Chodorkowskij - Viktor Timtschenko - E-Book

Chodorkowskij E-Book

Viktor Timtschenko

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Beschreibung

Das Urteil der Öffentlichkeit ist gefallen: Der russische Ministerpräsident Vladimir Putin statuiert an Michail Chodorkowskij ein Exempel, weil dieser es wagte, sich ungefragt in die Politik einzumischen - ein Verhalten, das der erfolgreiche, sozial engagierte Selfmademan nun mit dem Gefängnis bezahlt. Doch ist die Sache so einfach? Ist Chodorkowskij so unschuldig, wie er behauptet und die Medien meist im Echo wiederholen? Fakt: Der Fall Chodorkowskij ist komplex wie kein anderer. Mit detektivischem Spürsinn recherchiert Viktor Timtschenko verborgene Hintergründe und durchforstet auf der Suche nach der Wahrheit einen dichten Wald aus brisanten politischen Verflechtungen, perfiden Machtspielen und wirtschaftlichen Manipulationen.

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Viktor Timtschenko

Chodorkowskij

Legenden, Mythen und andere Wahrheiten

In der Namenswiedergabe lehne ich mich an die – aus meiner Sicht genauere – Schreibweise der deutschen Zeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Frankfurter Rundschau, Handelsblatt an und schreibe durchgehend – außer in den Quellenangaben – Chodorkowskij und Jukos und nicht z. B. Chodorkowski und Yukos.

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Inhalt

Vorwort von Gabriele Krone-Schmalz

Warum schreibt man über Wohlbekanntes?

Teil 1 Jagd aufs Geld

»Fakten« und »keine Fakten«

Kann ein anrüchiges Gericht in einem unredlichen Land ein rechtmäßiges Urteil fällen?

Wundersame Wirkung von Psychopharmaka

Wissenschaftlich-technische Geldmaschine

Unglaubliche Erfolge eines Naturtalents

Wie viele Milliarden kostet eine Kaviar-Schnitte?

Geschäfte mit Privilegien

Über die Abhängigkeit unabhängiger Firmen

Aufwärmen oder Apatit

Training oder NIUIF

Intermezzo oder gefälschte Avis

Wozu organisiert man eine Krise?

Wie ein LKW baden geht

Großes Spiel oder Jukos

Transparenteste Firma aller Zeiten

Der Mann, der alles wusste

Die ergiebigste Flüssigkeit der Welt

Teile und herrsche

Erdöldiebstahl mit einem Kanister?

Warum gehen die Jukos-Leute heute nicht auf die Straße?

Wie Chodorkowskij private Steuern zahlte

Ist all das überhaupt strafbar?

Was ist ein »drakonisches« Strafmaß?

Woher stammt die Dreistigkeit?

Teil 2 Jagd auf Russland

Vom Räuberbaron zum Heilsbringer

Dieser immer verdächtige Putin

Bester Schüler

Käufliche Abgeordnete

Diffamierung als Methode

Machtambitionen. Wozu?

Warum konnte Chodorkowskij nicht Präsident des Landes werden?

Damespiel auf dem Fußballfeld

Oligarchenträume. Die Sicht eines Amerikaners

Gelenkte Wahrheit

Auf dem Weg zur Macht

Was kostet ein Image?

(K)ein politischer Häftling

Welche Parteien finanzierte Chodorkowskij?

Wohltätigkeit à la Chodorkowskij

Erdölfelder werden verkauft

Russland wird verkauft

Warum kehrte er nach Russland zurück?

Teil 3 Jagd auf die Freiheit

Eine andere Perspektive auf das Leben

Die Reue

Der Weg zu sich selbst

Anmerkungen

Vorwort

Vorwort

Endlich! Endlich hat es jemand gewagt und auch die Mühen nicht gescheut. Allein die Recherchen – ein Puzzle mit viel zu vielen viel zu kleinen und noch dazu versteckten Teilen. Ein wahrer Kraftakt, den nur jemand zustande bringen kann, der in beiden Gesellschaften zu Hause ist, der russischen und der deutschen. Das Wagnis besteht darin, an der Ikone Chodorkowskij zu kratzen. Im Grunde ein aberwitziger Gedanke, dass es Mut erfordern soll, in einem freiheitlich demokratischen Staat der westlichen Welt Rechercheergebnisse zu publizieren, die nicht dem Mainstream entsprechen – ich weiß, wovon ich rede.

Intelligent, konsequent, logisch, nüchtern und humorvoll – ein Humor allerdings, bei dem einem oftmals das Lachen im Halse stecken bleibt – so entzaubert Viktor Timtschenko den Mythos Michail Chodorkowskij. Und den vom demokratischen reformfreudigen Boris Jelzin entzaubert er gleich mit, ebenso wie die Mär von der Pressefreiheit zu jener Zeit. Schicht für Schicht nähert sich der Autor dem Kern. Er stellt einfache Fragen und hütet sich vor einfachen Antworten. Und überrascht mit seinem Fazit.

Das wahrhaft Erschreckende nach der Lektüre dieses Buches: Wir, die Medienkonsumenten, wissen nichts mehr als die Meinung der jeweiligen Meinungsmacher. Die Fakten sind offenbar zu kompliziert, außerdem zu vernachlässigen, denn wir wissen ja alle, was wir – letztlich – von Russland zu halten haben. Oder etwa nicht? Warum nur fällt es Medien und Politik so schwer, bei aller berechtigten Kritik, Russland so zu betrachten, wie wir das mit unseren westlichen Nachbarn in der Regel auch tun: kritisch, aber fair. Erst die Fakten auf den Tisch und dann der Kommentar. Erst die Sachlage kennen und dann urteilen. Wie gesagt, der Fall Chodorkowskij ist ein komplizierter.

Viktor Timtschenko ist weit davon entfernt, Russland für einen »Rechtsstaat im engen Sinne des Wortes« zu halten, »aber auch im unredlichen Russland ist ›Mord Mord und Diebstahl Diebstahl‹«, wie er schreibt. Er kennt die Abgründe Russlands besser als die Dauerempörten der westlichen Welt, aber er lässt sich vom stieren Blick in diese Abgründe seinen Horizont nicht verkleinern.

Ich gebe zu, die Süffisanz mancher Formulierungen habe ich genossen. Etwa, wenn sich der Autor über die unmittelbar nach Urteilsverkündung hereinprasselnden negativen Bewertungen ausländischer Politik und Medien wundert, obschon es bis zu diesem Zeitpunkt noch keine englische, geschweige denn deutsche Übersetzung der umfänglichen Urteilsbegründung gab. Wer verlässt sich da auf wen? Woher stammt das Bild, das sich weltweit verbreitet, die Weichzeichnung des ehemals reichsten Mannes Russlands, dessen Image zu Beginn seiner beispiellosen Karriere alles andere als gut war? Sowohl im Inland als auch im Ausland. Da besonders. Das scheint dem Kurzzeitgedächtnis schnelllebiger Gesellschaften zum Opfer gefallen zu sein. War da was? Welche Mechanismen erfolgreicher PR gilt es aufzudecken?

Es ist ja nicht so, als ob ich nicht auch darauf hereingefallen wäre. Sicher, ich habe in meinen Büchern und Vorträgen immer darauf hingewiesen, dass Chodorkowskij in jedem anderen Land der Welt auch im Gefängnis gelandet wäre für das, was er getan hat, und vermutlich mit weit höheren Freiheitsstrafen, aber ich habe auch geglaubt, was immer und immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt wurde, dass es nämlich Chodorkowskij war, der als erster Oligarch in Russland Bilanzen offengelegt und westliche Standards in seinem Unternehmen eingeführt hat. Welche Tragik, so mein Kommentar bis zur Lektüre dieses Buches. Ausgerechnet so einer muss über die Klinge springen, weil er sich für unverwundbar gehalten hat, dachte ich. Dabei war es ganz anders. Erst als die Staatsanwaltschaft bereits ermittelte, hat Chodorkowskij seine sogenannte transparente Firmenstruktur geschaffen, die ihn »in der ganzen Welt so berühmt machte«, wie Timtschenko schreibt. Alles davor ist an Intransparenz und Trickserei auf Kosten der Allgemeinheit kaum zu überbieten. Das Image Chodorkowskijs im Westen ist freilich ein anderes. Wie ist das möglich?

Die Lektüre dieses Buches sei all denjenigen besonders empfohlen, die immer schon wussten, dass Chodorkowskij ein Opfer russischer Willkürjustiz ist, und die nicht müde werden, ihre Wertungen mit der in solchen Fällen üblichen Mischung aus Abscheu und Empörung in die bereitstehenden Kameras zu schleudern, ohne die geringste Hemmung oder den leisesten Zweifel, vielleicht doch nicht so genau zu wissen, geschweige denn zu begreifen, was da vor sich geht.

Demokratisches Vorbild gerade auch für nachwachsende Generationen zu sein besteht unter anderem darin, für das Zur-Kenntnis-Nehmen unbequemer Wahrheiten zu kämpfen, ohne Rücksicht darauf, welche Nachteile es für einen persönlich bedeuten kann.

Gabriele Krone-Schmalz Januar 2012

Warum schreibt man über Wohlbekanntes?

Warum schreibt man über Wohlbekanntes?

Um ein Buch zu schreiben, braucht man einen Ansporn. Schließlich ist das harte Arbeit – bis zu Tränen in den Augen, bis zu Schmerzen im Rücken. Ich hatte sogar zwei.

Mich wunderte, dass alle Leute auf der Straße bestens über Chodorkowskij Bescheid wissen, und zwar Folgendes: Hier handelt es sich um eine juristische Farce, einen Schauprozess. Konkreter: Ein nicht ganz unbescholtener Geschäftsmann, der in den Jahren des wilden Kapitalismus zu Reichtum gekommen war, stellte sich dem mächtigen Mann Russlands Wladimir Putin in die Quere und muss dafür jetzt büßen. Wie er sich querstellte, weiß der Durchschnittsbürger ebenfalls: Er finanzierte die Opposition und hatte auch eigene politische Ambitionen auf das Präsidentenamt angemeldet. Deshalb wurde er Putin gefährlich. Also steckte ihn Putin ins Gefängnis. Daher sei es kein Straf-, sondern ein politischer Prozess gewesen.

