Brief an ein nie geborenes Kind - Oriana Fallaci - E-Book

Brief an ein nie geborenes Kind E-Book

Oriana Fallaci

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Beschreibung

Das feministische Kultbuch – wiederentdeckt! Eine junge Frau wird ungewollt schwanger. Während der ersten, sehr bewusst erlebten Wochen versucht sie, sich seelisch und geistig auf die neue Rolle als Mutter vorzubereiten, die sie zugleich herbeisehnt und fürchtet. Als erfolgreiche Journalistin und emanzipierte Frau will sie ihre Unabhängigkeit bewahren, die teils heftigen Reaktionen ihrer Umwelt und der gesellschaftliche Druck, unter dem sie steht, setzen ihr zu. Sie spricht zu ihrem ungeborenen Kind und durchlebt dabei ein Wechselbad der Gefühle – freudige Erwartung, zärtliche Ungeduld, Verzweiflung, Traurigkeit, Angst und Hoffnung … Ein Klassiker der feministischen Literatur – berührend, authentisch und überraschend aktuell.

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Seitenzahl: 179

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Oriana Fallaci

Brief an einnie geborenes Kind

Aus dem Italienischen vonHeinz Riedt

Mit einem Nachwort vonBarbara Sichtermann

Die den Zweifel nicht fürchtenund nach dem Warum fragen,unermüdlich,auch wenn sie leiden und sterben müssten,die sich dem Dilemma stellen,Leben zu geben oder zu verweigern –denen sei dies Buch gewidmetvon einer Frauallen Frauen

Inhalt

Brief an ein nie geborenes Kind

Nachwort

Oriana Fallaci

Heute Nacht erfuhr ich, dass du da bist: ein Tropfen Leben, dem Nichts entkommen. Ich hatte die Augen weit in das Dunkel hinein aufgerissen, und plötzlich flammte in diesem Dunkel ein Strahl von Gewissheit auf: Ja, du bist da. Es gibt dich. Es war, als würde einem eine Kugel in die Brust geschossen. Mein Herz stockte. Und als es wieder zu schlagen begann mit dumpfen betäubenden Schlägen des Staunens, war mir, als stürzte ich in einen Schacht, wo alles Unsicherheit und Schrecken ist. Hier bin ich nun, eingesperrt in eine Angst, bei der mir Gesicht, Haar und Gedanken nass werden. Und ich verliere mich in ihr. Vielleicht kannst du es verstehen: Es ist nicht die Angst vor den anderen. Die anderen kümmern mich nicht. Es ist nicht die Angst vor Gott. An Gott glaube ich nicht. Nicht die Angst vor dem Schmerz. Den fürchte ich nicht. Es ist die Angst vor dir, vor dem Zufall, der dich aus dem Nichts gerissen hat, um dich an meinen Leib zu hängen. Ich war niemals darauf vorbereitet, dich aufzunehmen, obwohl ich dich sehr erwartet habe. Immer habe ich mir die schlimme Frage gestellt: Wenn du nun gar nicht geboren werden möchtest? Wenn du es mir eines Tages zum Vorwurf machen und mich anschreien würdest: »Wer hat dich denn gebeten, mich zur Welt zu bringen, warum hast du mich überhaupt zur Welt gebracht?« Das Leben ist so eine Mühsal, Kind. Es ist ein Krieg, der sich Tag für Tag wiederholt, und seine Momente der Freude sind kurze Parenthesen, für die man einen schrecklichen Preis zahlt. Wie kann ich erfahren, dass es falsch wäre, dich wegzuwerfen, wie soll ich erraten, dass du dem Schweigen gar nicht wiedergegeben sein willst? Du kannst ja nicht mit mir reden. Dein Tropfen Leben ist erst ein Knäuel kaum begonnener Zellen. Vielleicht ist er noch gar kein Leben, aber Lebensmöglichkeit. Doch ich würde wer weiß was darum geben, wenn du mir mit einem Zeichen, einem Hinweis helfen könntest. Meine Mutter behauptet, ich hätte es getan und darum hätte sie mich zur Welt gebracht.

