Briefwechsel - Carl Seelig - E-Book

Briefwechsel E-Book

Carl Seelig

0,0
29,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Schatz wird gehoben: Die schönsten, bedeutendsten und überraschendsten Briefwechsel zwischen Carl Seelig und den Größen der deutschsprachigen Literatur sind hier zum ersten Mal versammelt. Sie zeigen Seelig als einsamen Studenten, der sich von Carl Spitteler Trost erhofft. Als begeisterten Leser, der im Ersten Weltkrieg Bücher an Hermann Hesse in die ›Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene‹ schickt. Als beherzten Herausgeber, der von Stefan Zweig beraten wird und von Franz Kafka eine Abfuhr erhält. Als engagierten Förderer der Exilierten, der Nelly Sachs einen Verlag sucht, für Alfred Polgar Geld auftreibt und Thomas Mann zu dessen Erstaunen Hilfe anbietet, statt ihn um Hilfe zu bitten.

Carl Seelig war ein außerordentlicher Netzwerker. Als Vermittler zwischen Schreibenden, Verlagen und Zeitungen half er denjenigen weiterzuarbeiten, die der Nationalsozialismus zum Schweigen bringen wollte. In seinen Briefwechseln wird er als Anwalt einer bedrohten Literatur erfahrbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

Carl Seelig

Briefwechsel

Herausgegeben von Pino Dietiker und Lukas Gloor

Suhrkamp Verlag

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Im deutschsprachigen Hauptprogramm: Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

eISBN 978-3-518-77407-6

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Briefwechsel

Carl Spitteler

Hermann Hesse

Stefan Zweig

Vicki Baum

Martha und Robert Musil

Franz Kafka

Max Brod

Alfred Polgar

Annemarie Schwarzenbach

Joseph Roth

Frieda Mermet, Fanny, Lisa und Robert Walser

Max Picard

Thomas Mann

Hermann Broch

Emmy Hennings

Jo Mihaly

Ludwig Hohl

Nelly Sachs

Rudolf Jakob Humm

Mechtilde Lichnowsky

Erika Burkart

Paul Nizon

Anhang

Editorische Notiz

Nachwort

Vom Schwärmer zum Teilhaber

Anwalt der bedrohten Literatur

Zuhörer und Sprachrohr

Nachlassverwalter zu Lebzeiten

Zentrale Randfigur

Personenregister

Dank

Informationen zum Buch

Briefwechsel

Carl Spitteler

Einen seiner frühesten Briefwechsel führt Carl Seelig mit einem nachmaligen Nobelpreisträger. Carl Spitteler wird zu seinem siebzigsten Geburtstag am 24. April 1915 mit Feiern in diversen Schweizer Städten, einer Grußadresse der Landesregierung und einem Porträt des Nationalmalers Ferdinand Hodler geehrt – und er bekommt eine erste Karte von Seelig zugeschickt.

Den Literaturnobelpreis für das Jahr 1919 erhält Spitteler insbesondere für sein Versepos Olympischer Frühling, in dem er die antike Götterwelt beschwört. Das größte Echo aber erfährt er, als er seine Landsleute zu Beginn des Ersten Weltkriegs in seiner Rede Unser Schweizer Standpunkt zur Neutralität aufruft. Sein Eintreten für eine innerhelvetische Verständigung über die Sprachgrenzen hinweg lässt ein Kuriosum seiner Korrespondenz mit Seelig als folgerichtig erscheinen: Vom zweiten bis zum sechsten erhaltenen Brief tauschen sich die beiden Deutschschweizer auf Französisch aus.

Der Briefwechsel erstreckt sich von 1915 bis 1924 und zeigt Seeligs Entwicklung vom jungen Verehrer, der sich vom alten Meister eine Widmung und einen Autografen, auch mehrmals Autorenfotos wünscht, zum Berufskollegen. Als Herausgeber der Reihe der Zwölf Bücher im Wiener E. ‌P. Tal-Verlag ersucht er Spitteler um einen Beitrag, als Schriftsteller sendet er ihm einen Erzählungsband zu. Obwohl er dafür Kritik erntet, tritt die Beziehung kurz darauf in ihre herzlichste Phase: Nach einer Zufallsbegegnung von Spitteler und Seeligs Frau verabreden sich die drei regelmäßig in Luzern.