Darüber schrieben fast alle westlichen Zeitungen und redeten fast alle angesehenen deutschen Politiker. Die Sache war sonnenklar und der Himmel blau. Hier nur einige wenige Beweise dafür:

»Ein Symbol für den Teil, der frei denkt.« – Der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Andreas Schockenhoff, betonte im Südwestrundfunk, dass in Russland grundsätzlich die Justiz nicht unabhängig sei, Chodorkowskij inzwischen zu einem Symbol für den Teil Russlands geworden sei, der frei denke und sich nicht brechen lassen wolle.1› Hinweis

Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP), kritisierte den Schuldspruch als »Beispiel für politische Willkürjustiz«. Er sei zutiefst empört darüber, sagte Löning. »Die EU sollte prüfen, ob sie Staatsanwälte und Richter, die das Recht dermaßen beugen, mit einem Einreiseverbot belegt.«2› Hinweis

»Der Schuldspruch gegen Michail Chodorkowskij empört den Westen. Chodorkowskij scheint einzulösen, was der Westen sich wünscht: eine Stimme der Vernunft und Menschlichkeit aus einem Land, dem noch immer viele zutiefst misstrauen. (…) Er symbolisiert das Gute, Geläuterte im Kampf gegen das Böse«3› Hinweis, war in Die Zeit zu lesen.

Dietrich Alexander gab in Die Welt bekannt: »Chodorkowskijs Martyrium. Das Urteil (…) hat den gerechten Zorn der freien Welt provoziert über die obrigkeitshörige russische Justiz. Und es hat die Illusion zerstört, Russland (…) könne für die Europäische Union und vor allem für Deutschland ein Partner auf gleicher zivilgesellschaftlicher und politischer Augenhöhe sein (…).«4› Hinweis

»Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich enttäuscht und sprach von einem ›harten Strafmaß‹. Es bleibt der Eindruck, dass politische Motive bei diesem Verfahren eine Rolle gespielt haben«, sagte Merkel. »Dies widerspricht Russlands immer wieder geäußerter Absicht, den Weg zur vollen Rechtsstaatlichkeit einzuschlagen.«5› Hinweis

EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton erklärte, die Europäische Union werde »den Fall genau verfolgen und mit Russland zur Sprache bringen«. Man »erwarte von Russland, dass es seine international eingegangenen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit einhält.«

»›Ein Schlag gegen die Rechtsstaatlichkeit in Russland. Der Fall sei beispielhaft für politisch motivierte Strafverfolgung. Die US-Regierung sei besorgt über die Berichte über schwerwiegende Verstöße gegen rechtsstaatliche Normen während des Prozesses in Moskau‹, sagte Sprecher des US-Außenministeriums Mark Toner.«6› Hinweis

»In diesem Verfahren geht es nicht um Recht und Gerechtigkeit, sondern um einen politischen Prozess. Man könnte auch sagen, es geht um Rache«7› Hinweis, sagte der stellvertretende Regierungssprecher Christoph Steegmans in Berlin.

Nach Ansicht der Grünen-Chefin Claudia Roth ist das Urteil gegen den früheren Chef des Ölkonzerns Jukos »inakzeptabel und ein Zeichen für eine politisch gelenkte russische Justiz. (…) Deutschland und die EU müssen sich konsequent für die Freilassung von Chodorkowskij (…) einsetzen.«8› Hinweis

Besonders empört viele, dass ausgerechnet der reichste Mann Russlands eingesperrt wird. Der Schweizer Journalist Andreas Rüesch schreibt beispielhaft: »Wenn selbst der reichste Russe von der Justiz keinen Schutz erwarten darf, so kann dies kein Unternehmer, geschweige denn ein einfacher Bürger«9› Hinweis, was einen der Kommentatoren zu der sarkastischen Bemerkung provozierte: »Bei uns könnte das nicht passieren. Ein Reicher kann sich in der Schweiz auf die Justiz verlassen.«10› Hinweis

Damit letzte Bedenken ausgeräumt würden, machte Erich Follath vom Spiegel Nägel mit Köpfen. Er behauptete – hoffentlich in voller Kenntnis der Sachlage und der russischen Gesetzgebung – Chodorkowskij befinde sich im Gefängnis »zu Unrecht«. »Geradezu kafkaesk«, führte er weiter aus, »mutet das Verfahren an, die Vorwürfe sind nach Ansicht aller sachkundigen ausländischen Prozessbeobachter an den Haaren herbeigezogen, und auch Politiker von Angela Merkel bis Barack Obama schließen sich dieser Meinung an.«11› Hinweis

»Er wirkt inzwischen geradezu kafkaesk«, schrieben über den Prozess zwei andere Spiegel-Redakteure noch im August 2010; »Ein Diebstahl ohne Geschädigten hat kafkaesken Charakter«12› Hinweis, Marieluise Beck, Mitglied des Bundestages, schlägt sich auf die Seite des Verfolgten; »Der Vorwurf der Unterschlagung von 350 Mio. Tonnen Erdöl ist so absurd, dass er diesem Prozess kafkaeske Züge verleiht«13› Hinweis, schreibt Daniel Brössler in DieSüddeutsche Zeitung; »Der Kampf um Gerechtigkeit im Moskauer Bezirksgericht Chamownitschesky ist eine kafkaeske Angelegenheit«14› Hinweis, gibt auch die Neue Zürcher Zeitung bekannt.

Wie kommen sie alle plötzlich auf dieses »kafkaesk«? Welchem Politiker oder Journalisten fiel dieses prägnante Adjektiv ein, das die Medien so beherrscht? Wer orchestriert den Medien-Hype?

Der Dirigent ist leicht zu finden:

»Denn die Anklageschrift ist, so formuliert es Chodorkowskijs Anwalt Robert Amsterdam, kafkaesk.«15› Hinweis Schon 2005 hatte sich Chodorkowskijs Rechtsanwalt Amsterdam bei den Mächtigen unbeliebt gemacht, als er den »kafkaesken Prozess« als »abgekartetes Spiel« einstufte.16› Hinweis Und bereits 2004 hieß es: »Wir erleben in Moskau eine kafkaeske Situation«17› Hinweis. Der Autor: Anwalt Robert Amsterdam.

Aha, das kommt also nicht von einem unabhängigen Journalisten, sondern von einem gut bezahlten und dem Mandanten aufs Haar verpflichteten Rechtsanwalt. Da bin ich ja beruhigt …

Da sich offensichtlich bereits jeder ein Bild zum »Fall Chodorkowskij« gemacht hat, schien mir der Sinn zu entgleiten, hierzu ein Buch zu schreiben. Würden Sie als Leser denn in einem Atemzug ein Buch verschlingen wollen darüber, dass die Erdkugel rund ist? Oder mehrseitige Auslassungen, dass zwei mal zwei eben nicht fünf, sondern wie schon immer nur vier ausmacht?

Könnte das denn nicht auch stimmen, das mit der miesen Verfolgung eines untadeligen Bürgers? Das Bild schien durchaus abgerundet zu sein, wenn auch irgendwie schwarz-weiß. Ohne Schattierungen, dunkle Stellen bei der »guten« Gestalt und einige Lichtblicke bei der »schlechten«. Es könnte doch (im wirklichen Leben) auch so sein, dass der »Gute« im Winter mit Sommerreifen fährt und den Weg vorm Haus nicht streut, und der »Böse« emsig im Kirchenchor singt. Wie Michail Chodorkowskij einmal selbst sagte: »Die Einseitigkeit ist immer fehlerhaft, sie verzerrt das wahre Bild.«18› Hinweis

Nun noch zu den Worten des Spiegel-Korrespondenten Follath: »Die Vorwürfe sind nach Ansicht aller sachkundigen ausländischen Prozessbeobachter an den Haaren herbeigezogen«. Das ist sehr geschickt, zu geschickt formuliert: Auch wenn es im Ausland jemanden gäbe, der Follaths Meinung nicht teilte, wäre das damit zu erklären, dass er einfach nicht »sachkundig« ist. Und was soll eigentlich bedeuten: »Politiker von Angela Merkel bis Barack Obama schließen sich dieser Meinung an«? Welche Politiker, außer diesen beiden, sind gemeint: von »A« wie Angela, bis »B« wie Barack? Oder markieren diese zwei die volle Breite der politischen Klasse weltweit? Ich dachte stets, sie stünden auf einer Seite. Warum sollten mich in der Sache diese zwei angesehenen Persönlichkeiten am meisten überzeugen, die auch nur fremde Meinungen von diesem Prozess hören und lesen? Soll das ein Argument sein oder eher eine Suggestion? Man muss die Bundeskanzlerin und den amerikanischen Präsidenten nicht besonders mögen, aber dass sie Vorwürfe, die mehrere russische Gerichte bestätigten, als »an Haaren herbeigezogen« bezeichneten, habe ich noch nicht gelesen. Und werde es vermutlich nicht lesen, weil sowohl Frau Merkel als auch Herr Obama nicht so einfältig gestrickt sind, wie der Spiegel-Redakteur befindet. Oder haben sie gegenüber Herrn Follath persönlich ihre Meinung ausgerechnet so formuliert?

Diese einseitige Absolutheit der veröffentlichten (Medien-)Urteile hat mich aus der Fassung gebracht, weil ich noch aus meinem Leben im Sozialismus den innerlich schwer erkämpften Leitgedanken nach Deutschland mitgebracht habe, dass alles, was einstimmig, was zu 100% schwarz oder zu 100% weiß ist, zumindest prüfwürdig ist. Wie 100%-iger Sprit, 100%-ige Sicherheit der AKWs oder 100% »Ja«-Stimmen für den vor Kurzem verblichenen großen nordkoreanischen Anführer Kim Jong Il bei den Parlamentswahlen 2009. Also »de omnibus dubitandum«, an allem zweifle, ein Lieblings-Motto von Karl Marx.

Aber diese sieben waren diejenigen, die 1968 gegen den Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei protestierten. Für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Heute sind sie im Recht.

Also Ansporn Nummer eins: Die Mehrheit (auch die deutsche) kann sich irren.