Weißt du, meine Mutter wollte mich nämlich gar nicht. Ich hatte aus Irrtum begonnen, in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit anderer. Und damit ich nicht geboren würde, löste sie jeden Abend eine Medizin im Wasser auf und trank sie weinend. Trank sie bis zu dem Abend, als ich mich in ihrem Leib bewegte und ihr einen Fußtritt gab, um ihr zu bedeuten, dass sie mich nicht wegwerfen sollte. Sie war gerade dabei, das Glas Wasser an die Lippen zu führen. Sie nahm es augenblicklich weg und goss den Inhalt auf den Boden. Einige Monate danach kullerte ich mich siegreich in der Sonne, und ob das nun gut oder schlecht gewesen ist, weiß ich nicht. Wenn ich glücklich bin, denke ich, dass es gut gewesen ist, und wenn ich unglücklich bin, denke ich, dass es schlecht gewesen ist. Aber selbst wenn ich unglücklich bin, denke ich, dass ich es bedauern würde, nicht geboren zu sein, weil es nichts Schlimmeres gibt als das Nichts. Ich sage dir noch einmal, dass ich mich vor dem Schmerz nicht fürchte. Er entsteht mit uns, wächst mit uns, an ihn gewöhnt man sich wie an die Tatsache, zwei Arme und zwei Beine zu haben. Eigentlich fürchte ich mich auch nicht vor dem Sterben: Wenn man stirbt, heißt das nämlich, dass man geboren worden ist, dass man aus dem Nichts herausgetreten ist. Das Nichts fürchte ich, das Nichtsein, sagen zu müssen, nicht dagewesen zu sein, und wenn auch nur durch Zufall, Irrtum, Unaufmerksamkeit. Viele Frauen stellen sich die Frage: Warum eigentlich ein Kind in die Welt setzen? Damit es Hunger und Kälte leidet, damit es betrogen und beleidigt wird, damit es von Krieg oder Krankheit gemordet wird? Und leugnen die Aussicht, dass sein Hunger gestillt, sein Frieren erwärmt werden könnte, dass Treue und Achtung ihm freundlich sein könnten, dass es lange leben und versuchen könnte, Krankheiten und Krieg zu tilgen. Möglicherweise haben sie auch recht. Aber soll man das Nichts dem Leben vorziehen? Sogar in Momenten, wenn ich über meine Misserfolge, meine Enttäuschungen und Nöte weine, komme ich zu dem Ergebnis, dass Leiden immer noch dem Nichts vorzuziehen ist. Und wenn ich das auf das Leben erweitere, auf das Dilemma, geboren oder nicht geboren zu werden, muss ich am Ende mit aller Bestimmtheit sagen, dass geboren werden doch besser ist als nicht geboren zu werden. Aber darf man auch dir eine solche Überlegung aufzwingen? Ist das nicht, als würde ich dich nur für mich selbst zur Welt bringen? Ich habe kein Interesse daran, dich nur meinetwegen zur Welt zu bringen. Umso weniger, als ich dich überhaupt nicht nötig habe.

Du hast mir keine Fußtritte gegeben und mir keine Antworten geschickt. Wie solltest du auch? Du bist erst so kurze Zeit da: Würde ich den Arzt um eine Bestätigung bitten, er würde nur spöttisch lächeln. Aber ich habe mich für dich entschieden: Du wirst geboren werden. Ich habe mich aufgrund deiner Fotografie entschieden. Nicht genau deiner Fotografie, natürlich nicht: Es ist die Fotografie irgendeines drei Wochen alten Embryos, veröffentlicht in einer Zeitschrift zusammen mit einer Reportage über das werdende Leben. Und während ich sie ansah, verging mir die Angst: rasch wie sie gekommen war. Du siehst aus wie eine geheimnisvolle Blume, eine durchscheinende Orchidee. Oben erkennt man eine Art Kopf mit den beiden Protuberanzen, die sich zum Gehirn entwickeln werden. Weiter unten eine Art Vertiefung, die sich zum Mund entwickeln wird. Drei Wochen alt, bist du kaum zu sehen, erläutert die Bildunterschrift. Zweieinhalb Millimeter groß. Und doch wächst in dir eine Spur von Augen heran, etwas, das einem Rückgrat gleicht, einem Nervensystem, einem Magen, einer Leber, einem Darm und Lungen. Dein Herz ist schon ausgebildet und groß: neunmal so groß wie meines in der Proportion. Seit dem sechzehnten Tag pumpt es Blut und klopft regelmäßig: Könnte ich dich wegwerfen? Was spielt es für eine Rolle, ob du durch Zufall oder Irrtum begonnen hast. Hat nicht auch die Welt, auf der wir leben, aus Zufall oder gar aus Irrtum begonnen? Einige sagen, dass im Anfang nichts als große Ruhe, großes regungsloses Schweigen war, dann gab es einen Funken, einen Riss, und was vorher nicht gewesen war, das wurde jetzt. Dem Riss folgten bald weitere Risse: zunehmend unerwartet, sinnlos, in Unkenntnis der Konsequenzen. Und unter diesen Konsequenzen tat sich eine Zelle auf, auch sie durch Zufall, womöglich durch Irrtum, die sich augenblicklich millionenfach, milliardenfach vermehrte, bis Bäume, Fische, Menschen entstanden. Glaubst du, jemand hätte sich vor dem Knall oder vor der Zelle die Frage gestellt? Glaubst du, er hätte sich gefragt, ob es ihnen passt? Oder er hätte sich den Kopf zerbrochen, ob sie Hunger haben, frieren, unglücklich sein werden? Ich sage nein. Selbst wenn es diesen Jemand gegeben hätte, beispielsweise einen mit Anfang und Ende vergleichbaren, über Zeit und Raum stehenden Gott, so fürchte ich, er hätte sich um Gut und Böse nicht gekümmert. Alles geschah, weil es geschehen konnte, folglich geschehen musste im Sinn einer Anmaßung, welche die einzige legitime Anmaßung war. Und für dich gilt die gleiche Überlegung. Ich übernehme die Verantwortung für die Wahl.

