Briefbombe - Viktor Timtschenko - E-Book

Briefbombe E-Book

Viktor Timtschenko

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Beschreibung

Was macht man, wenn man am frühen Morgen, noch vor dem ersten Schluck Kaffee, aus seinem Briefkasten eine Briefbombe rausholt? Wie fühlt man sich, wenn der Regen vierzig Tage lang nicht aufhört und langsam nicht nur dein Zuhause, sondern auch deine Stadt überschwemmt? Und was denkt ein Hund, der auf einem Fetzen Papier über Sushi und Pizza liest? Wie ist das, wenn der Begründer des Jesuitenordens Loyola auf den mächtigen Herrscher Ägyptens Cheops trifft? In Werken Viktor Timtschenkos verweben sich natürlich und unaufgeregt Realität und Fantasie, Heute und Vorvorgestern, Spannung trifft auf Feingefühl und den Sinn auf Hintersinn. Für alle, die sich nach guter Literatur sehnen.

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Seitenzahl: 182

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Viktor Timtschenko

Briefbombe

Monologe und Gespräche

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Keiner wird erwachsen

Ein verkehrtes Märchen darüber, wie die Brüder Grimm alles verwechselten

Geisterbahn

Neutrum

Meine Schwiegermutter, die Dissidentin

Briefbombe

Sushi

Der Regen

Die Cheopspyramide

Impressum neobooks

Keiner wird erwachsen

Mein Sohn will mit seiner Freundin nach Usedom. Er ist noch der Meinung, die Eltern sollen gefragt werden. Von der Idee sind wir nicht begeistert. Unser Sohn ist 15. Das Mädchen ist zwei Jahre älter. Wir möchten absagen, suchen nach Einwänden bzw. Vorwänden. Überlegungen von der Art: „Du bist zu jung“ gehen nicht mehr. Er meint, alt genug zu sein. Das Gegenteil können wir ihm nicht beweisen.

Er raucht bereits. Danach hat er uns nicht gefragt. Das ist cool und verbindet. Mit wem ihn die Zigarette verbindet und mit welchen Folgen ist für ihn bis zum ersten Hautarztbesuch unwesentlich. Ich habe ihn gefragt, ob er auch kiffen würde, in seiner Klasse ist das gang und gäbe. Er sagt, das sei nur eine Frage der Zeit.

Zumindest ist er offen. Er hat keine Angst, für schlimme Gedanken bestraft (in dem Fall angeschrieen) zu werden. Er ist eben erwachsen. Vielleicht erwachsener als ich. Ich selber bin oftmals ein Kind und gucke vergnügt mit meiner Tochter den Sandmann.

Schon immer fühlte ich mich als kleines Kind und suchte fortwährend nach Wärme und Geborgenheit, ich verstand jeden Tag meines Lebens als Vorbereitung auf das Leben als solches; das was vorher war, betrachtete ich als Skizze, Schmierblatt, das richtige echte Erwachsenenleben wird erst später eintreten, dachte ich... Manchmal nur, unter großer geistiger Anstrengung kann ich dieses langhaarige und muskulöse Räuchermännlein als meinen leiblichen Sohn akzeptieren. Ich bin selbst noch ein Kind. Man wird nie erwachsen und alt, deshalb hat man Angst vor dem Tod.

...Der Böse in der Familie bin ich. Ich erlaube meinem Kind wegzufahren. Mit einer Auflage übrigens: das Geld muss er selber hinlegen.

Ich bin gemein. Das ist ein Schlag unter die Gürtellinie: er hat kein Geld. Das weiß ich auch. Woher denn? Er ist noch zu klein, um Geld zu verdienen.

Ich sehe die Augen voller Tränen. Aber ich bin stur und unbeugsam. Ich bin erwachsen, ich entscheide, was gut und was schlecht für mein Sohn ist. KV. Klare Verhältnisse. Er geht in sein Zimmer und macht laut Musik. Ich denke, er macht das, um mich zu ärgern. Die Musik ist von der Sorte, die ich lieber im Stummfilm erleben würde.

