Ukraine - Viktor Timtschenko - E-Book

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Viktor Timtschenko

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Beschreibung

Für viele Deutsche ist die Ukraine noch immer ein weißer Fleck, ein Land irgendwo kurz vor der Grenze zu Asien. Dabei ist dieser östlichste Staat Europas auf dem Weg nachWesten und strebt den Beitritt zur EU und zur NATO an. Seit der Orangenen Revolution und der Aufhebung der Visumspflicht reisen jährlich Hunderttausende Deutsche nach Kyiw(Kiew) und auf die Krim, nach Odessa, Lviv (Lemberg) und Tscherniwzi (Czernowitz), viele von ihnen auf den Spuren europäischer Kulturgeschichte.Kenntnisreich und humorvoll beschreibt der Autor, der in der Ukraine aufgewachsen ist, die Besonderheiten seines Heimatlandes. Er führt in die Geschichte ein, porträtiert wichtigeZeitgenossen, erklärt die Sprache und schildert den Alltag, wobei er auch die aktuellen Probleme nicht ausspart. Das Ganze ist gewürzt mit persönlichen Erlebnissen, Anekdotenund Witzen sowie legendären Rezepten.

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Seitenzahl: 334

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Viktor Timtschenko

Ukraine

Einblicke in den neuen Osten Europas

Für meine Mutter und meine Frau, die mir das Sprechen beigebracht haben.

Die Schreibweise der ukrainischen Namen folgt der Transkription aus dem Ukrainischen und nicht – wie früher – aus dem Russischen, weshalb beispielsweise Kiew als Kyiw und Lwow (Lemberg) als Lwiw erscheint. Odessa, im Ukrainischen nur mit einem s, wird der Aussprache folgend im Buch mit zwei s geschrieben. Es wurde keine wissenschaftliche Transliteration verwendet, sodass Weichheitszeichen auch nicht mit Apostroph dargestellt werden.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, April 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2009)

© Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

Internet: www.linksverlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos aus der

ukrainischen Hauptstadt Kyiw;

Titelseite: Majdan Nesaleshnosti (Unabhängigkeitsplatz)

mit der Unabhängigkeitssäule, dem unterirdischen Kaufhaus

»Globus« und dem Hotel »Ukraina« (Viktor Timtschenko, 2008)

eISBN 978-3-86284-157-8

Inhalt

Prolog

Die Ukraine – Wo liegt sie?

Von der Hauptstadt in die Provinz

Bewegte Geschichte

»Kazantip« – Tanz auf dem Atommeiler

Die Ursprünge der Ukraine

Ist Ukrainisch nur ein russischer Dialekt? Kleine Lesehilfe für Schewtschenko, Borschtsch und Chreschtschatyk

Der Majdan – Revolution in Orange

Die Sprache als Brühe zum Garkochen der Widerspenstigen

Verabscheuen Ukrainer alles Russische? Nein, aber.

Probleme, Probleme – Die russisch-ukrainischen Beziehungen nach der Unabhängigkeit

Hungersnot, Holodomor – Holocaust?

»Vom San bis an den Don« und »Das Lied der Deutschen«

Über Panzer, Raketen und das beste Flugzeug der Welt

Tschornobyl – Erster Monat

Privatisierung, Verteilungskämpfe und Korruption

Religion – Die Gretchenfrage

Drei Flächen eines Brillanten

Das Riesenglück des Danylo Samojlowytsch

Im Anfang war die Röhre

Das rätselhafte Leben Jurij Kondratjuks und Olexandr Scharhejs

Der diskrete Charme Europas

Dicht beieinander Kleine vergleichende Gesellschaftskunde

Wie viel isst man in der Ukraine, und trinkt man Wodka nur aus 100-Gramm-Gläsern?

Der »Irre Löwe« und der Grand Prix von Paris

Die Bedeutung des Specks für die Demokratie

Die ukrainische Küche und ihre besten Rezepte

Borschtsch, wie ihn meine Mama kocht

Warenyky

Einige ukrainische (Ess-) Kleinigkeiten

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Basisdaten

Kontaktadressen und Einreisebestimmungen

Prolog

Nachdem dieses Buch geschrieben war, gab ich einem aufgeklärten Mädchen aus Hamburg das Manuskript zu lesen. Ich war gespannt, ob ich auf meine Heimat neugierig machen konnte.

Das Mädchen sagte: »Ach, was für ein schönes Land, diese Ukraine. Da würde ich gern mal hinfahren!«

»Na, dann fahr doch«, riet ich ihr, »die Einreise ist nicht teuer und visafrei.«

Sie machte große Augen und antwortete, sie hätte vor dem Land und den Menschen dort Angst.

»Und vor Rumänien?«, fragte ich leicht erbost.

»Vor Rumänien nicht.« Sie sperrte ihre blauen Augen noch mehr auf. »Rumänien gehört ja zur EU.«

Da beschloss ich, vorab noch einiges klarzustellen.

Also: Wie in fast allen Industrieländern lebt auch in der Ukraine die Mehrheit der Bevölkerung in Städten. Dort stehen große Häuser. Die Fernheizung, Wasser-, Strom- und Gasversorgung ist meistens gesichert, die Straßen sind häufig asphaltiert (manchmal schlecht, aber was soll’s ...). Inzwischen fahren so viele Autos, dass sich viele Städter nicht mehr darüber freuen. Wer ohne Auto unterwegs ist, fährt mit der Straßenbahn oder mit einem elektrisch betriebenen Bus, dem Trolleybus. In einigen Millionenstädten gibt es auch eine U-Bahn (Metro). Für eine beliebig lange Strecke zahlt man bis zu zwei Hrywnja (also ca. 25 Cent).

Es gibt Hunderte von Universitäten und Hochschulen im Land, im Übrigen auch seit Jahrzehnten das deutsche Goethe-Institut. In der Hauptstadt Kyiw (russ. Kiew), die etwas älter als 1500 Jahre ist und mit Recht »die Mutter russischer Städte« genannt wird, leben über drei Millionen Menschen. Wer Vertrautes sucht, findet hier Ladenketten wie »Metro«, »Zara« oder »McDonald’s«. Man kann natürlich auch in einheimischen Selbstbedienungsrestaurants die schmackhafte ukrainische Küche kosten.

In den letzten Jahren sind Straßencafés populär geworden. Man relaxt dort und schwatzt. Die Gerüchte, die Ukrainer seien vorwiegend auf Tee aus, sind stark übertrieben. Man trinkt hier auch Latte Macchiato, Mocca, Espresso usw. Was es hier nicht gibt, ist die klassische Kaffeezeit – man trinkt das duftende Getränk einfach dann, wenn einem danach ist.

Zum Einkaufen gehen die Ukrainer in Supermärkte – dort ist es billiger. Wenn man besonderen Wert auf frische Produkte legt, sind Landwirtschaftsmärkte gefragt. Der bekannteste und teuerste Markt der Ukraine, der »Bessarabka«, liegt direkt auf der Hauptstraße der Hauptstadt.