Ich übernehme sie ohne jeden Egoismus, Kind: Dich zur Welt zu bringen, das schwöre ich dir, ist mir kein Vergnügen. Ich sehe mich nicht mit dickem Bauch auf der Straße gehen, sehe mich nicht dir die Brust geben, dich baden, dir das Sprechen beibringen. Ich bin eine berufstätige Frau und habe eine Menge anderer Verpflichtungen und Interessen: Ich sagte dir ja schon, dass ich dich nicht nötig habe. Trotzdem werde ich dich austragen, ob es dir passt oder nicht. Trotzdem werde ich dich jene Anmaßung fühlen lassen, die auch ich und meine Eltern und meine Großeltern und die Großeltern meiner Großeltern zu fühlen bekamen: bis hin zum ersten menschlichen Wesen, das von einem menschlichen Wesen geboren wurde, ob es ihm passte oder nicht. Hätte man dem – ihm oder ihr – die Freiheit der Wahl gelassen, wäre es wahrscheinlich erschrocken und hätte geantwortet: Nein, ich will nicht geboren werden, nein. Doch niemand fragte es nach seiner Meinung, und so wurde es geboren und lebte und starb, nachdem es ein anderes menschliches Wesen geboren hatte, ohne es zu fragen, und dieses machte es ebenso so durch Jahrmillionen bis hin zu uns, und jedes Mal war es eine Anmaßung, ohne die wir nicht existieren würden. Hab Mut, Kind. Meinst du denn, ein Baumsamen braucht keinen Mut, wenn er in die Erde dringt und keimt? Ein einziger Windstoß kann ihn herauslösen, ein Mäusepfötchen kann ihn zerquetschen. Aber er keimt und hält stand und wächst und wirft andere Samen. Und wird ein Wald. Schreist du mich eines Tages an: »Warum hast du mich zur Welt gebracht?«, dann antworte ich dir: »Ich habe nur getan, was die Bäume jahrmillionenlang schon vor mir taten, und ich dachte, es wäre recht so.«

Wichtig ist, seine Meinung nicht durch die Überlegung zu ändern, dass menschliche Wesen keine Bäume sind und das Leiden eines menschlichen Wesens tausendmal größer ist als das eines Baumes, weil es sich dessen bewusst ist, dass nicht alle Baumsamen auch Bäume hervorbringen: In ihrer übergroßen Mehrzahl gehen sie verloren. Eine solche Kehrtwendung ist nicht möglich, Kind: Unsere Logik steckt voller Widersprüche. Kaum hast du etwas behauptet, erkennst du auch schon das Gegenteil. Und merkst vielleicht, dass dieses Gegenteil ebenso gültig ist wie deine Behauptung. Demnach könnte mein Gedankengang von heute ohne Weiteres, so im Handumdrehen, umgekehrt werden. Bitte: Schon fühle ich mich verwirrt und durcheinandergebracht. Vielleicht, weil ich mich außer dir niemandem anvertrauen kann. Ich bin eine Frau, die sich entschieden hat, allein zu leben. Dein Vater ist nicht bei mir. Und das bedaure ich nicht, obwohl mein Blick zuweilen die Tür sucht, durch die er mit seinem festen Schritt hinausgegangen ist, ohne dass ich ihn zurückgehalten hätte, fast, als hätten wir uns nichts mehr zu sagen.