Mein Herz tut mir weh. Und das schon seit langem. Ich möchte nur Gutes für meinen Sohn. Ich bin erwachsen und vernünftig, er ist unerwachsen und deshalb unvernünftig. Ich lese alle Packungsbeilagen und frage den Arzt oder Apotheker, und er ist nicht mal in der Lage, dem EU-Gesundheitsminister zuzuhören. Ich weiß bestens, wo das Glück meines Sohnes liegt. Ich bin sein Lenin und sein Stalin gleichzeitig, die auch bloß ein unvernünftiges und unerwachsenes Volk zum Glück bringen wollten. Das Volk hat dabei ebenfalls geweint, aber das hat dem Volk nicht geholfen. Sein Stück vom Glück zwang man ihm in den Rachen. Die daran erstickt sind, sind selber Schuld.

Am Morgen gehe ich aus dem Haus und verstehe, warum ich auf meinen Sohn so wütend war. Mein Auto steht mit halbem Rad auf dem Fußweg und unter dem Scheibenwischer verabschieden sich meine 20 Euro von mir. Ich bin böse zu meinem Sohn, weil ich selber wie Dreck von den vernünftigen und erwachsenen Oberen behandelt werde. Das heißt Demokratie. Die ganze Demokratie ist darauf aufgebaut, dass es die professionelle Erwachsene gibt, die besser wissen, wo es bei mir, Halbwüchsigen, lang gehen soll. Sie wissen, welche Fächer und wie lange ich studieren muss, sie schreiben vor, ab wann man die Pille nehmen darf und was ich für Gut und Böse halten muss. Sie sagen mir sogar, wann ich mich erwachsen zählen darf und wie viel ich für den Kosovo-Einsatz und für ihre eigenen Diäten am Monatsende rausrücken soll. Ich denke, die Erwachsenen oben interessiert überhaupt nicht, ob ich schon mannbar oder noch unreif bin. Ich bin nur eine Nummer für sie - in der Steuerbehörde, im Krankenhaus, bei der Bank und auf der Hardthöhe, bei der Polizei und im Telefonbuch, bei Beate Uhse und im zähfließenden Verkehr, im Schuhladen und bei der Post. Nur die Unterschrift zählt. Alles andere - Geist, Seele, Atem, Sinn, Verstand, Begabung, Weltanschauung, Denkart, Glauben - interessiert sie nicht. Verzeihung, den Glauben muss man aus dieser Liste streichen - die Kirchensteuer habe ich vergessen.

Mit kleinen Schikanen machen die erwachsenen Brüder mich unmündig. Was kann ich über die Schreibweise von Thomas Mann sagen, wenn meine Straße nicht gekehrt ist? Welche Menschenrechte hat meine Frau, wenn sie ihre Weißglasflasche in den Plastecontainer geworfen hat?

Die ganze Menschheit, abgesehen von Tausend Jahren Zivilisation, scheint auch noch nicht aus den Kinderschuhen raus. Sie ist naiv, wie ein Kind in dem Glauben, dass es Politiker gibt, die für ihr Bestes kämpfen. Wie ein Kind verträgt das Volk die Beleidigungen sehr schmerzhaft, aber es vergisst auch schnell und ist nicht nachtragend. Es lässt sich übern Tisch ziehen und an der Nase herumführen, es glaubt an Gott und vertraut den Parteien, es ist faul, wenn es nicht gepeitscht wird, und das Zuckerbrot lässt es durch Sacharin ersetzen. Es weint bitterlich, wenn ihm die Puppe abhanden kommt und merkt kaum, wenn die Mutter ihre tuberkulosegeplagte Lungen stückchenweiße ins Taschentuch speit.

Wir alle sind wie die Kinder sehr schlau, wenn es um uns höchstpersönlich geht, und hartgesotten den anderen gegenüber. Die Menschen kommen sich besonders gerissen vor, wenn sie versuchen, die Natur zu überlisten, die wie eine aufmerksame Mutter alle Fehler bemerkt, doch nicht über alle Dummheiten mit uns redet. Sie glaubt, wir werden erwachsen und kapieren es selbst. Welch ein Irrtum! Wie die Kinder, sehen wir nur bis zur Nasenspitze und nicht weiter, der morgige Tag wird dem Morgen überlassen, und die Weisheit „Kommt Zeit, kommt Rat“ stammt aus der unbeholfenen kindlichen Machtlosigkeit, dem uns aus dem Konzept bringenden Etwas ein Vernünftiges entgegen zu setzen.

