von den fernen blauen Hügeln Kalimpongs. Einen Monat später, nach einer beschwerlichen Reise über Berge und Meer, wurden sie geliefert, und nur eine hatte überlebt. Als er die Kiste öffnete, sah er sich anstelle riesiger Rosen in leuchtendem Pink mit geschundenen Stängeln und welken Blütenblättern konfrontiert. Er erkannte darin ein Zeichen – eines, das von Unheil kündete. Er war fest entschlossen, den einzigen überlebenden Schössling gesundzupflegen. Er würde ihn in sein Arbeitszimmer stellen, um ihn vor der brennenden Sonne zu schützen – bloß die sanften Strahlen von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sollten ihn berühren –, und eine Tröpfchenbewässerung einrichten. Eine kürzlich erschienene Studie im Oxford Journal of Applied Aesthetics hatte nachgewiesen, dass Pflanzen westliche klassische Musik gern hatten, insbesondere Mozart, also schleppte er sein Grammofon ins Arbeitszimmer und installierte eine Dauerbeschallung, um sein Symbol der Liebe wiederzubeleben.

Als Girija Prasad mit seiner Frau zurückkehrte, war er verzückt, eine einzelne, mit dem Kopf nickende Blume vorzufinden, die ihm in verschiedenen Rosatönen entgegenblickte. Endlich war der Bungalow wirklich, wahrlich gut genug für seine Braut.

Girija Prasads Domizil, im Volksmund der Inseln als Goodenough-Bungalow bekannt, war in den 1930ern erbaut worden, um Lord Goodenough auf einer seiner Reisen zu beherbergen. Wie bei den meisten Würdenträgern waren die Gründe für seine Ausflüge in entlegene Ecken des Imperiums, insbesondere zu einer zukünftigen Strafkolonie wie den Andamanen, weitestgehend unbekannt. Nach zehn Jahren gescheiterter Anläufe und Standortwechsel waren das Gefängnis und die Hauptverwaltung endlich fertiggestellt worden. Zwei von drei Arbeitern, überwiegend Gefangene, waren beim Bau ums Leben gekommen – durch die Pfeile von Stammesangehörigen, Tausendfüßlerbisse, Krokodilangriffe, den Strick, Folter und das gute alte Heimweh –, und ihre Überreste würden in den Steinmauern vergehen. Ihr Tod war für das Weltreich kein Verlust.

Die isolierte Lage des Archipels spornte die Fantasie der Kolonisatoren an und ließ sie ausgeklügelte Foltermethoden entwickeln, bestimmten Methoden wurden sogar ganze Inseln gewidmet. Auch Lord Goodenough inspirierten sie zu größeren Taten, als das Mauerwerk zu inspizieren und mit den Einheimischen zu tanzen. Ein heimliches Begehren trieb ihn dazu, den neuesten Erwerbungen des Rajs einen Besuch abzustatten. Es war der Wunsch zu benennen. Sein Name hatte ihn schon früh gezwungen, sich einen Sinn für Humor anzueignen, und er hatte ein Leben lang nur darauf gewartet, ihn auf nichtsahnende Kreaturen, Gegenstände und Gegenden loszulassen. In der öden Behaglichkeit seines Herrenhauses hatte der Lord die Entwicklungen im Indischen Ozean mit seinen Anhäufungen krummer Inselchen genau im Blick. Inseln sind, das weiß man intuitiv, die perfekte Leinwand, um sich in der Kunst der Nomenklatur zu üben. Die große Abgeschiedenheit würde früher oder später dafür sorgen, dass Spezies endemisch wurden und eines unverwechselbaren Namens bedurften. Die einzigen Ausnahmen von dieser Regel waren die Briten selbst. Sie brachen reihenweise Naturgesetze, indem sie ihre eigene Insel verließen und sich auf anderen fortpflanzten, ohne dabei irgendwelche ihrer ursprünglichen Merkmale einzubüßen – bloß der Verstand kam ihnen dabei abhanden.

Lord Goodenough glaubte, dass Eigennamen mit Sprachen Hochzeit halten sollten, wie auch Kolonisation verschiedene Kulturen dazu zwang. Wenn er in eine noch unentdeckte Bucht segelte, während er auf seinem luxuriösen Schiff sein Frühstück einnahm, taufte er sie Breakfast Bay, und die umgebenden Landestellen nannte er Marmaladeganj, Baconabad und Crumpetpur.

Eine Woche hatte der Lord in dem Haus verbracht, das nun Girija Prasad bewohnte. Es stand auf einer eindrucksvollen Bergspitze, die einst eine beliebte Wegkreuzung von Stammesangehörigen auf dem Weg von West nach Ost gewesen war, bis politische Gefangene gezwungen worden waren, zu dem bedrohlichen Knallen von Luftschüssen das Dickicht niederzumetzeln. Der Bungalow war auf Stelzen errichtet worden, um schweren Regenfällen und Erdbeben standzuhalten. Auch ein drei Geschosse aufragender Hochsitz wurde gebaut. Aus dieser schwindelerregenden Höhe erspähte Lord Goodenough, was zu erspähen ihm seinen Platz in der Geschichte sichern würde.

Durch seinen Feldstecher sah er eine Gruppe nackter Stammesangehöriger mit wesentlich größeren Brüsten und Hintern als bei allen anderen bisher erfassten Gruppen. Abgelenkt von ihrer üppigen Ausstattung übersah er den zusätzlichen Daumen, den sie allesamt besaßen. Wochen würde Lord Goodenough mit der Suche nach dem perfekten Namen für sie zubringen, der schlicht, jedoch der Pracht dieser Hintern und Brüste angemessen sein sollte.

Viel später, auf der Heimreise, als er im Speisesaal des Schiffs saß und seinen Speck in sechs gleiche Teile schnitt – ein morgendliches Ritual, das er inmitten der Langeweile auf hoher See als therapeutisch empfand –, kam ihm die Idee. Gefangen in seinen kindlichen Allmachtsfantasien, brachte der Name ihn näher zu Gott. Und so kam es, dass die sechsfingrigen Angehörigen des gefährlichsten Stammes auf den Inseln The DivineNangas getauft wurden oder die »Göttlichen Nackten«, wie das Oxford Dictionary später übersetzte.

