Brennender Fels - N. K. Jemisin - E-Book
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Brennender Fels E-Book

N.K. Jemisin

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Beschreibung

Teil 2 der Endzeit-Fantasy-Trilogie, die neue Maßstäbe setzt: Alle drei Bände wurden mit dem renommierten »Best Novel Hugo Award« ausgezeichnet – ein absolutes Novum in der Geschichte der Fantasy. Das Ende der Welt steht kurz bevor – zum allerletzten Mal. Noch ist es Essun nicht gelungen, ihr letztes lebendes Kind zu finden – und den Mann, den sie einst geliebt hat, bevor er zum Mörder ihres Sohnes und Entführer ihrer Tochter wurde. Stattdessen wurde Essun gefunden: von ihrem ehemaligen Mentor, Alabaster Tenring, dem Zerstörer der Welt. Und er hat eine Bitte, die nur sie erfüllen kann. Doch wenn Essun tut, wonach der Mächtige verlangt, könnte dies das Schicksal der Menschheit endgültig besiegeln. Meilen entfernt wächst derweil die Macht in Essuns Tochter unaufhaltsam. Werden ihre Entscheidungen schließlich die Welt vernichten? »Brennender Fels« ist ein New-York-Times-Bestseller und der zweite Teil der preisgekrönten Endzeit-Fantasy-Trilogie von Bestseller-Autorin N. K. Jemisin über die »Stille«, jene Welt, die sich mit heftigen Erdbeben und Vulkanausbrüchen gegen die Menschheit erhoben hat. Die preisgekrönte High-Fantasy-Saga ist in folgender Reihenfolge erschienen: - »Zerrissene Erde« - »Brennender Fels« - »Steinerner Himmel«»N. K. Jemisin [...] hat mit ihrer ›Broken Earth‹-Trilogie die High Fantasy quasi neu erfunden.« Die Welt

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Seitenzahl: 658

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N. K. Jemisin

Brennender Fels

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Gerold

Knaur e-books

Über dieses Buch

Das Ende der Welt steht kurz bevor – zum allerletzten Mal.

Noch ist es Essun nicht gelungen, ihr letztes lebendes Kind zu finden – und den Mann, den sie einst geliebt hat, bevor er zum Mörder ihres Sohnes und Entführer ihrer Tochter wurde. Stattdessen wurde Essun gefunden: von ihrem ehemaligen Mentor, Alabaster Tenring, dem Zerstörer der Welt. Und er hat eine Bitte, die nur sie erfüllen kann. Doch wenn Essun tut, wonach der Mächtige verlangt, könnte dies das Schicksal der Menschheit endgültig besiegeln.

Meilen entfernt wächst derweil die Macht in Essuns Tochter unaufhaltsam. Werden ihre Entscheidungen schließlich die Welt vernichten?

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelZwischenspiel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelZwischenspiel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. KapitelZwischenspiel19. KapitelZwischenspiel20. KapitelAnhang IAnhang IINachwortLeseprobe »Zerrissene Erde«
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Für jene, die keine andere Wahl haben, als ihre Kinder für das Schlachtfeld vorzubereiten.

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1

Nassun, in Schwierigkeiten

Hmm. Nein. Ich erzähle das falsch.

Schließlich ist eine Person nicht nur sie selbst, sondern auch andere. Beziehungen prägen die endgültige Form des eigenen Seins. Ich bin ich, und ich bin du. Damaya war sie selbst und die Familie, die sie ausgestoßen hat, und die Leute beim Fulcrum, die sie geschliffen und poliert haben. Syenit war Alabaster und Innon und die Leute aus dem armen untergegangenen Allia und aus Meov. Jetzt bist du Tirimo und diejenigen, die auf der aschebestreuten Straße wandern und deine toten Kinder … und auch das lebende Kind, das noch übrig ist. Das du zurückbekommen wirst.

Damit verrate ich gar nichts. Du bist schließlich Essun. Du weißt das bereits. Oder nicht?

Dann also als Nächstes zu Nassun. Nassun, die gerade acht Jahre alt ist, als die Welt endet.

Es ist unmöglich zu wissen, was Klein Nassun durch den Kopf ging, als sie eines Nachmittags von der Lehrstelle nach Hause kam und ihren jüngeren Bruder tot auf dem Boden fand und ihren Vater über der Leiche. Wir können uns ausmalen, was sie gedacht und gefühlt und getan hat. Wir können spekulieren. Aber wir werden es nicht wissen. Und vielleicht ist das auch besser so.

Das hier weiß ich jedoch: Diese Lehrstelle, die ich erwähnt habe – Nassun wollte lernen, wie man eine Kundige wird.

Die Stille pflegt eine eigenartige Beziehung zu den selbsternannten Bewahrern der Steinweisheit. Es gibt Aufzeichnungen von Kundigen, die bis weit in die gerüchteumwobene Eierschalenzeit zurückreichen. In dieser Fünftzeit führte irgendeine gasförmige Emission dazu, dass einige Jahre lang sämtliche in den Arktischen geborenen Kinder schwache Knochen hatten, die bei jeder Berührung brachen und sich beim Wachstum verbogen – sofern diese Kinder überhaupt wuchsen. (Archäomesten aus Yumenes streiten sich seit Jahrhunderten darüber, ob Strontium oder Arsen dies verursacht haben könnte und ob die Eierschalenzeit überhaupt als Fünftzeit eingestuft werden sollte. Schließlich waren nur ein paar hunderttausend schwächliche, blasse kleine Unzivilisierte in der nördlichen Tundra betroffen. Aber seit genau dieser Zeit haben die Arktischen den Ruf, schwächlich zu sein.) Das ist den Kundigen zufolge etwa fünfundzwanzigtausend Jahre her, was viele für eine glatte Lüge halten. In Wahrheit haben die Kundigen schon viel länger Anteil am Leben in der Stille. Vor fünfundzwanzigtausend Jahren hat sich lediglich ihre Rolle geändert, weil sie nutzlos wurden.

Sie sind immer noch da, auch wenn sie vergessen haben, wie viel sie vergessen haben. Irgendwie hat ihr Orden – wenn man ihn denn als solchen bezeichnen kann – es geschafft zu überleben. Und das, obwohl alle, angefangen von der Ersten bis zur Siebten Universität, ihre Arbeit als zweifelhaft und allem Anschein nach fehlerhaft abgelehnt und die Regierungen aller Epochen das Wissen der Kundigen durch Meinungsmache untergraben haben. Und auch trotz der Fünftzeiten. Früher einmal waren alle Kundigen Mitglieder einer Rasse namens Regwo – Westküstenbewohner mit blass-rötlicher Haut und von Natur aus schwarzen Lippen –, die der Bewahrung der Geschichte huldigten, wie die Menschen in weniger schlimmen Zeiten den Göttern gehuldigt hatten. Sie pflegten die Steinweisheit in Bergflanken zu meißeln, in Tafeln, die bis in den Himmel reichten, damit alle über die zum Überleben nötige Weisheit Bescheid wussten. Aber ach: In der Stille reicht bereits der Wutanfall eines orogenen Kleinkindes, um Berge zu vernichten. Ein ganzes Volk zu vernichten erfordert kaum mehr Anstrengung.

Kundige sind also keine Regwo mehr, aber die meisten färben sich im Angedenken an sie die Lippen schwarz. Nicht dass sie noch wüssten, warum. Die schwarzen Lippen sind inzwischen nur noch eines der Zeichen, an denen man Kundige erkennt: daran und an den vielen Polymer-Tafeln, die sie mit sich herumschleppen, sowie den schäbigen Kleidern, die sie meistens tragen. Und auch daran, dass sie gewöhnlich keine richtigen Gem-Namen haben. Deshalb sind sie aber nicht gemlos, vergiss das nicht. Theoretisch könnten sie im Falle einer Fünftzeit in ihre Heimat-Gems zurückkehren, allerdings bringt ihr Beruf es mit sich, dass sie weit wandern, was eine Rückkehr ziemlich unmöglich macht. Praktisch sind viele Gems bereit, sie – sogar während einer Fünftzeit – aufzunehmen, denn selbst die stoischste Gemeinschaft möchte während der langen kalten Nächte unterhalten werden. Aus diesem Grund bilden sich die meisten Kundigen in den Künsten aus – Musik, Lustspiele und so weiter. Sie kümmern sich auch um die Jüngeren und unterrichten sie in Zeiten, in denen sonst niemand für solche Aufgaben entbehrlich ist. Vor allem aber dienen sie als lebende Erinnerung daran, dass andere im Laufe der Zeiten schon Schlimmeres überlebt haben. Jede Gem braucht so etwas.

Die Kundige, die nach Tirimo gekommen ist, heißt Renthree Kundige Stein. (Alle Kundigen tragen den Gem-Namen Stein und den Nutznamen Kundige; dies ist eine der selteneren Nutzkasten.) Renthree ist eher unwichtig, aber es gibt einen Grund, warum du über sie Bescheid wissen musst. Einst war sie Renthree Brüter Tenteek, aber das war, bevor sie sich in einen Kundigen verliebte, der Tenteek besucht und die damals junge Frau dazu verführt hatte, das langweilige Leben einer Glasschmiedin hinter sich zu lassen. Hätte es eine Fünftzeit gegeben, bevor sie wegging, wäre ihr Leben ein bisschen interessanter geworden, denn in solchen Zeiten ist die Pflicht einer Brüterin eindeutig – und möglicherweise hat auch genau das sie angespornt, wegzugehen. Vielleicht war es aber auch nur die übliche Verrücktheit junger Liebe? Schwer zu sagen. Renthrees Liebhaber verließ sie schließlich in den Außenbezirken der Äquatorialen-Stadt Penphen; sie blieb zurück mit einem gebrochenen Herzen, dem Kopf voller Steinweisheiten, einer Geldbörse voller Jadesplitter und Cabochons und mit einer von Schuhabdrücken gezeichneten Brosche aus Perlmutt. Renthree benutzte das Perlmutt, um bei einem Steinmetz ihren eigenen Satz Tafeln in Auftrag zu geben, kaufte sich mit den Jadesplittern Reisevorräte und bezahlte ihren Aufenthalt in einem Gasthaus, während der Steinmetz an ihren Tafeln arbeitete. Mit den Cabochons kaufte sie sich viele alkoholische Getränke in einer Schenke. Schließlich machte sie sich frisch ausgestattet und mit versorgten Wunden allein auf den Weg. Auf diese Weise existiert der Beruf immer weiter.