Im Leben gibt es kein Erwachsenwerden, es gibt keinen Prozess, keine Entwicklung. Einige werden als Erwachsene geboren und andere Grauhaarige sterben als Dreikäsehoch.

Was ist da erstaunlich?

Rauchen gefährdet meine Gesundheit und Trinken ist nicht eben förderlich für die Leber, Fett steigert Cholesterin, Fernsehen Hämoglobin, im Obst sind Pestizide und im Fleisch BSE, von der Sonne kommt der Hautkrebs, von der Kälte Schnupfen, von Pollen Allergie, aber mit der Gasmaske auf der Wiese sieht man auch bescheuert. Unvernünftiges Verhalten wird als Infantilismus abgestempelt, ernstes führt unausweichlich zum Herzinfarkt. „Was man mit dem Menschen auch anstellt, er kriecht beflissen in Richtung Friedhof.“ Letzteres ist übrigens ein Zitat.

Wie viel ist mir bis zum Ende meiner Kindheit noch geblieben: zehn Jahre oder gar zwanzig?

...Ich gehe zu meinem Sohn und bitte ihn um Erlaubnis, heute nach Mitternacht angetrunken nach Hause zu kommen. Er blinzelt mich empört an und denkt, ich nehme ihn auf den Arm.

Ach Junge, Junge...

Ein verkehrtes Märchen darüber, wie die Brüder Grimm alles verwechselten

"Es waren einmal die Zwillinge Pit und Pat. Seltsamerweise konnte die Mutter sie unterscheiden, doch der Vater, der ständig auf Arbeit war und zu Hause vor dem Fernseher hockte, verwechselte seine Kinder manchmal, und das war ihm etwas peinlich.

Die Kinder trugen gleiche Hemden und Hosen, gingen zusammen in die Schule, liebten beide Makkaroni mit Tomatenketchup und dieselben Computerspiele...

Eines unterschied sie allerdings voneinander: Pit war barmherzig und gutmütig, Pat hart und lasterhaft. Aber das steht nicht im Gesicht geschrieben.

Die Eltern sorgten dafür, dass zwischen den Kindern alles gerecht verteilt wurde. Nur weil sie ihnen nicht einen zweiten Computer kaufen konnten, spielte immer zuerst Pat, und wenn die Zeit dazu langte, auch Pit. Pit war immer bereit, seinem Bruder den Platz vor dem Bildschirm zu räumen, auch wenn er gerade mitten im Spiel war. Pat setzte sich ganz selbstverständlich und spielte weiter.

Eigentlich lebten die Brüder sehr friedlich. Wenn sie sich aber manchmal zankten und verprügelten, wie es wohl fast alle Geschwister in einem bestimmten Alter tun, behielt Pat immer die Oberhand. Nicht, weil er kräftiger war, sondern weil er Pit im entscheidenden Moment in den Finger biß oder an den Haaren zog oder gar ins Gesicht spuckte. Pit weinte, aber erzählte den Eltern nichts davon, weil ihm Pat einredete, dass das mieses Petzen wäre.

Als sie in die Schule kamen, waren sie gleich gut in allen Fächern. Aber weil Pit oft nachdenklich war, und das manchem etwas Böses zu sein schien, bekam Pit den Spitznamen „Fiesi“. Pat dagegen nannte man „Fröhli“, weil er mehr lächelte. Besonders gut lachen konnte Fröhli, wenn er dem Fiesi ein Bein stellte. Einfach so, aus Spaß.

Auch in der Nachschulzeit war einer so fleißig wie der andere. Besonders gut waren sie im Malen. Jeder malte auf seine Weise, wählte andere Farben, doch die Bilder wurden stets gleich meisterlich.