Fünf Jahre nach Lord Goodenoughs Besuch auf den Andamanen würde ein Erdbeben alle Kolonialbauten verhöhnen und die Insel, auf der sich die Hauptverwaltung der Briten befand, mitten entzweireißen. Auch der Goodenough-Bungalow würde abstürzen und der Hochsitz vom Berg rutschen wie auf einer Bananenschale. Das Erdbeben war Vorbote größerer Katastrophen, allen voran des Zweiten Weltkrieges.

Im Krieg würden die Andaman-Inseln als erste ihre Unabhängigkeit von den Briten ausrufen, nur um gleich darauf von den Japanern erobert zu werden. Während die Weißen mit Gabel, Messer und Löffel aßen, benutzten diese kleinen Leute nur zwei Stäbchen. Diese Schlichtheit des Denkens spiegelte sich auch in ihren Foltermethoden. Warum jemanden in Ketten legen, wenn man ihm einfach Beine und Hände verdrehen konnte, bis sie brachen? Warum jemanden hängen, wenn man ihn mit einem effizienten Schwerthieb enthaupten konnte? Und warum die Einheimischen zur Abgabe ihrer Erzeugnisse zwingen, wenn man sie weit draußen im Meer ertränken konnte, um die Lebensmittelknappheit zu beenden?

Während die Briten in dem zerstörten Bungalow nichts sahen als ein über die Wiese verstreutes Kartendeck, erkannten die Japaner darin eine Chance. Wie ein professioneller Falschspieler, der eine neue Runde austeilt, setzten sie das Haus wieder zusammen, ernannten es zu ihrer Hauptverwaltung und errichteten Bunker auf den umliegenden Hängen. Sie setzten die in Malaysia beheimatete, sehr proteinreiche Riesenschnecke auf den Inseln aus. Als britische Schiffe die Inseln umstellten und die Versorgungsrouten abschnitten, wurde die Schnecke zu ihrer Retterin, ein griffbereiter Imbiss, den man nicht einmal salzen musste. Zehn Jahre später war außer baufälligen Bunkern von den Schneckenfressern nichts mehr übrig. Die Schnecken vermehrten sich rasant und wurden zu einer üblen Gartenplage, nur noch übertroffen von dem durch die Briten zu Jagdzwecken ausgesetzten Muntjak.

Als das Blatt sich zugunsten der Alliierten wendete, rief Lord Goodenough einen neuen Ausschuss im Oberhaus zusammen, um die Inseln wieder ins Spiel zu bringen. Doch die Freude über den gewonnenen Zweiten Weltkrieg war kurzlebig wie die Morgendämmerung. Denn die Sonne über dem Britischen Weltreich war untergegangen. Von nun an würden die Andamanen zum unabhängigen Indien gehören. Lord Goodenough konnte nicht umhin, sich betrogen zu fühlen. Trotz seiner Position als einflussreicher Aristokrat in der größten Kolonialmacht, die es je gegeben hatte, blieb ihm die Rückkehr an den Ort, wo Gott am nächsten gewesen war, verwehrt.

Die Schneckenfresser verhungerten, die Sahibs traten den Rückzug an, und die Inseln waren beinahe zwei Jahre lang Niemandsland. Zu dieser Zeit ernannten sich vier Jugendliche von den Karen, die von den Briten zur Bestellung der Felder aus Burma geholt worden waren, zu Alleinherrschern über das Land und machten den Goodenough-Bungalow zu ihrem Palast. Sie verbrachten die Abende auf der Veranda, verzierten das Porträt von King George auf den britischen Rupien mit Schnurrbärten und verarbeiteten Tischtücher zu Flaggen. Stundenlang diskutierten sie über das Nationalsymbol der Freien Inseln. Sollte es der fiese, 30 Zentimeter lange Tausendfüßler sein oder doch eher die kleine, sanfte Salangane, die Nester aus ihrer eigenen Spucke baut? Im Jahr 1948 wurde die Forstbehörde zum einzigen Außenposten der neu gegründeten Nation auf den Inseln, wie eine ausgefranste Flagge, die über einem heimtückischen Berggipfel flattert.

Als Girijad Prasad, der nichts von alledem wusste, seinen Umzug in den Goodenough-Bungalow beschloss, so tat er dies aus denselben Gründen, die auch die Göttlichen Nangas, die Briten, die Japaner und die Karen dazu bewogen hatten. Von dem Gipfel aus konnte man die Sonne auf einem trügerisch blauen Meer glitzern sehen. Man fühlte sich dort wie der König der Welt.

Und während Girija Prasad überlegte, seine Braut zu sich zu holen, hatte Lord Goodenough die Weiterreise ins Auge gefasst. Im Geheimen plante er eine Reise entlang der Pazifischen Inseln. Während das Paar die ersten Monate nach der Hochzeit im vielschichtigen Kokon des Sturms verbrachte, setzte der Lord seine Reise zu Gott fort. Auf seiner Pazifikfahrt ging ihm auf, dass alle Namen, wie einzigartig und neu sie auch sein mögen, letztendlich Synonyme einer so universellen wie flüchtigen Wahrheit sind. Das Wesen des Lebens, der Kampf ums Überleben, bleibt unveränderlich, egal, wie viele Finger ein Geschöpf besitzt.

Bald darauf starb er.

Sie machte alle, die den Bungalow ihr Zuhause nannten, ob tot oder lebendig, nervös. Wie der Junggeselle Girija Prasad war auch das Haus ein wenig wacklig auf den Beinen. Ihre Anwesenheit irritierte die Geister der Freiheitskämpfer, die ewig verhungernden Schneckenesser und auch Lord Goodenough selbst, der, den warmen Strömen nachjagend, zwischen dem Pazifik, den Andamanen und seinem Familiensitz umherzog.

Das Leben als Geist war eine Befreiung gewesen, bis Chanda Devis hellsichtiger Blick ihnen ihr zerschlissenes Auftreten und ihre ungehobelten Manieren vor Augen führte.

