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Kolb, Annette

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Project Gutenberg's Briefe einer Deutsch-Französin, by Annette KolbThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.orgTitle: Briefe einer Deutsch-FranzösinAuthor: Annette KolbRelease Date: August 10, 2014 [EBook #46550]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BRIEFE EINER DEUTSCH-FRANZÖSIN ***Produced by Jens Sadowski

ANNETTE KOLB:Briefeeiner Deutsch-Französin

Vierte Auflage

ERICH REISS VERLAG • BERLIN1917

Alle Rechte — besonders das der Übersetzung — vorbehalten. Fünfundzwanzig Exemplare der ersten Auflage sind auf Japan abgezogen und von der Verfasserin gezeichnet. Preis gebunden 50 Mark.

Präludium

München, September 1914

Ich denke zurück an die paradiesischen Tage dieses Sommers vor Ausbruch des Krieges, da keiner noch an ihn glaubte . . . Nie zuvor, erinnert ihr euch, hing der Sommerhimmel so beschwichtigend und waren unsere Wälder so in sich versunken. Nie sah man die Schwalben so beseligt um die Kirchtürme streichen und unsere Wege und Brücken so versonnen stehen. Und nie standen auch — erinnert ihr euch? so viel schmucke Häuser fertig — Bilder unseres Glückes — und kletterten blumengeschmückt alle Hügel hinauf. Und über sie alle hin, erinnert ihr euch, die Mondsichel, die wie in Verzückung schwebte?

Die Ersten, welche da von der Gefahr dieses Krieges redeten, verhöhnte man . . . Aber dann trieb uns eine plötzliche Angst in unsere schon verwandelten Städte zurück. Und dort wuchs schon wie ein ungeheures Vorspiel jene Unruhe an, die uns alle ins Freie stieß, wie jene Toten, von denen steht, daß es sie aus ihren Gräbern hervortrieb, in den Straßen Jerusalems zu wandeln, als der Vorhang des Tempels zerriß. Denn also schwebte wieder ein Kreuz über unseren Häuptern, und wie jene Toten litt es uns nicht in der Enge unserer Behausungen. Und junge Frauen, die sich aus der stummkreisenden Menge schlichen, wähnend, daß sich in der Verborgenheit der eiserne Ring um ihre Herzen in Tränenströmen lösen würde, traten alsbald steifen Auges wieder vor ihre Tür. Und wie sich dann mit dem Verhängnis die Spannung wie ein Nebel hob und jene todgeweihten Heldenmienen offenbarte, über Nacht zu Antiken gemeißelt! so daß alle Fremden, die noch auf unserem Territorium weilten, uns hingerissen ihre Liebe schwuren, bevor sie flohen. Sie erinnern sich wohl.

Den Zurückgebliebenen aber saßen schon die Augen im Kopfe, mit denen der Gefangene zu dem kleinen Streifen des unendlichen Himmels emporsieht. Wer aber da wieder hinaustrat in die Natur, wem es etwa beifiel, sich auf den Gipfel eines Berges vor der betörten Menschheit zu flüchten, mit ihrem Haß zerfallen und weil er untüchtig ist zu begreifen, daß zur Ergänzung, ja, wie Liebende zur Ergänzung geschaffene Nationen sich hinschlachten sollen; wie ein neuer Philoktet stünde der vor den verklärten Höhen und den friedlichen Herdenglocken, seiner Qual immer neu überwiesen. Wie Philoktet mit der schwärenden Fußwunde jede Betrachtung, die er faßt, was immer er sagt oder vernimmt, mit seinem Schmerzensgeheul unterbricht, so wird ihm jeder Gedanke zerrissen, jeder Schlag seines Herzens durch das Bewußtsein dieses grauenhaften Krieges zerhämmert.

Erster Brief

Oktober 1914

Es ist noch verfrüht (obwohl es weiß Gott nicht unpatriotisch ist), europäische Worte in unseren plombierten Ländern auszusprechen. Aber einer muß doch anfangen. Ich will jedoch niemandem Ungelegenheiten bereiten, ich will auch nicht mißverstanden werden. Und ich will nicht diskutieren. Das ist heute zu viel verlangt.