Selbstverständlich gibt es in der Ukraine Vertretungen aller bedeutenden deutschen, aber auch amerikanischen, englischen, italienischen, österreichischen, französischen und anderen Firmen. Die Geschäfte laufen gut; jeder, der hier rechtzeitig ein Bein in der Tür hatte, macht seit Jahren dicke Gewinne. Tausende Europäer und Nordamerikaner leben dauerhaft in der Ukraine.

Die Ukrainer sind ein arbeitsames Völkchen, die Arbeitslosenquote liegt nach offizieller Statistik 2008 landesweit bei drei Prozent, in Kyiw sogar nur bei 0,3 Prozent. (Allerdings sind nicht alle Arbeitslosen registriert.) Trotz weit verbreiteter anders lautender Behauptungen zahlen Beschäftigte auch Steuern. Bei vielen bleibt dann noch etwas übrig: Die Ukrainerinnen sind schick und europäisch gekleidet. Wenn sie wider Erwarten eine Frau mit Schleier sehen, seien Sie sicher – es ist eine Ausländerin.

Die Menschen hier sind durchaus kommunikativ: Man kommuniziert miteinander per Handy, E-Mail, ICQ oder Skype. Ab und an aber auch von Angesicht zu Angesicht auf der Straße. Weil Handytarife schwanken, im Vergleich zu deutschen aber milde ausfallen, besitzen manche Leute hier zwei Handys von zwei verschiedenen Anbietern – auf diese seltsame slawische Weise spart man Telefongebühren.

Für die Freizeit gibt es unzählige Stadien, Sportstätten, Fitnesszentren, Schwimmhallen, Tennisplätze, Hunderte von Theatern – Sprechtheater, Opernhäuser, musikalische Komödie, Tanztheater, aber auch Pantomimebühnen – für nicht besonders sprachgewiefte Gäste zu empfehlen.

Die Post funktioniert, wenn auch sehr langsam, ein gutes Dutzend Fernsehstationen und an die hundert Funkhäuser informieren und unterhalten rund um die Uhr. An den Zeitungskiosken sind nicht nur um die hundert ukrainische Titel zu finden, sondern auch die Süddeutsche, Der Spiegel, die Financial Times, die WashingtonPost, Figaro und einige andere fremdländische Blätter.

Man schätzt die relativ intakte Natur, in den Gewässern der Ukraine kann man fast überall baden. Die Kyiwer nutzen den größten Fluss des Landes – den Dnipro (Dnjepr) –, um sich im Sommer abzukühlen. (Als ich ein junger Journalist war, schafften wir es, sogar während der Mittagspause in den Fluss zu springen, der nur sechs U-Bahn-Haltestellen vom Pressehaus entfernt war.)

An warmen Wochenenden macht man gern Picknick. Die Frauen sorgen fürs Essen, die Männer fürs Trinken und die Logistik. Man fährt bis zum nächsten Fluss oder in den Wald – nicht unbedingt mit dem Auto –, vieles ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Schnaps spielt beim Ausflug eine gewisse Rolle, aber eher frische Luft, Badevergnügen und geselliges Miteinander. Im Unterschied zu Deutschland sind in der Ukraine fast überall Lagerfeuer erlaubt. Das Feuer sorgt nicht nur für guten Schaschlyk und leckere Fischsuppe, sondern auch für eine angenehme Atmosphäre. Übrigens habe ich nie bemerkt, dass es deshalb viele Waldbrände gegeben hätte. Hiesige Baufirmen, im Unterschied zu Spanien oder Griechenland, besorgen sich das Bauland vermutlich auf andere Art und Weise.

Man kann in der Ukraine mit allen Kreditkarten der Welt bezahlen und auch Bargeld am Automaten abheben. Wechselstuben sind überall, und beim Umtausch in die Landeswährung Hrywnja wird nicht geschummelt. Eine der gewonnenen Freiheiten ist in der Ukraine die Reisefreiheit.

Es kann Ihnen passieren, dass Sie auf jemanden treffen, der mehr Länder besucht hat als Sie selbst.

2005 unterzeichnete der Präsident des Landes Erlasse über die Visafreiheit für Bürger der EU und einiger anderer europäischer Länder sowie den USA und Japan. Das führte zu einer Touristenflut mit jährlich zweistelligen Zuwachsraten. Allein 2007 besuchten die Ukraine 23 Millionen Ausländer, darunter etwa 230 000 Deutsche, 150 000 Amerikaner, aber vor allem Russen und über vier Millionen Polen.

Einen Boom erwartet man 2012 – wenn die Ukraine zusammen mit Polen der Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft ist. Von insgesamt einer Million Fußballbegeisterten, die ins Land kommen, erwartet man allein in Kyiw 150 000 ausländische Fans. Die Straßen in der Ukraine sind bereits jetzt sicher. Es gibt einzelne Fälle von Rowdytum, aber ihre Zahl ist eher gering. Die Bandenkriege vom Anfang der 90er Jahre sind längst Vergangenheit.

Bekanntlich sind die Ukrainer gastfreundlich. Schlechte ukrainische oder russische Sprachkenntnisse rufen eher Mitleid und Beistand hervor als die Absicht, Ihre Hilflosigkeit auszunutzen. Zudem gibt es in der Ukraine auch die Polizei.

So sieht die Oberfläche der Ukraine aus.

Allen, denen diese knappe Auflistung nicht genügt, sei im Anschluss die weitere Lektüre und ein tieferer Einblick in die heutigen Verhältnisse meines Heimatlandes und in seine Geschichte empfohlen.

Die Ukraine – Wo liegt sie?

Gerade nach Deutschland gekommen und mit jämmerlichen Sprachkenntnissen ausgestattet, startete ich 1990 – vermutlich dank meines unwiderstehlichen ukrainischen Charmes und des Journalistenmangels – als Wirtschaftsredakteur einer in Wendewirren geborenen Leipziger Zeitung. Als Ostjournalist, der bis heute vom Westen etwas Nachhilfe in Sachen Marktwirtschaft braucht, wurde ich mit vielen anderen zur Hauptjahresversammlung der Aktionäre der Dresdner Bank nach Frankfurt am Main eingeladen. Übrigens ohne bis dahin auch nur eine einzige Aktie gesehen zu haben. Zum Ausklang hatte man für uns einen Ausflug mit dem Management der Bank in ein hübsch gelegenes Restaurant vorbereitet. Eine damals für das Filialennetz der Bank in Ostdeutschland zuständige Dame, neben der ich zu sitzen kam, war sichtlich überrascht, dass manche ostdeutsche Journalisten so schlecht Deutsch sprechen. Sie zeigte aber diskret Verständnis für mein sozialistisches Bildungsniveau und fragte mich, woher genau ich käme, um vielleicht dort außerordentliche Vorkehrungen bei der Einstellung von Mitarbeitern zu treffen. Ich wollte erst die Preußen niedermachen und sagen, ich käme aus Berlin. Dann wurde mir der Ernst der Lage aber bewusst, und ich gab zu, aus der Ukraine zu stammen. Die Dame geriet ganz aus dem Häuschen: »Die Ukraine – wo liegt die?«, fragte sie mich allen Ernstes.