»Es gehört sich nicht, das Schlafzimmer einer Dame zu betreten«, warnte der Lord den Panjabi-Aufrührer, der sich gern auf dem Bett räkelte wie ein Hund. »Und Sie da besorgen sich wohl besser eine neue Uniform. Sie sind wohl bei einer Explosion umgekommen, die ihnen das Hirn aus dem Schädel und die Kleider vom Leib gepustet hat, doch die Dame wird fassungslos sein, wenn ein nackter Mann durch ihren Garten spaziert, vor allem einer, an dem alles so winzig ist«, wies er den japanischen Soldaten zurecht. Dieser verstand jedoch kein Englisch. Also war Lord Goodenough so frei, ihm selbst die britische Flagge um die Hüften zu wickeln.

Erst war der Soldat verwirrt. Dann empfand er Dankbarkeit.

Nur zur Teestunde sind die beiden gezwungen, einander gegenüberzusitzen. Chanda Devi gehen die Dinge aus, die sie servieren könnte, und sie muss sich selbst zum Stillsitzen ermahnen. Der Bungalow beherrscht diese Kunst zur Genüge. Er hat Stürme, Erdbeben und Kriege überdauert, indem er sich auf seinem stecknadelkopfgroßen Gipfel einfach nicht von der Stelle rührte. Im Garten zu sitzen und zuzusehen, wie die Sonne wie eine Hibiskusblüte hinter dem smaragdgrünen Archipel versinkt, verunsichert das Paar. Es zwingt sie, in die Abgeschiedenheit der Gedanken, Sorgen und Visionen einzutauchen. Dennoch fühlen sie sich nicht einsam.

»Alles ist aus einem bestimmten Grund hier.« Er versucht, den Bann zu brechen, und zeigt auf den Garten. »Das Zitronengras, aus dem du den Tee aufgebrüht hast«, sagt er und nimmt einen kleinen Schluck aus der Tasse, »habe ich gepflanzt, damit die lose Erde nicht vom Hang rutscht und es in der Regenzeit nicht zu Sturzfluten kommt.« Sie lächelt. Er fühlt sich ermutigt. »Die Zitrone genauso …«, fährt er fort. »Eine Zitrone wertschätzen heißt die Weisheit der gesamten Schöpfung wertschätzen. Im Dschungel kann man sie über festsitzenden Blutegeln ausdrücken, und diesie schrumpfen sofort zusammen. Man kann Stiche und Wunden damit desinfizieren. Und wenn man dehydriert ist, gibt es nichts Belebenderes als eine ganze Zitrone, vor allem die Schale.«

Nun errötet sie. Ihre Wangen leuchten rosa wie der Rosenstrauch vor ihnen. Er ist verblüfft. Wie kann es angehen, dass die launenhafte Dame zur schüchternen Braut wird, sobald er von Zitronengras und Zitronen spricht? Eine peinliche Stille macht sich breit, also wiederholt er sich. »Ich habe alles hier im Garten selbst angepflanzt. Alles ist aus einem bestimmten Grund hier.«

»Danke«, platzt es aus ihr heraus. »Die Rosen sind wunderschön. Ohne deine Willenskraft hätten sie nicht überlebt.«

Nun ist es an ihm, zu erröten.

Erst viel später, als er in seinem Arbeitszimmer die Stunden vertrödelt, wundert er sich. Wie kann sie das wissen? Bei ihrer Ankunft hatte sich die Rose doch schon erholt.

Die Tage bringen einen neuen Himmel zur Welt, in dem sowohl die Sonne als auch der Regen ihren Platz finden. Unter dem heiteren Blick des späten Vormittags benetzt ein schwacher Nieselregen die Inseln unaufhörlich und lässt, wo er niedergeht, Pilze und Schwämme sprießen, auf Rinde wie auf Haut. Es ist einer jener Tage, an denen man in den Himmel schaut und hofft, einen Regenbogen zu entdecken. Die Luft ist schwer und das Herz noch schwerer.

Das Phänomen, wenn grelles Sonnenlicht und Regentropfen wie bunter Sand im selben Stundenglas hinabrieseln, nennt man »Hochzeitsstunde«. In verschiedenen Kulturen, abhängig von den Längen und Breiten, in denen die Erzählenden zu Hause sind, von ihrem Gemüt, ihren Träumen und Essgewohnheiten, sind gewisse Lebewesen dann gezwungen, sich zu binden – Füchse, Schnecken, Affen, Raben, Leoparden, Hyänen, Bären und manchmal auch der Teufel. Denn auch die Hölle ist von den häuslich Gewordenen erbaut worden. Die Junggesellen mögen die Welt am Laufen halten, doch die Verheirateten sorgen für die Bodenhaftung.

Auf den Inseln gehört die Stunde der Sonne und des Regens einem anderen. Ganz abseits folkloristischer Ehebündnisse wird sie von den Riesentausendfüßlern beherrscht. Die Klauen der dreißig Zentimeter langen Kreaturen können einen Menschen der Wirklichkeit entreißen und in den Augenblick zurückversetzen, da er brüllend aus dem Schoß seiner Mutter kam. Die Tausendfüßler haben kein Interesse daran, sich zur Ruhe zu setzen, schon gar nicht, was die Menschen angeht. Die Inselbewohner wissen das, denn sie alle sind schon gebissen worden.

Die Wirbellosen kriechen aus ihren lichtlosen unterirdischen Schlupflöchern und wollen nichts anderes, als in der Sonne zu baden und sich an den wimmelnden Insekten zu laben, die nach den ersten Regenfällen tanzen. Doch Menschen, die besessen sind von mythischen Vereinigungen, können ein so schlichtes Begehren nicht nachvollziehen. Wenn jemand ihnen zu nahe kommt, beißen sie aus Angst zu. Und die Kluft wird tiefer. Menschen: Gebranntes Kind scheut das Feuer. Tausendfüßler: Scheues Kind brennt wie Feuer.