Du und ich aber, wir waren einer Sinnesart, und du bist tot. Darum richte ich meine Worte an dich und klammere mich an deinen Schatten. Und du, der vielleicht nur mehr Augen für das Unsichtbare hast, du siehst, wie überschwenglich froh ich mein Nichts von Leben hundertmal veratmet hätte, um abzuwenden, was heute in der Welt geschieht. Wir waren wohl zu leicht befunden und unser zu wenige, die wir uns gerne zu Geiseln geschart und den Gorgonen entgegengeworfen hätten, ihre wütenden Schritte und auf ihren Häuptern die entsetzlichen Natterngewinde zu bannen — die nun entfesselten — deren giftige Brut überall nistet. Ja, wo die gütige Erde Saaten und Früchte trug und die friedliche Kornblume sproßte, dort wogen jetzt sie geschäftig über die verwüsteten Acker und würgen die Männer dahin, während ihr Gift, wie fernwirkende Geschosse, die unverschonten Frauen ereilt, die weit weg in den geschützten Städten die Agonie ihrer Männer vernehmen. So ist jetzt die Welt.

Hat nicht ein jeder im Leben Momente gehabt, über die er nicht hätte hinauskommen sollen, und ist es doch; zum deutlichen Beweise, daß etwas im Menschen sein müsse, das alle irdischen Begegnisse überschwebt und also überschweben kann, wenn er sich nicht selbst aufgibt.

Diesen Satz las ich heute. Wer ist man? Und doch gilt es, die Treue an sich selber zu bewahren, auch wenn es alle Gemeinschaft mit den anderen kostet. O verlasse mich nicht! Du siehst, wie jetzt die Leute ihre Fenster schließen. Der Wind, der über die Erde rauscht, ihnen trägt er nichts zu; jeder weiß, wo er hingehört, und scharf und wie geschliffen fällt seine Tür ins Schloß. Nur ich bin heimatlos durch diesen Krieg geworden: Ja — hätte Gott, der den Arm Abrahams (den zur Opferung des Sohnes schon erhobenen) zurückhielt, hätte er dem rückwärtigen Lauf des Höllenrades Einhalt geboten, und angesichts so viel wundervoller Bereitheit zu sterben sich erbarmt, dann würde freilich auch ich mich freuen, das Präludium dieses Krieges erlebt zu haben. Denn wer vergäße je der Gesichter, die er da sah.

Doch vom Tag an, wo das Sengen und Brennen und Schießen und Erstechen und Niederstoßen und Erwürgen und Bombenwerfen und Minenlegen anging, von dem Tag an, siehst du, bin ich eine Ausgestoßene; von einer solchen Welt bin ich geschieden; wie ein Idiot.

Denn ich verstehe ja nicht. Wie ein Idiot erschrecke ich vor den Menschen und fürchte mich seitdem. Sonst so städtisch, treibt es mich seitdem in schlafende Dörfer, in unbegangene Wälder hinein, als gebe es noch eine Flucht, und als sei die Tatsache dieses Krieges nicht längst ins Weglose eingetragen und brütete nicht über das verlassenste Moor. Selbst die reinen Linien der Berge sind von ihm durchfurcht, von grauenvollem Wissen ist der Mond umhaucht; keine Alm steht mehr in ihrer Unschuld da. Was ihn erst unglaubhaft erscheinen ließ, das gemahnt jetzt alles an ihn. Auf keinen Tisch, keine Türklinke können wir die Hand unvoreingenommen legen, wie eine bittere Hefe ist er in unser Brot gebacken, und selbst im Traume nagt das dumpfe Wissen um ihn. Wie leicht dünkt mir dagegen dein Schlaf! und du selbst wie bevorzugt, wie unaussprechlich vornehm, daß du diesen Zusammenbruch, Europas unsterbliche Blamage, nicht mehr erlebtest.

Zweiter Brief

Komm ich bitte dich! Unterhalten wir uns über die Gedankenlosigkeit der Menschen. Weißt du noch, wie wir einmal den Fluß entlang vor deiner Wohnung auf und nieder gingen? Die Sträucher waren schon aufgeblüht. Wir sprachen über Zeitungen, und du schlugst plötzlich mit deinem Stock auf das Pflaster und riefest: „Die Menschen sind zu borniert! Man möchte sich manchmal schämen, daß man zu ihnen gehört.“