Die Antwort war einfach. Ich nahm ungeniert ihren Teller mit der angeschnittenen Schweinslende und rückte ihn in die Mitte des Tisches. »Das ist Deutschland«, erklärte ich und platzierte die Salatschüssel daneben, »und hier liegt Polen.« Nun schob ich meinen Teller samt Messer und Gabel rechts neben die Schüssel und zeigte mit dem Finger darauf: »Und das ist die Ukraine.« Der besseren Anschauung wegen wollte ich noch ein Glas vom dunkelroten, fast schwarzen Spätburgunder neben meinem Teller vergießen und so das Schwarze Meer mit der Halbinsel Krim in seiner ganzen Herrlichkeit präsentieren, doch hier unterschätzte ich meine Tischnachbarin: Sie hatte davon schon gehört, wie auch von Kyiw, dem Donezbecken und Tschornobyl (russ. Tschernobyl). So verlief meine erste Konfrontation mit den Ukrainekenntnissen der (West-) Deutschen.

Für die meisten Deutschen, im Osten wie im Westen, war die Ukraine auch noch nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 eine unbekannte Größe. Russland – ja, aber die Ukraine ... Die in der Sowjetunion erfahrenen Ossis zeigten sich mitunter etwas besser informiert, wenige verblüfften mich sogar mit genauen Kenntnissen. Für die Überzahl aber war die Ukraine ein Land »da rechts unten« auf der Landkarte Europas.

Es dauerte relativ lange, etwa bis zur »Orangenen Revolution« 2004, bis die Deutschen die Ukraine in ihren Köpfen vom großen Russland trennten und als selbständigen Staat betrachteten.

Dabei ist die Ukraine nicht gerade klein. Man spricht in der Ukraine gern über das Land, das – mit 603 700 km² – das größte in Europa ist. Dabei hört man ab und an etwas gedämpfter: »Außer Russland natürlich«. Und ergänzt ganz verlegen: »Nur flächenmäßig.« Was die Bevölkerung anbelangt, ist z. B. Deutschland fast doppelt so groß. Andere Größen sind eher weniger beeindruckend. So wurden 2008 in der Ukraine nur etwa 6000 Dollar pro Kopf Bruttoinlandsprodukt (BIP) erwirtschaftet, in Frankreich und in Deutschland sind diese Zahlen etwa siebenmal höher.

Andere Zahlen sind eher weniger beeindruckend. Beispielsweise wurden 2007 in der Ukraine etwa 6941 Dollar pro Kopf Bruttoinlandsprodukt (BIP) erwirtschaftet, in Frankreich und in Deutschland sind diese Zahlen etwa siebenmal höher.

Ich habe mich schon immer schwergetan mit der Neigung mancher Landsleute, jeden See zum tiefsten, jeden Berg zum höchsten oder jedes Feld zum fruchtbarsten zu erklären. Ich halte mich da an das Sprichwort: »Klein ist ein Goldstück, aber wertvoll; groß ist die Wiese, aber nur zum Wäschetrocknen zu gebrauchen.«

Die Ukraine ist ein so schönes Land, das selbst noch jeder Übertreibung standhalten würde: Da sind die atemberaubenden unendlichen Federgrassteppen im Donezbecken; die wunderschönen, gen Himmel ragenden Kathedralen in Kyiw; die heilenden Mineralwasserquellen in Truskawez; wir haben die Schwarzmeerstrände in Odessa; die großartigen Granitfelsen bei Mykolajiw; die griechischen Ausgrabungen in Chersones bei Sewastopol; es gibt die uralte unterirdische Kirche in Tschernihiw; den Switjas-See in Wolhynien; den märchenhaften Heilsalzschacht in Solotwyne; den berauschenden Nationalpark Askanija Nowa bei Cherson; die Kosakeninsel Chortyzja am Dnipro; nicht zu vergessen die winters wie sommers beeindruckenden Karpaten mit den – Tatsache! – größten Buchenwäldern Europas, die seit 2007 auch zum Weltnaturerbe der UNESCO gehören und inzwischen mehrere Skilifts und Pisten aufweisen; die kinderfreundlichen Kurorte am Asowschen Meer und natürlich Jalta auf der Krim; die Krim sowieso, mit mediterranem Klima, warmem Meer, geheimnisvollen Buchten, dem botanischen Garten »Nikita«; aber auch Alupka mit dem spektakulären Prachtbau Schwalbennest und dem Woronzow-Palast, in dem 1945 die Alliiertenkonferenz stattfand, die die Zukunft Deutschlands besiegelte; schließlich die sagenumwobenen Bergklöster, der Khan-Palast in Bachtschisarai, die Altstadt von Jewpatorija und Kreuzer an der Skyline bei Sewastopol ... All das sollte nicht reichen, um zu sagen: Die Ukraine ist ein wunderschönes Land!?

Nein, der ukrainische geographisch-geodätische Geist der Aufsässigkeit meldet sich verdrießlich zu Wort: »Und außerdem liegt das Zentrum Europas in der Ukraine, nicht weit von dem Karpaten-Städtchen Rachiw!«

In einer Zeit, in der schläfrige Brüsseler Behörden den Beitritt der Ukraine in die EU hinauszögern, sind wir bereits in Europa, und zwar nicht irgendwo am Rande, wie Portugal oder Norwegen, sondern in der absoluten Mitte, schwärmen Ukrainer. Dieses Zugehörigkeitsgefühl ist so stark, dass sie nicht lockerlassen möchten: Es gibt in der Ukraine einen Verlag »Zentrum Europas«, einen Wasserfall gleichen Namens und ein Folklorefestival »Europa-Zentrum«.

Diese Meinung – gelegentlich sogar vom Präsidenten Viktor Juschtschenko ausländischen Journalisten gegenüber vorgetragen – wird buchstäblich und unübersehbar untermauert von drei Monumenten im Dorf Dilowe nahe der rumänischen Grenze. Bereits 1887 stellten hier Geographen der Wiener Kaiserlich-Königlichen Akademie der Wissenschaften des Österreichisch-Ungarischen Reiches (die Karpaten gehörten damals als Königreich Galizien und Lodomerien zum k. u. k.-Reich), das Zentrum Europas fest. Mit einer kleinen Abweichung von wenigen Metern orteten fast 100 Jahre später sozialistische Wissenschaftler, gewiss in Anwendung der geodätischen Errungenschaften des Marxismus-Leninismus, hier erneut das Zentrum Europas und errichteten ein weiteres Achtungszeichen. Damit nicht genug, investierte der Staat nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung 1991 viele Dollar in ein drittes, noch pompöseres Monument. Im Bewusstsein endlich errungener Freiheit gestattete man sich ebenfalls eine leichte Abweichung von den beiden bereits präzise berechneten Standorten. Etwaigen Anfechtungen begegnen die Ukrainer gelassen; schließlich sei der Null-Meridian im englischen Greenwich auch mehrmals verschoben worden.