Einmal kam es zum Malwettbewerb. Tage und Nächte saßen Pit und Pat und gestalteten ihre Bilder. Nachdem sie fertig waren, packten sie ihre Bilder ein und gingen zu Bett. Am nächsten Morgen, als sie ihre Arbeiten in die Schule brachten und der Wettbewerbskommission zeigen wollten, entdeckte Pit, dass auf seinem Bild große Kriksel-Kraksel-Kleckse aufgetaucht waren. Er wollte sich nicht blamieren und zeigte sein Bild nicht. Eine Woche später brachte Pat die goldene Urkunde nach Hause.

Es gab auch noch schwierigere Situationen in der Familie. Wie ihr wißt, versucht jedes Kind mal zu rauchen, obwohl das ganz ekelhaft schmeckt und man danach so aus dem Mund riecht, als ob man einen Aschenbecher verschluckt hätte. Eines Tages war es auch für Pit und Pat beschlossene Sache, das Rauchen auszuprobieren. Sie kauften von ihrem Taschengeld Zigaretten, zündeten sie an und pafften ein- oder zweimal... Das war, sage ich euch, unappetitlich. Die Lust aufs Rauchen war ihnen vergangen, sollten sie aber nun die teuren Zigaretten einfach wegwerfen? Dazu waren sie ihnen doch zu schade, und sie versteckten die Glimmstängel.

Pech, dass gerade mal einen Tag später der Vater etwas im Schuppen zu finden versuchte und die Zigarettenschachtel entdeckte! Beide Kinder wurden zum Gespräch geladen.

Pat erklärte leichthin, dass er mit diesen Zigaretten nichts zu tun hätte und sie womöglich Pit gehörten. Pit sah Pat verzweifelt an und ...nickte. Wäre die Mutter an Vaters Stelle gewesen, hätte sie diesen gequälten Blick natürlich bemerkt. Vater aber blieb ahnungslos. In Gedanken war er bei dem Spülautomaten, den sich die Familie demnächst anschaffen wollte.

Die Kinder wuchsen heran. Sie gingen auch ganz unterschiedliche Lebenswege: während Pit mit einem Hilfstransport gegen den Hunger in Afrika unterwegs war, hatte Pat eine Arbeit gefunden, die er ungern tat, aber die ihm viel Geld einbrachte.

Immer öfter hatte Pit Pech. Einmal wollte er einem Mädchen helfen, das von drei bösen Jungs in der Nacht überfallen wurde. Er konnte sich gegen die drei nicht wehren. Sie knüppelten ihn krankenhausreif und brachen ihm einen Arm. Das Mädchen jedoch entkam. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte er den Arm nicht mehr bewegen. Deshalb wurde er von seiner Arbeit auf dem Bau entlassen - verständlich, auf dem Bau braucht man eben nur gesunde Leute.

Mit einem Arm konnte er nicht viel Geld verdienen. Und wenn das Geld weder vorn noch hinten reicht, wird man launisch. Deshalb stritt er sich mit seiner Frau immer häufiger, bis er wegging.

Als er starb, besaß er keine Wohnung mehr, und wo er begraben ist, wissen allein die Wolken, die ihn beweinten.

Sein Bruder Pat wurde immer reicher, weil er nicht nur seinem Bruder in der Kindheit, sondern auch anderen Menschen gern Beine stellte. Im Leben ist es so: wenn einer stolpert, ist der andere prompt oben.

Reiche Leute sind im Leben auch viel wichtiger als arme, das wissen wir. Deshalb kamen, als der Pat starb (und irgendwann einmal müssen alle Leute sterben), viele Trauergäste zur Beisetzung. Ja man las auch ein Beileidstelegramm des Königs vor. Womöglich war es auch gar nicht vom König, dann eben von seinem Kanzler.

Auf der Begräbnisfeier war ich auch dabei, habe dort Honig getrunken, der floß mir den Bart entlang und kein Tropfen in den Mund gelang.“

Ein schlechtes Märchen?

Mir selbst gefällt es auch nicht, aber nicht alle Märchen können, wie bei den Brüdern Grimm, gut ausgehen. Du erinnerst Dich: ein Wolf fraß ein Mädchen und seine Oma auf (welches Märchen ist das?). Dann kam ein Jäger, tötete den Wolf und ließ beide Bauchgefangene frei.