Daß aber die Dummheit solche Triumphe feiern, und ihre Fanfare mit einem solchen Geschmetter dreinfahren würde, nein, das glaubten wir nicht. Auch wenn wir es sagten. — Und dennoch sahen wir die Völker Europas gutwillig in einen Haß ausbrechen, den sie Tags zuvor entrüstet von sich wiesen. Denn ach! es stand geschrieben — und in der Politik wie in allem wird der Nachdenkliche gar bald zum Fatalisten — es stand geschrieben, und in jedem Staate wiederholte sich dasselbe fürchterliche Schauspiel, daß nicht die besten Köpfe bestimmen durften. Und so wurde die Intelligenz Europas von ein paar Leuten unterjocht, welche teils auf diesen Krieg hinarbeiteten, teils ihn nicht zu hindern verstanden und ihn so gemeinsam verschuldeten; sie aber durften sich ruhigen Sinnes auf die Straße begeben, von der Volkswut verschont, welche schon anfing, unschuldige Menschen über die Grenzen zu jagen.

Und alsbald geschah es, daß dort, wie auf einen Wink des Antichristen hin, schwarze Drachenfelsen die sonnenumwobenen Auen verstellten und sich als finstere Kulissen entlang zogen; und daß ein kranker Wind sich erhob und Scharen Unglücklicher wie müde Spreu hinüberwirbelte; sie wußten nicht wie; so schnell! Eben noch als Freunde sich am Halse liegend, mitleidig angestarrt — aber ein neuer Windstoß, und sie waren schon geächtet, und ehe sie die Straße überschritten, ihres Lebens nicht mehr gewiß, verängstet und verflucht.

Und zugleich fing es im ganzen Erdteil wie in einem Bienenkorb zu wimmeln und sich zu regen an von geschäftig sich drängenden, unübersehbaren Schwärmen, aus den verlorensten Tälern aufgeflogen, und alle in ihrem künstlichen Haß zu den künstlichen Felsen hingetrieben, aus deren Schacht nunmehr heißes Blut ächzend hervorbrach, zu Bächen, zu Strömen qualvoll unversiegbar anschwellend, doch stets so, o Gott! daß die Schmerzensrufe der einen mit ihrem weithallenden Echo des Jammers zugleich den Vorteil des anderen bedeuteten.

Dritter Brief

Daß in dieser Zeit, in der die Taten reden müssen, noch so viel zu sagen bleibt, ist niederdrückender als Alles. Wer soll es mit dem Schutt aufnehmen, der sich von neuem häuft? Seit ich denken lernte, nannte ich die Geschichte meiner beiden Vaterländer den Roman, um den das Schicksal unseres Kontinents sich drehe. Wird man mir eher glauben als zuvor?

Wir sind am Ende des ersten Bandes angelangt, wo noch einmal alles verschüttet und zurückgeworfen liegt. Bis man an den zweiten gehen kann, sind wir, die heute keine Kinder mehr sind, ermattet oder dahin. Das Wirrsal ist zu groß. Ich ersticke. Es ist zu spät. Lasciate . . .

Allein die Hand verdiente zu verdorren, die heute zu kämpfen abließe, wenn auch vergebens. Wer denkt, liegt heute erst recht im Graben: aber nur von dem Schritt vor Schritt und unablässig Vorgedachten wird endlich, unter tausend Opfern, und über unsere Leiber hin, die Masse fortbewegt. Doch die Gemüter sind noch so, daß die ruhigen Worte die gewagtesten sind. Niemand trägt heute in Europa freieren Gewissens sein geteiltes und zerhämmertes Herz, und nur allzu billig fiele mir der Beweis, daß meine geteilte Liebe eine verdoppelte und keine verminderte ist. Nie aber glaube ich erging noch die Forderung so gebieterisch an das Gewissen derer, die nicht im Felde stehen, sich auf die Unze genau zu ihrem Blute zu bekennen; nur so behaupten auch sie in ihrer Bedrängnis die ihnen zugedachten Posten. Es wäre gemein zu fordern, daß einer, der seiner Abstammung nach in gleichem Maße zwei Nationen angehört, heute die eine oder die andere verleugne. Heute nicht! Vor all dem vergossenen Blute erhebt sich heute die Stimme des Blutes lauter als alles. Wie es heute in einem Halbfranzosen Deutschlands aussieht, das weiß kein Deutscher und kein Franzose, das kann nur sein Echo finden in der Qual eines Halb-Germanen in Frankreich. Denn wie die eingestürzten Häuser unserer Grenzorte, die, wechselseitig umstritten, von den Kugeln beider Gegner zerschossen liegen, so sind wir in uns selber zusammengestürzt.