Als Nassun am Rasthaus auftaucht, in dem Renthree ihre Zelte aufgeschlagen hat, denkt diese möglicherweise an ihre eigene Ausbildung. (Nicht an den Teil mit der Verführung; Renthree mag offensichtlich ältere Frauen, mit der Betonung auf Frauen. Sondern an die Sache mit der närrischen Träumerin.) Einen Tag zuvor war Renthree durch Tirimo gekommen, hatte an den Marktbuden eingekauft und mit ihren schwarz beschmierten Lippen fröhlich gelächelt, um kundzutun, dass sie in der Gegend war. Sie hatte nicht gesehen, dass Nassun, unterwegs von der Krippe nach Hause, stehen geblieben war und sie ehrfurchtsvoll und voller plötzlicher, irrationaler Hoffnung angestarrt hatte.

An diesem Tag hat Nassun die Krippe geschwänzt, um Renthree aufzusuchen und ihr etwas zu geben. Es ist ein traditioneller Brauch – die Gabe natürlich, nicht dass die Töchter von Lehrerinnen die Krippe schwänzen. Zwei Erwachsene aus der Stadt sind bereits beim Rasthaus, sitzen auf einer Bank und lauschen, während Renthree erzählt. Renthrees Gabenbecher ist mit leuchtend bunten Scherben gefüllt, in die das Zeichen des Quartents eingeschliffen ist. Renthree blinzelt überrascht, als sie Nassun sieht: ein schlaksiges Mädchen, mehr Beine als Rumpf, mehr Augen als Gesicht, und ganz offensichtlich zu jung, um so früh mit der Krippe fertig zu sein, wenn keine Erntezeit ist.

Nassun bleibt auf der Schwelle des Rasthauses stehen und schnappt keuchend nach Luft, was ihr einen äußerst dramatischen Auftritt verschafft. Die anderen beiden Besucher drehen sich zu ihr um und starren Jijas sonst so stille Erstgeborene an, und nur ihre Anwesenheit hält Nassun davon ab, gleich jetzt mit dem herauszuplatzen, was sie will. Ihre Mutter hat ihr beigebracht, sehr vorsichtig zu sein. (Ihre Mutter wird erfahren, dass sie die Krippe geschwänzt hat. Nassun ist es egal.) Sie schluckt also und geht direkt zu Renthree und hält ihr etwas hin: einen dunklen Stein, in den ein kleiner, fast kubischer Diamant eingebettet ist.

Nassun hat kein Geld, abgesehen von ihrem Taschengeld, verstehst du, und als bekannt wurde, dass eine Kundige in der Stadt ist, hatte sie das bereits für Bücher und Süßigkeiten ausgegeben. Niemand in Tirimo weiß jedoch, dass es in dieser Gegend eine möglicherweise hervorragende Diamantmine gibt – also niemand außer den Orogenen. Und diese auch nur dann, wenn sie danach suchen. Nassun ist die Einzige in mehreren tausend Jahren, die sich die Mühe gemacht hat. Sie weiß, dass sie diesen Diamanten niemals hätte finden sollen. Ihre Mutter hat ihr beigebracht, dass sie ihre Orogenie nicht zur Schau stellt und nur in den verbotenen Übungssitzungen anwendet, die sie alle paar Wochen zusammen in einem nahe gelegenen Tal abhalten. Niemand trägt Diamanten als Währung mit sich herum, denn daraus lassen sich nicht so einfach Splitter für Wechselgeld machen, aber in der Industrie, im Bergbau und so weiter sind sie dennoch nützlich. Nassun weiß, dass der Diamant ziemlich wertvoll ist, aber sie hat keine Ahnung, dass der hübsche Stein, den sie Renthree gerade gegeben hat, ein oder zwei Häuser wert ist. Sie ist erst acht.

Und Nassun ist so aufgeregt, als sich Renthrees Augen weiten beim Anblick des glitzernden Klumpens, der aus dem schwarzen Brocken herausragt, dass sie sich keine Gedanken mehr um die anderen Leute macht, sondern einfach herausplatzt: »Ich möchte auch eine Kundige werden!«

Nassun hat natürlich keine Ahnung, was eine Kundige wirklich tut. Sie weiß nur, dass sie Tirimo sehr, sehr gerne verlassen will.

Dazu später mehr.

Es wäre dumm von Renthree, die Gabe nicht anzunehmen, und daher nimmt sie sie. Aber sie gibt Nassun nicht sofort eine Antwort, zum Teil, weil sie denkt, dass Nassun süß ist und ihre Aussage sich nicht von den vorübergehenden Vorlieben anderer Kinder unterscheidet. (Damit hat sie einigermaßen recht, denn letzten Monat wollte Nassun eine Genieurin werden.) Stattdessen bittet sie Nassun, sich hinzusetzen, und dann erzählt sie ihrer kleinen Zuhörerschaft den restlichen Nachmittag Geschichten, bis die Sonne für lange Schatten im Tal und zwischen den Bäumen sorgt. Als die beiden anderen Besucher aufstehen, um nach Hause zu gehen, sehen sie Nassun an und machen Andeutungen, und schließlich geht sie widerwillig mit ihnen mit. Die Bewohner von Tirimo lassen sich nicht nachsagen, sie würden eine Kundige respektlos behandeln, indem sie zulassen, dass ein Kind sie die ganze Nacht vollquatscht.

Nachdem die Besucher gegangen sind, schürt Renthree das Feuer und macht sich daran, ein Abendessen aus Schweinebauch und Gemüse und Maismehl zuzubereiten, alles Dinge, die sie am Tag zuvor in Tirimo gekauft hat. Während sie darauf wartet, dass das Essen gar wird, isst sie einen Apfel und dreht Nassuns Stein in den Fingern. Sie ist fasziniert. Und besorgt.

Am nächsten Morgen geht sie in die Stadt. Ein paar diskrete Fragen führen sie zu Nassuns Haus. Essun ist zu diesem Zeitpunkt nicht da, sie unterrichtet die letzte Klasse in ihrer Laufbahn als Lehrerin in der Krippe. Nassun ist ebenfalls in der Krippe, wartet allerdings nur auf die Mittagspause, damit sie weglaufen und die Kundige wieder aufsuchen kann. Jija ist in seiner »Werkstatt«, wie er den kleinen Raum im Keller des Hauses nennt, in dem er tagsüber mit seinen lauten Werkzeugen Auftragsarbeiten erledigt. Uche schläft auf einer Matte im gleichen Raum. Er kann immer schlafen, ganz egal, was um ihn herum geschieht. Die Lieder der Erde sind seit jeher sein Schlaflied.

Jija kommt zur Tür, als Renthree klopft, und einen Moment lang ist sie überrascht. Jija ist ein Mittbreiten-Mischling, so wie Essun, auch wenn er mehr von den Sansi geerbt hat; er ist groß und muskulös und kahl rasiert. Furcht einflößend. Aber das einladende Lächeln in seinem Gesicht ist ganz und gar aufrichtig, woraufhin Renthree sich bei dem Gedanken an das, was zu tun sie sich entschieden hat, besser fühlt. Dies ist ein guter Mann. Sie kann ihn nicht betrügen.

»Hier«, sagt sie und gibt ihm den Stein mit dem Diamant. Sie kann unmöglich ein so kostbares Geschenk von einem Kind annehmen, nicht als Tausch für ein paar Geschichten und eine Lehrstelle, über die Nassun wahrscheinlich in ein paar Monaten anders denken wird.

Jija runzelt verwirrt die Stirn und nimmt den Stein, dankt ihr vielmals, nachdem er ihre Erklärung gehört hat. Er verspricht, allen von Renthrees Großzügigkeit und Redlichkeit zu erzählen, was ihr hoffentlich mehr Möglichkeiten verschaffen wird, ihre Kunst auszuüben, bevor sie weiterzieht.

Renthree geht wieder, und damit ist ihre Rolle in dieser Geschichte beendet. Diese Rolle ist allerdings bedeutend, weshalb ich dir von ihr erzählt habe.

Es hat nicht irgendeine einzelne Sache gegeben, die Jija gegen seinen Sohn aufgebracht hat, verstehst du? Im Laufe der Jahre hatte er Dinge bei seiner Frau und seinen Kindern bemerkt, die in der Tiefe seines Geistes einen Verdacht erweckt hatten. Dieses vage Gefühl war erst zu einem Kribbeln geworden, und dann, zu dem Zeitpunkt, an dem diese Geschichte einsetzt, zu einem Ärgernis, aber weil er es nicht wahrhaben wollte, machte er sich keine weiteren Gedanken. Schließlich liebte er seine Familie, und die Wahrheit war einfach … undenkbar. Buchstäblich.