Und wenn der Jäger nicht gekommen wäre? Oder der faule Wolf nach dem Essen nicht in der Stube eingeschlafen, sondern in sein Versteck geschlichen wäre? Immerhin hatte er vorher viele Lämmer gefressen, und kein Jäger hatte ihn danach erwischt.

Oder warum stirbt die Mutter, die ihre Kinder in den dunklen Wald brachte, damit sie dort umkämen, bevor die Kinder (wie heißen sie, weißt Du es?) glücklich, mit Taschen voller Diamanten, nach Hause zurückkehrten? Warum bleibt der gutmütige Vater gesund und munter? Kannst Du Dir vorstellen, die Geschwister bleiben am Leben, bringen Reichtümer nach Hause, und der Vater ist tot, die böse Mutter jedoch lebt weiter?

Warum hatte das tapfere Schneiderlein einen Vogel parat, als er dem Riesen begegnete (was hat das Schneiderlein eigentlich mit dem Vogel gemacht)? Läuft man im wirklichen Leben immer mit einem Zoo in der Tasche herum?

So viele Fragen haben wir gestellt und keine Antwort gefunden, weil es keine Antwort gibt: im Leben ist wirklich vieles anders als in den Geschichten. Vielleicht sagt man deshalb, wenn jemand Unwahrheiten schildert: “Erzähl mir bloß keine Märchen!“

Wir leben eben nicht im Schlaraffenland. Das Gute siegt nicht immer in Wirklichkeit. Manchmal behält das Böse die Oberhand. Das ist meine Erfahrung.

Und wenn Du tatsächlich einmal das Böse triffst, wüsstest Du schon jetzt, wie Du dem Guten helfen kannst?

... Frage ich mich.

Geisterbahn

Der Kleinmessebesuch ging zu Ende. Kinder und Betreuer standen vor dem Höhepunkt der Attraktionen, der Geisterbahn. Das ganze Programm wurde schon reichlich absolviert: die Karussells, Ponyreiten, Riesenrad, „Wikingerschaukel“, Wildwasserbahn und sogar „Crazy Looping“, eine große Achterbahn, hatte die bunte Gruppe bereits hinter sich.

Sie war tatsächlich bunt. Viele Besucher schauten die Gesellschaft etwas verdutzt an. Das waren sicher keine befreundeten Familien beim Sonntagsausflug. Die Erwachsenen waren weiß, die Kinder eher dunkelhäutig. Aber es war Sommer, und es war Ferienzeit, deshalb dachten die verwunderten Besucher an Kinderaustauschprogramme, Schulpartnerschaft und angenehme Folgen der Globalisierung...

Es waren fast so viele erwachsene Betreuer wie Kinder, deshalb hatte fast jeder Fürsorger „sein“ persönliches Kind, damit fast jedes Kind eine Bezugsperson. Das half aber wenig: die Kinder sprachen weder Deutsch noch Englisch, weder Spanisch noch Französisch, und sie hatten nur einen Dolmetscher, der bei allem Einsatz nicht bei jedem Gespräch dabei sein konnte. Deshalb setzte man in der Kommunikation auf Hände, Füße, Gesten, Mimik und den besten Dolmetscher der Welt, das Lächeln.

Die Kinder lachten aber wenig. Witze, die ab und zu mal die Betreuer rissen, konnten vermutlich nicht so spaßhaft übersetzt werden, deshalb lachten am meisten die Betreuer selbst. Was hätten sie noch besseres tun können?

Deshalb war das die glücklichste Idee, die Kleinmesse. Kein Film, kein Theaterbesuch, nicht einmal „Schneewittchen“, kein Orgelkonzert und kein Kabarett. Ein Ballett, Rettungsanker für alle ausländische Delegationen in der Hauptstadt, war in dieser Ortschaft nicht vorhanden. Kleinmesse bedeutet aber frische Luft, Bewegung, Spaß, Zuckerwatte und gute Laune.