Du weißt: ich hatte mich von meinen deutschen Landsleuten dadurch vielfach unterschieden, daß ich immer so stolz darauf war, ihnen anzugehören, und daß ich im Ausland mit der aufgezogenen Fahne meines Deutschtums so begeistert herumging. Aber du hast auch gehört, wie unermüdlich ich ihnen zurief: Die Verschmelzung Eurer Wesensart mit der Eurer westlichen Brüder ist für das Heil Europas unerläßlich und die Stunde für eine Anleihe ihrer Qualitäten hat geschlagen. Denn nicht eher seid Ihr die Berufenen. Jawohl! Ich weiß es schon, Ihr seid gründlicher, männlicher, Euer Geist ist weiter ausgebuchtet. Aber Ihr seid die politisch Ungeschulten, die Unpolitischen par excellence. Ihr versteht es nicht, mit den Franzosen auszukommen, was noch alle anderen Nationen fertig brachten. Es ist gar nicht so schwer. Nur sachte! rief ich ihnen voll Besorgnis zu. Nicht so schnell! Um Gottes willen was macht Ihr da! Falsch!

Leute wie ich, die zu ihrer Qual (denn in keinem Lande sind sie ganz daheim) eine Versöhnung der deutschen und französischen Elemente verkörpern, waren sicherlich vor allen anderen befugt, ihre Meinung abzugeben. Die Kluft war ja so groß geworden, daß außer uns, die Mitte Weges standen, nur ganz Wenige sie überschauen konnten. Doch wer achtete unser? — sie wußten es besser, hier wie drüben; und da alles fehlschlug, zog man es vor, die Franzosen für erledigte, die Deutschen für vernichtbare Leute zu halten. Nichts von all dem! — Indessen glauben sie’s noch immer! Ach und mir dünkt, es ist gerade genug für ein Menschenherz, seinen Jammer und seine Sorge um die Not eines Volkes in unseren Tagen zu bewältigen. Aber Leute wie wir werden auch noch am Tage des Sieges sich verkriechen müssen. Denn immer wird es Jerusalem und seine Kinder sein, um die sie weinen werden. Ach wir sind es, die hätten sterben sollen!

Vierter Brief

Wie schwer fällt heute ein Wort, zu leicht entschlüpft, auf uns zurück! In einer Zeit, in der um ein Für und Wider Städte in Brand aufgehen, hat sich jede Art von Leichtsinn verwirkt. Um eines Wortes willen verbringe ich gefolterte Nächte, und merkwürdige Ernüchterungen stellen sich ein, du weißt . . . und mein Herz ist selbst die unbeirrbare, die eifersüchtige und immer schwankende Wage.

Wie neulich: ich hatte mich für den Abend angezogen und Kerzen vor dem Spiegel angesteckt, als sei nichts geschehen: Die Frau, zu der ich dann fuhr, hatte ihren Tisch mit Tulpen geschmückt, und es war wie früher, und als hätten wir vergessen.

Aber später, vorm Kamine, im mattbeleuchteten, schattenvollen Raume kamen wir um so leidenschaftlicher auf den Krieg zurück, als wir zuvor nicht von ihm gesprochen hatten. Und einer von den Herren, ein Chirurg und Sammler, einer jener kontemplativen Süddeutschen, die unüberwindliche romanische Sympathien hegen, äußerte sich da voll Ingrimm über die neue Manier der Franzosen, uns wider jede bessere Einsicht Barbaren zu nennen, nach allem, was gerade wir auf allen geistigen Gebieten leisteten. Konnte das ihr Ernst sein? was ging da nur in ihnen vor? und sich plötzlich an mich wendend: Ob ich das wüßte? fragte er.

Nun hatte ich mir aber fest vorgenommen, nur zuzuhören, wenn solche Themen zur Sprache kommen sollten, denn meine Gesinnung lasse ich mir nicht verdächtigen; es ist aber heute so leicht, mißverstanden zu werden, wenn man nicht ganz genau dasselbe sagt und meint, was der andere sagt und meint. Es lag jedoch im Unterton seiner Frage eine so naive und rührende Besorgtheit, daß ich, meines Vorsatzes vergessend, emporschnellte und ausrief: „Ja, ich weiß es genau!“

Und ob ich es weiß!