Er hätte es irgendwann herausgefunden, auf die eine oder andere Weise. Ich wiederhole: Er hätte es irgendwann herausgefunden. Er ganz allein trägt die Schuld.

Aber wenn du eine einfache Erklärung willst, und wenn es überhaupt irgendein Ereignis geben könnte, das zum Wendepunkt wurde, einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und den Pfropfen in der Lavaröhre zerbrach … dann war es dieser Stein. Denn Jija kannte sich mit Steinen aus, verstehst du? Er war ein hervorragender Steinmetz. Er kannte sich mit Steinen aus, und er kannte Tirimo, und er wusste, dass von einem uralten Vulkan ausgehende Adern aus vulkanischem Gestein durch das umgebende Land verliefen. Die meisten brachen nicht zur Oberfläche durch, aber es war durchaus möglich, dass Nassun durch Zufall einen Diamanten fand, der irgendwo oben lag, wo jeder ihn hätte aufheben können. Es war unwahrscheinlich. Aber möglich.

Diese Erkenntnis treibt den Rest des Tages, nachdem Renthree gegangen ist, an der Oberfläche von Jijas Geist. Die Wahrheit liegt unterhalb der Oberfläche, ein Leviathan, der darauf wartet, sich zu strecken, aber die Wasser seiner Gedanken sind im Moment friedlich. Der Drang, es nicht wahrhaben zu wollen, ist mächtig.

Aber dann wacht Uche auf. Jija bringt ihn ins Familienzimmer, fragt ihn, ob er Hunger hat. Uche sagt, er habe keinen Hunger. Dann lächelt er Jija an, und mit der unfehlbaren Empfindungsfähigkeit eines mächtigen orogenen Kindes blickt er auf die Tasche an Jijas Kleidung und fragt: »Warum tut das glänzen, Papa?«

Die Worte, gesprochen in seiner lispelnden Kleinkindsprache, sind niedlich. Das Wissen, das er besitzt, verdammt ihn, denn der Stein befindet sich tatsächlich in Jijas Tasche, was Uche unmöglich hätte wissen können.

Nassun weiß nicht, dass es mit dem Stein angefangen hat. Wenn du sie siehst, sag es ihr nicht.

Als Nassun an diesem Nachmittag nach Hause kommt, ist Uche bereits tot. Jija steht im Familienzimmer über der auskühlenden Leiche und atmet schwer. Es ist nicht viel Kraft nötig, um ein Kleinkind totzuschlagen, aber er hat dabei hyperventiliert. Als Nassun hereinkommt, ist immer noch nicht genug Kohlendioxid in seinem Blut; er ist benommen, zittert, fröstelt. Kann nicht klar denken. Und als Nassun abrupt in der Tür zum Familienzimmer stehen bleibt und auf die Szene starrt und nur langsam begreift, was sie da sieht, platzt Jija daher heraus: »Bist du auch eine?«

Er ist ein großer Mann. Er hat die Frage laut und scharf ausgespuckt, und Nassun zuckt zusammen. Ihr Blick schießt zu ihm hoch, wendet sich von Uches Leichnam ab, und das rettet ihr das Leben. Sie hat die grauen Augen ihrer Mutter, aber ihre Gesichtsform hat sie von Jija. Allein ihr Anblick reißt ihn einen Schritt von der Urpanik weg, in die er hinabgesunken ist.

Sie sagt ihm die Wahrheit. Es hilft, denn er hätte sowieso nichts anderes geglaubt. »Ja«, sagt sie.

Sie hat in diesem Moment nicht richtig Angst. Der Anblick ihres toten Bruders und die Weigerung ihres Verstandes, das, was sie sieht, zu deuten, hat jegliche Wahrnehmung in ihr erstarren lassen. Sie ist sich nicht einmal sicher, was Jija sie fragt, denn um den Kontext seiner Worte zu verstehen, müsste sie anerkennen, dass es sich bei dem, was an den Fäusten ihres Vaters ist, um Blut handelt, und dass ihr Bruder nicht einfach nur auf dem Boden schläft. Sie kann es nicht. Noch nicht. Aber da ihr jeder weitere folgerichtige Gedanke fehlt und weil Kinder in Extremsituationen manchmal so reagieren … erstarrt sie. Was sie sieht, verängstigt sie, auch wenn sie nicht versteht, wieso. Zudem ist Jija der Elternteil, dem Nassun sich immer näher gefühlt hat. Sie ist sein Lieblingskind; die Erstgeborene, mit der er niemals gerechnet hatte, diejenige mit seinem Gesicht und seinem Sinn für Humor. Sie mag sein Lieblingsessen. Er hatte die vage Hoffnung, dass sie als Steinmetzin in seine Fußstapfen treten würde.

Als sie also zu weinen anfängt, weiß sie nicht genau, warum. Und als ihre Gedanken zu kreischen anfangen und ihr Herz schreit, macht sie einen Schritt auf ihn zu. Er spannt die Fäuste an, aber sie kann ihn nicht als Bedrohung sehen. Er ist ihr Vater. Sie möchte getröstet werden. »Papa«, sagt sie.

Jija zuckt zusammen. Blinzelt. Starrt sie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen.

Und er begreift. Er kann sie nicht töten. Nicht einmal, wenn sie … nein. Sie ist sein kleines Mädchen.

Sie macht noch einen Schritt auf ihn zu, streckt die Arme nach ihm aus. Er kann sich nicht dazu bringen, die Geste zu erwidern, aber er tut auch sonst nichts. Sie nimmt das Handgelenk, das ihr am nächsten ist. Er steht breitbeinig über Uches Leiche; sie kann seine Taille nicht so umfassen, wie sie es gern tun würde, drückt stattdessen ihr Gesicht an seinen Bizeps, der so tröstlich stark ist. Sie zittert, und er spürt, wie ihm ihre Tränen über die Haut laufen.

Er steht da, seine Atemzüge werden allmählich langsamer, seine Fäuste entspannen sich, während sie weint. Nach einer Weile dreht er sich zu ihr und sieht sie an, und sie schlingt die Arme um seine Taille. Sich ihr zuzuwenden setzt voraus, dass er sich von dem abwendet, was er mit Uche gemacht hat. Es ist eine einfache Bewegung.

Er murmelt: »Hol deine Sachen. Als würdest du ein paar Nächte bei Großmutter verbringen.« Jijas Mutter hat ein paar Jahre zuvor wieder geheiratet und lebt jetzt in Sume, der Stadt im nächsten Tal, die schon bald vollständig zerstört werden wird.

»Gehen wir dahin?«, fragt Nassun an seinem Bauch.

Er berührt ihren Hinterkopf. Das macht er immer, denn sie mag diese Geste. Als sie ein Säugling war, hat sie lauter gegurrt, wenn er sie dort umfasst hat. Das liegt daran, dass die Mentastzellen in diesem Bereich ihres Hirns liegen und sie ihn – wenn er sie dort berührt – vollständiger wahrnehmen kann, wie Orogenen es tun. Weder sie noch er hat je gewusst, warum sie es so gerne mag.

»Wir gehen an einen Ort, wo du dich besser fühlen wirst«, sagt er sanft. »An einen Ort, von dem ich gehört hab und an dem man dir helfen kann.« Wo man sie wieder zu einem kleinen Mädchen machen kann, und nicht … Er wendet sich auch von diesem Gedanken ab.

Sie schluckt, dann nickt sie und macht einen Schritt zurück. Sie sieht ihn an. »Kommt Mama auch mit?«

Etwas wandert über Jijas Gesicht, so unterschwellig wie ein Erdbeben. »Nein.«

Und Nassun, die voll und ganz darauf vorbereitet war, mit irgendeiner Kundigen in den Sonnenuntergang davonzugehen, praktisch von zu Hause wegzulaufen, um ihrer Mutter zu entkommen, entspannt sich endlich. »In Ordnung, Papa«, sagt sie und geht eilig in ihr Zimmer, um zu packen.

Jija sieht ihr einen langen Moment nach, hält dabei den Atem an. Er wendet sich von Uche ab, holt seine eigenen Sachen und geht nach draußen, um das Pferd vor den Wagen zu spannen. Innerhalb einer Stunde sind sie weg, auf dem Weg nach Süden, und das Ende der Welt ist ihnen auf den Fersen.

* * *

In den Tagen Jyamarias, die in der Fünftzeit der Überfluteten Wüste gestorben ist, dachte man, die See ließe sich beschwichtigen, indem man ihr das letztgeborene Kind übergibt, und man könnte sie so davon abhalten, über die Ufer zu treten und die anderen zu holen.

– Aus »Der Standpunkt der Brüter«, Kundigen-Geschichte, aufgezeichnet im Hanl Quartent, Westküste unweit der Abgebrochenen Halbinsel.

Herkunft zweifelhaft.

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2

du, fortgesetzt

Von einem was?«, fragst du.