...Sarah hatte auch „ihr“ Kind. Es war ein Junge, vielleicht acht, vielleicht zehn Jahre alt, ein runder Kopf, zwei Ohren, Mund, Nase. Und die Augen, die ein halbes Gesicht einnahmen. So ein Kind zu begleiten und zu betreuen machte Sarah zum ersten Mal. Deshalb wollte sie alles sehr gewissenhaft tun und „ihrem“ Kind von Deutschland einen bleibenden aufbauenden Eindruck vermitteln. Sie war ausgesprochen nett zu dem Kind, lächelte es ständig an, begegnete aber einem eher reservierten Blick der Teeuntertassenaugen.

Sarah beobachtete den Jungen sehr aufmerksam. Sie bemerkte nichts, was ihn äußerlich von den anderen abheben würde. Nur der bleierne Blick, nur der immer graue Schimmer im Gesicht, angespannte Bewegungen, eine allgemeine Unlust, wie Sarah sie von einigen launischen Kindern schon kannte. Er nickte gehemmt, als sie ihm Zuckerwatte kaufte, zuckte zusammen, wie ein Tiger vor dem Sprung, auf der Schaukel, und war sehr verkrampft, als das Riesenrad sie zusammen über die Baumkronen, über die Stadt zu den Vögeln und in die Nähe der Wolken hievte.

Und jetzt kamen sie zur Geisterbahn, eine von Sarahs Lieblingen, die sie schon in ihrer Kindheit nicht erschreckt hatte, sondern erregte, ihre Sinne reizte, verwirrte und in einen fast ekstatischen Zustand versetzte, wie sie ihn erst viel später und unter ganz anderen Umständen wieder erlebte...

Sarah wird mit der Geisterbahn mitfahren, nicht nur um sich selber zu vergnügen, sondern mehr, um den Jungen zu beobachten, um herauszufinden, was ihn bewegt und was ihn kalt lässt, und ob das Kind überhaupt, flackerte es klammheimlich im Unterbewusstsein, adäquat auf die Wirklichkeit reagieren kann.

Sie setzten sich in den kleinen Waggon, er wackelte und fuhr los.

Die Lichter blitzten ins Gesicht - und flugs herrschte eine satte Dunkelheit. Dann plötzlich loderte aus dem Rachen eines Drachens eine grelle Flamme – Sarah bemerkte das alles nicht. Sie starrte ins Gesicht ihres Nachbars, sie versuchte alle Bewegungen seiner Seele an seinem Gesicht abzulesen, zu entschlüsseln, was ihn am meisten erregt, rührt, was ihm gefällt, wo er Angst bekommt, was ihn endlich mal aus dem Meditationsgleichgewicht bringt und ihn zu einem normalen lustigen unbekümmerten Kind macht.

Seine Stirn war glatt, und seine Gesichtsmuskeln bewegten sich kaum. Als eine hässliche Hexe sie mit Wasser bespritzte, und als Sarah zum ersten Mal ihre Augen vom Jungen abwandte und instinktiv Tropfen von der Wange wischte, hob er keine Hand, das Wasser kullerte wie kleine Tränen herab. Er betrachtete reglos Skelette, einen sich öffnenden Sarg, und zuckte nicht zusammen beim gespenstischen Lachen. Er atmete nur einige Male stoßweise durch die Nase, als ob er wie ein Hund Luft schnupperte, und das war tierisch komisch für Sarah. Als sie bei voller Dunkelheit die Fäden an Kopf und Schultern Angst erregend streiften, machte er nur eine müde Bewegung mit dem Kopf, wie man im Herbst zur Apfelernte besonders zudringliche Fliegen vertreibt, wenn man weiß, die nächste kommt gleich. Früher, wusste Sarah, hingen hier nicht so leichte Fädchen, die wie Spinnweben Ekelgefühl hervorrufen sollten und einige verschreckte Gäste zu nervösem Lachen brachten, sondern ein nasser Lappen. Der nasse Lappen war der Kick der ganzen Geisterfahrt, war die Inkarnation des Schocks, und desto klirrender wurde das zittrige Lachen danach, als die Leute verstanden - das war bloß ein nasser Lappen.