Ich habe dich zum Arzt gebracht. Mehr noch als die Bestätigung wollte ich ein paar gute Ratschläge. Als Erwiderung schüttelte er nur den Kopf und meinte, ich wäre ungeduldig, er könnte sich noch nicht äußern, ich sollte in vierzehn Tagen wiederkommen und mich auf die Entdeckung gefasst machen, dass du nur ein Produkt meiner Einbildung gewesen wärst. Ich werde nur deshalb wiederkommen, weil ich ihm beweisen will, dass er ein Ignorant ist. Seine ganze Wissenschaft kann meine Intuition nicht aufwiegen, und wie soll auch ein Mann eine Frau verstehen können, die vor der Zeit behauptet, dass sie ein Kind erwartet? Ein Mann wird nicht schwanger, aber sag mal, weil wir gerade davon reden: Ist das eine Bevorzugung oder eine Benachteiligung? Bis gestern hielt ich es für eine Bevorzugung, ja für ein Privileg. Heute halte ich es für eine Benachteiligung, geradezu für einen Mangel. Im eigenen Körper ein anderes Leben zu umschließen, sich zu zweit und nicht allein zu wissen, das hat schon etwas Glorreiches. Manchmal erfüllt einen sogar ein Gefühl des Triumphes, und in der Gelassenheit, die den Triumph begleitet, kann einen nichts beunruhigen: nicht der körperliche Schmerz, den man auf sich nehmen muss, nicht die Freiheit, die man aufgeben muss. Wirst du ein Mann oder eine Frau? Ich wünschte, eine Frau. Ich wünschte, du würdest eines Tages empfinden, was ich empfinde: Ich teile keineswegs die Meinung meiner Mutter, die es für ein Unglück hält, als Frau auf die Welt zu kommen. Wenn meine Mutter sehr unglücklich ist, stöhnt sie: »Ach, wäre ich doch nur ein Mann!« Ich weiß: Unsere Welt ist eine von Männern für Männer gemachte Welt, ihre Diktatur ist schon so uralt, dass sie sogar bis in die Sprache hineinreicht. Im Italienischen sagt man uomo (Mann, Mensch) und meint damit Mann und Frau, man sagt bambino und meint damit Junge und Mädchen, man sagt omicidio und meint damit die Ermordung eines Mannes und die einer Frau. In den von Männern erfundenen Legenden zur Erklärung des Lebens ist das erste Geschöpf nicht etwa eine Frau: Es ist ein Mann mit Namen Adam. Eva kommt nachher, um ihn zu amüsieren und Unheil anzurichten. Auf den Gemälden, die ihre Kirchen zieren, ist Gott ein alter Mann mit einem Bart: Niemals eine alte Frau mit weißem Haar. Und alle ihre Helden sind Männer: von jenem Prometheus, der das Feuer brachte, bis zu jenem Ikarus, der zu fliegen versuchte, und bis hin zu jenem Jesus, den sie als Sohn des Vaters und des Heiligen Geistes erklärten: Schon fast, als wäre jene Frau, die ihn geboren hat, ein Brutschrank oder eine Amme gewesen. Und trotzdem oder vielleicht gerade darum ist es so faszinierend, eine Frau zu sein. Es ist ein Abenteuer, das so viel Mut erfordert, eine Herausforderung, die einem nie zu viel wird. Du wirst so viel zu unternehmen haben, wenn du als Frau auf die Welt kommst. So wird dich, um gleich damit anzufangen, die Behauptung einen Kampf kosten, dass Gott, wenn es ihn gibt, ebenso gut eine alte weißhaarige Frau oder ein schönes Mädchen sein könnte. Es wird dich auch einen Kampf kosten, darzulegen, dass die Sünde nicht an dem Tag entstand, als Eva einen Apfel pflückte: An dem Tag wurde eine wunderbare Tugend geboren, die Ungehorsam heißt. Schließlich wird es dich einen Kampf kosten, zu beweisen, dass in deinem glatten, gerundeten Körper eine Intelligenz existiert, die danach schreit, angehört zu werden. Mutter zu sein ist kein Beruf. Es ist nicht einmal eine Pflicht. Es ist nur ein Recht unter vielen anderen. Das hinauszuschreien wird sehr schwer für dich sein. Und du wirst oft, fast immer den Kürzeren ziehen. Aber du darfst den Mut nicht verlieren. Kämpfen ist bedeutend schöner als siegen, reisen macht viel mehr Spaß als ankommen: Wenn du angekommen bist oder wenn du gesiegt hast, fühlst du eine große Leere. Und um diese Leere zu überwinden, musst du dich von Neuem auf die Reise begeben, musst dir neue Aufgaben stellen. Ja, ich hoffe, du bist eine Frau: Mach dir nichts daraus, wenn ich Kind zu dir sage. Und ich hoffe auch, du wirst nie so sprechen wie meine Mutter. Ich habe es nie getan.