»Einem Mond.« Alabaster, geliebtes Monster, gesunder Irrer, mächtigster Orogene in der ganzen Stille und baldiger Steinesser-Happen, starrt dich an. All das hier atmet die gleiche alte Intensität, und du kannst seinen Willen spüren, diese Substanz, die ihn zu der Naturgewalt macht, die er ist und die du beinahe körperlich in dem Blick fühlst, den er dir zuwirft. Die Wächter waren Narren, dass sie jemals dachten, sie hätten ihn gezähmt. »Einem Satelliten.«

»Einem was?«

Er gibt ein frustriertes Geräusch von sich. Abgesehen davon, dass er sich teilweise in Stein verwandelt hat, ist er noch ganz der Alte, wie in der Zeit, als ihr beide – du und er – weniger als Liebende und mehr als Freunde wart. Das ist zehn Jahre und ein anderes Selbst her. »Astromestrie ist keine Narrheit«, sagt er. »Ich weiß, dass man dir das so beigebracht hat. Alle in der Stille halten es für Energieverschwendung, den Himmel zu beobachten, wo es doch der Boden ist, der versucht, uns zu töten. Aber bei den Erdfeuern, Syen. Ich dachte, du hättest inzwischen gelernt, den Status quo ein bisschen mehr zu hinterfragen.«

»Ich hatte andere Dinge zu tun«, fauchst du, wie du es immer getan hast. Aber an die alten Tage zu denken bringt dich auch dazu, an das zu denken, was du in der Zwischenzeit getan hast. Und das wiederum bringt dich dazu, an deine lebende Tochter zu denken und an deinen toten Sohn und an deinen schon bald sehr ehemaligen Ehemann, und du zuckst zusammen. »Und wie gesagt, ich heiße jetzt Essun.«

»Wie auch immer.« Mit einem Stöhnen setzt Alabaster sich auf und lehnt sich vorsichtig an die Wand. »Sie sagen, du bist mit einer Geomeste hierhergekommen. Lass es dir von ihr erklären. Ich habe dieser Tage nicht mehr viel Energie.« Weil es wahrscheinlich seinen Tribut fordert, gegessen zu werden. »Du hast meine erste Frage nicht beantwortet. Kannst du es inzwischen tun?«

Kannst du die Obelisken zu dir rufen? Die Frage ergab keinen Sinn, als er sie zum ersten Mal gestellt hat, wahrscheinlich, weil du abgelenkt warst, als du begriffen hast, dass er a) am Leben ist, b) sich in Stein verwandelt und c) dafür verantwortlich ist, dass der Kontinent zerrissen wurde und damit eine Fünftzeit in Gang gesetzt hat, die vielleicht niemals endet.

»Die Obelisken?« Du schüttelst den Kopf, bist eher verwirrt als ablehnend. Dein Blick wandert zu dem seltsamen Gegenstand bei seinem Bett, der so aussieht wie ein außerordentlich langes pinkes Glasmesser und sich anfühlt wie ein Obelisk, auch wenn es unmöglich einer sein kann. »Was soll ich – nein. Ich weiß es nicht. Ich habe es seit Meov nicht mehr versucht.«

Er stöhnt leise, schließt die Augen. »Du bist so rostverdammt nutzlos, Syen. Essun. Hattest nie Respekt vor unserer Kunst.«

»Ich respektiere sie sehr wohl, nur bin ich nicht –«

»Du respektierst sie gerade genug, um irgendwie klarzukommen. Genug, um hervorragend zu sein, aber nur um des Gewinns willen. Sie haben dir gesagt, wie hoch du springen darfst, und höher springst du nicht; nur um eine nettere Wohnung und einen weiteren Ring zu kriegen –«

»Um Privatsphäre zu haben, du Arsch, und ein bisschen Kontrolle über mein Leben und ein bisschen rostverdammten Respekt –«

»Und du hast sogar auf deinen Wächter gehört, während du auf sonst niemanden hörst –«

»He!« Zehn Jahre als Lehrerin haben deiner Stimme eine Schärfe verliehen, die an Obsidian erinnert. Alabaster hält in seiner Schimpftirade inne und blinzelt dich an. Sehr ruhig sagst du: »Du weißt sehr gut, warum ich auf ihn gehört habe.«

Einen Moment herrscht Schweigen. Ihr nehmt euch beide die Zeit, um euch neu zu formieren.

»Du hast recht«, sagt er schließlich. »Es tut mir leid.«

Alle Imperialen Orogenen hören – hörten – auf den ihnen zugewiesenen Wächter. Diejenigen, die es nicht getan haben, sind gestorben oder in einer Knoten-Station gelandet. Außer Alabaster natürlich; du hast nie herausgefunden, was er mit seiner Wächterin getan hat.

Du nickst steif als Zeichen des Waffenstillstands. »Entschuldigung angenommen.«

Er holt vorsichtig Luft. Wirkt müde. »Versuche es, Essun. Versuche, einen Obelisken zu erreichen. Heute noch. Ich muss es wissen.«

»Warum? Und was ist dieses Sattel-Lied? Was hat es –«

»Satellit. Und das alles ist irrelevant, wenn du die Obelisken nicht kontrollieren kannst.« Seine Augen schließen sich langsam. Wahrscheinlich ist das gut so. Er wird seine Kraft brauchen, wenn er das überleben will, was mit ihm geschieht. Sofern man das überhaupt überleben kann. »Schlimmer als irrelevant. Du erinnerst dich daran, warum ich dir am Anfang nichts über die Obelisken sagen wollte, oder?«

Ja. Bevor du angefangen hast, diesen großen schwebenden halb realen Kristallen am Himmel deine Aufmerksamkeit zu schenken, hast du Alabaster gebeten zu erklären, wie er einige seiner erstaunlichsten Kunststücke der Orogenie zustande gebracht hat. Er wollte es dir nicht sagen, und du hast ihn deswegen gehasst. Jetzt weißt du, wie gefährlich dieses Wissen ist. Wäre dir nicht klar geworden, dass die Obelisken Verstärker sind, Orogenie-Verstärker, hättest du nie nach dem Granat … ausgegriffen, um dich vor dem Angriff eines Wächters zu schützen. Aber der Granat-Obelisk hätte dich getötet, wäre er nicht selbst halb tot gewesen, zerbrochen und gefüllt mit einem erstarrten Steinesser. Du hattest nicht die Kraft und die Selbstbeherrschung, um die Macht daran zu hindern, dich von deinem Hirn an abwärts zu grillen.

Und jetzt will Alabaster, dass du absichtlich nach einem ausgreifst, um zu sehen, was passiert.

Alabaster kennt dich. »Geh und finde es heraus«, sagt er. Seine Augen sind geschlossen. Du hörst ein schwaches Rasseln in seinem Atem, als hätte er Kies in der Lunge. »Der Topas schwebt irgendwo in der Nähe. Rufe ihn heute Abend und sieh dann am Morgen nach …« Er scheint abrupt schwächer zu werden, keine Kraft mehr zu haben. »Sieh nach, ob er kommt. Wenn nicht, sag es mir, und ich werde jemand anderen finden. Oder selbst tun, was ich kann.«

Wen finden, um was zu tun? Du kannst es nicht mal ansatzweise erraten. »Wirst du mir noch sagen, worum es bei all dem hier geht?«

»Nein. Denn trotz allem, Essun, möchte ich nicht, dass du stirbst.« Er holt tief Luft, atmet langsam aus. Die nächsten Worte sind weicher als sonst. »Es ist schön, dich wiederzusehen.«

Du musst dich zwingen, um zu antworten. »Ja.«

Er sagt nichts mehr, und das genügt als Lebwohl für euch beide.

Du stehst auf, siehst die Steinesserin an, die in der Nähe steht. Alabaster nennt sie Antimon. Sie steht still wie eine Statue, wie ihresgleichen es immer tun. Ihre tiefschwarzen Augen beobachten dich ununterbrochen, und obwohl ihre Pose klassisch ist, denkst du, dass ein Hauch von Ironie darin liegt. Sie steht da, den Kopf elegant geneigt, eine Hand in die Hüfte gestützt, die andere wie zum Winken in keine besondere Richtung erhoben, die Finger entspannt. Vielleicht ist es ein Komm-hierher, vielleicht ein mit der Rückhand übermitteltes Lebwohl, vielleicht ist es das, was Leute tun, wenn sie ein Geheimnis hüten und dich wissen lassen wollen, dass es existiert, ohne dir sagen zu wollen, was genau es ist.

»Pass auf ihn auf«, sagst du zu ihr.

»Wie ich es mit jeder Kostbarkeit tue«, erwidert sie, ohne den Mund zu bewegen.

Du machst noch nicht einmal den Versuch, das zu deuten. Du kehrst zum Eingang des Krankentrakts zurück, wo Hoa steht und auf dich wartet. Hoa, der wie ein vollkommen fremdartiger menschlicher Junge aussieht und in Wirklichkeit irgendwie ein Steinesser ist und dich wie eine Kostbarkeit behandelt.

Er sieht dich unglücklich an, wie er es tut, seit du begriffen hast, was er ist. Du schüttelst den Kopf und gehst an ihm vorbei nach draußen. Er folgt dir.

Es ist früher Abend in der Gem Castrima. Schwer zu sagen, wann genau, da das sanfte weiße Licht in der riesigen Geode, das auf unmögliche Weise von den massiven Kristallen abgegeben wird, die ihre Substanz bilden, sich niemals ändert. Leute laufen geschäftig umher, tragen Gegenstände, rufen einander etwas zu und widmen sich ihren alltäglichen Beschäftigungen, ohne dass dies – wie in anderen Gems – irgendwann nachlassen müsste, weil das Licht schwächer wird. Du vermutest, dass du ein paar Tage Schwierigkeiten haben wirst, hier zu schlafen, bis du dich an alles gewöhnt hast. Es spielt keine Rolle. Obelisken scheren sich nicht um die Tageszeit.

Lerna hat höflich draußen gewartet, während ihr beide, du und Hoa, euch mit Alabaster und Antimon getroffen habt. Er schließt sich euch an, als ihr herauskommt, und blickt erwartungsvoll drein.

»Ich muss nach oben gehen«, sagst du.