Und spricht es nicht für sich, dass es von Rachiw in Richtung Nordosten bis nach Kyiw 500 und nach Moskau 1500 Kilometer sind, gen Westen nach Budapest 380, bis nach Wien 600, etwa 1000 nach Berlin, 1730 bis nach Genf und gen Süden 1850 nach Rom? Zentraler geht es ja wirklich kaum!

Und dennoch: Liegt das Zentrum wirklich dort?

Der polnische Regisseur Stanislaw Mucha hat einen Film – »Die Mitte« – gedreht, in dem er den Versuch unternahm, in all den Ländern zu filmen, wo solche Steine vom »Zentrum Europas« liegen. Insgesamt waren es 12 – darunter Deutschland, Österreich, Tschechien, die Slowakei, Polen, Litauen und eben die Ukraine.

Aber spätestens, wenn Mucha verblüfft feststellt, dass die Einwohner von Rachiw im Durchschnitt vier bis fünf Sprachen sprechen, teilt man das Gefühl, sich echt in der Mitte Europas zu befinden. Der babylonische Wirrwarr aus Ukrainisch, Polnisch, Russisch, Deutsch, Jiddisch, Rumänisch, Ungarisch, Italienisch, Serbisch, Slowakisch ist entstanden, ohne dass die Menschen ihr Städtchen verlassen mussten, aber trotzdem vorübergehend bis zu neun verschiedenen Staaten angehörten. Das ist Ausdruck der wechselvollen Geschichte des Landes, von der noch ausführlicher die Rede sein wird.

Von der Hauptstadt in die Provinz

Ich setze mich in den Zug und fahre von Chmelnyzkyj, einem Gebietszentrum im Westen des Landes, über Kyiw Richtung Debalzewe, einem eher unbekannten Eisenbahnknoten im »fernen Osten« der Ukraine. Ich fahre zu meiner Mutter, also in meine Heimat, nach Hause.

Vergessen Sie alles, was Sie von Bahnreisen in Deutschland erwarten, in meinem Heimatland ist Reisen noch ein wirkliches Abenteuer! Von wegen planen, buchen und losfahren! Für die über 1300 Kilometer lange Strecke zwischen dem Westen und Osten der Ukraine und den immerhin 900 Kilometern auf der Nord-Süd-Achse brauchen die Züge bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 50 km / h lange, sehr lange. Also führen die Züge nahezu ausschließlich Schlafwaggons, daher ist eine Platzbuchung Pflicht. Somit ist die Anzahl der Plätze logischerweise immer begrenzt, und das Abenteuer beginnt beim Kauf der Fahrkarte. In den Sommermonaten sind die Plätze gen Süden (und zurück) grundsätzlich ausverkauft, in den restlichen Monaten ist es Glücksache, ob man für den gewünschten Tag eine Fahrkarte bekommt. Man kann am Schalter nie sicher sein, von Online-Kauf ganz zu schweigen, das ist Zukunftsmusik. Der Weg zum Bahnhof ist unumgänglich, und wenn man in der Schlange steht, steigt die Spannung.

Wo immer es Engpässe gibt, sind stets auch gerissene Typen zur Stelle, die daraus ihren Vorteil ziehen. Auf den Bahnhöfen verfügen sie über nützliche Connections zu den Frauen hinter den Schaltern, die ihnen die Mangelware Fahrkarte zu einem gewissen (privaten) Aufpreis feilbieten. Wer also zu einem bestimmten Zeitpunkt reisen muss und über keine Beziehungen verfügt, ist darauf angewiesen, diesen Halunken die Karte zum doppelten oder dreifachen Preis abzukaufen. Da die Nachfrage immer groß und die Handelsspanne attraktiv ist, entwickelte sich dieser Markt vor einigen Jahren zu einer »Geschäftsbranche« mit mafiaähnlicher Struktur. Die ukrainische Eisenbahn sah sich deshalb gezwungen, Fahrkarten nur noch gegen Vorlage eines Personalausweises zu verkaufen. Die Billetts werden wie schon früher nicht im Zug selbst, sondern vor dem Einstieg kontrolliert. Der Schwarzhandel ging zurück. Seit Ende 2007 kann man Fahrkarten wieder anonym kaufen. Ob das ein Zugeständnis an die Datenschützer war, die das personengebundene Verfahren anprangerten, oder an die kriminelle Lobby, ist ungewiss. Fest steht: Der Erwerb von Fahrkarten bleibt ein Problem und mutet in unserem computerisierten Zeitalter anachronistisch an. Wer in Spitzenzeiten nach zeitraubendem Nervenkitzel tatsächlich nicht nur für den geplanten Tag, sondern vielleicht auch noch eine Fahrkarte für einen Abteilwagen ersteht, hat wahrlich Grund zu feiern. Man kann sich in diesem Fall nämlich auf eine bequeme, beschauliche Reise freuen. Diese ist möglich in einem Abteil der ersten Klasse für zwei Personen und wird vorwiegend von Kunden aus der oberen staatlichen Verwaltungsschicht genutzt, die auf Staatskosten reisen. Reiche Unternehmer oder Politiker bevorzugen wie überall auf der Welt Auto oder Flugzeug.

Die ukrainische obere Mittelklasse reist im »Coupé« der Zweiten Klasse, einem Abteil mit Schlafgelegenheiten für vier Personen und einem Tisch in der Mitte. In solch einen Waggon passen insgesamt 36 Personen.

Die untere Mittelklasse muss sich mit einem Plätzchen in einem sogenannten Platzkarten-Waggon begnügen, der dem Coupé-Waggon fast gleicht, nur gibt es keine Türen vor den Abteilen. Da es in diesen Waggons etwas enger zugeht, können damit immerhin 52 Passagiere befördert werden. Tagsüber geht es hier relativ kultiviert zu. Gegen Abend wandelt sich solch ein Waggon gern zu einer Art kleiner Militärkaserne oder gleicht einem Flüchtlingslager: Es wird auf engstem Raum gegessen, getrunken, gelesen; Frauen und Männer kleiden sich zur Bettruhe um. Alles schön gemeinsam. Und wer nachts zur Toilette muss, nimmt die Parade der besockten Füße ab ...

Über den Zustand der Toiletten breiten wir den Mantel des Schweigens. Doch es sei gesagt, dass es sich bessert mit den »Örtchen«; sie sind inzwischen sauberer, man findet Seife und Papier. Schwierig wird es aber doch, wenn man beispielsweise schon zwölf Stunden von insgesamt 24 auf der Strecke von Berlin nach Kyiw unterwegs ist und die Örtchen bei jedem Halt vom Zugpersonal geschlossen werden, da die Konstruktion keine Behälter vorsieht und man den Bahnhof nicht verschmutzen will … Und so ein Halt kann Stunden dauern, vor allem bei Radwechsel, denn – Sie wissen es vielleicht noch aus der Schule – die sowjetischen Bahnspuren waren schon immer eine Hand breiter als die europäischen, und sie sind es noch immer.