Auch der Junge beobachtete Sarah. Er war zum ersten Mal in so einem Land, wo alles anders war als bei ihm zu Hause. Anders waren die Häuser, anders die Wege, anders die Läden, anders sahen die Menschen aus. Die Menschen selbst waren anders. Sie lächelten viel und lachten viel. Er hatte den Eindruck, viel zu viel, mehr als nötig, mehr als normal. In dieser Gegend war der Tag länger und die Nacht kürzer. Dafür gab es hier keinen Mond und Sterne überhaupt nicht. Anstelle des Mondscheins brannten hier viele grelle Lichter. Bei diesem Licht konnte man alles besser sehen, aber ausruhen konnte man hier nicht. Man aß hier viel, auf alle Fälle viel mehr, als man braucht, um den Hunger zu stillen, und nach dem Essen sah der Junge, dass auch viel weggeworfen wurde, noch gute Essenstücke und Brot. Weil das Essen teuer ist, versuchte er seinen Riesenteller sauber aufzuessen. Und als er fertig war, bekam er einen Nachschlag... Man sang hier keine Lieder, wie es bei ihm daheim alltäglich ist, nicht einmal zur Nacht. Man zeigte den Kindern ein Stückchen Fernsehprogramm, und danach mussten sie schlafen gehen. Der Junge vermisste schon seit langem ein Lied, von damals, von früher, als die Mutter an seinem Bett saß und sang. In dem Lied waren schöne, liebliche Worte: „Ouahu mbanio, ouahu mbanio, ihiou“. Ihre Stimme strahlte Geborgenheit und Ruhe aus... . Diese Geborgenheit fehlte ihm hier. Aufsicht, Fürsorge, Betreuung waren da, er merkte auch, wie die Leute um ihn herum sich aufrichtig bemühten. Aber das war nicht nötig, das Gefühl der Geborgenheit konnte ihm nur das Lied von „Ouahu mbanio“ geben.

Und heute, auf diesem Tummelplatz war ihm alles zu hektisch, zu lärmend, zu turbulent. Er versuchte mit seinem Blick gleich vieles im Auge zu behalten, er war in der Sache geübt, aber trotzdem kanteten ihn irgendwelche Leute überraschend an, ein Luftballon platzte, als er vorbeiging, und ein Verkäufer an der Bude schrie unvermutet. Bei allen Karussells, die er besteigen musste, überlegte er schnell, wie er am besten und am schnellsten raus kommt, sollte sich etwas Unerwartetes ereignen. Bei einer großen Schaukel, die wie ein Schiff aussah, wäre es am besten herauszuspringen, wenn man unten, dem Boden am nächsten, vorbeirauscht. Er würde kopfüber springen, auf den Händen landen und eine Rolle machen. Deshalb schnallt er sich auch vorsorglich unbemerkt ab, so dass das Mädchen, was ihn ständig begleitete, es auch nicht sah. Aber einige Geräte waren ihm zu gefährlich: eine Schaukel mit Überschlag, eine schnelle Bahn, wo man auch kopfüber fahren muss, und ein Riesenrad... Wenn man oben angekommen ist und eine Granate einschlüge, würde man wie ein Stein aus der Gondel geschleudert. Man hätte da keine Chance... Dort oben ist man auch eine gute Zielscheibe für Scharfschützen. Deshalb versuchte er gerade dort oben sich in den Sitz hinein zu pressen, um sich halbwegs vernünftig aus der Schusslinie raus zu drücken. Das Mädchen... Das Mädchen hatte keine Ahnung vom Leben. Sie schaute sich nur selten um, sie ging überall einfach drauflos, und er vermutete, so pummelig, wie sie war, würde sie auf der Flucht kaum 80 Kilometer am Tag schaffen. Ansonsten war sie nett und zuvorkommend. Er hatte sie nicht darum gebeten, wollte auch nicht, aber sie kaufte ihm eine Riesenspule mit den weißen Weben. Sie waren weiß wie Schnee in den Bergen, aber süß wie reiner Zucker. Das schmeckte gut, machte aber nicht satt, deshalb war das eher Luxus, Schwelgerei, Geldverschwendung, und gerade deshalb rechnete der Junge dem Mädchen diese Großzügigkeit hoch an.