Zu dieser Korrespondenz gehören deshalb nicht nur sieben überlieferte Briefe und Karten von Spitteler und sechzehn von Carl, sondern auch drei von Gretel Seelig. Einen Monat vor seinem Tod bittet sie Spitteler noch einmal zum Tanz in der Hoffnung auf ein weiteres – wie Seelig sich in einem Artikel erinnert – fröhliches »Lachduett« mit dem greisen Nobelpreisträger.1

1Carl Seelig: Erinnerung an Carl Spitteler. In: Basler Nachrichten, 5. Januar 1925.

1 Carl Seelig an Carl Spitteler, Neuchâtel, 23. April 1915

Neuchâtel, 23. ‌IV. ‌15.

Als begeisterter Verehrer Ihrer Kunst u. patriot. Ansichten wünsche ich Ihnen in gut eidgenössischem Sinn alles Hohe u. Schöne, was ein junger Freund, der Sie auf seinem gegenwärtigen langen Krankenlager lieb gewonnen hat, ersinnen kann

          Ihr Carl Seelig, stud.1

          Rue de la Côte 40.

Ansichtskarte, handschriftlich. Die Rückseite zeigt eine Zeichnung, auf der eine Frau mit der belgischen Trikolore an Ärmel und Saum Schutz an der Brust eines französischen Soldaten sucht; darunter steht: »1914 / LA FRANCE ACCUEILLE / LA BELGIQUE«. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

11915 besuchte Seelig ein Semester lang die École Supérieure de Commerce (Handelsschule) in Neuchâtel in der französischsprachigen Schweiz.

2 Carl Seelig an Carl Spitteler, Neuchâtel, 1. Juli 1915

1. Juli 1915.

Verehrter Herr,

Ein Freund hat mir gerade den »Petit Parisien« geschickt, in dem ich mit großem Erstaunen ein Gespräch zwischen Ihnen und dem Sonderberichterstatter besagten Blatts erblicke.1 Nachdem ich Ihre Bücher mit Interesse und Sympathie gelesen habe, vermochte ich dieses Gespräch überhaupt nicht zu verstehen. Bitte haben Sie die Güte und schreiben Sie mir, ob Sie mit diesem Artikel einverstanden sind; ich wäre Ihnen dafür sehr verpflichtet.

Wollen Sie bitte, verehrter Herr, meine vorzüglichen Grüße entgegennehmen

    Charles Seelig.

Côte 40, Neuchâtel.

Postkarte, handschriftlich. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Das Original lautet:

le 1 juillet 1915.

Monsieur,

Un ami vient m'envoyer le « ‌Petit Parisien ‌», auquel je vois plein d'étonnement un entretien entre vous et l'envoyé spécial de la feuille dite. Après avoir lu vos livres avec interêt et sympathie, je ne pouvais pas du tout comprendre cet entretien. Veuillez avoir la bonté de m'écrire si vous êtes d'accord avec cet article ‌; je vous en serais très obligé.

Veuillez agréer, Monsieur, mes salutations distinguées

Charles Seelig. 

Côte 40, Neuchâtel.

1In der Zeitung Le Petit Parisien erschien am 27. Juni 1915 ein Interview, in dem Spitteler Deutschland als eine Nation der Lüge und der Sklaverei bezeichnet.

3 Carl Spitteler an Carl Seelig, Luzern, 2. Juli 19151

Hochgeehrter Herr, aber nein, ich bin in keiner Weise mit diesem Artikel einverstanden, im Gegenteil, ich bin darüber schockiert. Im Übrigen habe ich der Neuen Zürcher Zeitung ein Protestschreiben geschickt, das wie ich hoffe noch heute erscheinen wird.2

Ich verbleibe, hochgeehrter Herr, mit den ergebensten Grüßen

Carl Spitteler

Postkarte, handschriftlich. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Das Original lautet:

Monsieur, Ah non, je ne suis nullement d'accord avec cet article, au contraire j'en suis scandalisé. Du reste j'ai envoyé une protestation à la Neue Zürcher Zeitung qui j'espère va paraître aujourd'hui même.