Aber wenn du als Mann geboren wirst, soll es mir auch recht sein. Vielleicht noch mehr, weil dir dann so viele Demütigungen, so viel Unterdrückung, so viele Missdeutungen erspart bleiben. Wenn du als Mann geboren wirst, brauchst du zum Beispiel keine Angst zu haben, auf dunkler Straße vergewaltigt zu werden. Brauchst dich keines hübschen Gesichts zu bedienen, um augenblicklich eingestellt zu werden, keines schönen Körpers, um deine Intelligenz zu kaschieren. Man wird nicht schlecht über dich reden, wenn du schläfst, mit wem du magst, man wird nicht zu dir sagen, dass die Sünde an dem Tag entstand, als du einen Apfel pflücktest. Du wirst viel weniger Mühe haben. Du wirst einen leichteren Kampf haben mit der Behauptung, dass Gott, wenn es ihn gibt, ebenso gut eine alte weißhaarige Frau oder auch ein schönes Mädchen sein könnte. Du wirst ungehorsam sein können, ohne verlacht zu werden, wirst lieben können, ohne eines Nachts mit dem Gefühl aufzuwachen, in einen Schacht zu stürzen, wirst dich wehren können, ohne beschimpft zu werden. Freilich erwarten dich andere Zwänge, andere Ungerechtigkeiten: Auch für einen Mann ist das Leben nicht leicht, weißt du. Weil du stärkere Muskeln hast, werden sie von dir verlangen, dass du größere Bürden trägst, und werden dir willkürlich Verantwortung aufladen. Weil du einen Bart hast, werden sie lachen, wenn du weinst, und sogar, wenn du Zärtlichkeit brauchst. Weil du einen Schwanz hast, werden sie dich dazu abkommandieren, im Krieg zu töten oder getötet zu werden, und deine Mittäterschaft bei der Fortführung der Tyrannei fordern, die sie einst in den Höhlen errichtet haben. Trotzdem oder gerade darum ist es ein ebenso wundervolles Abenteuer, Mann zu sein: ein Unternehmen, das dich nie enttäuschen wird. Jedenfalls hoffe ich es. Denn wenn du als Mann geboren wirst, hoffe ich, dass du so ein Mann wirst, wie ich ihn mir immer erträumt habe: freundlich zu den Schwachen, zornig zu den Überheblichen, großmütig zu denen, die dich gern haben, unversöhnlich zu denen, die dich herumkommandieren. Und schließlich ein Feind aller, die erzählen, der oder jener sei Sohn des Vaters und des Heiligen Geistes: nicht etwa der Frau, die ihn geboren hat.

Kind, ich gebe mir Mühe, dir zu erklären, dass Mann sein nicht bedeutet, einen Schwanz zu haben: Es bedeutet, eine Person zu sein. Mir ist vor allem daran gelegen, dass du eine Person bist. Das Wort Person ist ein herrliches Wort, denn es legt einem Mann oder einer Frau keine Beschränkungen auf, errichtet keine Barrieren zwischen denen, die einen Schwanz haben, und denen, die keinen haben. Im Übrigen ist die Unterscheidung zwischen denen, die einen Schwanz haben, und denen, die keinen haben, eine höchst fragwürdige: Es handelt sich doch nur um die Fähigkeit, ein Geschöpf in seinem Körper heranreifen zu lassen oder nicht. Herz und Verstand kennen kein Geschlecht. Nicht einmal das Verhalten. Wenn du eine Person von Herz und Verstand wirst, dann vergiss nicht, dass ich bestimmt nicht zu denen gehöre, die dir Vorschriften machen werden, dich so oder so, wie ein Mann oder eine Frau zu verhalten. Nur um das Eine werde ich dich bitten: Das Wunder, geboren worden zu sein, wohl zu nutzen und dich nie von der Feigheit verleiten zu lassen. Sie ist eine ständig auf der Lauer liegende Bestie, diese Feigheit. Sie fällt uns alle an, Tag für Tag, und es gibt nur wenige, die sich nicht von ihr niedermachen lassen. Im Namen der Vorsicht, im Namen der Zweckmäßigkeit, bisweilen im Namen von Klugheit und Weisheit. Feige, solange sie von Gefahr bedroht sind, werden die Menschen übermütig, wenn die Gefahr vorüber ist. Du darfst der Gefahr nicht aus dem Weg gehen, niemals: auch nicht, wenn die Angst dich zurückhalten will. Schon auf die Welt zu kommen, birgt ein Risiko: später zu bereuen, dass man auf der Welt ist.