Der Ansporn Nummer zwei ist ähnlich gelagert. Alle wissen über Chodorkowskij und seinen Prozess Bescheid, ohne darüber etwas mehr als Zeitungskommentare gelesen zu haben. Aber auch die Kommentatoren, wie es scheint, lasen wohl nur kurze Ticker-Meldungen – und andere erschienene Kommentare. Ich sage nicht »14 Ordner mit Anklageschriften«, ich sage nicht »Argumente der Verteidigung«, ich sage nicht »Prozesstagebücher«, ich sage nicht Interviews, Briefwechsel und Bücher von Chodorkowskij selbst. Ich sage nicht verschiedenartige Artikel zum Thema, von denen es im »nicht-pluralistischen« Russland nur so wimmelt. Artikel dafür, Artikel dagegen, Artikel »ihr seid beide Trottel« … All das kann ein Journalist nicht bewältigen, nur um einen Kommentar in einer Tageszeitung zu schreiben.

Aber innehalten und wenigstens das Urteil abwarten – vielleicht sagt der Richter Danilkin etwas, was ich nicht weiß?

Nein, die Kommentare in allen Zeitungen, geschweige denn Fernsehstationen waren vor, während und nach der Urteilsverkündung gleich »allwissend«: Das Urteil ist ein Prüfstein a) für die russische Demokratie, b) für Rechtsstaatlichkeit in Russland, c) für das Kräfteverhältnis zwischen Präsident und Ministerpräsident, d) für die Glaubwürdigkeit des Präsidenten Medwedews, e) für die Absichten, Korruption zu bekämpfen, f) für das Investitionsklima im Land – also gleich für so viele Dinge, dass man denken muss, spräche das Gericht Chodorkowskij jetzt frei, hätte Russland auf seinem Weg zu westlichen Werten nichts mehr zu tun.

Das Markante dabei ist, wie gesagt: Keiner der Kommentatoren hat das Urteil gelesen. Eine deutsche Übersetzung ist mir bis jetzt nicht bekannt, aber auch der russische Text stand im Dezember 2010 noch nicht zur Verfügung, als die Kommentare nur so herniederprasselten.

Woher nehmen sie ihr unerschütterliches Wissen? Ist es nicht so, wie ein Blogger über die Besprechung des Chodorkowskij-Prozesses in deutschen Medien schreibt, dass wir heutzutage nichts mehr wissen als die Meinung der jeweiligen Meinungsmacher? Und dabei sagte der US-amerikanische Rechtsanwalt Robert Teets, der den Prozess im Auftrag der World Jurist Association beobachtete, schon am 23. Dezember 2009, laut Depesche der US-Botschaft in Moskau an das State Department in Washington, dass »seiner Meinung nach der Prozess gerecht verläuft und Richter Danilkin alles Notwendige tut, um sicherzustellen, dass die Verteidigung die Möglichkeit hat, ihre Argumente und Beweise vorzulegen bzw. um die Vorwürfe der Anklage zu bestreiten«19› Hinweis.

Ich hätte nicht die ganze Wahrheit gesagt, wenn ich hier nicht erwähnte, dass es auch andere Stimmen (zumindest in Deutschland) gab. Nicht in publikumswirksamen Medien mit Millionen-Auflagen und Millionen-Einschaltquoten, sondern eher im (bislang recht freien) Internet. Am 30. Dezember 2010 sendete die ARD z. B. den Bericht »Dieser Prozess ist lächerlich« von Stephan Laack, ARD-Hörfunkstudio, Moskau.20› Hinweis Der begann so: »Chodorkowskijs Mutter verflucht den Richter, Oppositionelle schäumen: Das gnadenlose Strafmaß gegen den Ex-Ölunternehmer hat in Russland heftige Reaktionen hervorgerufen. Doch manche Beobachter hoffen auch, dass es gerade wegen seiner Absurdität ein Wendepunkt ist.«

Der Bericht war anscheinend so aufregend, dass sich viele Internet-Kommentatoren meldeten. Hier eine kleine Auswahl an Meinungen und Fragen, die ich selbst hätte stellen wollen, aber nun aus gefundener Quelle, unter ihren Nicknames, zitiere:

»Qualitätsjourna…: Wie kommt das zwangsgebührenfinanzierte ARD eigentlich dazu, hier nur einseitig für diesen Verbrecher Partei zu ergreifen! Freie Berichterstattung sieht anders aus.«

»Ehcuag: Russland ist das einzige Land auf der Welt, in dem ein Milliarden-Dieb dahin kommt, wo er hingehört – hinter Gitter. Bei uns werden Milliardäre ins Kanzleramt eingeladen.«

»Rotkäppchen: Interessante Wendung. Strafbare Handlungen von Chodorkowskij räumen sie ein. Aber die Verurteilung dafür ist ›Unterdrückung‹ und ›Rechtsbeugung‹, weil sie in Russland stattfindet, wo Putin Regierungschef ist.«

»ZdAiI: Die Berichterstattung der Medien in dieser Sache lässt die Befürchtung aufkommen, dass es mit der Pressefreiheit in der BRD weniger gut bestellt ist als mit der Rechtsprechung in Russland. Wahrscheinlich müssen die Russen aber keine Abgabe für öffentlich-rechtliche Propaganda bezahlen …«

»Ewspapst: Das Schlimme an diesem Prozess ist weder die Anklage noch das Urteil. Das Schlimme daran sind unsere Medien. Wir haben in der BRD weder korrekte Informationen über die Anklage noch etwas darüber in korrekter Form gehört, wie der Angeklagte sein Milliardenvermögen erarbeitet hat. Wir haben auch nichts darüber gehört, ob alle Menschen in Russland das Urteil ablehnen, noch haben wir Pressestimmen gehört, die sich positiv zu dem Urteil geäußert haben. Im Augenblick habe ich den Eindruck, als wenn hier eine Regierungserklärung der Parteien zusammengezimmert wird, die vorgibt, was gesendet und geschrieben werden darf.«

»Meistensfroh: Ich kann Ihre Reaktion verstehen, es wird hier auch immer wieder von einem ›deutschen‹ Rechtssystem auf das russische System ›herab‹-geblickt und dabei leider übersehen, dass hier ein russisches Gericht nach russischem Recht über einen Russen gerichtet hat.«

Nach der kurzen Lektüre unzensierter Denkweisen zu nur einem Bericht stellen wir fest, es gibt jedenfalls eine vielleicht auch verschwindend kleine Minderheit, die mit dem veröffentlichten Standpunkt der dominierenden Medien nicht ganz konform geht und – nach dem gigantischen Artikel- und Sendungs-Tsunami – besonders nach einem lechzt, nach Information.

Zu meiner großen Verwunderung merkte ich während der Recherche, dass die Informationslage auch in Russland, im Land des Geschehens, nicht viel besser ist. Der bekannte und ausgezeichnet informierte russische Journalist Leonid Radsichowskij gestand dem meistgehörten (und übrigens sehr Putin-kritischen) Radiosender Echo Moskwy: »Ich würde gern von Anwälten bzw. Staatsanwälten nicht nur Schimpfkanonaden und/oder Anbetungen hören, sondern eine sinnvolle Erklärung des Kerns der Anklage und Einwände dagegen.«21› Hinweis

Diese Einseitigkeit und Oberflächlichkeit der Berichterstattung ist für diejenigen, die im Sozialismus aufgewachsen sind, nicht grundsätzlich neu (ich bin unbeirrt der Meinung, Erfahrungen aus zwei gesellschaftlichen Systemen sind besser als aus einer, wenn eine noch dazu eine Diktatur war, dann hat man schon fast alles im Leben gesehen). Von einigen Kollegen weiß ich, dass sie schon immer mehr für Schnelligkeit als für Tiefe waren. Und mit dem Strom schwimmt man schneller und erfolgreicher als dagegen. Deshalb heißt es Mainstream, also ein Strom, in dem die Mehrheit feuchtfröhlich das Leben genießt.

Hierzu ein sozialistisches Beispiel. Als der russische Schriftsteller Boris Pasternak 1958 seinen Literaturnobelpreis für Doktor Schiwago bekam, der nicht in der Sowjetunion, sondern im Westen (!) erschienen war, haben seine Kollegen ihn als Erstes aus dem Schriftstellerverband rausgeworfen. Er sei kein sowjetischer Literat, sondern ein »Weißgardist«, also Konterrevolutionär. Wäre das unter Stalin geschehen, hätte er gleich »10 Jahre ohne Briefwechsel« bekommen. Es gab damals so einen Euphemismus für die Todesstrafe.

Aber es herrschten »gute« Chruschtschow-Zeiten, die man heute »Tauwetter« nennt. Deshalb nur »Weißgardist« und raus aus dem Verband. Damit waren natürlich für einen »Federsklaven« auch gleich alle materiellen Existenzgrundlagen nicht mehr vorhanden, aber wen scherte das?

Im Einklang mit dem Ausschluss veranstalteten meine älteren Kollegen eine Kampagne, die erstens massiv und zweitens 100%ig gegen Pasternak gerichtet war. Alle (eben 100%) Sowjetbürger – Arbeiter, Bauern, Ingenieure, Ärzte, Lehrer – verurteilten mit erhobenem Zeigefinger den armen Nobelpreisträger. Wofür? Na klar, für das Buch.

Aber das Buch existierte praktisch nicht! Das Buch gab es im Westen, und dort hatten es einige vermutlich gelesen. Das aus dem Westen geschmuggelte Buch gab es auch in der Sowjetunion – in den Panzerschränken von KGB-Chef und obersten Parteibonzen, die es bestimmt nicht gelesen hatten. Das Volk kannte das Buch nicht und durfte es – um Gottes Willen! – auch nicht kennen. Wie sollte man den »Weißgardisten« denn dann brandmarken?

Die weise Partei (oder die schlauen Journalisten) fand eine geistvolle Redefigur, sie kam als Erstes in der hochintellektuellen Literaturnaja gaseta, Literaturzeitung, vor. Ein Baggerführer schrieb: »Das Buch habe ich nicht gelesen, aber ich verurteile es!« Diese Formel war so genial, dass sie schnell die Spalten aller Zeitungen eroberte und zum geflügelten Wort des Volkes wurde. Nicht gelesen, aber verurteilen.