Croyez, Monsieur à mes sentiments les plus distingués

               Carl Spitteler

1Datum und Absendeort des Poststempels.

2In seiner Richtigstellung, die am 2. Juli 1915 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien, schreibt Spitteler, dass der französische Journalist »aus einer harmlosen Plauderei durch die Wiedergabe eine anmaßliche Diatribe in polterndem Prophetenton« gemacht habe.

4 Carl Seelig an Carl Spitteler, Neuchâtel, 3. Juli 1915

3. Juli 1915.

Verehrter Herr,

Herzlichen Dank für diese Information, die mich beruhigt hat. Gestatten Sie mir, verehrter Herr, dass ich Ihnen diesen Brief schreibe. Nun spreche ich aber nicht den berühmten Dichter an, ich spreche den Menschen mit dem großen Herzen an, der – daran zweifle ich nicht – mir eine kleine freundschaftliche Bitte nicht abschlagen wird.

Ich leide sehr; drei meiner Verwandten sind – vor einigen Tagen – auf dem Schlachtfeld gefallen und ich, ganz allein in dieser Stadt (die ich übrigens sehr mag), ohne Freunde und ohne Verwandte, befinde mich in einer jener schrecklichen seelischen Störungen, die so häufig bei jenen auftritt, die sich mit der Mittelmäßigkeit der Seele nicht abfinden wollen.

Ich weiß, verehrter Herr, dass auch Sie gelitten haben und ich bitte Sie daher – ich flehe Sie nachgerade an –, mir zu schreiben, wie Sie diese Tage zu ertragen vermochten.

Haben Sie Trost in den Büchern gefunden? Ich suche seit langem schon ein solches Buch. Ob ich es wohl finden werde? Das weiß ich nicht! Wüssten Sie eines für mich?

Arbeiten? Oh, aber ja! Ich arbeite den ganzen Tag über, aber die Nacht, die Nacht, die ich so sehr fürchte …

Ich schäme mich sehr, Ihnen mein kleines zerrissenes Herz gezeigt zu haben; aber glauben Sie mir, verehrter Herr, wie dankbar ich Ihnen wäre, könnte ich einen Augenblick mein Haupt auf Ihren Knien ausruhen. Seien Sie ein wenig mein Freund, ich bitte Sie!

Ich wage es, Sie zu fragen, ob Sie wohl so gütig wären, mir etwas in das hier beigegebene Büchlein hineinzuschreiben, über das ich mich sehr freue.1

Nehmen Sie bitte, verehrter Herr, meine guten Wünsche und herzlichen Grüße entgegen.

   Charles Seelig

Côte 40, Neuchâtel.

Brief mit schwarzem Rand, handschriftlich. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Das Original lautet:

le 3 juillet 1915.

Monsieur,

Merci bien de votre information qui m'a rendu tranquille. Permettez-moi, Monsieur, que je vous écris cette lettre. Or, je ne parle pas le célèbre poète, je parle l'homme avec le grand coeur, qui – je n'en doute pas – ne me refusera pas une petite amicalle demande.

Je souffre beaucoup ‌; trois de mes parents sont – il y a quelques jours – tombés sur le champ de bataille et moi, tout seul dans cette ville (que j'aime du reste beaucoup), sans amis et sans parents, je me trouve dans un des affreux troubles de l'âme si fréquent chez ceux qui ne se veulent pas résigner à la médiocrite de l'âme.

Je sais, Monsieur, que vous avez aussi souffert et je vous prie donc – je vous implore même – de m'écrire comment vous aviez pu supporter ces jours-là.

Est-ce que vous avez trouvé la consolation dans les livres ? Moi, je cherche depuis longtemps un tel livre. Si je le trouverai ? Je l'ignore ! Est-ce que vous m'en savez un ?

Travailler ? Oh, bien oui ! Je travaille toute la journée, mais la nuit, la nuit que je crains tant …

J'ai bien honte de vous avoir montré mon petit déchiré coeur ‌; mais, croyez-moi, Monsieur, que je vous serez reconnaissant de pouvoir reposé un instant ma tête sur vos genoux. Soyez un peu mon ami, je vous prie !