Lerna verzieht das Gesicht. »Die Wachen werden dich nicht hoch lassen, Essun. Sie trauen Leuten nicht, die neu in der Gem sind. Castrimas Überleben hängt davon ab, dass niemand von seiner Existenz weiß.«

Das Wiedersehen mit Alabaster hat eine Menge alter Erinnerungen hervorgeholt und auch alte Gereiztheiten. »Sie können ja versuchen, mich aufzuhalten.«

Lerna bleibt stehen. »Und dann tust du das, was du mit Tirimo gemacht hast?«

Rostverdammte Hölle! Du bleibst ebenfalls stehen, schwankst ein bisschen unter der Wucht dieses Schlags. Auch Hoa hält inne, beäugt Lerna nachdenklich. Lerna starrt dich an, ist aber nicht wütend. Sein Gesichtsausdruck ist zu leer, als dass es Wut sein könnte. Verdammt. Na gut.

Nach einem Moment seufzt Lerna und tritt zu dir. »Wir werden zu Ykka gehen«, sagt er. »Wir werden ihr sagen, was wir vorhaben. Wir werden darum bitten, zur Oberseite gehen zu dürfen – mit Wachen, wenn sie das möchte. In Ordnung?«

Es ist so vernünftig, dass du nicht weißt, warum du nicht selbst darauf gekommen bist. Nun, du weißt, warum. Ykka mag eine Orogene sein wie du, aber du bist zu viele Jahre lang von anderen Orogenen im Fulcrum ausgebremst und verraten worden; du bist klug genug, ihr nicht nur deshalb zu vertrauen, weil sie zu deinesgleichen gehört. Doch weil sie zu deinesgleichen gehört, solltest du ihr eine Chance geben.

»Schön«, sagst du und folgst ihm zu Ykkas Wohnung.

Ykkas Wohnung ist nicht größer als deine und unterscheidet sich auch sonst nicht von deiner, obwohl sie das Zuhause des Oberhaupts dieser Gem ist. Es ist nur eine weitere Wohnung, die mit unbekannten Mitteln aus einem riesigen glühenden Kristall herausgeschnitten wurde. Zwei Personen warten vor der Tür, eine lehnt am Kristall, die andere späht über das Geländer hinunter auf Castrima. Lerna stellt sich hinter ihnen an und bedeutet dir, es ihm gleichzutun. Es ist nur gerecht, dass du wartest, bis du an der Reihe bist, und die Obelisken gehen nirgendwohin.

Die Frau, die die Aussicht betrachtet, sieht dich an und mustert dich von oben bis unten. Sie ist ein bisschen älter, eine Sansi, wenn auch dunkelhäutiger als die meisten, und ihre aschgrauen Haare haben leichte Wellen, eine krause Wolke, die nicht so grob und störrisch wirkt wie sonst bei Sansi üblich. Muss was von den Ostküsten-Bewohnern in ihr sein. Und auch was von denen der Westküste. Ihre Augen haben Mongolenfalten, und ihr Blick ist abschätzend, wachsam und unbeeindruckt. »Du bist die Neue«, sagt sie. Es ist keine Frage.

Du nickst. »Essun.«

Sie grinst schief, und du blinzelst. Ihre Zähne sind spitz zugefeilt, obwohl die Sansi angeblich vor Jahrhunderten aufgehört haben, so etwas zu tun. War nach der Zeit der Zähne schlecht für ihren Ruf. »Hjarka Führerschaft Castrima. Willkommen in unserem kleinen Erdloch.« Ihr Lächeln wird breiter. Du unterdrückst eine Grimasse bei ihrem Versuch, witzig zu sein, aber du fängst auch an zu überlegen, nachdem du ihren Namen gehört hast. Wenn eine Gem eine Führerschaft-Kaste hat, die nicht auch die Führung innehat, ist das normalerweise eher eine schlechte Nachricht. Unzufriedene Führer haben die unangenehme Angewohnheit, während einer Krise einen Umsturzversuch anzuzetteln. Aber das ist Ykkas Problem, nicht deines.

Die andere wartende Person – der Mann, der sich an den Kristall lehnt – scheint dich nicht zu beachten. Seine Augen bewegen sich nicht, um dem mit Blicken zu folgen, was auch immer er in der Ferne sieht. Er ist dünn, kleiner als du, und seine Haare und sein Bart erinnern dich an Erdbeeren, die zwischen Heu wachsen. Den sanften Druck seiner indirekten Aufmerksamkeit bildest du dir ein. Das Klicken deines Instinkts, das dir verrät, dass er einer von deiner Art ist, bildest du dir dagegen nicht ein. Da er deine Anwesenheit nicht sichtbar zur Kenntnis nimmt, sagst du nichts zu ihm.

»Er ist vor ein paar Monaten hergekommen«, sagt Lerna und lenkt dich von deinen neuen Nachbarn ab. Einen Moment lang fragst du dich, ob er sich auf den Mann mit den Erdbeer-Heu-Haaren bezieht, aber dann wird dir klar, dass er Alabaster meint. »Er ist mitten auf dem Platz aufgetaucht, der in der Geode als Marktplatz gilt – auf der Flachspitze.« Er nickt in die Richtung von etwas, das sich hinter dir befindet, und du drehst dich um, suchst, was er meint. Ah, da, zwischen den vielen spitzen Kristallen von Castrima ist einer, der aussieht, als wäre er auf halber Höhe abgeschnitten worden, sodass sich eine breite sechseckige Plattform in der Mitte der Gem befindet, die leicht erhöht liegt. Einige Treppenbrücken sind mit ihr verbunden, und es gibt Stühle und ein Geländer. Die Flachspitze.

Lerna spricht weiter. »Es gab keine Vorwarnung. Die Orogenen haben anscheinend nichts mentastet, und die Stillköpfe auf Wache haben nichts gesehen. Er und seine Steinesserin waren plötzlich einfach … da.«

Er sieht nicht, dass du überrascht die Stirn runzelst. Du hast noch nie gehört, dass ein Stillkopf für Nicht-Orogenen das Wort Stillkopf benutzt.

»Vielleicht wussten die Steinesser, dass er kommen würde, allerdings sprechen die nur selten mit jemandem außer ihren erwählten Personen. Und in diesem Fall haben sie nicht einmal das getan.« Sein Blick wandert zu Hoa, der ihn genau in diesem Moment geflissentlich ignoriert. Lerna schüttelt den Kopf. »Ykka hat natürlich versucht, ihn rauszuwerfen, aber sie hat ihm auch einen barmherzigen Tod angeboten, wenn er das will. Seine Prognose ist eindeutig; sanfte Medizin und ein Bett wären eine Geste der Freundlichkeit. Allerdings hat er etwas getan, als sie die Starkrücken gerufen hat. Das Licht ist ausgegangen. Die Luft und das Wasser haben gestockt. Nur für eine Minute, aber es hat sich angefühlt wie ein Jahr. Als er alles wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt hat, waren alle aufgebracht. Deshalb hat Ykka gesagt, dass er bleiben kann und wir seine Verletzungen behandeln sollen.«

Klingt gut. »Er ist ein Zehnberingter«, sagst du. »Und ein Arsch. Gib ihm, was immer er will, und sei freundlich zu ihm.«

»Er kommt vom Fulcrum?« Lerna atmet tief ein und wirkt ehrfürchtig. »Bei den Erdfeuern. Ich hatte keine Ahnung, dass irgendwer von den Imperialen Orogenen überlebt hat.«

Du siehst ihn an, zu überrascht, um erheitert zu sein. Aber nun, wie hätte er es wissen können? Ein anderer Gedanke ernüchtert dich. »Er verwandelt sich in Stein«, sagst du sanft.

»Ja.« Lerna klingt reumütig. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Und es wird schlimmer. Am ersten Tag waren es nur seine Finger, die … die die Steinesserin ihm … genommen hat. Ich habe nicht gesehen, wie es vonstattenging. Er achtet sehr darauf, dass es nur geschieht, wenn ich oder meine Assistenten nicht dabei sind. Ich weiß nicht, ob sie ihn irgendwie … oder ob er es selbst tut oder …« Er schüttelt den Kopf. »Wenn ich ihn danach frage, grinst er nur und sagt: ›Nur noch ein bisschen länger, bitte. Ich warte auf jemanden.‹« Lerna sieht dich nachdenklich an, runzelt die Stirn.

So ist das also: Irgendwie wusste Alabaster, dass du kommst. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht hat er auf jemand anderen gehofft, auf irgendwen mit den nötigen Fähigkeiten. Hier sind die Chancen dafür sehr gut, weil Ykka alle Roggas im Umkreis von vielen Meilen zu sich gerufen hat. Du bist nur dann diejenige, auf die er gewartet hat, wenn sich herausstellt, dass du einen Obelisken herbeirufen kannst.

Nach ein paar Augenblicken streckt Ykka den Kopf durch den Vorhang zu ihrer Wohnung. Sie nickt Hjarka zu, starrt Erdbeer-Heu an, bis der seufzt und sich zu ihr umdreht, dann entdeckt sie dich und Lerna und Hoa. »Oh. He. Gut. Kommt alle rein.«

Du hebst zum Protest an. »Ich muss alleine mit dir sprechen.«

Sie starrt dich an. Du blinzelst, bist verwirrt, aus dem Gleichgewicht, verärgert. Sie starrt dich weiter an. Lerna neben dir verlagert das Gewicht von einem Bein auf das andere, ein stummes Drängen. Hoa beobachtet dich und folgt deinem Beispiel. Schließlich verstehst du die Botschaft: Es ist ihre Gem, es sind ihre Regeln, und wenn du hier leben willst … Du seufzst und trittst nach den anderen ein.