Ich fahre in solchen Zügen von Kindesbeinen an, und wer sich wie ich immer wieder auf das Abenteuer einlässt, wird mit überraschenden Vorzügen belohnt: Jeder kann sich in frische Wäsche betten, seit kurzem wird sie eingeschweißt in einen Plastikbeutel ausgehändigt. Und natürlich der Tee! Nirgendwo schmeckt er so gut wie im Zug. Man schlürft Tee und plaudert mit den Mitreisenden. Wenn Sie in einem inländischen Zug durchblicken lassen, dass Sie aus Deutschland kommen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie sich auf ein Abendbrot mit hochprozentigem Wässerchen einlassen. Aber auch auf eine Debatte bis Mitternacht über Umwelt, steigende Preise, die NATO, über Raumfahrt, Gott, Landwirtschaftserfolge bzw. -niederlagen, über Familienplanung, die EU, korrupte Politiker, Hühnerzucht und Fußball. Sie hören Geschichten über die Schwiegertochter (alternativ: Schwiegermutter), Armeeerinnerungen oder Überlegungen zur großen (alternativ: geringen) Bedeutung der Ukraine in der Welt. Damit ist die Themenpalette nur angerissen, aber noch lange nicht ausgeschöpft.

Will ich meine Ruhe haben, schweige ich lieber: Ich habe es leicht, ich spreche Ukrainisch akzentfrei und kleide mich unauffällig. Diesmal sitzen mir zwei Hochschullehrer aus Riwne gegenüber, einem Gebietszentrum im Westen. Sie wollen nach Slowjansk im Donezbecken, wo sie für Fernstudenten ihrer Hochschule Vorlesungen halten werden. Sie plaudern über ihre Studenten und ihre älteren Kollegen Professoren. Alle seien faul; Erstere, weil sie nicht lernten, Letztere, weil sie ihre jüngeren Kollegen auf die 18-stündige Tour nach Slowjansk schickten. Sie stöhnen über das ihnen zugemutete zweifelhafte Vergnügen. Es erstaunt mich, wie offen die beiden über Schmiergelder reden, die sie und ihre Kollegen von den Studenten bekommen. Gezahlt wird für die Immatrikulation, für Semesterprüfungen, für Studienarbeiten und sogar Diplome.

Ich weiß, dass sie nicht viel verdienen, umgerechnet etwa 230 Euro im Monat, ein Professor bekommt ungefähr 280 Euro, ein Student aber ein Stipendium von nur 20 Euro. Woher also das Geld kommt, bleibt ein Rätsel.

Zu meiner Studienzeit war es nicht üblich, die Dozenten zu »schmieren«. Natürlich kauften wir am Prüfungstag für den Lehrer einen üppigen Blumenstrauß, stellten Mineralwasser auf den Tisch, aber schmieren – das wäre unerhört gewesen! Erst später hat sich das fest eingebürgert. Inzwischen gelten für die verschiedensten Leistungen an den Hochschulen feste Tarife – angegeben in Dollar, in »Bucks«, wie moderne Ukrainer auf amerikanische Art sagen. Hochschullehrer und Ärzte werden fast alle »geschmiert«, mehr noch als Richter, Verkehrspolizisten, Feuerwehrleute, Hygienekontrolleure oder Verwaltungsbeamte …

Ursache der Korruption sind die niedrigen Löhne; sie sind wirklich miserabel! 2008 lag der Durchschnittslohn bei 1800 Hrywnja brutto, das entsprach etwa 240 Euro. Aber ein Durchschnittslohn sagt nichts über die Extreme, es gibt zum Beispiel große regionale Unterschiede. In Kyiw, mit seinen zahlreichen Staatsbediensteten, Politikern, Bankern; in Donezk, Saporishsha oder Dnipropetrowsk, wo Bergbau und metallverarbeitende Industrie zu Hause sind, fallen die Löhne höher aus. In den ländlichen Gegenden, in Ternopil, Tschernihiw, Cherson, Wolhynien, Chmelnyzkyj oder Winnyzja sind es am Monatsende meist nicht mehr als 140 bis 150 Euro. Hier entspricht der Verdienst von Ärzten und Lehrern noch lange nicht dem Landesdurchschnitt.

Die Löhne der Beamten und die Renten (um die 110 Euro) steigen zwar Jahr für Jahr, aber mit ihnen auch die Teuerungsrate – um 12 bis 22 Prozent (2008) jährlich. Das Lebensniveau der Ukrainer verbessert sich sichtbar, doch viel langsamer, als man sich wünscht.

Die Löhne der Arbeitnehmer in privaten Betrieben sind differenzierter gestaffelt. In Kyiw sind erfreuliche 800 Euro im Monat üblich, in der Provinz aber auch 50 Euro möglich.

Manche hauptstädtischen Unternehmen vergeben ihre Produktionsaufträge nicht an »Billigländer« wie China oder Indien, sondern an Firmen in der ukrainischen Provinz und halten damit die Kosten niedrig.

Die »Privaten« sind dafür bekannt, einen Teil des Lohns häufig »schwarz« zu zahlen. Für die Firmen ist das günstig; sie müssen dafür keine Sozialleistungen abführen. Die »schwarzen Zuwendungen« werden monatlich in einem Kuvert gezahlt. Diese Kuvertlöhne sind für rapide steigende Autoverkaufszahlen in der Ukraine verantwortlich – trotz zweitschlechtestem Einkommensniveau in Europa.

Langsam begreifen aber die Bürger, dass sich aus dem Kuvertlohn keine Rente ergibt, und immer mehr Menschen streben deshalb »weißen Lohn« an, mag’s vielleicht auch etwas weniger sein. Wer also bei einem Einstellungsgespräch über die Höhe seiner Entlohnung verhandelt, muss abklären, ob es sich um eine »schwarze« oder »weiße« Summe handelt. Es ist zu hoffen, dass damit die immer noch gängige Schattenwirtschaft nicht von oben, sondern mit dem Druck von unten allmählich abgebaut wird.