Daher mein zweiter Ansporn: über die »klare« Sache recherchieren. Lesen, Fragen stellen, Nachdenken, Gespräche führen und erst dann werten.

Wohlgemerkt, wir reden nicht über Schuld oder Unschuld von Herrn Chodorkowskij. Wir reden vorerst nur von einem Bärendienst, den ihm die Medien in ihrer übertriebenen Willfährigkeit und Folgsamkeit, aber zum Teil aus armseliger Trägheit erwiesen haben. Von der Wiederholung – ganz gleich wie oft – der richtigen oder falschen Tiraden werden wir nicht schlauer. »Wenn man ständig ›Chalwa, Chalwa‹ (okzidentalische Variante: ›Honig, Honig‹) sagt, wird es im Mund nicht süßer«, sagen zu Recht die Mittelasiaten. Müssen wir vielleicht zusammen nach dem echten »Chalwa« suchen?

Teil 1 Jagd aufs Geld

»Fakten« und »keine Fakten«

»Fakten« und »keine Fakten«

Es gibt allein im zweiten Prozess gegen Michail Chodorkowskij und seinen Kompagnon Platon Lebedew 188 Ordner mit Unterlagen. Doch welcher enthält Tatsachen oder Gewissheiten, wo verbergen sich Irreführungen, Ausreden, Lügen? Alles ist vermischt. Wahrheiten, Halbwahrheiten, Unwahrheiten. Suppe. Soljanka. Alles von gestern in einen Topf werfen, kräftig umrühren, fertig. Pfeffer und Salz geben Journalisten dazu.

Anders gesagt: Ich brauche keine Fakten zu bewerten, das ist nicht meine Aufgabe. Ich habe all die Jahre nicht im Gerichtssaal gesessen, ich kenne nicht alle Papierchen in den 188 Ordnern. Und warum soll ich die Fakten bewerten? Das ist Aufgabe des Gerichts. Offener Streit zwischen Parteien, und ein Unparteiischer verliest das Verdikt. Wie im Fußball, nur ohne Pfeife.

Doch alles ist viel zu kompliziert. Selbst der einfachste Fall, der mit dem Mord: Es ist der Abend des 21. Januar 1998. Dmitrij Kornejew und Walentina Kornejewa kehren nach Hause zurück und fahren mit dem Fahrstuhl in den 6. Stock. Im Treppenhaus lehnt ein kräftig gebauter Mann in einem dunkelgrauen Mantel an der Wand. Es sieht aus, als warte er auf den Fahrstuhl und werde gleich einsteigen und losfahren …

Dmitrij Kornejew erzählte später: »Ich wandte ihm den Rücken zu, um die Eingangstür zu öffnen. Während ich mit dem Schlüssel nach dem Loch suchte, ging die Fahrstuhltür zu. Aber der Mann war draußen geblieben. Als ich mich umdrehte, hörte ich, wie eine Tasche auf den Fußboden fiel und Walentina seufzte ›Och!‹. Ich sah, wie sie zu Boden sackte. Ich packte sie unter den Armen. Der Mörder richtete die Pistole auf mich, hob die andere Hand und warnte: ›Leise!‹. Er machte einen Schritt in den Fahrstuhl und fuhr fort. Ich rannte, um die SMH anzurufen. Aber es war sinnlos, der Mörder hatte Walja in die Schläfe getroffen.«

Als der mutmaßliche Mörder festgenommen wurde, erkannte Dmitrij Kornejew den Mann aus dem Treppenhaus: »Vor mir standen drei Menschen, die sehr ähnlich aussahen, und ich erkannte den Mörder. Das war Schapiro. Als der Untersuchungsrichter aus dem Zimmer ging, fragte ich Schapiro: ›Warum hast du mich nicht umgebracht?‹ Er antwortete: ›Ich weiß nicht‹. Später wurde mir gesagt, dass die Pistole versagte. Dann fragte ich ihn noch, wo sein Freund Gorin ist. Er sagte: ›Im Grab …‹«

Wenn Kornejew an das Jahr 1997 zurückdenkt, meint er, dass man den Laden umsonst hätte weggeben müssen.22› Hinweis

Die Bank MENATEP, die Chodorkowskij gehörte, wollte sich erweitern, die Firma brauchte neue Flächen. Der Haken: Das war Moskau, eine der teuersten Städte der Welt, und darüber hinaus noch das Stadtzentrum. Alles belegt, alles teuer. Nebenan lag ein Laden, Tschaj, »Tee«, auf 360 Quadratmetern, den musste man unbedingt haben. Die Besitzer, die Kornejews, waren mit dem angebotenen Betrag nicht zufrieden. Die MENATEP schickte Sergej Gorin und Jewgenij Nasarenko. Sie kamen jeden Tag in den Tschaj und feilschten. Die Jungs waren lästig, aber von einer mächtigen Bank und die Tschaj-Inhaber höflich und etwas verunsichert.

»Gorin und Nasarenko kamen regelmäßig zu uns, wie auf Arbeit, monatelang, und ich, ein naiver Esel, servierte ihnen Kaffee«, erzählte die Mitarbeiterin von Tschaj Wera Tschikanowa. Mal waren die Vertreter der MENATEP geschmeidig, mal grob. Ein Zeitzeuge erinnerte sich an ihre Worte »Ihr seid eine Null, wir werden euch einfach plattmachen«.

Seit November 1997 wurde Kornejewa von MENATEP-Beauftragten observiert, so steht es in den Untersuchungsunterlagen. »Walentina Kornejewa war sehr nervös, und einmal, nachdem sie weg waren, sagte sie: ›Mich werden sie sicher bald umbringen.‹«

Irgendwann blieben die Unterhändler fern.

Dafür kam der Killer Schapiro. Preis des Mordes: 5000 US-Dollar und ein »Hyundai Galloper«.

Die Staatsanwaltschaft ist der Überzeugung, einer Kette auf die Spur gekommen zu sein: Der Killer wurde von Gorin beauftragt. Gorin selbst ist ein Freund von Alexej Pitschugin. Der war Abteilungsleiter bei der Firmensicherheit von MENATEP, und es erscheint logisch, dass er mit der delikaten Sache seinen Freund Gorin beauftragt hat. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft entschied Pitschugin nicht selbst, Kornejewa zu töten, sondern bekam den Auftrag von Leonid Newslin, der Nummer zwei in der Hierarchie des Chodorkowskij-Imperiums und für die Sicherheit zuständig. So weit, so gut.

Also: Killer–Gorin–Pitschugin–Newslin–Chodorkowskij. Oder eher umgekehrt: Chodorkowskij–Newslin–Pitschugin–Gorin–Killer?

Stopp. Pitschugin wurde für dieses und andere Verbrechen zu lebenslänglich verurteilt, Newslin in Abwesenheit ebenfalls. Chodorkowskij persönlich wurde dieser Mord jedoch nie angehängt. Die Staatsanwaltschaft verlor weder im ersten Prozess noch im zweiten ein Wort über die Verbindung Newslin-Chodorkowskij. Nie wurde Firmenchef Chodorkowskij juristisch des Mordes beschuldigt.

Noch einmal. MENATEP, und nicht Newslin persönlich, wollte den Laden Tschaj bekommen, Chef von MENATEP war Chodorkowskij. Es wäre also logisch, wenn so eine Entscheidung über Frau Kornejewa auch dem Chef bekannt gewesen wäre …

Vielleicht gilt aber auch eine ganz andere Logik. Chodorkowskij sagte: Die Sache muss gelöst werden. Punkt. Und Newslin entschied selbst, wie er das löste, und teilte Chodorkowskij Postfaktum mit: Problem gelöst, ohne deutlicher zu werden, auf welche Art und Weise. Auch denkbar.

Allerdings undenkbar wäre: Nicht Newslin, sondern Pitschugin selbst entschied über den Mord. Pitschugin persönlich hatte kein Motiv. Pitschugin war kein Inhaber, er war ein Angestellter, Vertrauter, aber nur »abhängig beschäftigter« Sicherheitsmann. Es gehörte nicht zu seinen Befugnissen, zu entscheiden, wer umgebracht und wer nur geschlagen werden sollte.

An diesem Fall interessiert uns vorerst Alexej Pitschugin, ehemaliger Major des KGB, Vater von drei Kindern. Seine Verteidigung sagt, er habe Gorin den Auftrag nicht erteilt.

Was sagt Gorin? Gorin sagt nichts mehr. Eines Tages drangen in Gorins Haus Maskierte ein, die drei Kinder wurden ins Bad geworfen (dabei wurde einem der Kopf mit einer Pistole eingeschlagen) und dort eingesperrt. Sergej Gorin und seine Frau sind seitdem nicht auffindbar. Später hat die Miliz auf dem Hof doch zwei Dinge gefunden: Blut- und Gehirnspuren von Gorin, was auf einen ziemlich schlimmen Gesundheitszustand hindeutet. Aber keine Leichen.

Keine Leichen – kein Mord. Ein Kettenglied fehlt. Doch die Staatsanwaltschaft schaffte den Sprung – es gibt Protokolle, in denen der Killer Schapiro direkt auf Pitschugin verweist.

Dabei ist das ist nicht das einzige Verbrechen, das Pitschugin und Newslin zur Last gelegt wurde: drei Morde, drei versuchte Morde, auch mit Sprengsätzen, Handgranaten und Maschinenpistolen, Schlägerei, einen Sprengsatz an der Tür der ehemaligen MENATEP-Mitarbeiterin Kostina. Urteil für beide: lebenslänglich.

Pitschugins Anwälte bestritten übrigens den Anschlag auf die ehemalige Mitarbeiterin, der von der Staatsanwaltschaft als versuchter Mord gewertet wurde. Was war da eigentlich los bei Frau Kostina? An die Tür ihrer Wohnung banden Täter zwei TNT-Sprengkörper‚ à 200 Gramm. Die Wucht der Detonation durchbrach die Decke, vom zweiten Stock konnte man den dritten sehen, Fenster flogen in einigen Etagen raus, Türen verzogen sich. Dabei explodierte glücklicherweise nur einer der Sprengkörper.23› Hinweis Versuchter Mord? Nein! Der schweigsame »KGBler« Pitschugin explodierte bei dem Verhör: »Unsinn! Keiner wollte diese Kostina umbringen! Nur ein wenig einschüchtern und das war’s …« Damit verstummte er, verstand, dass er sich verplappert hatte.