In ihrer Wohnung ist es wärmer als in den meisten anderen und auch dunkler. Die Vorhänge machen einen Unterschied, auch wenn die Wände leuchten. Es entsteht der Eindruck, als wäre es Nacht, was es auf der Oberseite wahrscheinlich auch ist. Eine gute Idee, die du für deine eigene Wohnung übernehmen solltest – sofort bremst du dich, denn du solltest nicht langfristig denken. Und dann bremst du dich noch einmal, denn du hast die Spur von Nassun und Jija verloren, also solltest du sehr wohl langfristig denken. Und dann –

»Also gut«, sagt Ykka. Sie klingt gelangweilt, während sie zu einem schlichten, niedrigen Diwan geht und sich hinsetzt, die Beine übereinanderschlägt und das Kinn auf eine Faust stützt. Die anderen setzen sich, aber sie sieht nur dich an. »Ich habe bereits über ein paar Veränderungen nachgedacht. Ihr beide seid zu einem günstigen Zeitpunkt hier angekommen.«

Einen Moment lang denkst du, sie hat Lerna in dieses »ihr beide« eingeschlossen, aber Lerna sitzt auf dem Diwan gleich neben ihrem, und da ist etwas an ihm, eine Leichtigkeit in seinen Bewegungen oder eine Behaglichkeit in seinem Benehmen, was dir verrät, dass er all das schon einmal gehört hat. Sie meint also Hoa. Hoa lässt sich auf dem Boden nieder, was ihn mehr wie ein Kind wirken lässt … auch wenn er das nicht ist. Es ist seltsam, wie schwer es dir fällt, das nicht zu vergessen.

Du setzt dich vorsichtig hin. »Zu einem günstigen Zeitpunkt für was?«

»Ich halte es immer noch nicht für eine gute Idee«, sagt Erdbeer-Heu. Er sieht dich an, aber sein Gesicht ist Ykka zugeneigt. »Wir wissen nichts über diese Leute, Ykka.«

»Wir wissen, dass sie bis gestern da draußen überlebt haben«, sagt Hjarka, beugt sich zur Seite und stützt einen Ellbogen auf die Lehne des Diwans. »Das ist schon etwas.«

»Das ist nichts.« Erdbeer-Heu – du willst wirklich seinen Namen wissen – spannt den Kiefer an. »Unsere Jäger können da draußen auch überleben.«

Jäger. Du blinzelst. Das ist eine der alten Nutzkasten – eine vom Imperialen Gesetz missbilligte, daher wird niemand mehr in sie hineingeboren. Zivilisierte Gesellschaften benötigen keine Jäger und Sammler. Dass Castrima das Gefühl hat, welche zu brauchen, verrät mehr über den Zustand dieser Gem als alles andere, das Ykka dir erzählt hat.

»Unsere Jäger kennen das Gelände und unsere Starkrücken auch, ja«, sagt Hjarka. »Im nahen Umkreis. Neuankömmlinge wissen mehr über die Zustände außerhalb unseres Territoriums – sie kennen die Leute, die Gefahren, einfach alles.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich irgendetwas Nützliches weiß«, sagst du. Aber noch während du die Worte aussprichst, runzelst du die Stirn, denn du erinnerst dich an diese Sache, die dir bei den letzten Rasthäusern aufgefallen ist. Die Schärpen oder Lumpen aus feiner Seide an den Handgelenken von zu vielen Äquatorialen. Die verschlossenen Blicke, die sie dir zugeworfen haben, ihre Fokussierung, während andere tief erschüttert waren. In jedem Lager hast du gesehen, wie sie ihre Mitüberlebenden mustern, alle Sansi auswählen, die besser ausgerüstet oder gesünder oder sonst wie besser dran sind als der Durchschnitt. Wie sie mit diesen Auserwählten leise gesprochen haben. Wie sie am nächsten Morgen in Gruppen weitergezogen sind, die größer waren als bei ihrer Ankunft.

Hat das etwas zu bedeuten? Denn obwohl es den alten Traditionen entspricht, sich an seinesgleichen zu halten, waren Rassen und Nationen lange Zeit unwichtig. Gemeinschaften mit gleichen Zielen und unterschiedlichen Spezialisierungen sind effizienter, wie Alt-Sansia bewiesen hat. Und doch ist Yumenes jetzt Asche am Boden eines Gesteinsschlots, und die Gesetze und Gebräuche des Imperiums greifen nicht mehr. Vielleicht ist dies also der erste Hinweis auf einen Wandel. Vielleicht wirst du Castrima in wenigen Jahren verlassen müssen, um eine Gem voller Mittbreiten-Bewohner wie dich zu finden, die braun sind, aber nicht zu braun, groß, aber nicht zu groß, und deren Haare lockig oder gewellt sind, aber niemals aschgrau-kraus oder glatt. Wenn dem so ist, kann Nassun mit dir kommen.

Aber wie lange würdet ihr beide in der Lage sein, zu verbergen, was ihr seid? Keine Gem will Roggas. Keine Gem außer dieser.

»Du weißt mehr als wir«, sagt Ykka und unterbricht deine abschweifenden Gedanken. »Und abgesehen davon habe ich nicht die Geduld, darüber zu streiten. Ich sage dir, was ich auch ihm vor ein paar Wochen gesagt habe.« Sie macht eine ruckartige Bewegung zu Lerna hin. »Ich brauche Berater – Leute, die diese Fünftzeit vom Boden bis zum Himmel kennen. Du bist so jemand, bis ich dich ersetze.«

Du bist mehr als nur ein bisschen überrascht. »Ich weiß nicht das rostverdammte kleinste bisschen über diese Gem!«

»Das ist meine Aufgabe – und seine und ihre.« Ykka nickt Erdbeer-Heu und Hjarka zu. »Und du wirst es lernen.«

Du sitzt mit offenem Mund da. Dann fällt dir auf, dass sie Hoa in dieses Treffen mit einbezogen hat, oder nicht? »Bei den Erdfeuern und Rostkübeln, du willst einen Steinesser als Berater?«

»Wieso nicht? Sie sind auch hier. Mehr von ihnen, als wir denken.« Sie sieht Hoa genauer an, der seinerseits sie betrachtet. Seine Miene ist undurchdringlich. »Das hast du mir zumindest gesagt.«

»Das stimmt«, sagt er ruhig. »Ich kann aber nicht für die anderen sprechen. Und wir sind nicht Teil deiner Gem.«

Ykka beugt sich vor zu ihm. Ihre Miene strahlt etwas aus, das zwischen Feindseligkeit und Vorsicht liegt. »Du hast eine Wirkung auf unsere Gem, wenn auch nur als potenzielle Gefahr.« Ihr Blick schießt zu dir. »Und diejenigen, mit denen du – äh – verbunden bist, sind Teil dieser Gem. Zumindest kümmert es dich, was mit ihnen passiert. Oder nicht?«

Dir fällt auf, dass du Ykkas Steinesserin, die Frau mit den rubinroten Haaren, ein paar Stunden nicht gesehen hast. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie nicht in der Nähe ist. Du hast bei Antimon gelernt, nicht auf ihre scheinbare Abwesenheit zu vertrauen. Hoa antwortet Ykka nicht. Auf irrationale Weise bist du plötzlich froh, dass er sich die Mühe macht, für dich sichtbar zu bleiben.

»Was die Frage angeht, wieso du und wieso der Arzt«, sagt Ykka, während sie sich aufrichtet und dir zuwendet, auch wenn sie immer noch Hoa beäugt, »das hat damit zu tun, dass ich eine Mischung aus verschiedenen Perspektiven brauche. Eine Führerin, selbst wenn sie nicht führen will.« Sie sieht Hjarka an. »Ein Rogga von hier, der sich nicht die Mühe macht, für sich zu behalten, für wie dumm er mich hält.« Sie nickt Erdbeer-Heu zu, der seufzt. »Eine Resistente und ein Arzt, der die Straße kennt. Eine Steinesserin. Ich. Und du, Essun, die du uns alle töten könntest.« Sie lächelt dünn. »Es ist sinnvoll, dir einen Grund zu geben, es nicht zu tun.«

Du weißt nicht recht, was du darauf sagen sollst. Wenn die Fähigkeit, Castrima zerstören zu können, eine Qualifikation ist, sollte Ykka auch Alabaster in diesen Kreis von Beratern aufnehmen, denkst du flüchtig. Aber das könnte zu unangenehmen Fragen führen.

Du wendest dich an Hjarka und Erdbeer-Heu. »Seid ihr beide von hier?«

»Nein«, sagt Hjarka.

»Ja«, sagt Ykka. Hjarka starrt sie finster an. »Du lebst hier, seit du klein warst, Hjar.«

Hjarka zuckt mit den Schultern. »Niemand hier erinnert sich daran außer dir, Yeek.«

Erdbeer-Heu sagt: »Ich bin hier geboren und aufgewachsen.«

Zwei Orogenen, die in einer Gem bis ins Erwachsenenalter überlebt haben, weil die sie nicht getötet hat. »Wie ist dein Name?«

»Schnitter Starkrücken.« Du wartest. Er lächelt mit halbem Mund, doch das Lächeln erreicht die Augen nicht.