Wenn mein Blick aus dem Abteilfenster hinaus über die unendlichen Steppengebiete um Poltawa und südlich von Charkiw schweift, fällt auf, dass die Räume zwischen den besiedelten Gebieten in der Ukraine größer, ausgedehnter, gewaltiger und deshalb eindrucksvoller als im dichtbesiedelten Deutschland sind. Fährt der Zug an Feldern vorbei, scheint mir, als gäbe es weniger brachliegende Felder als noch zu Beginn des neuen Jahrtausends. Viele Erntemaschinen ziehen ihre Bahn, auch abends und nachts. Ihre Lichter erhellen die dichten Staubwolken. Trotzdem ist die Landwirtschaft Knochenarbeit geblieben und wenig einträglich. Es sei denn, man nutzt die Gesetze der modernen Marktwirtschaft, wie meine Bekannten Georgij und Oxana aus Kyiw. Sie sind auf intelligente Weise zu neuem Reichtum gekommen und inzwischen Dollar-Millionäre geworden. Wie fast alle ukrainischen Millionäre treten sie eher bescheiden auf, obwohl man ihnen eine gewisse Lässigkeit anmerkt. Sie lieben Malerei und Musik. Oxana führt sogar eine eigene Galerie auf der berühmten Kyiwer Kunst- und Kulturmeile Andrijiwskyj uswis.

Von Beruf ist Georgij Informatiker. Als in der Sowjetunion privates Unternehmertum erlaubt wurde, schloss er sich mit ein paar Gleichgesinnten zu einer Gesellschaft zusammen und fing an, Programme zu schreiben und Computer zu verkaufen. Das brachte Geld, aber noch mehr Nachahmer. Irgendwann war das Geschäft nicht mehr lohnend, und die inzwischen marktwirtschaftserprobten Computerfreaks suchten sich ein anderes Beschäftigungsfeld. Sie kamen auf die Landwirtschaft, speziell auf Zuckerrüben. Heute haben er und seine Gesellschafter Tausende von Hektar Schwarzerde gepachtet und besitzen zwei Zuckerfabriken.

Wie es scheint, ist die moderne ukrainische Landwirtschaft eine echte Goldgrube. Doch brauchte es eine Menge Kalkül, bis Georgij und seine Partner da waren, wo sie heute sind. »Wir hatten alle keine Ahnung von Zuckerrüben und Zuckerherstellung, aber wussten, dass die Ukraine dafür den richtigen Boden hat und die Menschen viel Erfahrung mitbringen, auch wenn die Ernteergebnisse noch weit entfernt von der Weltspitze lagen«, erzählt er.

Als Erstes suchten sie geeignete Flächen. Sie studierten Erntestatistiken und sprachen mit den Leuten aus den Regionen, werteten Satellitenbilder aus und ließen Bodenproben analysieren. Erst dann haben sie die Felder gepachtet. Maschinen kauften sie im Westen, wie auch Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmittel, zum Teil auf Kredit und in der Hoffnung, es würde sich rentieren. Sie orientierten sich an westlicher Technologie, um mehr als den bis dahin üblichen Ertrag zu erwirtschaften. In den ersten Jahren waren die Kyiwer abwechselnd Tag und Nacht auf den Feldern und gingen rigoros gegen Schlamperei vor. Nachsicht gegen nicht ausgenüchterte Traktoristen hätte sie Hunderttausende kosten und in den Ruin führen können.

Jetzt seien sie über den Berg, so Georgij. Die Technologie sei erprobt, die Arbeiter zuverlässig, die Technik fast abbezahlt. Aber um die frisch erworbene zweite Zuckerfabrik mit Rohstoff zu versorgen, waren neue Ländereien erforderlich. Das verlangte neue Technik und wieder neue Fachkräfte, die es gewohnt waren, nach den sprichwörtlichen deutschen Maßstäben zu arbeiten.

In der Ukraine werden durchschnittlich ca. 190 Dezitonnen Zuckerrüben pro Hektar geerntet. Georgij ist schon längst über die doppelte Menge hinaus. Der Zuckergehalt von Hackfrüchten liegt gewöhnlich unter 14 Prozent, bei Georgij & Co. aber über 20. Viele Landwirtschaftsbetriebe kämpfen mit dem Diktat der Zuckerfabriken, bei Georgij bilden sie ein Glied in der Verwertungskette. Deshalb ist er jetzt Millionär.

Wie ich später von Sascha, einem älteren Kumpel aus Kinderzeiten, erfahren sollte, hat auch er sein spätes Glück in der Landwirtschaft gefunden. Eigentlich sollte er längst in Rente gehen – er war »Milizionär« –, doch das wollte er nicht. Er blieb weiter im Dienst, bis die Regierung eines Tages die Bezüge kürzte. Jetzt musste er sich etwas einfallen lassen. Er pachtete einige Hektar Land und beschloss, dort Sonnenblumen wachsen zu lassen. Tausende Hrywnja investierte der alte Sascha in das Vorhaben. Im ersten Jahr ging die Sache fast schief. Der Neubauer holte jedoch nach dem Verkauf der Ernte immerhin seine Investition wieder rein, die Rechnung ging also plus / minus Null aus. Aber es war eine schwarze Null, und auf der Positivseite stand eine wichtige Erfahrung. Sascha riskierte es noch einmal und baute im folgenden Jahr wieder Sonnenblumen an. Diesmal erntete er 20 Dezitonnen pro Hektar. Inzwischen waren die Preise für Sonnenblumenöl und dementsprechend auch für Sonnenblumenkerne gestiegen. Saschas Erlös aus der Ernte belief sich auf das Zehnfache seins investierten Geldes. »Ich bin jetzt ein Knecht auf dem Feld«, kommentiert der glückliche Schatzsucher seinen unternehmerischen Aufbruch, und seine Augen glänzen zufrieden.

Wie es scheint, gibt die ukrainische Erde etwas zurück, wenn man viel Mühe und genug Geld in sie hineinsteckt. Was Saschas Sonnenblumen angeht, so ist das Ende der möglichen Erträge längst nicht erreicht. Die Region Charkiw ist eines der günstigsten Anbaugebiete für Sonnenblumen!

Insgesamt lag 2007 die Rentabilität der ukrainischen Landwirtschaft durchschnittlich bei 20 Prozent. Das ist die höchste Rentabilität seit Jahrzehnten. Also doch »Kornkammer Europas« in spe? Neben Zuckerrüben und Sonnenblumen wird über Rapsanbau nachgedacht. Es gibt Unternehmen, die bereits bis zu 200 000 Hektar Land langfristig vom Staat gepachtet haben. Auch Ausländer zeigen an ukrainischem Grund und Boden Interesse. Bei einem Preis von über 500 Dollar pro Tonne Raps auf dem Weltmarkt rechnen die Firmen mit Millionengewinnen.

Natürlich sieht es nicht überall so rosig aus. Die Getreideernte liegt im Landesdurchschnitt bei 13 bis 16 Dezitonnen pro Hektar (2008 in Deutschland 46,5 Dezitonnen Roggen, 76,5 Weizen pro Hektar), in einigen Gebieten jedoch nur bei sieben. Das ist nicht mehr als in den spärlichen und von Hunger gezeichneten Nachkriegsjahren. Aber auch früher nie gesehene 50 Dezitonnen und mehr sind keine Seltenheit mehr. Das Erfolgsgeheimnis: Die Landwirtschaftsmaschinen der Ukrainer heißen derzeit nicht mehr »Niva« und »Kolos«, früher die meistverbreiteten sowjetischen Fabrikate, sondern »John Deer«, »Case« und »Lexion«.