Also war da doch etwas …

Pitschugin sitzt jetzt im Gefängnis, Newslin wird mit einem Haftbefehl gesucht, wobei alle wissen, wo er sich aufhält. Er hat vor Kurzem zum dritten Mal geheiratet, lebt als freier Mann in Israel, besitzt die israelische Staatsbürgerschaft, die Israelis liefern ihre Bürger bekanntlich nicht aus, und gibt dem Filmemacher Cyril Tuschi (Der Fall Chodorkowskij) Interviews. Der hält es für angebracht, nur ihn und nicht auch Dmitrij Kornejew zu den Morden zu befragen.

Was hat all das mit Chodorkowskij zu tun? Nach Aussage aller Beteiligten war er doch in diese Morde nicht verwickelt. Oder doch? Es handelte sich um Sprengsätze und Maschinengewehrsalven gegen Menschen, die keine Fehde mit den Killern persönlich, sondern die mit MENATEP, mit Jukos, mit Chodorkowskijs Reich Ärger hatten.

Es gibt noch einige ähnlich gelagerte Fälle: Da gab es zum Beispiel Jewgenij Rybin, den Geschäftsführer einer österreichischen GmbH, die Jukos auf 100 Mio. US-Dollar verklagt hatte. Auch der Fall musste »gelöst« werden. Zweimal versuchten Killer, Rybin umzulegen, und beide Male rettete ihn der Zufall – sein Fahrer starb, zwei Personenschützer wurden schwer verletzt.

Oder nehmen wir den Oberbürgermeister von Neftejugansk, Jukos’ großem Erdölfeld, Dr. Wladimir Petuchow. Um von Jukos Steuerzahlungen zu bekommen, trat er in den Hungerstreik und wirkte darauf hin, die Förderlizenz der Jukos, vergleichbar mit einer Lizenz zum Gelddrucken, zu widerrufen – und das wäre schmerzhaft gewesen. Auch er wurde von zwei Profikillern umgebracht, auch hier gibt es Hinweise auf Pitschugin … Aber nicht auf Chodorkowskij.

Petuchow wurde am 26. Juni 1998 auf dem Weg zur Arbeit mit einem Maschinengewehr erschossen. Das Datum lässt sich sehr gut merken. Es ist der Geburtstag Michail Chodorkowskijs. Einige Medien (die russische Business-Zeitung Kommersant zum Beispiel) schrieben, der Mord an dem großen Jukos-Rivalen sei ein Geschenk an den Boss gewesen. Bei der Untersuchung des Mordes sagte auch Farida Islamowa, die Witwe Petuchows: »Meine Meinung ist, dass nur Chodorkowskij den Mord meines Mannes brauchte, niemand sonst könnte es getan haben. Aber wir sollten verstehen, dass Chodorkowskij selbst das nicht machen würde. Er kam persönlich zu uns (nach Neftejugansk – V. T.), um uns einzuschüchtern: Seht, hier ist der König von Jukos.«24› Hinweis

Jukos als Schuldiger war das Naheliegende. Die Steuerspannungen zwischen Jukos und der Stadtverwaltung waren bekannt. Die Verteidigung Pitschugins brachte jedoch andere Erklärungen ins Spiel: Die tschetschenische Mafia sollte Petuchows Mord in Auftrag gegeben haben – oder auch Farida Islamowa selbst. Warum auch nicht?

In den Erinnerungen der Chodorkowskij-Familie ist verbrieft, dass Michail, der seinen Geburtstag feiern wollte und beim Grillen war, einen Anruf bekam und wegen so eines »Geschenks« ganz außer sich geriet, wie verrückt alles hinschmiss und wegfuhr.

Das ist doch nicht die Reaktion eines Menschen, der innerlich auf einen Mord vorbereitet ist. Sie könnte gespielt gewesen sein, aber nicht vor der eigenen Familie. Was genau ließ Chodorkowskij so »verrückt« werden? Warum ließ er alles stehen und liegen und fuhr ab? Was konnte er an dem Tag noch tun? Den Mord rückgängig machen?

In dem Prozess gegen Pitschugin und Newslin trat ein Zeuge vor Gericht auf, ein gewisser Gennadij Piskarjow, ehemaliger KGB-Offizier und 1998 Mitarbeiter des von Jukos gegründeten gemeinnützigen Fonds Russlands Regionen, sozusagen ein durch Chodorkowskij in einen Wohltäter umqualifizierter »KGBler«. Auf Anweisung der zwei Jukos-Mitinhaber Newslin und Schachnowskij fuhr er im Juni 1998 nach Neftejugansk, »um die Lage zu erkunden« und einen Kontakt mit Bürgermeister Petuchow herzustellen, der, so Piskarjow, »nicht ganz normale Beziehungen zu Jukos hatte«. Piskarjow fuhr nach Neftejugansk, checkte im Hotel ein, und hörte am nächsten Tag, dass der Bürgermeister umgebracht worden war.

Nun wird es interessant. Piskarjow meldete die Neuigkeit seinem Chef, dem Fondsleiter, der ihm eine Bitte der Jukos-Leitung mitteilte: Piskarjow sollte allen, die mit der Untersuchung des Mordes etwas zu tun hatten, erzählen, dass die Witwe Petuchows ihren Mann auf dem Gewissen habe. Diese Anweisung »wiederholte mir per Telefon Newslin oder Schachnowskij, wer genau, kann ich mich nicht erinnern«.

Die Frage, die ich mir hier stelle: Woher wussten Newslin bzw. Schachnowskij in Moskau am Tag des Verbrechens, wer mit dem Mord im 3000 Kilometer entfernten Neftejugansk etwas zu tun gehabt haben soll? War das nicht ein Versuch, die Untersuchung auf eine falsche Spur zu lenken?

Zurück zu unserer Suche nach Gründen der Überreaktion Chodorkowskijs. Nach dem Tod des Bürgermeisters befand sich Neftejugansk in einem Ausnahmezustand. Die Einwohner blockierten die Straßen, sie forderten eine Untersuchung des Verbrechens, die Fenster und Türen im Jukos-Büro (und nicht in der Wohnung von Petuchows Frau zum Beispiel) wurden zerschlagen, es fanden mehrere Kundgebungen statt, auf denen Jukos des Mordes beschuldigt wurde, und »in der Menge wurden Auslassungen laut«, so Piskarjow, »dass der Mord ein Geschenk zu Chodorkowskijs Geburtstag ist«. Und tatsächlich gab es dort Plakate: »Chodorkowskij – Mörder«.

All das wurde nach Moskau berichtet. Ob Chodorkowskij von dem Auftragsmord vorher wusste oder nicht, eines ist zumindest nachvollziehbar, dass derjenige, der so einen Bericht über solche Transparente empfängt, durchdrehen könnte und keinen Appetit mehr auf Schaschlik hätte.

Piskarjow blieb drei Wochen auf Kosten seines Arbeitgebers – des gemeinnützigen Fonds Russische Regionen – in Neftejugansk und informierte seine Auftraggeber ausführlich über die Ereignisse. Sein Fazit: Der Grund der Auseinandersetzungen zwischen Jukos und dem Bürgermeister sei die »Unwilligkeit von Jukos, Steuern in den lokalen Haushalt in voller Höhe zu bezahlen« gewesen und die »Forderungen Petuchows, glaube ich, waren legitim«.

Und was sagt die Verteidigung Pitschugins, der auch für diesen Mord vor dem Gesetz grade stehen sollte? Dem Plädoyer der Rechtsanwältin Xenija Kostromina vom 17. Juli 2007 kann man entnehmen: »Es gibt kein Verbrechen ohne Motiv. Das Motiv, laut § 73 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation, ist eine der Tatsachen, die in einem Verfahren bewiesen werden sollen (…). Die Verteidigung Pitschugins ist der Meinung, dass das von der Anklage aufgeführte Motiv durch Beweise in der Sache nicht bestätigt wurde. (…) Für ein Motiv für den Mord an Petuchow W. hält die Anklage seine Handlungen als Bürgermeister von Neftejugansk mit dem Ziel, hinterzogene Steuer und Gebühren der Erdölgesellschaft Jukos in den föderalen, regionalen und lokalen Haushalt einzutreiben. Dies widerlief den persönlichen und dienstlichen Interessen Pitschugins (…). Die Anklage hat den Umstand ignoriert, dass Pitschugin keine persönlichen Interessen, was die Eintreibung der Steuern, die Jukos mutmaßlich hinterzog, haben konnte, weil Pitschugin zu diesem Zeitpunkt nicht bei Jukos beschäftigt war. Das wird durch die Vorlage eines objektiven Beweises bestätigt, und zwar der Kopie des Arbeitsbuches Pitschugins A.«25› Hinweis

Wollte Xenija Kostromina alle für dumm verkaufen?

In allen Belegen, in allen Lebensläufen steht schwarz auf weiß: Nach dem KGB arbeitete Pitschugin nur für Chodorkowskij – es gab keinen einzigen anderen Arbeitgeber dazwischen.26› Hinweis Was will die Rechtsanwältin mit der Aussage bezwecken?

Um der Genauigkeit willen, Pitschugin war offiziell bei Chodorkowskijs Bank MENATEP angestellt und wechselte erst nach dem Mord an Petuchow zu Chodorkowskijs Erdölfirma Jukos. Das ist natürlich ein hieb- und stichfestes Argument!

Einmal von der Frage der Anstellungsverhältnisse abgesehen, allen (außer Frau Kostromina) war wahrhaftig klar, dass auch Pitschugin, wie Gorin und Schapiro, und alle anderen, die noch auftauchen werden, nur ein kleines Licht ist, dass er nur die Befehle von oben ausführte, dass dieser »Bauer« natürlich keine »persönlichen und dienstlichen Interessen« an dem Mord haben konnte. Es ist in der Branche grundsätzlich so üblich: Ein Profikiller hegt dem Opfer gegenüber weder menschliche noch dienstliche Antipathien. Das ist ein Geschäft – nichts Persönliches.