Vielleicht spreche ich dir allzu früh von solchen Dingen. Vielleicht sollte ich dir vorläufig noch Abscheulichkeiten und Trauriges verschweigen, dir lieber über eine Welt von unschuldigen und fröhlichen Dingen berichten. Doch das hieße, dich in eine Falle locken. Es hieße, dir vormachen, Kind, das Leben sei ein weicher Teppich, auf dem man barfuß laufen kann, und nicht eine Straße voller Steine. Steine, über die man stolpert und fällt, an denen man sich verletzt. Steine, vor denen man sich mit eisernen Schuhen schützen muss. Und nicht einmal das ist ausreichend, denn während du deine Füße schützt, gibt es immer irgendeinen, der einen Stein aufhebt, um ihn dir an den Kopf zu werfen. Nun, für heute bin ich am Ende, mein kleiner Sohn, meine kleine Tochter. Ist die Lektion bis zu dir gedrungen? Hätte mich jetzt jemand gehört, wer weiß, was er dazu sagen würde. Würde er mich für verrückt oder ganz einfach für grausam erklären? Ich habe mir deine letzte Fotografie angesehen; mit fünf Wochen bist du nicht einmal einen Zentimeter groß. Du veränderst dich ziemlich stark. Jetzt gleichst du nicht mehr so sehr einer geheimnisvollen Blüte, sondern eher einer ganz entzückenden Larve, nein, einem kleinen Fisch, dem eilig die Flossen sprießen. Vier Flossen, die Beine und Arme sein werden. Die Augen sind schon zwei winzige schwarze Krümelchen, umgeben von einem Kreis, und unten am Körper hast du ein Schwänzchen! Die Bildunterschrift erläutert, dass es in diesem Stadium fast unmöglich ist, dich von dem Embryo irgendeines anderen Säugetiers zu unterscheiden: Wärst du eine Katze, würdest du mehr oder weniger auch so aussehen, wie du jetzt bist. Es ist ja kein Gesicht da. Nicht einmal ein Gehirn. Ich rede mit dir, Kind, und du weißt es nicht. In der Dunkelheit, die dich umhüllt, weißt du nicht einmal, dass du existierst: Ich könnte dich wegwerfen, und du würdest nie wissen, dass ich dich weggeworfen habe. Es wäre dir gar nicht möglich, jemals zu erkennen, ob ich dir nun ein Unrecht getan oder eine Wohltat erwiesen habe.

Gestern hatte ich einen Augenblick schlechter Stimmung. Du musst das Gerede entschuldigen, dass ich dich wegwerfen könnte, ohne dass du überhaupt wüsstest, ob ich dir ein Unrecht getan oder eine Wohltat erwiesen hätte. Gerede, nichts weiter. Meine Entscheidung hat sich in keiner Weise geändert, auch wenn dies in meiner Umgebung Erstaunen auslöst. Heute Nacht sprach ich mit deinem Vater. Ich sagte es ihm, dass du bist. Ich sagte es ihm am Telefon, denn er ist weit weg; und gemessen an dem, was ich da hörte, habe ich ihm wohl keine gute Nachricht gebracht. Vor allem hörte ich ein langes Schweigen: gerade als ob die Verbindung abgebrochen wäre. Dann kam eine stotternde heisere Stimme: »Was braucht es denn?« Ich antwortete, ohne zu begreifen: »Ich denke, neun Monate. Nein, nicht einmal mehr acht jetzt.« Da war die Stimme auf einmal nicht mehr heiser, sondern wurde schrill: »Ich rede von Geld.« – »Was für Geld?«, fragte ich. »Das Geld, um es loszuwerden, was denn sonst?« Ja, er sagte wirklich »loszuwerden«. Als wärst du irgendein Bündel. Und als ich ihm dann, so ruhig es ging, erklärte, dass ich etwas ganz anderes vorhätte, hielt er mir eine lange Rede, in der Bitten und Ratschläge, Ratschläge und Drohungen, Drohungen und Schmeichelworte einander abwechselten. »Denk doch an deine Karriere, überleg dir mal, was für