Wendige »Bisnesmeny« haben auch den Duft des Milchgeldes aufgespürt. Die alten Bäuerinnen in den Dörfern, die mit ihren Kühen 80 Prozent der Milchproduktion des Landes sicherten, sterben aus. Jüngere, die bereit sind, Kühe zu füttern, Ställe auszumisten und zweimal täglich zu melken, finden sich zunehmend seltener. Deshalb sank die Produktion, und der Preis für Milch stieg von 60 bis 70 Kopeken pro Liter im Jahr 2002 auf drei Hrywnja 2007. Jede beliebige Käsesorte ist heute nicht billiger als in Deutschland. Der jährliche Konsum der Milchprodukte wächst konstant um zwei Prozent.

Große Firmen, die ihr erstes Geld mit Sonnenblumen und Zucker verdient haben, kaufen jetzt alte Milchfarmen auf, bauen neue und pachten Land. Schließlich müssen die Kühe gut gefüttert werden. Fachleute sind der Meinung, die Rentabilität solcher Firmen liege bei 60 Prozent. Einzige Sorge: In der landreichen Ukraine fehlen freie landwirtschaftliche Flächen. Das hat eine wahre Goldgräberstimmung ausgelöst: Obwohl der Verkauf von landwirtschaftlichen Nutzflächen noch nicht erlaubt ist, sind die meisten Ländereien bereits an neue Bauern verpachtet. Deutsche, Österreicher, aber vor allem Polen sind in der Ukraine auf der Suche nach freien Feldern unterwegs. Sie pachten einige Tausend Hektar mit der Option auf das Vorkaufsrecht und hoffen auf einen satten Gewinn in kürzester Zeit. Zukünftige Probleme sind vorhersehbar: Ein Pächter ist kein Eigentümer! Ein Eigentümer sorgt für den Boden, wechselt Anbaukulturen, düngt ausreichend und vielseitig, bearbeitet den Boden schonend. Ein Pächter hinterlässt die Spuren von Heuschrecken, die über ein Feld herfallen.

Der Zug kommt in Barwinkowe, meiner Heimatstadt, an. Wie immer holt mich mein Bruder vom Bahnhof ab. Wir laufen durch den Park, am Kulturpalast des Maschinenbauwerks »Roter Strahl« vorbei, einst größter Arbeitgeber der Stadt. Auch mein Bruder hat dort als Gummivulkaniseur angefangen.

Der dreistöckige Kulturpalast beeindruckt mit seiner pompösen Architektur wie eh und je. In seinem großen Foyer fanden zu meiner Zeit Tanzstunden statt. Schon als Kind lernte ich hier den ukrainischen Hopak, aber auch Wiener Walzer, Tango und Polonaise. Jugendzirkel hatten ihre Studios im Palast, und er führte die größte Bibliothek des Ortes. »Die Bibliothek gibt es nicht mehr«, sagt mein Bruder bekümmert, als ob er meine Gedanken lesen würde. »Kein Geld.«

Früher wurden die Kultureinrichtungen durch das Werk finanziert, und ein Kindergarten noch dazu. Jetzt gibt es keine Arbeit mehr im Werk, die Werkbänke und Maschinen wurden von der Verwaltung verschleudert, das Riesenareal ist geplündert wie in Kriegszeiten, und es gibt nur noch für einige wenige Arbeit.

»Und die Kreisbibliothek?«, frage ich, »existiert sie wenigstens noch?«

»Die gibt es noch«, antwortet mein Bruder, »aber sie haben kein Geld für neue Bücher. Die Buchausleihe ist deshalb kostenpflichtig. Jetzt tauschen wir oft Bücher unter Freunden.«

Nicht nur für Lesefans wie meinen Bruder ist das ein herber Einschnitt. Es wurde viel gelesen im Land und jetzt gibt es nicht mal mehr einen Buchladen im Ort. Und kaum Abwechslung. Nur Arbeit, Fernsehen und Schnaps.

Damit liegt das Städtchen voll im Trend: Gab es 1991 in der Ukraine noch über 3000 Buchläden, so sind es heute nur noch knapp 500 – statistisch gesehen also ein Buchladen auf 100 000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland oder im Nachbarland Polen fällt ein Buchladen auf etwa 10 000 Einwohner. Intelligente ukrainische Leser haben ausgerechnet, dass die Ukraine zehn Jahre lang jeden Tag einen Buchladen eröffnen müsste, um das heutige Niveau dieser Länder zu erreichen.

Der große Saal des Kulturpalastes diente vor allem als Versammlungsort für feierliche Anlässe. An Festtagen stand auf der Bühne ein roter Tisch für das Präsidium.

Eine Zeit lang hatte hier sogar ein Volkstheater sein Zuhause! Das war eine kleine Sensation in Barwinkowe! An den Abenden, an denen keine andere Veranstaltung geplant war, flimmerten im Kulturpalast Filme über eine Leinwand. Insgesamt hatten wir in der Stadt drei Kinos und im Sommer noch ein Freiluftkino dazu. Das war nicht ungewöhnlich; es gab in der Ukraine 25 000 Filmtheater.

Der Filmvorführer im Palast, ein gewisser Onkel Wanja, sorgte immer wieder für neue Filme, und die Kassenfrau Tante Natascha ließ uns Kinder auch mal in eine Abendvorstellung. Oder wir gingen zum Freiluft-Sommerkino und krochen hinter die Leinwand. Dort konnte man fast ungestört den Film genießen, nur der Projektor blendete.

Heute gibt es kein einziges Kino mehr im Städtchen. Im ehemals Besten namens »Stern« residiert jetzt ein Bestattungsunternehmen. Das Kino liegt symbolisch bestattet in den ausgestellten Särgen. Da bleiben nur Fernsehen oder DVD. Die Auswahl ist gewaltig, aber auf russische Filme beschränkt und auf Produktionen aus Hollywood, Hollywood und immer wieder Hollywood. Um einen ukrainischen Film zu sehen, muss man schon in die Hauptstadt fahren. Zurzeit werden sehr wenige ukrainische Filme produziert, und von den mit Mühe produzierten existieren nur wenige Kopien.