Girija Prasad sitzt auf den Stufen seiner Veranda und ist ganz damit beschäftigt, seine Zehen zu sonnen. Oft entdecken die Forstbeamten Schimmelpilze zwischen ihren Zehen, wenn sie ihre schweren Stiefel ausziehen. Das ist sein schlimmster Alptraum. Als Akademiker durch und durch kann er sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als selbst zum Untersuchungsobjekt zu werden. An diesem Morgen jedoch dient das Ritual als Vorwand, um draußen zu sitzen und seiner Frau bei der Gartenarbeit zuzusehen.

Chanda Devi ist hinten im Gemüsebeet und erntet die Mahlzeiten des Tages im Nieselregen. Sie ist ein Inbild von Anmut und Ausgeglichenheit. Wie sie so dahockt, scheint ihr üppiges Gesäß, das gewagt, weil frei schwebend in der Luft hängt, ihren Schwerpunkt darzustellen. Sie hat einen Regenschirm zwischen Schulter und Wange eingeklemmt und lässt beide Hände durch die Gewächse streifen.

Sie pflückt Tomaten mit derselben Intensität, mit der sie ihm die Haare kämmt, die Mahlzeiten serviert und über die ungepflasterten Hänge der Insel schreitet. Sie macht ihn nervös. Er zieht die Kraft seiner eigenen Hand in Zweifel, wenn er sie ihr reicht. Er stellt die Potenz seines Appetits infrage, wenn er das fünfte Roti, das sie ihm auf den Teller legt, nicht aufessen kann.

Während er ihr zusieht, wird das Inbild all seiner Sehnsüchte von einem Schlag getroffen. Mit einem Mal liegt Chanda Devi auf dem Boden. Seine Frau ist in den Schlamm gestürzt. Sie hält den Schirm wie einen Schutzschild vor sich und wehrt etwas mit ihren Händen ab.

Barfuß läuft er zu ihr. Er befürchtet, dass sie einen Tausendfüßler gesehen hat oder, schlimmer noch, von einem gebissen wurde.

»Wo ist er?«, ruft er. »Keine Angst, ich töte ihn!«

»Wen tötest du?«, fragt sie verdutzt. Sie braucht die angebotene Hand nicht, um aufzustehen, und wischt den feuchten Matsch von ihren Ellenbogen.

»Den Tausendfüßler!«

»Wo?«

»Wo hat er dich gebissen?«, fragt er und hat es eilig, sie in den Bungalow zu holen, damit er eine Zitrone über der Wunde auspressen kann, bevor der Schmerz ihr das Bewusstsein raubt.

»Ich wurde doch gar nicht gebissen.«

Ungerührt wendet sie sich wieder dem Tomatenpflücken zu. Warum muss er bloß immer vom Töten reden, fragt sie sich.

Er bleibt still stehen, wie im Schock. Bei ihrem Sturz hatte sie eindeutig so gewirkt, als wäre ihr etwas passiert. Er kann es sich nicht eingebildet haben, da er den Blick ja keine Sekunde von ihr abgewendet hat. Irritiert kehrt er zur Veranda zurück. Er gibt es auf, seine Zehen zu sonnen, und geht hinein. Das Schiff, das an diesem Morgen angekommen ist, hatte eine wichtige Sendung für ihn an Bord – eine Fachzeitschrift, die eine Karte der hypothetischen Pangäa enthält, eine Erscheinung, die zu sehen er kaum erwarten kann.

Doch die indische Post, die große Zauberkünstlerin, hatte sich von seinen Finten nicht beirren lassen. An seinem Schreibtisch aus Andamanen-Padauk muss er feststellen, dass alle Seiten der Zeitschrift zu einem baumrindenartigen Gefüge verklebt sind. Er nimmt es in die Hand, um an dem Corpus Delicti zu schnuppern. Allem Anschein nach hat doch tatsächlich jemand Milch über seinem Paket verschüttet. Eine Dose Kondensmilch, um genau zu sein. Auf einer milchlosen Insel wie dieser werden solche Dosen mit Gold aufgewogen. Fest entschlossen und bewaffnet mit einem Brieföffner versucht Girija Prasad, die Seiten eine nach der anderen voneinander zu lösen, eine mühsame und schwierige Tätigkeit, die womöglich seinen gesamten Vormittag in Anspruch nehmen wird.

Selbst innerhalb der unerklärlichen Welt seiner Frau ergibt der Vorfall im Garten keinen Sinn. Vielleicht schämt sie sich zu sehr, um ihm die Bisswunde zu zeigen, mutmaßt er. Vielleicht war es irgendein anderes Insekt, kein Tausendfüßler. Vielleicht ist die Gemüseernte für sie traumatisch, weil sie tötet, woraus Pflanzen und Bäume hätten werden können. Wahrscheinlich sollte er sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, sagt er sich. Die meisten Frauen sind überempfindlich, was seine Frau zu einer typischen Vertreterin ihrer Spezies macht.

Je häufiger er die weibliche Spezies aus der Entfernung beobachtet, desto mehr gewinnt diese These an Glaubwürdigkeit. Als Jugendlicher in Allahabad nahm Girija Prasad jene Momente genau wahr, in denen das Publikum während der Nacherzählungen von Tulsidas’ Ramayana am meisten weinte. Die Männer waren gezwungen, ihre Tränen als Niesen und sonstige Beschwerden zu maskieren, während die Frauen ermutigt wurden, ihre Tränen zu einer theatralischen Darstellung ihres Glaubens zu machen, wobei er nie wirklich verstanden hatte, wie der richtige Zeitpunkt dafür bestimmt wurde. Zwar leuchtete ihm ein, dass einen die Gefühle überwältigten, wenn Sita nach der ritterlichen Entführung durch den zehnköpfigen Ravana mit ihrem Ehemann Prinz Rama wiedervereint ist oder wenn sie von ebenjenem Ehemann aus dessen Reich verbannt wird, weil dieser einer Waschfrau irgendetwas Nebensächliches beweisen will, doch der Zeitpunkt ihrer heftigsten Ausbrüche war durch nichts zu erklären. Sie fanden statt, nachdem das Buch zugeschlagen worden und die Erzählung für den Tag beendet worden war. Die Frauen weinten ohne Sinn und Verstand.