Chodorkowskij, ein Sicherheitsparanoiker (»paranoid about security« nach British Petroleum-Chef John Browne27› Hinweis), und der Sicherheitsmann Pitschugin kannten sich sehr gut, sie waren z. B. zusammen, als die Jukos-Spitze im Nordkaukasus einen echten Männertrip veranstalteten, mit Jeeps, Wildwasserrafting, aber auch mit einer Schießerei aus Maschinengewehren. Es gibt einen Amateurfilm, in dem Chodorkowskij eine Handgranate in eine Schlucht wirft: Pitschugin steht daneben und schaut zu. Aber das ist natürlich kein Beweis.

Mit russischen Zeitungsartikeln über die schändlichen Praktiken der einheimischen Milliardäre kann man bestimmt ein Fußballfeld mehrlagig bedecken. Aber auch ein Journalist der Financial Times aus Großbritannien, Thomas Catan, schrieb 2004: »Unter der Präsidentschaft von Boris Jelzin von 1991 bis 1999 bekamen die Männer, die später als Oligarchen bekannt geworden sind, die Kontrolle über die vom Staat verkauften riesigen mineralischen Reserven Russlands. Heute gehören sie zu den reichsten Menschen der Welt. Aber in den frühen Tagen haben sie oft dubiose Mittel eingesetzt, um ihre Ziele zu erreichen, was den Russen die Überzeugung vermittelte, dass der Kommunismus durch ›Gangster-Kapitalismus‹ ersetzt worden war.«28› Hinweis

Es gibt dazu auch die sehr allgemeine, beinahe philosophisch angehauchte Meinung des Europa-Abgeordneten, ausgewiesenen Mafia-Experten, ehemaligen Stellvertretenden UNO-Generalsekretärs und Direktors des Büros für Drogenkontrolle und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen, des Italieners Pino Arlacchi: »Die den Oligarchen, den Freunden Jelzins, am nächsten stehende kriminelle Elite sind die Bosse der Cosa Nostra. Russische Oligarchen zeigen die gleiche Brutalität, die gleiche politische Arroganz, aber sie werden durch großen Reichtum, Bildung und sozialen Status verschleiert, von denen die ehemaligen Ziegenhirten Don Corleones nicht einmal zu träumen wagten. Der Anführer der russischen Cosa Nostra war Boris Beresowskij, der jetzt bei Interviews mit italienischen Journalisten den politischen Flüchtling in Großbritannien gibt. Dieser Mann kann morgens einen Mord bestellen und dann zum Abendessen mit George Soros gehen.«29› Hinweis

Kann jemand die Hand dafür ins Feuer legen, dass Chodorkowskij grundsätzlich anders gestrickt war? Wobei wir ihm jetzt nicht einen Mord in die Schuhe zu schieben versuchen, sondern nur über Fakten logisch nachdenken. Juristisch gesehen ist Chodorkowskij, was die Morde anbelangt, absolut sauber.

Ich ertappe mich bisweilen bei schrägen Gedankengängen. Zum Beispiel bei Folgendem: Chodorkowskij galt als Chef, der in jedes Detail involviert war, der jede Ecke seines Unternehmens kannte, der jeden Vorgang überprüfte, der über alles Bescheid wusste. Es ist verbrieft, dass er nicht nur Milliarden verwaltete, sondern auch wusste, »woher man ein Seil für den in den Sümpfen bei Neftejugansk verlorenen Bohrturm holt«30› Hinweis. Kann es da sein, dass er über die Pitschugin-Verbrechen nicht Bescheid wusste?

Kann ein anrüchiges Gericht in einem unredlichen Land ein rechtmäßiges Urteil fällen?

Es sind etwa 50 Gewaltdelikte, die böse Zungen dem Chodorkowskij-Konglomerat zuschreiben. Nur ein Bruchteil davon kam im Prozess gegen Pitschugin und Newslin zur Sprache und wurde höchstrichterlich bestätigt. Das sind die Morde an Kornejewa, Petuchow, den Eheleuten Gorin, versuchte Morde an dem Geschäftsführer der Firma East Petroleum Jewgenij Rybin, dem Mitarbeiter der Aktiengesellschaft Rosprom Viktor Kolesow, der ehemaligen Mitarbeiterin von MENATEP Olga Kostina.

Eine Strategie der Verteidigung Pitschugins bestand darin, alles abzustreiten und zu versuchen, andere Mordmotive von anderen Personen und Personengruppen zu finden. Im Falle Petuchow – Tschetschenen und seine Ehefrau; im Falle Kostina – Moskauer Verwaltung; im Falle Kolesow – besoffene Räuber; im Falle Rybin – organisierte Banditen, Mafia. Verständlich, weil in Russland täglich Tausende Verbrechen geschehen, warum immer Jukos und Jukos?

Tausende Verbrechen, verübt von, es wäre einleuchtend, Tausenden Verbrechern. Und was ist mit unseren Fällen? Welche Namen – außer dem Pitschugins – tauchen hier auf?

Kornejewa – Schapiro, Gorin, Owsjannikow.

Kostina – Korownikow, Gorin.

Kolesow – Korownikow, Schapiro, Gorin.

Petuchow – Schapiro, Gorin, Goritowskij, Zigelnik, Reschetnikow.

Rybin – Schapiro, Gorin.

Man fragt sich: Gab es überhaupt in Russland mit damals Tausenden kriminellen Gruppierungen nicht auch andere Killer? Es kann doch nicht sein, dass Provinz-Delinquenten aus Tambow und Wolgograd für alle Auftragsmorde aller Auftraggeber zuständig waren?

Anders sieht es aus, wenn diese Aufträge aus einer »Zentrale« kamen: Pitschugin ging mit seinem Anliegen zu seinem engsten Freund (der auch auf Pitschugins Hochzeit mitfeierte) und Tambow-»Unternehmer« Gorin. Und Gorin beauftragte diejenigen, die er kannte.

Und noch ein Denkquiz: Die aus Maschinenpistolen abgefeuerten Kugeln in den Fällen Rybin und Petuchow sind fast identisch. Die Ballistiker, die nie mit 100%iger Sicherheit etwas behaupten, meinen: »Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie aus einem Gewehr abgefeuert wurden.« Der Umstand, der die ballistische Analyse ungemein vereinfachte: Die Killer schossen beide Male nicht aus einer industriell, in großen Serien gefertigten Waffe, sondern aus einer selbst nachgebauten Maschinenpistole, die an den Projektilen besonders markante Spuren hinterließ.

Sagt das etwa nicht, dass da einer am Steuer sitzt? Zufall? Die Dichte solcher »Zufälle« bringt mich ins Grübeln. Das Gericht wertete diese »Zufälle« eindeutiger: schuldig. Es stellte auch fest: Der Auftraggeber Pitschugins für all diese Verbrechen war Leonid Newslin, die rechte Hand Chodorkowskijs.

Die Reaktion der Anwälte? Das Gericht habe die Aussage des Zeugen Kondaurow, eines weiteren KGBlers im Dienste Chodorkowskijs, ignoriert, monierten die Verteidiger. Er habe behauptet, dass Pitschugin dem Sicherheitschef Schestopalow direkt unterstellt war und die Anweisungen von Newslin nicht erhalten haben konnte.31› Hinweis Und das, obwohl Newslin, in der obersten Leitung der Chodorkowskij-Gruppe für Sicherheit zuständig, demzufolge Chef Schestopalows war und auf strikte Subordination offenkundig gepfiffen hätte.

Also, es geht um Pitschugin, den kleinen Mann von Jukos, der die Strafe dafür verbüßen muss, dass er ein Zwischenglied war. Die Kämpfe um ihn und Newslin sind noch nicht vorbei. Es gibt eine massive mediale Präsenz des Themas noch Jahre nach dem ersten, aber auch nach dem letzten und endgültigen Urteil des Obersten Gerichtes in der Sache Pitschugin.

Was heißt Pitschugin? Alle verstehen durchaus, dass nicht Pitschugin den Prozess verlor, sondern MENATEP, Jukos, die ganze Chodorkowskij-Gruppe – wir wissen doch von der Rechtsanwältin Xenia Kostromina, dass Pitschugin persönlich kein Motiv für die Morde hatte.

Und jetzt eine ernsthafte Aufgabe: Was würde ich als Syndikus, Anhänger nicht nur Pitschugins, nicht nur Newslins, sondern der ganzen, nehmen wir an gerechten Sache der angegriffenen Gruppe um Chodorkowskij tun? Was würde ich machen, wenn alle Prozesse verloren gingen, wenn ich die Urteile nicht mehr anfechten, nicht mehr rückgängig machen könnte?

Es gibt doch keine ausweglosen Situationen, keine Sackgassen. Man kämpft doch bis zur letzten Patrone bzw. bis zum letzten Dollar. Los, Köpfchen, streng dich an!

Ja, richtig. Als einzige Möglichkeit bleibt, die verlorengegangenen Prozesse nachträglich zu delegitimieren, ihnen Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit abzusprechen: Die russischen Gerichte sind hörig. Der russische Staat ist korrupt. Die Untersuchungsrichter sind Schweine. Der Staatsanwalt ist ein Trottel. Der Ministerpräsident mischt sich ein. Wie kann man dort überhaupt ein gerechtes Urteil erwarten?

Die Vorwürfe stimmen, zumindest zum erheblichen Teil. Genau so gehen die Fürsprecher von Jukos vor. Versuche, die Prozesse zu torpedieren, zu diskreditieren, abzuqualifizieren gibt es aus verschiedenen Richtungen.

Einer davon ist zum Beispiel die Geschichte über die psychotropen Stoffe.