Jene überragenden geistigen Leistungen sind es ja gerade, welche zuerst das Mißverständnis verschuldeten. Wie bei einem sehr selbstbewußten Menschen, mag er noch so schüchterne Seiten an sich haben, niemals Schüchternheit als der Grund für seine Handlungsweise angenommen wird, so hatte der anerkannt gedankenvolle Deutsche keinen Kredit auf seine Ungeschicktheit. Kein Wunder! denn am Tage, an dem Deutschland mächtig geworden war und er in Szene trat, an diesem späten Tag zeigte er sich schon so vielfach ausgereift und von einer scheinbar so unbegrenzten Fülle der Gesichtspunkte, daß man sich von dem Neuling irgendwie überflügelt sah und er allsogleich, zu allererst von den Franzosen, sehr ernst genommen wurde. Nachträglich wird ja jetzt sattsam hervorgehoben, daß er des politischen Instinkts ermangle. Es ist kein Kunststück mehr, es zu entdecken! — a priori aber wurde bei Leuten, die noch dazu unverweilt einen Bismarck auszuspielen hatten, auf alles andere eher geraten, und man dachte, dieser Mangel, der vom Kleinsten und Persönlichen ins Allgemeinste und Kolossalische ging, müßte unbedingt etwas anderes sein, als was er ist, nämlich die Achillesferse des Deutschen und das Geheimnis seiner Unbeliebtheit. Als er der Sieger wurde, hätte er sich vor allen Territorien ein paar Qualitäten, die der Besiegte vor ihm voraus hatte, aneignen sollen, um seinem Triumph die dauernde Weihe und Unanfechtbarkeit zu geben. Es wären da solche Dinge zu requirieren gewesen wie das Talent der entgegenkommenden Form, die Ziehharmonika der demi-mots und „l’Art de ne pas froisser“, eine Kunst, die wir verschmähten, weil wir sie nicht meisterten, die aber von größerem Werte für uns gewesen wäre als alle Milliarden, denn sie hätte uns die Franzosen selber erworben. Was half alles Gold unseres Gefühls, da wir es für sie nicht zu münzen verstanden? So ergab sich das ewig selbe Spiel, daß der Deutsche ihrer Eigenliebe nicht schonte und sie dafür mit häßlichem Gekreische sich seinen zu muskulösen Griffen entwanden. So wurde er endlich „der Barbar“, nur weil er nie der Gescheitere war . . .

Aber der Arzt schüttelte den Kopf. „Das Mißverständnis liegt doch tiefer,“ meinte er. „Ich bin auf wissenschaftlichen Kongressen des öfteren mit Franzosen zusammengekommen: sie haben eine geniale Art, die Dinge mit Elan aufzugreifen, aber wo es ein wirkliches Einfühlen gilt, nein, da lassen sie aus.“

„Einfühlung?“ rief ich, „nachdem man sich seit vier Jahrzehnten zum beiderseitigen Nachteil systematisch entfremdet hat? Und doch brannte man drüben insgeheim auf diese Einfühlung. Wir hätten es merken sollen: für die Potenz des deutschen Geistes war man von einer hin und wieder deutlich hervorbrechenden Liebe, ja Verliebtheit beseelt gewesen, die endlich in eine ungeheure und ungeheuerliche Enttäuschung umschlug. Wie mag das werden, wenn wir uns in der Folge noch mehr gegeneinander abschließen — sind wir doch schon hier wie dort vielfach über alle Begriffe langweilig geworden: die Franzosen so anämisch, wir so verknöchert! Selbst unsere Musik ist eine Hagestolzmusik geworden. Selbst unsere heutigen Meister schwelgen im schon Erworbenen; neue Quellen flossen ihnen nicht! Wir verarmten, wir alterten beide.“

„Sie hat recht,“ sagte einer.

Aber die anderen fielen unverzüglich über die deutschen Diplomaten her. Das war mir jedoch zu billig. Jetzt, da die Diplomatie mitten im Konkurse steht, ist auch nicht der Moment, mit ihr ins Gericht zu gehen. Die Diplomatien wären bis auf weiteres quitt. Solange es ein Deutschland gibt, so lange wird es außerdem stets eine Auslese staatsmännischer, so gut wie anderer Talente hervorbringen. Nur haben diese eine Not, sich bei uns durchzusetzen, welche aufs engste mit den Fehlern unserer Tugenden zusammenhängt. Sie werden bei uns so lange untergeordnet (was gewiß sehr disziplinarisch ist), bis nur die Allertüchtigsten unter diesen Tüchtigsten am Tage, an dem sie endlich durchdringen, ihre Spannkraft noch nicht verloren haben.