Draußen ist Chanda Devi erleichtert, wieder für sich zu sein. Das eben war gerade noch einmal gutgegangen. Mit ihrem Schirm hat sie den ausgezehrten, in eine Flagge gehüllten Geist abgewehrt, der ihr im Beet nachgestellt, auf Schnecken gezeigt und einen Affenzirkus veranstaltet hatte. Mit zu Essstäbchen umfunktionierten Zweigen deutete er an, sie solle das Schneckenhaus aufbrechen und das weiche Fleisch für ihn herausholen, und rieb sich energisch den Bauch. Der Soldat hatte wohl gehofft, dass der Tod ihn vor dem wochenlangen Hunger retten würde. Doch er wird auch im Nachleben noch von ihm geplagt. Obwohl er von fetten Schnecken umgeben ist, kann der japanische Soldat kein einziges Gehäuse knacken, um das Fleisch mit seinen schwachen Fingergliedern und brüchigen, glasartigen Nägeln herauszupulen. Er fleht Mrs. Varma um Hilfe an. Wie auch der aufständische Panjabi, der am Esstisch neben ihrem Mann gesessen und darauf bestanden hat, die heißen Malpuas zuerst serviert zu bekommen, vor »diesem Verräter, der spricht und sich kleidet wie ein Brite«.

Nicht sie ist hier verrückt. Das Haus, in das ihr Mann sie gebracht hat, ist die reinste Irrenanstalt. Doch sie fürchtet sich davor, ihm ihre missliche Lage mitzuteilen. Männern behagt es nicht, wenn ihre Frauen Umgang mit anderen Männern pflegen, insbesondere wenn es sich um nackte, verzweifelte Fremde handelt.

Während Chanda Devi das Gemüse erntet, wäscht, klein schneidet und es mit frischgebackenen Rotis anrichtet, löst Girija Prasad alle Seiten der Zeitschrift, eine nach der anderen, voneinander und blickt der neuen Hypothese seiner Existenz entgegen: Unter dem Einfluss von Milch und salzigem Wind ist Pangäa zu einem riesigen bunten Fleck geworden, der den weiblichen Genitalien ähnelt.

Chanda Devi weiß, dass sie ihn ablenkt. Man erkennt es daran, wie er in ihrer Gegenwart zu zappeln beginnt, rastlos mit dem Bein wippt. Sie weiß, dass sie ihn nervös macht. Sie kann es an seinem Schweiß riechen, denn sie schnuppert täglich an seiner Wäsche. Seine Strümpfe riechen nach Hufen. Seine Hemden haben einen schweren, erdigen Duft, nach Laub, Gras und Früchten, die durch die Bewegungen von Tieren, durch Regen und Wind in die dunkle Erde gestampft wurden. Trotz der angenehm kühlen Nächte hängt ein Geruch nach nervösem Schweiß und tropischer Feuchtigkeit in den Laken.

Nun ist ein neuer, tödlicher Duft dazugekommen, ausgehend von einem einzigen Tropfen Mangosaft, der am Vorabend auf seinen Ärmel gefallen ist. Ein Schiff vom Festland hat eine Kiste feinster Mangos gebracht, die ihr Mann vom anderen Ende Indiens, von den roten Böden der Westküste, für sie bestellt hatte. Im Juni ist die ganze Nation mit Mangos beschäftigt, von der Südspitze bis hinauf zu den Rändern Zentralindiens. Und Girija Prasad ist begierig, von der königliche Vielfalt der Mangos zu kosten, insbesondere nach der Umbenennung. Die ehemals nach einem portugiesischen General benannten Alphonso-Mangos wurden von den neu gewählten Volksvertretern in Shivahi-Mangos umgetauft, nach dem Lokalhelden, der tapfer allen Eindringlingen trotzte. Chanda Devi ist gerührt. Sie wäscht die Mangos, trocknet sie ab und stellt sie in Glasschüsseln aus wie einen Tafelaufsatz.

Sie sieht zu, wie er sich die Serviette als Latz in den Kragen steckt, die Ärmel aufkrempelt und die Mango mit Messer und Gabel bearbeitet, um sie geschickt in Würfel zu zerteilen. Dennoch rollt ein verirrter Tropfen an der Gabel entlang auf seinen Ärmel. Wäre sie allein, sie hätte den Strunk abgebissen, die Schale mit den Fingern abgezogen und ihre Zähne in die bloße Frucht gegraben, ganz ohne ihren Sari zu beflecken. Doch seine Anwesenheit macht sie verlegen, also stochert sie stattdessen nach den Würfeln, die er geschnitten hat.

»Als ich zum letzten Mal so eine gegessen habe, hieß sie Alphonso. Jetzt ist es eine Shivahi«, sagt er. »Wer hätte gedacht, dass nach der Unabhängigkeit sogar Mangos ihre Identität wechseln.«

Chanda Devi, geschult in der Direktheit der Sanskrit-Dichtung, hat kein Ohr für die englische Obsession, durch Witz überlegenen Intellekt auszustellen. Sie fasst die Bemerkung ihres Mannes in aller Ernsthaftigkeit auf.

»Wir sind die Kinder der Erde, doch sie sind die Frucht«, sagt sie. »Sie sind empfindsamer. Veränderungen in der Regierung, Angriffe auf ihren Glauben, all das rührt sie zutiefst, mehr noch, als es bei Heuschrecken oder Würmern der Fall ist.« Sie spürt sein Befremden. »Wenn ich hinduistisches Obst und Gemüse esse, fühle ich mich weniger schlecht«, fährt sie fort. »Nicht wie bei muslimischen oder christlichen Früchten, die ja nur einmal leben.«

»Doch alle Wesen müssen sterben, ungeachtet ihrer religiösen Überzeugungen«, erwidert Girija Prasad. »Muslimische Mangos können am Tag des Jüngsten Gerichts auf eine Wiederauferstehung hoffen, so wie christliche Mangos sich auf den Himmel freuen können. In allen theologischen Diskursen kommt dem Menschen nur die Spekulation, nicht aber das Urteil zu. Nur das Subjekt dieser Bemühungen – die formlose, geschlechtslose Allmacht – hat dieses Privileg.«

Indem er die muslimischen Mangos verteidigt, tritt Girija Prasad für sich selbst ein, insbesondere für die Ernährungsgewohnheiten, die aufzugeben er gezwungen war.