Wundersame Wirkung von Psychopharmaka

Obwohl für die Verurteilung von Alexej Pitschugin und Leonid Newslin eine erdrückende Ansammlung von Fakten zusammengetragen worden war, reklamierten die Jukos-Anhänger das Urteil, logisch. Eine der wichtigsten Stützen der Verteidigung war die Geschichte mit der Verabreichung von Psychopharmaka an den verhafteten Pitschugin. »Pitschugins Frau erklärte, dass bei den Verhören im Untersuchungsgefängnis Lefortowo ihrem Mann psychotrope Substanzen gespritzt wurden.«32› Hinweis »Mit Pitschugin passierten sonderbare Dinge«, erzählte seine Rechtsanwältin Tatjana Akimzewa. »In den letzten zwei Wochen habe ich gemerkt, dass er sich sogar an Namen seiner Nächsten nicht erinnern kann. Zweimal hatte er starkes Erbrechen.« Sein Mitinsasse in der Untersuchungshaft in Lefortowo, Igor Sutjagin, beschrieb die Geschichte sogar in einer Erzählung. Darin kommen auch die Worte Pitschugins vor:

»Ich wurde zum Untersuchungsrichter gebracht. Er saß dort aus irgendeinem Grund allein, kein Anwalt, niemand. ›Heute möchten wir‹, sagte er, ›mit Ihnen nur reden, Alexej Wladimirowitsch‹, und hielt mir ein Päckchen Zigaretten Sobranije hin. Ich wunderte mich – dort lag nur eine einzige Zigarette, aber wie lange schon hatte ich guten Tabak vermisst! Ich nahm die Zigarette aus der Packung, der Untersuchungsrichter klickte mit dem Feuerzeug. Ich machte fünf Züge, und plötzlich verschwand alles irgendwohin. Ich erinnere mich nur an Bruchstücke, wie durch eine durchsichtige Folie: Ich sitze auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes, der Untersuchungsrichter ist nicht mehr da, statt seiner sind da irgendwie zwei Kerle, ich habe sie nie zuvor gesehen, sie stellen mir irgendwelche Fragen, ich antworte etwas (…). Aber was gefragt wurde, was ich gesagt habe – fällt mir nicht ein.«

Igor Sutjagin fügte hinzu: »An diesem Abend haben wir noch diskutiert, und ziemlich heiß, was wohl die von Alexej gerauchte Zigarette enthalten haben könnte.«33› Hinweis In der Zigarette waren, meint der Autor, psychotrope Substanzen, die man beim russischen Geheimdienst »Wahrheitsserum« nennt.

Es existiert auch die andere Variante: Zwei, »vermutlich FSB-Mitarbeiter«, »injizierten Pitschugin eine unbekannte Substanz, wahrscheinlich sogenanntes Wahrheitsserum«34› Hinweis.

Von der Rechtsanwältin Pitschugins Tatjana Akimzewa stammt die dritte Variante des Geschehens: »Im Laufe des Verhörs boten die FSB-Mitarbeiter Pitschugin Kaffee an. Zuerst hat er ihn abgelehnt, aber etwa nach 30 Minuten trank er einige Schlucke Kaffee. Danach ertaubten seine Beine und es wurde ihm drehend. Er fiel in Ohnmacht. Nach vier bis fünf Stunden kam er zu sich.«35› Hinweis

Unglaublich, doch von dem Ereignis, das so gut wie keine Augenzeugen hatte, kursiert auch die Variante Nummer vier: »Am nächsten Morgen erzählten Zellengenossen, dass er schmale Augen und unadäquates Verhalten wie nach Alkohol- oder Drogenrausch aufwies. (…) Am Morgen des 15. Juli wachte der mit Spezialsubstanzen vollgepumpte Pitschugin in einem benebelten Zustand auf. Er hatte Magen- und Kopfschmerzen. Im Bereich der radialen Vene der linken Hand und zwischen Daumen und Zeigefinger bemerkte er Spuren von Injektionen. In der Tasche der Jacke fand er eine Packung Parliament light: Diese Zigaretten rauchte er nie. (…) Fünf seiner eigenen Zigaretten, die er immer mit sich trug, lagen auch in der Jacke. Er fing an, die Filter von den Zigaretten Parliament light abzubrechen. Drin waren alle Filter grün gefärbt.«36› Hinweis

Wenn man der letzten Erzählung glauben schenken will, haben diese Nichtskönner, vermutlich vom Sicherheitsdienst, nicht nur verbotenerweise Psychopharmaka an einem Häftling angewendet, sondern auch dem Opfer (höchstwahrscheinlich für seine Rechtsanwälte) die Beweise eigener Sinnesverwirrung in die Jackentasche gesteckt.

Es sind nicht nur Kaffee, Zigarette oder Spritze, auch ob ein oder zwei Menschen von Anfang an im Zimmer waren oder die Namen der Zigaretten Sobranie oder Parliament light, ob er »zu lange guten Tabak vermisste« oder »fünf seiner eigenen Zigaretten, die er immer mit sich trug« bei sich hatte – nach meinem Geschmack sind das zu viele Ungereimtheiten für eine relativ kurze Episode.

Grotesk oder nicht, die Geschichte liegt bereits, von den Rechtsanwälten Pitschugins aufgeschrieben, auf dem Tisch des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Den Haag. Weil, so die Verteidiger, »als Folgen Gedächtnislücken, Kopfschmerzen, Halluzinationen, Bluthochdruck, psychische Labilität, schwerste Furunkulose, Fieber und Gewichtsverlust von fast 30 Kilogramm aufgetreten sind«.

Die Angelegenheit wurde umgehend vom FSB und auch von mehreren Forensikern aufs Schärfste dementiert. Aber nicht nur Staatsdiener bestreiten den Vorfall. Von so einer Substanz wusste auch Eduard Limonow, mehrjähriger politischer Gegner des russischen Establishments, nichts: »Bei mir und in meiner Umgebung in Lefortowo, wo ich 15 Monate verbrachte, habe ich so etwas nicht gesehen.«37› Hinweis

Nehmen wir einmal an, es gäbe so ein Serum. Grundsätzlich traue ich dem Unterdrückungsapparat überall auf der Welt jede erdenkliche Niederträchtigkeit und Heimtücke zu. In der Stalin’schen Sowjetunion quälten die Untersuchungsrichter den Verdächtigen zuerst (die Methoden waren breit gefächert und ausgeklügelt), dann unterschrieb dieser das Geständnis, er sei Mitglied des antisowjetischen Komplotts, der Rest war die Sache des hörigen Gerichtes. Zehntausende wurden danach erschossen.

Folter als Untersuchungsmethode war (ist) auch in Abu Ghreib und in Guantanamo an der Tagesordnung, wie anders soll man das uns bekannt gewordene Waterboarding nennen. Man legt einen Verdächtigen kopfüber, bindet ihm ein Tuch über Nase und Mund und gießt darauf Wasser. Bei aller Harmlosigkeit der Beschreibung sagen Beteiligte, dass man so eine Folter nicht länger als eine Minute aushalten kann. Wenn jemand an »Ausnahme« denkt, irrt er gewaltig. Der Filmregisseur Errol Morris z. B. drehte einen Dokumentarfilm über diese amerikanische Folter unter dem Titel Standard Operating Procedure, also »Regel-Vorgehensweise«. Das »Positive« bei Waterboarding: Es hinterlässt keine Spuren, keine Spritzen-Einstiche, keine Zigaretten mit grünem Filter in der Jackentasche, nur länger dauernde oder bleibende psychische Störungen.

Also, Menschen werden bis heute gefoltert, von der Existenz der Folter weltweit bin ich überzeugt – warum nicht auch in Russland? Doch wo könnte der Sinn der Anwendung des »Wahrheitsserums« liegen?

Erstens, der Gefolterte kann ein »offenherziges Geständnis« liefern und damit, wie wir wissen, die Aufgabe der (russischen) Untersuchungsrichter und (russischen) Richter ungemein erleichtern. Oder zweitens, man dreht während des Verhörs unter Drogen einen Film und zeigt ihn im (russischen) Fernsehen, um die Öffentlichkeit zu beeinflussen.

Das konkrete Problem: Es gab keinen Film von dem Pitschugin-Verhör im Fernsehen. Nicht einmal als Audioband. Auch keinen Textabdruck im Internet. Nichts.

Die Sache mit dem »Geständnis« stimmt zwar, aber nur aus der Sicht der 1930er-Jahre unter Stalin. Heute kann jeder Beschuldigte während des Prozesses – auch in Russland – sein Geständnis widerrufen, und wenn das unter Folter entstanden ist, haben die Untersuchungsrichter ein Problem. Speziell bei Alexej Pitschugin existiert in den Prozessunterlagen kein Geständnis, er hat immer seine Unschuld beteuert.

Aber wenn das so ist, warum brauchen die Untersuchungsrichter die angebliche Anwendung des »Wahrheitsserums«? »Die Maschinerie des Herausschlagens der für die Untersuchung notwendigen Aussagen ist jetzt zur Perfektion gebracht worden«, schrieb über dieses Vorkommnis Wera Wasiljewa, die ein Buch zu Pitschugins Prozess verfasste (das Buch wurde von dem tschechischen Verlag Human Rights Publishers herausgegeben und kostenlos in Russland vertrieben). Die Maschinerie ist vielleicht wirklich perfekt, doch wozu sollte man den Motor der Maschine anlassen, wenn man diese »für die Untersuchung notwendigen Aussagen« grundsätzlich nicht verwerten kann und exemplarisch im Prozess von Pitschugin nicht verwendete? Wozu die Mühe? L’art pour l’art, die Kunst um der Kunst willen?

Für die Untersuchungsrichter ist das »Wahrheitsserum«, wie es scheint, ein absoluter Unfug, bringt nichts als Ärger, ist gerichtlich nicht verwertbar, führt in die Sackgasse. Für die Verteidigung könnte das »Serum« allerdings eine sehr nützliche Sache sein: Wenn die Untersuchung sich derart unrechtsstaatlicher Methoden bediente, was wäre dann der gesamte Prozess wert?

Wenn man dem Gericht, das für uns die Fakten ausgewertet hat, nicht nur die Rechtsstaatlichkeit, sondern auch die Gerechtigkeit abspräche, dann hätte man kein Koordinatensystem mehr. Dann dürfte keiner sagen, die und die sind Verbrecher, weil ihm entgegnet werden könnte: Das war ein ungerechter Prozess und deshalb ein illegitimes Urteil. Aber wo ist die Grenze? Welche Urteile sind gerecht, welche ungerecht? Wer bestimmt darüber? Wenn die Grundlagen angezweifelt bzw. weggerissen werden, dann stürzt das gesamte System zusammen. Ist das Leben ohne jegliche Gesetze besser als mit schlechten? Soll der Aufbau des Rechtsstaates in Russland mit der Delegitimierung des Rechtssystems anfangen?