»Schnitters Geheimnis war sozusagen noch eines, während wir aufgewachsen sind«, erklärt Ykka. Sie lehnt sich an die Wand hinter dem Diwan, reibt sich über die Augen, als wäre sie müde. »Die Leute haben es trotzdem erraten. Die Gerüchte haben ausgereicht, dass er unter dem vorherigen Oberhaupt nicht in die Gem adoptiert wurde. Natürlich habe ich ihm seither ein Dutzend Mal angeboten, ihm den Namen zu geben.«

»Unter der Bedingung, dass ich den ›Starkrücken‹ aufgebe«, erwidert Schnitter. Er lächelt auf seine hauchdünne Weise.

Ykka lässt die Hand sinken. Sie wirkt angespannt. »Zu leugnen, was du bist, hat die Leute nicht daran gehindert zu erkennen, was du bist.«

»Und es offen zu zeigen ist nicht das, was dich gerettet hat.«

Ykka holt tief Luft. Ihre Kiefer mahlen, spannen und entspannen sich. »Und das ist der Grund, weshalb ich dich gebeten habe, es zu tun, Schnitter. Aber fahren wir fort.«

Und so geht es weiter.

Du sitzt bei diesem Treffen und versuchst, die unterschwelligen Strömungen zu verstehen, die du wahrnimmst. Noch immer kannst du nicht glauben, dass du überhaupt hier bist, während Ykka die Probleme auf den Tisch legt, mit denen Castrima gerade zu kämpfen hat. Es sind Sachen, über die du noch nie nachdenken musstest: Klagen darüber, dass das heiße Wasser in den Gemeinschaftsbädern nicht heiß genug ist. Ein ernst zu nehmender Mangel an Töpfern, aber ein Überangebot an Leuten, die nähen können. Pilze in einer der Getreidespeicher-Höhlen; der Vorrat von mehreren Monaten hatte verbrannt werden müssen, damit nicht auch der Rest befallen wird. Ein Mangel an Fleisch. Statt obsessiv nur an eine einzige Person zu denken, musst du dir jetzt über viele Gedanken machen. Es kommt ein bisschen plötzlich.

»Ich habe gerade ein Bad genommen«, platzt du heraus und versuchst, dich aus der Benommenheit zu ziehen. »Das Wasser war gut so.«

»Klar hast du es gut gefunden. Du hast monatelang auf der Straße gelebt und in kalten Bächen gebadet, wenn überhaupt. Doch eine Menge Leute in Castrima haben nie ohne zuverlässige Wasserversorgung und Wasserhähne gelebt, bei denen man die Temperatur einstellen kann.« Ykka reibt sich wieder die Augen. Das Treffen dauert erst etwa eine Stunde, fühlt sich aber länger an. »Alle kommen mit einer Fünftzeit auf ihre eigene Weise zurecht.«

Sich nicht zu beklagen bedeutet nicht, dass man mit etwas zurechtkommt, denkst du, aber gut.

»Der Fleischmangel ist ein echtes Problem«, sagt Lerna und runzelt die Stirn. »Mir fiel auf, dass bei den letzten Zuteilungen keins dabei war und auch keine Eier.«

Ykkas Miene wird grimmiger. »Das stimmt.« Um deinetwillen fügt sie hinzu: »Diese Gem besitzt kein Grünland, wie du vielleicht schon bemerkt hast. Der Boden hier gibt nicht viel her, es reicht gerade zum Gärtnern, aber nicht für Gras oder Heu. In den letzten Jahren vor dem Beginn der Fünftzeit hat niemand daran gedacht, mit einer landwirtschaftlichen Gem einen Vertrag über ein paar Dutzend Wagenladungen guter Erde abzuschließen. Man war zu beschäftigt damit, sich darüber zu streiten, ob die alte Mauer von vor der Erstickenden Zeit wieder aufgebaut werden sollte.« Sie seufzt, reibt sich den Nasenrücken. »Die meisten Tiere können wir sowieso nicht durch die Minenschächte und über die Treppen nach unten bringen. Ich weiß nicht, was wir uns dabei gedacht haben zu versuchen, hier unten zu leben. Genau deshalb brauche ich jetzt Hilfe.«

Ihre Müdigkeit überrascht dich nicht, wohl aber ihre Bereitschaft, einen Fehler zuzugeben. Das ist beunruhigend. »Eine Gem kann während einer Fünftzeit nur eine einzige Führung haben«, sagst du.

»Ja, und das bin immer noch ich. Vergiss das bloß nicht.« Es könnte als Drohung gemeint sein, aber es klingt nicht so. Sie weist nur auf die Rolle hin, die sie in Castrima hat: Die Leute hier haben sie gewählt, und im Augenblick vertrauen sie ihr. Dich, Lerna oder Hoa kennen sie nicht, und Hjarka und Schnitter vertrauen sie offensichtlich nicht. Und du brauchst Ykka mehr, als sie irgendjemanden von euch braucht. Dann schüttelt sie abrupt den Kopf. »Ich kann nicht länger über diesen Scheiß sprechen.«

Gut, denn das Gefühl, von all dem hier irgendwie getrennt zu sein, wird allmählich überwältigend – heute Morgen hast du noch an die Straße gedacht und ans Überleben und an Nassun. »Ich muss zur Oberseite gehen.«

Du hast das Thema zu plötzlich gewechselt, es kommt wie aus dem Nichts, und einen Moment starren dich alle an.

»Aus welchem rostverdammten Grund?«, fragt Ykka.

»Alabaster.«

Ykka starrt dich ausdruckslos an.

»Der Zehnberingte in eurem Krankentrakt. Er hat mich gebeten, etwas zu tun.«

Ykka verzieht das Gesicht. »Oh. Der.«

Bei dieser Reaktion musst du wider Willen lächeln.

»Interessant. Er hat mit niemandem gesprochen, seit er hier ist. Sitzt einfach nur da, verbraucht unsere Antibiotika und unser Essen.«

Lerna verdreht die Augen. »Ich habe gerade neues Penicillin gemacht, Ykka.«

»Es geht ums Prinzip.«

Du vermutest, dass Alabaster die Mikrobeben dieser Gegend erstickt hat und auch alle Nachbeben aus dem Norden, womit er sich seinen Aufenthalt hier mehr als verdient hat. Aber es ist sinnlos, darauf hinzuweisen, wenn Ykka es nicht selbst mentasten kann – und du bist dir nicht sicher, ob du ihr genug vertrauen kannst, um mit ihr über Alabaster zu sprechen.

»Er ist ein alter Freund.« So. Das fasst es gut zusammen, wenn auch unvollständig.

»Er kommt mir nicht wie jemand vor, der Freunde hat. Du auch nicht.« Sie mustert dich einen langen Moment. »Bist du auch eine Zehnberingte?«

Deine Finger beugen sich unwillentlich. »Ich habe einmal sechs Ringe getragen.«

Lernas Kopf schießt herum, er starrt dich an. Nun. Schnitters Gesicht zuckt auf eine Weise, die du nicht deuten kannst.

»Alabaster war mein Mentor«, fügst du hinzu, »damals, als ich noch beim Fulcrum war.«

»Verstehe. Und was genau sollst du nun an der Oberseite tun?«

Du öffnest den Mund, schließt ihn wieder. Dein Blick geht unwillkürlich zu Hjarka, die schnaubend aufspringt, und zu Lerna, dessen Gesichtsausdruck angespannter wird, als er begreift, dass du in seiner Anwesenheit nicht reden willst. Er hat etwas Besseres verdient, und dennoch … er ist ein Stillkopf. Schließlich sagst du: »Eine Orogenen-Sache.«

Das ist schwach. Lernas Miene wird ausdruckslos, aber sein Blick ist hart.

Hjarka wedelt mit der Hand und geht zum Vorhang. »Ich bin raus. Komm, Schnitter. Da du ja nur ein Starkrücken bist.« Sie gibt ein bellendes Lachen von sich.

Schnitter versteift sich, aber zu deiner Überraschung steht er auf und folgt ihr nach draußen. Du musterst Lerna einen Augenblick, aber er verschränkt die Arme vor der Brust. Er geht nirgendwohin. Na gut.

Ykka sieht dich skeptisch an. »Was ist das, eine letzte Lektion von deinem alten Mentor? Er wird offensichtlich nicht mehr lange leben.«

Unwillkürlich verspannst du dich. »Das bleibt abzuwarten.«

Ykka sieht immer noch nachdenklich aus, dann nickt sie entschlossen und erhebt sich. »Also schön. Ich hole nur schnell ein paar Starkrücken zusammen, dann können wir uns auf den Weg machen.«

»Warte, du willst mitkommen? Warum?«

»Aus Neugier. Mich interessiert, zu was eine Sechsberingte des Fulcrums imstande ist.« Sie lächelt dich an und greift nach der langen Pelzweste, die sie bei eurer ersten Begegnung getragen hat. »Vielleicht kann ich es ja auch versuchen.«

Du zuckst heftig zusammen bei der Vorstellung, dass eine Ungezähmte, die sich alles selbst beigebracht hat, versuchen könnte, sich mit einem Obelisken zu verbinden. »Nein.«

Ykkas Miene wird ausdruckslos. Lerna starrt dich an, als könnte er kaum glauben, dass du dein Ziel im gleichen Atemzug erreicht und zunichtegemacht hast. Du berichtigst dich sofort. »Es ist sogar für mich gefährlich, und ich habe es schon zuvor gemacht.«

»›Es‹?«

Jetzt reicht es. Es ist sicherer, dass sie es nicht erfährt, aber Lerna hat recht; wenn du in dieser Gem leben willst, musst du diese Frau auf deine Seite ziehen. »Bevor ich es dir sage, musst du mir versprechen, dass du es nicht versuchen wirst.«

»Ich werde dir gar nichts versprechen. Ich kenne dich nicht.« Ykka verschränkt die Arme. Sie ist eine große Frau, und die Haare unterstreichen das noch. Viele Sansi tragen ihre aschgrauen Haare gern in großen, aufgebauschten Mähnen, so wie sie. Es ist ein animalischer Einschüchterungsversuch, und bei Leuten, die das entsprechende Selbstvertrauen haben, funktioniert es sogar. Ykka hat es und noch einiges mehr.