Obwohl sie völlig gefasst wirkt, reißt eine Flutwelle der Empfindungen Chanda Devi mit sich und lässt sie nicht wieder an die Oberfläche kommen. Mag sein, dass er die Geister neben ihm nicht sieht, dass er sich nicht an die Male erinnert, als sie sich in ihren vorherigen Leben eine Mango teilten, doch auch er sieht Dinge, die ihr verborgen bleiben.

Später am Tag, als ihr Mann sie im Goodenough-Bungalow mit den Geistern allein lässt, schließt Chanda Devi die Tür zu ihrem Schlafzimmer, um ungestört zu sein. Die Geister sind altmodische Charaktere, niemals würden sie ein Zimmer betreten, wenn die Tür verschlossen ist, oder durch zugezogene Vorhänge spähen.

Nun ist sie für sich und holt die Mangoschale hervor, die ihr Mann vor einer halben Stunde so sorgfältig abgelöst hat. Sie erinnert sich an das leuchtend orangene Fleisch, das sie geteilt haben. Sie streicht mit den Fingern über die Schale, reibt sie immer wieder, um im Anschluss daran zu riechen. Innen faserig und nass, außen glatt, schimmernd und duftend. Ob Menschenhaut sich auch so anfühlt?

Als Achtjährige hatte Chanda Devi ihre Mutter einmal gefragt: »Ma, wie kommen die Babys auf die Welt?« Ihre Mutter wurde rot. Sie rügte ihre Tochter und sagte, sie solle diese Frage nie wieder stellen, schon gar nicht ihrem Vater.

Verloren und allein mit ihren Sorgen suchte Chanda Devis Mutter den Baba am Flussufer um Rat auf. Zu jener Zeit galt er noch als jung, er war erst 102.

»Baba«, sagte sie, nachdem sie ihm Früchte und Blumen dargeboten hatte, »meine kleine Tochter stellt mir anstößige Fragen. Neulich … wie soll ich es sagen? Ich schäme mich, ihre Frage auch nur zu wiederholen.« Sie richtete ihren Sari, um ihr Haar zu bedecken, und sah sich um, ob auch niemand lauschte. »Wie kommen die Kinder zur Welt, hat sie gefragt. Als Mutter kann ich sie ja nicht aufgeben. Aber wer wird sie heiraten, Baba, wenn sie weiterhin solche Fragen stellt?«

Der Baba war ganz darin vertieft, die Blumen und Früchte nach Größe zu sortieren. Eine der Ringelblumen war tatsächlich höher als ein Apfel. Das brachte ihm zum Lächeln.

»Beti«, erwiderte er, »wir befinden uns im Kali-Yuga, dem Zeitalter des Bösen und der Sittenlosigkeit. Männer und Frauen müssen nichts weiter tun, als sich an den Händen zu fassen, um Kinder zur Welt zu bringen! Es kommt eine Zeit« – seine Augen weiteten sich, und die Kraft der Weissagung ließ seine Stimme erbeben – »da werden sich Jungen und Mädchen vor der Hochzeit an den Händen halten! In aller Öffentlichkeit werden sie die Hände von vielen Jungen und Mädchen halten! Ein jeder wird es sehen können!«

Obgleich es ihrer Notlage keine wirkliche Abhilfe schuf, kehrte Chanda Devi nach Hause zurück und ermahnte ihre Kinder, nie, wirklich niemals jemanden des jeweils anderen Geschlechts vor der Hochzeit an den Händen zu fassen.

Erschöpft davon, sechs Kinder großzuziehen, hatten die Worte des Babas sie insgeheim erleichtert. An der Frage ihrer Tochter hatte sie vor allem ihre eigene Unwissenheit gestört. Sie selbst hatte nicht gewusst, wie die Kinder auf die Welt kamen. Doch nun gab es Hoffnung. Sie vermied es, ihren Mann bei der Hand zu nehmen, insbesondere, wenn er auf ihr lag.

Obwohl sich in Chanda Devis Leben viel getan hatte, seit sie ihrer Mutter diese Frage gestellt hatte, kennt sie die Antwort noch immer nicht. Nach drei Monaten Ehe ahnt sie, dass mehr dazu gehört als Händchenhalten. Warum sonst bekommt sie in seiner Gegenwart nicht nur an den Händen, sondern am ganzen Körper eine Gänsehaut?

Ihren Mann, den versierten Wissenschaftler, treiben die größeren, unerforschten Fragen der Zeit um. Obwohl nichts darauf schließen lässt, dass Homo sapiens eine Paarungszeit hat, gibt es die Beweislage auch nicht her, eine solche auszuschließen. Die mangelnde Klarheit in dieser Angelegenheit bringt ihn in eine Zwangslage. Das tropische Klima verstärkt die Ambiguität noch. Sogar die Tiger mit ihrem eindeutig festgelegten Paarungsverhalten – das mit einem Brüllen der Tigerin zur Erregung von Aufmerksamkeit beginnt und oft mit einem Prankenhieb gegen den Partner endet – finden die tropische Hitze verwirrend. Eine Studie hat gezeigt, dass Panthera tigris in gemäßigten Zonen saisonbedingt läufig wird, in den Tropen jedoch ganzjährig Paarungen dokumentiert sind.

Wenn doch bloß auch die Menschen läufig werden und wie andere Säugetiere ihre Paarungsbereitschaft durch bestimmte Verhaltensweisen, Farben oder Geräusche anzeigen würden, dann müsste Girija Prasad seine Tage nicht damit zubringen, Däumchen zu drehen und über Theologie und Mangos zu schwadronieren.