Der Prozess um Pitschugin interessiert mich nicht nur, weil ich einen Einblick in die Geschäftspraktiken des Chodorkowskij-Imperiums haben will, sondern auch als ein Beispiel der Anwendung der Totschlag-Keule. Fazit: Egal, welche Argumente das Gericht hat, egal, welche Entscheidungen es fällt, sie werden immer unannehmbar, falsch sein. Mit einer Ausnahme: Freispruch. Dann ist das Urteil vermutlich gerecht und rechtsstaatlich einwandfrei. Ist das nicht ein zu heftiger Druck auf die russische Justiz?

Tatsächlich ist Russland kein Rechtsstaat im engen Sinne des Wortes. Es gibt Korruption, die Macht des Geldes, deshalb sitzen auch in Russland sehr wenige Reiche in Gefängnissen. Wenn ein Verbrechen geschieht, dann versucht man beizeiten schon während der Untersuchung zu lenken – durch gekaufte Untersuchungsrichter, Gerichtsmediziner und Staatsanwälte. Wenn die Sache, aus welchen Gründen auch immer, weiterläuft, wird versucht, auf die Gerichte und Richter Einfluss zu nehmen. Wer das leugnet, lügt.

Es gibt weiterhin ein sogenanntes Telefonrecht, wenn der Richter per Telefon Anweisungen im Beratungsraum bekommt, es gibt auch die Macht der Administration, der Exekutive. Es gibt keinen einzigen Menschen im Lande, der unabhängig ist – der kleine Richter ist vom großen Richter abhängig, dieser vom Chef der Verwaltung, der wiederum vom Ministerpräsidenten usw. Aber auch im unredlichen Russland ist »Mord Mord und Diebstahl Diebstahl«.

Die Kommentare in deutschen Medien zu dem vierstündigen Auftritt von Putin im russischen Staatsfernsehen haben mich deshalb äußerst amüsiert. Im Routine-Turnus beantwortete Putin live die Fragen der Zuschauer. Es war Mitte Dezember 2010. Eine Frage kam zum Fall Chodorkowskij. Eine Frau wollte wissen, wie lange er noch sitzen werde. Der zweite Prozess war schon beendet, das Urteil stand noch aus.

Putin wählte Worte, die Doppeldeutigkeit zuließen, er sagte: »Ein Dieb muss im Gefängnis sitzen« und »Entsprechend der Entscheidung des Gerichts wird ihm widerrechtliche Aneignung vorgeworfen.« Meinte er den ersten Prozess oder den zweiten? Nach der Sendung stellte Putin klar, er meinte den ersten, und da waren schon alle Urteile gesprochen worden. Chodorkowskijs Rechtsanwälte und die Medien zerrupften Putin förmlich, und das zu Recht. Bei der Wortwahl in so einer Situation wünscht man sich etwas mehr Umsicht. Die Staatslenker, man weiß es doch, sind auch bloß Menschen: Das Wort »Freude« der Christin Angela Merkel über die Ermordung des unbewaffneten Osama bin Ladens war z. B. ebenfalls nicht eben günstig gewählt. Oder ein Anruf des unglücklichen Darlehensnehmers Christian Wulff bei der Bild-Zeitung.

Die deutschen Medien urteilten barsch über Putin. Ihrer Meinung nach hat er dem Richter Viktor Danilkin öffentlich Anweisung gegeben, wie er zu urteilen habe. »Der russische Regierungschef Wladimir Putin hat eine neue Verurteilung seines inhaftierten Kritikers Michail Chodorkowskij gefordert. ›Der Dieb muss im Gefängnis sitzen‹, sagte Putin bei einer live im Staatsfernsehen übertragenen Bürger-Fragestunde«38› Hinweis, schrieb etwa die Süddeutsche Zeitung.

Besonders empört war Boris Reitschuster vom Focus: »Der Schuldspruch gegen Michail Chodorkowskij erfolgte elf Tage vor der Urteilsverkündung. ›Ein Dieb muss im Gefängnis sitzen‹, antwortete Wladimir Putin in einer TV-Sendung mit gereizter Stimme und zuckenden Augen auf die Frage nach dem Ex-Jukos-Chef (…). Putin redete sich in Rage, sprach von Morden und machte, wie oft bei Themen, die ihn in Erregung bringen, einen aufschlussreichen Versprecher: ›Entsprechend der Entscheidung des Gerichts wird ihm widerrechtliche Aneignung vorgeworfen.‹ Eine falsche Aussage – aber vielleicht nur auf den ersten Blick. Offiziell gab es am 16. Dezember nämlich noch keine Entscheidung des Gerichts in Sachen Diebstahl.«39› Hinweis

Starker Tobak – aber »nur auf den ersten Blick«. Erstens geht der Spruch über einen Dieb, der unausweichlich im Gefängnis sitzen müsse, auf einen in Russland beliebten Kinofilm und den Kult-Schauspieler Wladimir Wysozkij zurück und ist ein geflügeltes Wort. Zweitens, »ein Dieb« ist im Russischen nicht unbedingt derjenige, der etwas im Sinne des Strafgesetzbuches stiehlt, sondern ein Synonym für Verbrecher, daher gibt es auch den festen Ausdruck »Dieb im Gesetz« – für besonders gerissene Täter. Also sprach Putin höchstwahrscheinlich überhaupt nicht von einem Diebstahl, sondern von allgemeinem, nicht mit dem Gesetz kompatiblem Gebaren. Drittens weiß jeder in Russland, aber auch viele außerhalb, dass Putin natürlich seine Einflussmöglichkeiten auf einen Bezirks-Richter hat. Wenn er dem Richter Danilkin hätte zusetzen wollen, verfügte er über Tausend und eine andere Möglichkeit, außer der, ihm in einer Live-Sendung unter den Augen von Millionen Zuschauern etwas zu raten – zur Freude der Rechtsanwälte und der sensationsgierigen Presse. Das muss Putin klar gewesen sein. Schließlich hat er sein Jura-Diplom der Leningrader Universität nicht mit Spenden gekauft.

Die Frage aller Fragen bleibt: Hat er Einfluss genommen oder hat er nicht? Ließ er seine Geltung spielen oder sind das alles nur Ammenmärchen? Und wenn die Beweise dafür fehlen (und Beweise bei Spielen auf so hohem Niveau fehlen sehr häufig bis immer, das verstehe ich schon), gilt dann auch für ihn und für das »Suggestiv-Opfer« Richter Danilkin die im Westen so beschworene rechtsstaatliche Unschuldsvermutung?

Wo stehen wir inzwischen? Der Richter und der Ministerpräsident werden wie Beschuldigte angesehen und der Oligarch, der von sich sagte, er sei – in der ganz, ganz tiefen und dunklen Vergangenheit – kein Unschuldslamm gewesen, gilt für viele Menschen als Moralapostel. Sind wir alle nicht ein wenig wirr?

Vielleicht muss man die Sache doch etwas systematischer angehen und erst mit einigen Irreführungen, Unaufrichtigkeiten, Finten, Falschheiten aufräumen, sprich, die Spreu vom Weizen trennen.

Wissenschaftlich-technische Geldmaschine

Über Michail Chodorkowskij sind viele verschiedene Biografien veröffentlicht, manche davon sind nicht ganz exakt, einige etwas einseitig. Deshalb nehmen wir als Grundlage die, die mehr oder weniger als offizielle Biographie gelten kann, abzurufen auf der Seite khodorkovsky. ru, die seine Anhänger sehr liebevoll pflegen und aktualisieren. Zum Anfang der Geschäftstätigkeit von Mischa steht dort Folgendes:

»Michail interessierte sich für neue Möglichkeiten, die die Perestrojka den unternehmungslustigen und energischen Menschen eröffnete. Es fiel ihm ein, dass eben jetzt innovative Forschungsprojekte, von denen viele seit Jahren wegen der Trägheit der Bürokratie in den Regalen verstaubten, genutzt werden konnten. Michail entschied sich für die Einführung von neuen wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften in die Produktion. 1987 gründete er ein Zentrum des wissenschaftlich-technischen Schaffens der Jugend, kurz NTTM-Zentrum. Das Zentrum wurde schnell zur effektiven und erfolgreichen Organisation – zu einer Brücke zwischen der Produktion, die dringend frische Ideen brauchte, und der Grundlagenforschung.«40› Hinweis

Zumindest zwei wichtige Botschaften können wir dem Text entnehmen: Zum einen kam ausgerechnet Chodorkowskij auf die Idee der Innovationen, zum anderen wurde sein Projekt zur Brücke zwischen Industrie und Wissenschaft. Das sind die Leitsätze bei der Lektüre, für die man etwas weiter ausholen muss.

Kurz nach der Universität war Michail Chodorkowskij Funktionär am Frunsener Bezirkskomsomolkomitee in Moskau. Frunse war ein bolschewistischer Armeeführer. Ein Bezirk ist die kleinste administrative Einheit in der Sowjetunion. Komsomol steht für Kommunistische sowjetische Jugendorganisation.

Aber Moskau! Gorbatschow! Glasnost! Perestrojka! Die kühnsten Träume vom erneuerten Sozialismus (oder vom Raubtierkapitalismus?) werden wach! Wahnsinn! Rausch der Freiheit!

In dieser Zeit des Umkrempelns der gesellschaftlichen Gefüge traf Michail eine große Entscheidung: Er verzichtete auf die so nahe liegende Parteikarriere, gab sein Streben nach Macht und das satte Leben eines Parteifunktionärs auf und wählte den Profit, um vielleicht mithilfe des Geldes irgendwann einmal doch zu Macht zu gelangen. Es ist unklar, was ihn dazu bewegte: die Perspektivlosigkeit des Kampfes für Gorbatschow und seine unausgegorenen (oder vielleicht gar nicht existenten) Pläne oder der Ruf des glänzenden Mammons.

Zuerst verband Chodorkowskij gewinnbringend seinen kommunistischen Idealismus und kapitalistischen Materialismus tatsächlich in einem NTTM-Zentrum. Im Unterschied zu Henry Ford, der sagte, er könne über all seine Millionen Rechenschaft ablegen, außer der ersten, kann Chodorkowskij auch über die erste offen reden. Seine erste Million brachte dem Geschäftsmann Chodorkowskij das NTTM.