Aber du besitzt Wissen. Du stehst auf und blickst ihr in die Augen. »Du kannst es nicht tun«, sagst du und versuchst, sie dazu zu bringen, dir zu glauben. »Du hast nicht die Ausbildung dafür.«

»Du weißt nicht, was für eine Ausbildung ich hatte.«

Du blinzelst, erinnerst dich an den Moment an der Oberseite, als dich die Erkenntnis, dass du Nassuns Spur verloren hast, fast aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Diese seltsame Kraftwoge, die Ykka durch dich hat hindurchstreichen lassen, war wie ein Schlag, aber freundlicher und irgendwie orogenisch. Dann ist da noch ihr kleiner Trick, mit dem sie Orogenen in vielen Meilen Entfernung nach Castrima ziehen kann. Ykka trägt zwar keine Ringe, aber bei Orogenie geht es nicht um Ränge.

Es geht also nicht anders und du lenkst ein. »Ein Obelisk«, sagst du und siehst Lerna an; er blinzelt und runzelt die Stirn. »Alabaster will, dass ich einen Obelisken rufe. Ich werde versuchen, es zu tun.«

Zu deiner Überraschung nickt Ykka. Ihre Augen leuchten. »Aha! Ich hab mir schon gedacht, dass mit diesen Dingern irgendwas ist. Gehen wir also. Das will ich unbedingt sehen.«

Oh. Scheiße.

Ykka schlüpft in die Weste. »Gib mir eine halbe Stunde, dann triff mich beim Aussichtspunkt.« Sie meint den Eingang nach Castrima, die kleine Plattform, von der aus ausnahmslos alle Neuankömmlinge die seltsame Gem im Innern einer riesigen Geode anstarren. Dann streift sie an dir vorbei und verlässt die Wohnung.

Du schüttelst den Kopf und siehst Lerna an. Er nickt ernst; er will auch mitgehen. Hoa? Er nimmt seinen üblichen Platz hinter dir ein und sieht dich gelassen an, als wollte er sagen: Hast du daran gezweifelt? Also seid ihr jetzt eine Gruppe.

Ykka stößt eine halbe Stunde später am Aussichtspunkt zu euch. Vier andere Castrimaner sind bei ihr, bewaffnet und in Kleidung mit verblassenden Farben und Grautönen gehüllt, um sich an der Oberfläche zu tarnen. Der Weg hinauf ist anstrengender, als der hinunter es war, denn es gibt ewig viele Treppen. Als ihr oben ankommt, bist du nicht so außer Atem wie einige von Ykkas Truppe, aber du bist auch jeden Tag viele Meilen gegangen, während sie sicher und bequem in ihrer unterirdischen Stadt gelebt haben. (Ykka atmet nur ein bisschen schwerer als du, sie hält sich in Form.) Schließlich erreicht ihr einen falschen Keller in einem der Köderhäuser an der Oberseite. Es ist nicht der gleiche Keller wie der, durch den du nach unten gegangen bist, was dich nicht verwundern sollte; natürlich besteht Castrimas »Tor« aus verschiedenen Ein- und Ausgängen. Die unterirdischen Gänge sind allerdings komplizierter, als du anfangs gedacht hattest – etwas, das du nicht vergessen solltest, für den Fall, dass du eilig verschwinden musst.

Auch in diesem Köderhaus gibt es Wachposten. Ein paar Starkrücken bewachen den Eingang im Untergeschoss, andere sind oben im Haus und behalten die Straße im Blick. Als diese euch Entwarnung geben, tretet ihr hinaus in den Ascheregen des späten Abends.

Weniger als ein Tag ist vergangen, seit du in der Geode von Castrima bist. Es ist erstaunlich, wie seltsam dir jetzt die Oberfläche vorkommt. Zum ersten Mal seit Wochen bemerkst du den Schwefelgestank in der Luft, den silbrigen Dunst, das unaufhörliche sanfte Rieseln von Ascheflocken auf Laub und Boden. Die Stille, die dich begreifen lässt, wie lärmig es in Untercastrima ist, wo Leute sprechen und Flaschenzüge quietschen und Schmieden scheppern und ein beständiges Summen von der seltsamen verborgenen Maschinerie der Geode ausgeht. Hier oben gibt es nichts. Die Bäume haben ihre Blätter verloren; nichts bewegt sich zwischen dem an den Rändern eingerollten Laub auf dem Boden. Kein Vogelgesang ertönt zwischen den Ästen und Zweigen; die meisten Vögel hören während einer Fünftzeit auf, ihr Territorium zu markieren und sich zu paaren. Der Gesang würde nur Fressfeinde anlocken. Es gibt auch keine anderen Tiergeräusche. Und es sind keine Reisenden auf der Straße, auch wenn die Ascheschicht dort dünner ist. Vor Kurzem sind dort Leute vorbeigekommen. Zudem ist es vollkommen windstill. Die Sonne ist untergegangen, aber es ist noch immer viel Licht am Himmel. Selbst so weit südlich wie hier spiegeln die Wolken den Grabenbruch.

»Irgendwen gesehen?«, fragt Ykka einen der Wachposten.

»Vor vierzig Minuten eine Gruppe, hat nach Familie ausgesehen«, sagt der, angemessen leise. »Gut ausgerüstet. Etwa zwanzig Leute, unterschiedlich alt, alle Sansi. Sind nach Norden unterwegs.«

Das lenkt alle Blicke auf ihn.

Ykka wiederholt: »Nach Norden?«

»Nach Norden.« Der Wachposten, der wunderschöne lange Wimpern hat, schaut Ykka an und zuckt mit den Schultern. »Sah so aus, als würden sie genau wissen, wohin sie wollen.«

»Hmm.« Ykka verschränkt die Arme, zittert ein bisschen, obwohl es hier draußen nicht besonders kalt ist. Die Kälte einer Fünftzeit beginnt erst Monate später. Aber in Untercastrima ist es so warm, dass Obercastrima im Vergleich dazu kühl wirken muss. Oder vielleicht reagiert Ykka auf den öden Anblick der Gem um sie herum. So viele stille Häuser, tote Gärten und ascheverstopfte Gehwege, über die einst Menschen gegangen sind. Du hast in dem an der Oberfläche gelegenen Teil der Gem einen Köder gesehen – und das ist er auch, ein Honigtopf, der jene anzieht, die man haben will, und die abschreckt, die man nicht haben will. Und doch war dieser Ort einmal eine echte Gem, lebendig und strahlend und alles andere als leblos.

»Nun?« Ykka holt tief Luft und lächelt, aber du findest ihr Lächeln angestrengt. Sie nickt zu den tief hängenden Aschewolken. »Wenn du das Ding sehen musst, fürchte ich, dass du in der nächsten Zeit nicht viel Glück haben wirst.«

Sie hat recht; in der Luft hängt ein Dunstschleier aus Asche, und außer den aufgereihten, rotgefärbten Wolken ist nicht das Geringste zu sehen. Du trittst von der Veranda herunter und siehst trotzdem zum Himmel, unsicher, wie du anfangen sollst. Du bist dir nicht einmal sicher, ob du anfangen sollst. Schließlich wärst du fast gestorben, als du die ersten beiden Male versucht hast, mit einem Obelisken Kontakt aufzunehmen. Und dann ist da noch die Tatsache, dass Alabaster möchte, dass du das hier tust, dabei ist er doch der Mann, der die Welt zerstört hat. Vielleicht solltest du nichts von dem tun, worum er dich bittet.

Er hat dir allerdings niemals wehgetan. Die Welt hat das getan, nicht er. Vielleicht hat die Welt es verdient, zerstört zu werden. Und vielleicht hat er sich dein Vertrauen ein bisschen verdient, nach all den Jahren.

Du schließt also die Augen und versuchst, deine Gedanken zu beruhigen. Jetzt bemerkst du, dass doch Geräusche um dich herum sind. Ein schwaches Ächzen und Knacken, wenn die Holzteile von Obercastrima auf das Gewicht der Asche reagieren oder auf die sich ändernde Lufttemperatur. Ein Huschen zwischen den vertrockneten Halmen eines nahen Hausgartens: Nagetiere oder etwas ähnlich Kleines, nichts, was dir Sorgen bereiten müsste. Einer der Castrimaner atmet aus irgendeinem Grund schwer.

Warmes Zittern der Erde unter deinen Füßen. Falsche Richtung.

Am Himmel ist genug Asche, dass du die Wolken mit deinem Bewusstsein quasi greifen kannst. Asche ist schließlich pulverisierter Stein. Aber um die Wolken geht es dir nicht. Du tastest dich an ihnen entlang, wie du es mit den Gesteinsschichten der Erde machen würdest, nicht ganz sicher, wonach du suchst –

»Dauert das noch sehr lange?«, sagt einer der Castrimaner seufzend.

»Wieso, noch ’ne Verabredung heute?«, fragt Ykka gedehnt.

Er ist bedeutungslos. Er ist –

Er ist –

Etwas zieht dich scharf nach Westen. Du zuckst zusammen und drehst dich um, willst genauer hinsehen, atmest ein, während dir eine Nacht vor langer Zeit in einer Gem namens Allia einfällt und ein anderer Obelisk. Der Amethyst. Er musste ihn nicht sehen