Das entsetzlich beschränkte Gesellschaftsleben auf den Inseln wurde durch Mrs. Varmas Anwesenheit kräftig aufgewirbelt. Bei Zusammenkünften ist sie ein beliebter Anlass für Spekulationen, sehr zur Erleichterung der Beamten und ihrer Ehefrauen. Vor ihrer Ankunft hatte sich der größte Skandal auf der Insel darum gedreht, dass der Hund des Postsekretärs sich losgerissen hatte, um der Promenadenmischung des Doktors nachzujagen, woraufhin der Sekretär den Doktor beschuldigte, seinen stattlichen Labrador absichtlich weggelockt zu haben, um sich ein weiteres Haustier zu beschaffen, woraufhin der Doktor ihm Tierquälerei vorwarf, denn warum sonst habe der Hund wohl abhauen wollen? So anzüglich die ganze Episode auch sein mochte – immerhin kamen ein Fluchtversuch, Folter, die Post und ein Patt darin vor –, für wie viele ihrer geschwätzigen Abende würde sie noch reichen?

Mrs. Varma ist ein Segen für ihr langweiliges Leben. Sie verblüfft sie. Sie mag nicht in Oxford gewesen sein wie ihr Mann, doch in ihren Augen übersteigt ihre Bildung die seine bei Weitem. Sie hat Sanskrit studiert, die Sprache der Götter, und ist Expertin für hinduistische Schriften. Sie erzählen sich, ihr göttliches Können sei so geartet, dass sie die astrologischen Positionen von Planeten berechnen und gleichzeitig auf dem Markt die Einkäufe erledigen könne. Einmal habe sie sogar einen Verkäufer dabei ertappt, wie er ihr zwei Paisa zu viel berechnete. »Der Mond im Krebs macht die Menschen angreifbar«, soll sie gesagt haben, »doch deshalb kann man sie noch lange nicht betrügen.«

Ihre überzeugende Aura bringt manche in die Versuchung, sich vor ihr zu verneigen und auszurufen: »Die Göttin, die Göttin ist gekommen!« Doch sie fürchten, sie könnte sie verscheuchen wie dahergelaufene Köter.

Bei gesellschaftlichen Anlässen legt das Paar einen dramatischen gemeinsamen Auftritt hin. Sie weicht nicht von seiner Seite, wenn er sich zu den Herren gesellt und mit ihnen wichtige Themen bespricht, zum Beispiel die Auswirkungen der Inflation auf die subventionierten Rationen auf den Inseln oder das Wetter. Genauso wenig wie er ihr von der Seite weicht, wenn sie mit den Damen Rezepte austauscht. Tatsächlich hat er stets etwas Nützliches beizutragen, etwa den wissenschaftlichen Namen eines gerade erwähnten Krauts und wie man es am besten anpflanzt.

Während Girija Prasad beschuldigt wird, feminine Züge erkennen zu lassen, weil er alternative Kochzutaten vorschlägt, wirft man seiner Frau vor, ihr Wissen lasse sie männlich erscheinen. Ihre Eigenarten ergänzen einander. Könnte man doch bloß einen Blick in den Haushalt der Varmas erhaschen, um zu sehen, wie eine Ehe unter Gleichen in einer Welt der Ungleichen gedeiht. Vorläufig muss man sich mit Beobachtungen aus der Ferne und Spekulationen begnügen. Füllt sie ihm das Essen auf, bevor sie Platz nimmt, oder bedienen sie sich unverfroren selbst? Wer bestimmt, was auf den Tisch kommt? Man munkelt, dass Girija Prasad seiner Frau zuliebe Vegetarier geworden ist. Und die Briefe an die Familie bringt zwar Girija Prasad zur Post, doch womöglich schreibt sie Chanda Devi? Was ist mit den Vorhängen, die sie vor Kurzem angebracht haben? Wer hat die Muster ausgesucht, und warum wurden sie aufgehängt? Um zu verbergen, was die bald in Kraft tretende Verfassung Indiens als »unnatürliche sexuelle Handlungen« bezeichnet? Für die Abkömmlinge von Generationen, die nie aus der Missionarsstellung herausgekommen sind, ist Sex unter Gleichberechtigen kaum vorstellbar.

Das Leben eines gleichberechtigten Paars in den Breiten des Verlangens und den Längen der Beklommenheit stellte bis dato ein ungewöhnliches, undokumentiertes Phänomen dar – wie die Geburt eines Waljungen in der Antarktis oder die Paarung weißer Elefanten in Südasien.

Sowohl Girija Prasad als auch Chanda Devi begreifen rasch, dass »sich verlieben« und »jemandem verfallen« Euphemismen sind. Romantische Gefühle funktionieren nicht so geradlinig wie ein Sprung ins kühle Wasser an einem heißen Nachmittag und auch nicht so intuitiv wie das Laufenlernen. Sie sind keine Fundgrube der Superlative wie die Sanskrit-Dichtung oder der »süße Kummer« der Romantiker.

Das Ringen eines gleichberechtigten Paars ist nicht nur Forschungsinteresse der Ethnografie. Es ist multidisziplinär. Intimität und Distanz ähneln den Gezeiten – tagsüber steigt der Pegel und erreicht seinen Höhepunkt zu den Mahlzeiten. Der Mond ist eine Tasse Tee; er zieht sie zum Zenit ihres Zusammenspiels. Die Nächte liegen trocken. Unerschlossenes Land trennt ihre Betten.