Aber bevor ich wieder nach Kyiw aufbreche, möchte ich noch etwas Dringliches erledigen. Dazu fällt mir eine Redensart ein: »Puschkin ist tot und mir ist auch schon ganz übel.« Die Ukrainer haben eine andere Einstellung zum Kranksein. Es gilt als Fauxpas, mit Schnupfnase herumzulaufen und am Esstisch zu schniefen. Einen Kollegen mit Husten versteht man nicht als Held, sondern als Infektionsherd. Wenn ein Ukrainer Fieber hat (das ist schon über 37,0 Grad der Fall), rennt er nicht gleich zum Arzt (oder nur um einen Krankenschein zu bekommen), sondern legt sich ins Bett und unternimmt alles, um schnellstmöglich gesund zu werden. Deshalb gibt es Apotheken wie Sand am Meer und viele kennen sich dort wie in ihrer eigenen Westentasche aus. Man wird also in den Herbstmonaten viel weniger erkälteten Leuten begegnen als in Deutschland

Ich habe zwar keinen Schnupfen, aber da ich im Urlaub bin und viel Zeit habe, gehe ich in Barwinkowe zum Arzt. Irgendetwas scheint schon seit langem mit meinem Herzen nicht in Ordnung zu sein. Man kennt das: Es schmerzt noch nicht wirklich, aber es macht unruhig. Ich bin ohne Auslandsversicherungsschein, ohne Krankenkarte, auch ohne das bei so einer Gelegenheit zwingend fällige Schmiergeld. Ich komme mit meinem Bruder. Der ist selbst Arzt, und freundschaftliche Beziehungen zählen hier so viel wie oder sogar mehr als Geld.

Der Kardiologe untersucht mich. Er plaudert währenddessen mit mir über Gott und Europa, nimmt sich Zeit, schickt mich aber weder zum Röntgen noch zur Blutabnahme. Er horcht mich ab, palpiert, klopft, wie ein Schamane schaut er mir auf die Zunge und in die Augen … und stellt seine Diagnose – dieselbe wie mein deutscher Hausarzt, allerdings nach deutlich kürzerer Zeit und mit erheblich weniger Aufwand.

Wohl dem, der einen Arzt zum Bruder hat! Ist man auf die von der Verfassung garantierte »kostenlose« medizinische Versorgung angewiesen, nimmt man besser einen grünen amerikanischen Geldschein mit, sofern man einen hat. Man zahlt dem Arzt etwas für seine Diagnose, den Schwestern für die Injektionen. Man bezahlt den Chirurgen für die Operation, man schiebt dem Pfleger etwas zu, man zahlt für den Verband, man zahlt für Medikamente und bringt auch besser seine Bettwäsche und sein Essen von zu Hause mit. Doch das alles bietet noch keine Garantie dafür, dass man auch die bestmögliche Betreuung bekommt. Es schafft lediglich ein besseres Gefühl.

Die Ukraine hat traditionell sehr gute Ärzte. Sie erhalten eine ausgezeichnete Ausbildung und haben meines Erachtens noch nicht verlernt, den Menschen und seinen Organismus als Ganzes zu betrachten. Zur Diagnostik, aber auch zur Behandlung von mittelschweren Krankheiten würde ich mich ohne Sorge in ein ukrainisches Krankenhaus begeben. Vorausgesetzt, ich könnte für meine Behandlung bezahlen. Die Probleme kommen, wenn es zur eindeutigen Diagnose moderner medizinischer Geräte bedarf.

In der Regel gibt es zwar in jedem Krankenhaus ein Röntgengerät, die Bilder sind aber nicht sofort abrufbar und nur schwer leserlich. In der Regel gibt es fast in jedem Krankenhaus auch ein Ultraschallgerät, doch ist nicht damit zu rechnen, dass es in jedem Fall funktioniert bzw. dass einen Arzt gibt, der damit entsprechend umgehen kann. Deshalb sind für manche Untersuchungen bisweilen Fahrten in eine andere Stadt oder sogar in ein anderes Gebiet notwendig.

In den großen Städten gibt es durchaus modern eingerichtete, aber private Kliniken. Die Preise für einfachste Diagnosen liegen dort so hoch, dass nur vermögende Bürger diese Dienste in Anspruch nehmen können – schätzungsweise etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Diese Dienste werden gern angenommen, aus der Überzeugung heraus, dass das, was teuer ist, nur gut sein kann. Deshalb gehen die Reichen in die privaten Kliniken – zahlen für eine Entbindung 6000 Dollar oder für eine Krebsbehandlung mehrere Tausend.

In den Großstädten tun sich die besten medizinischen Kräfte, Professoren und Dozenten der Hochschulen, Chefärzte staatlicher Kliniken, zusammen und gründen private Diagnosezentren, um ihren niedrigen staatlichen Verdienst aufzubessern.

Jeder kennt die Zustände im Gesundheitswesen des Landes, und der Wunsch nach einer solidarischen Krankenversicherung wird größer. Doch die Einführung einer funktionierenden Krankenversicherung geht nur schleppend voran. Dafür gibt es aus meiner Sicht zwei Gründe: Zum einen fehlt es an Erfahrungen und dem richtigen Management (mit einem Know-how-Transfer aus Deutschland wäre dem abzuhelfen), zum anderen – und das ist aus meiner Sicht die größere Schwierigkeit – haben die Menschen meiner Heimat kein Vertrauen in Versicherungen. Und das aus gutem Grund!

Um das Problem zu verdeutlichen, sei eine Episode mit meiner Mutter erzählt: Ich sitze in meinem Geburtshaus, als sie schimpfend ins Zimmer tritt.

»Was ist?«, frage ich.

»Der Versicherungsmann war da und wollte unser Haus versichern, der Halunke. Als ob ich nichts Besseres zu tun habe, als mein Haus zu versichern!«

Meine Mutter hat das Haus, in dem sie seit Jahrzehnten wohnt, »privatisiert«: In den frühen 90er Jahren wurden Häuser spottbillig an die Bewohner abgegeben, ja fast verschenkt; niemand in der Ukraine spricht in diesem Falle von »Verkauf«. Wie alle neuen Besitzer ist auch meine Mutter jetzt für alles zuständig, unter anderem auch für die Versicherung.

»Ist das Haus überhaupt nicht versichert?«, frage ich vorsichtig, und eine böse Vorahnung entströmt meiner »angedeutschten« Seele.

»Natürlich nicht. Warum soll ich das Geld für nichts und wieder nichts aus dem Fenster werfen?«

»Auch nicht gegen Feuer, Wasser und Sturm?«, bete ich die in Deutschland gelernten Grundsätze her.

»Nein!«

Meine Mutter ist eine vernünftige Frau. Aber sie ist 85. In dem Alter ist man ab und an nicht mehr so einsichtig und flexibel wie in jungen Jahren. Deshalb lasse ich mich mit ihr auf keine Diskussion ein und gehe zu einer Bank, die auch Versicherungsdienste anbietet. Ich werde das Haus im Namen meiner Mutter gegen das Nötigste versichern, damit nicht nur sie, sondern auch ich in der Ferne Ruhe habe.

Die Filiale ist klein, ich rede mit dem Filialleiter.

»Haus? Versichern? Wozu denn das?«, fragt er mich verdutzt.

Ich erkläre ihm, dass man große Sachwerte (Immobilien) gegen gängige Gefahren absichern sollte, damit man im Schadensfall nicht ohne Dach überm Kopf auf der Straße steht.

»Ja«, sagt der einsichtige Filialleiter, »wir können Ihr Haus versichern. Aber ich kann natürlich nicht garantieren, dass, wenn das Haus abbrennt, Ihrer Mutter die Versicherungssumme ausgezahlt wird.«