Die Kommunikation zwischen Vögeln basiert zu großen Teilen auf unverständlichen Lauten und Kopfbewegungen, dem Ausstellen des Gefieders und gemeinsamen Handlungen wie Tänzen oder Formationen. Gleiches trifft auf die Varmas zu. Er räuspert sich, um sich anzukündigen, wenn er das Zimmer betritt. Da er keine Forderungen stellt, hat sie gelernt, seine Wünsche aus seinen Handlungen abzulesen. Wenn er mit abwesendem Blick zum Horizont sieht, verlangt ihn nach Tee. Hat er Hunger, knurrt sein Magen wie ein junges Raubtier. Ist seine Stirn gerunzelt und sein Blick leicht grimmig, ist er in Gedanken versunken. Bei Erschöpfung hängt sein Kopf. Müdigkeit lässt den Kopf zur Seite kippen. Wenn er aufrecht steht oder sitzt, ist seine Aufmerksamkeit auf seine Umgebung gerichtet, auf einen Vogelruf, eine Veränderung der Windrichtung oder einen verstärkten Chlorophyllgeruch. Ein Wissenschaftler, der die Umgebung studiert, ähnelt einem Tier in Habachtstellung, das konzentriert auf potenzielle Angreifer und Beutetiere lauscht. Lange Besuche auf dem Klo bedeuten, dass die von ihr zubereitete Mahlzeit zu scharf für seine empfindliche Verdauung war. Obwohl sie nie gesehen hat, wie er Skizzen anfertigt, kehrt er oft mit Bleirändern unter den Nägeln und Anspitzspänen auf der Hose zurück. Das ist sein Pendant zum vergnügten Pfeifen auf dem Heimweg.

Chanda Devi ist, wie ihr Mann herausgefunden hat, ein komplexes Studienobjekt, das der vereinten Fähigkeiten eines Botanikers, Ornithologen und Astronomen bedarf. In ihrem Baumwollsari bewegt sie sich wie im Wind rauschende Blätter. Sie atmet so unmerklich wie ein Baum, saugt die gesamte Luft im Raum ein und gibt sie, mit Duft angereichert, wieder ab. Mit der Direktheit eines Vogels blickt sie ihn an, ohne zu blinzeln. Mit einem einzigen Kopfnicken wandert ihr Blick von den metallisch blauen Augen einer auf ihrem Handgelenk hockenden Fliege zu einem irgendwo auf der Insel umfallenden Andamanen-Padauk und weiter zu einer Schule Delfine in der Bucht. Obwohl er sich mit Chanda Devi im selben Raum befindet, kommt es Girija Prasad so vor, als trennten sie ganze Sternbilder. Er fragt sich, ob sie in dieser anderen Zeit, diesem anderen Universum nicht einsam ist. Doch er hat Hoffnung. Eines Tages wird auch er durch die Zeit reisen, zum Ende von Chanda Devis Blick.

Ihr Sein ist eine gewundene Landschaft, in der es keine Geraden gibt. Bei der Arbeit versucht er, sie auf die Ränder der Akten zu bannen. Ihre Kurven, ihre Augen, die sich von ihrem Bauchnabel auffächernden, geometrisch exakten Falten des Saris – unmöglich, sie in einer Skizze festzuhalten. Beim unermüdlichen Anspitzen, Zeichnen, Radieren und Überarbeiten erlebt Girija Prasad, was kein Sonett und keine Ode ausdrücken kann.

Nur die Toten nehmen Anteil an der Not des Paars. Seit seiner Ankunft im Monat der Tausendfüßler, der Monsunzeit, sind sich die Geister vom Goodenough-Bungalow seiner misslichen Lage bewusst. Wie die Wirbellosen fürchten beide, ihre Begehren könnten missverstanden werden.

Das ist für die Geister nicht leicht mitanzusehen. Würden die Varmas in ihrer nordindischen Heimat statt auf den Andamanen leben, wäre Chanda Devi, wie der aufständische Panjabi behauptet, längst in anderen Umständen. Er gibt Girija Prasads britischer Erziehung, insbesondere seiner Kleidung aus der Raj-Zeit, die Schuld an seinem weibischen Gebaren. Wie eine besorgte Schwiegermutter rät der Aufständische Chanda Devi, Girija Prasad vor dem Schlafengehen heiße Milch zu servieren, um seine Libido zu stärken.

Lord Goodenough hat die Liebe in all ihren Extremen erforscht und nachträgliche Einsichten erlangt, die allein den Geistern zukommen. Bei den isolierten Völkern der pazifischen Inseln war er einst zufällig auf ein Ritual gestoßen, bei dem die trauernde Person das Herz des geliebten Menschen verzehrte – der äußerste Akt der Wiedervereinigung. In seinen eigenen Herzensangelegenheiten hatte sich der Lord stets in viktorianischer Zurückhaltung geübt. Er hatte seine Muse – seinen Schwager – nur von fern angehimmelt. Lediglich die Gravur auf einer griechischen Urne konnte er mit den Fingerspitzen liebkosen: das Abbild eines älteren, bärtigen Mannes, der in einen heranwachsenden Jungen eindringt. Wenn er nur könnte, würde er der jungen Mrs. Varna sagen, dass verliebte Männer manchmal an Selbstzweifeln leiden. Dass sie fürchten, nicht gut genug zu sein.

Was den japanischen Soldaten angeht, so zieht dieser es vor, seine Hand zu einem Tunnel zu formen und ihn mit einem Finger zu penetrieren, um Chanda Devis Aufmerksamkeit zu erregen. Er ist nicht auf Anzüglichkeiten aus. Er zeigt ihr einfach, wie man es anstellt.

Doch die Bewohner des Goodenough-Bungalows werden bald erfahren, dass die Furcht erobert, was das Begehren nicht erkundet.

Chanda Devi sitzt unter einer Palme und versucht, ihren Mann in der Menge auszumachen. Hin und wieder dreht er sich um und nickt ihr zu. Alle Beamte haben sich mit ihren Familien für ein Sonntagspicknick am Sir Mowgli Beach versammelt. Die Männer begnügen sich damit, in der Brandung zu stehen, statt zu schwimmen. Die Kinder, unentwegt auf Muschelsuche, ziehen Krustentiere aus dem Schlick und krönen sich zu Muschelmonarchen. Die Frauen plappern wie die Papageien, während sie mit dem Schatten den Strand entlang wandern. Wie gern würden auch sie sich sorglos in der Brandung vergnügen und durch das glasklare Wasser auf ihre Zehen hinabschauen. Doch es gibt da eine kleine Schwierigkeit: Lieber würden sie mit ihrer Scham ertrinken, als in nasser Kleidung aus dem Wasser zu kommen.