Est-ce que j'ose vous demander de bien vouloir m'inscrire quelque chose dans le petit livre ci-inclus, dont je suis très enchanté.

Agréez, Monsieur, avec tous mes bons souhaits, mes salutations cordiales

            Charles Seelig

Côte 40, Neuchâtel.

1Seelig schickte Spitteler dessen Rede Unser Schweizer Standpunkt zu, die 1915 als Broschüre im Rascher-Verlag in Zürich publiziert worden war.

5 Carl Spitteler an Carl Seelig, Luzern, 5. Juli 1915

Hochgeehrter Herr,

Voltaire und mein verehrter Lehrmeister Jacob Burckhardt behaupteten, dass es nur einen einzigen Trost gebe: Arbeiten, bis man so müde ist, dass man einen guten Schlaf findet.1

Ich füge hinzu: Sich beglückwünschen, wenn man sich ohne physische Schmerzen bewegen kann. Das ist bereits ein Privileg.

Trost durch Nachsinnen kenne ich nicht. Ich bin Pessimist, ich bin überzeugt, dass die Welt schlecht geschaffen ist. Ich glaube eher an einen Teufel als an einen guten Gott. Also durch Nachdenken sehe ich keinen Trost.

Ein Buch? Es gibt Personen, die behauptet haben, aus einem bestimmten meiner Bücher Mut bezogen zu haben. Ich schicke es Ihnen, wenn es noch in meinem Besitz ist.

Sie sprechen von »einem Büchlein«, in das etwas zu schreiben Sie mich bitten. Ich weiß nicht, von welchem Büchlein Sie sprechen.

Im Übrigen bringt mir jede Post so viele Briefe, Zeitungen, Bücher, dass ich all diese Sendungen nicht mehr auseinanderzuhalten vermag.

Ich erblicke zum Beispiel meine Broschüre2 auf meinem Schreibtisch, woher kommt sie? Ich weiß es nicht mehr? Haben Sie sie mir geschickt? Um was zu tun.

Bitte entschuldigen Sie einem überlasteten armen Mann Nachlässigkeiten, die er begangen hat oder noch wird begehen können.

Meine besten Wünsche für Ihre moralische und physische Gesundheit. Wissen Sie, was ich Ihnen rate? Leben Sie so weit wie möglich an der frischen Luft, gehen Sie nach dem Abendessen aus, bevor Sie sich ins Bett legen, machen Sie einen schönen Spaziergang, auf dass Sie Schlaf finden und die Neigung zum Nachdenken Ihnen vergeht.

Nehmen Sie bitte, hochgeehrter Herr, meine freundschaftlichen Gefühle entgegen.

Carl Spitteler

Luzern

den 5. Juli 1915.

Brief, handschriftlich. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Das Original lautet:

Monsieur,

Voltaire et mon vénéré maître Jacob Burckhardt prétendaient qu'il n'y avait qu'une seule consolation : Travailler jusqu'à ce qu'on est fatigué au point de trouver un bon sommeil.

Moi j'ajoute : Se féliciter quand on peut bouger sans douleurs physiques. C'est déjà un privilègue.

De consolation par méditation je ne connais pas. Je suis pessimiste je suis convaincu que le monde est mal créé. Je crois plutôt en un diable qu'en un bon Dieu. Donc par la réflexion je ne vois point de consolation.

Un livre ? Il y a des personnes qui ont prétendu d'avoir puiser du courage dans un certain de mes livres. Je Vous l'enverrais si je le possédais moi-même.

Vous parlez d' « ‌un petit livre ‌» où Vous désirez que j'inscrive quelquechose. Je sais pas de quel petit livre Vous parlez.

Du reste chaque courier m'apporte tant de lettres de journaux de livres que je sais plus démêler tous ces envois.

Je vois par exemple ma brochure sur mon bureau, d'où venait-elle ? Je ne sais plus ? Est-ce Vous qui me l'avez envoyée ? Et pourquoi faire.

Excusez, s'il Vous plaît, un pauvre homme surchargé des négligences qu'il avait pu ou qu'il pourra commettre.

Tous mes voeux pour votre santé morale et physique. Savez-Vous ce que je Vous conseille ? Vivre autant que possible au grand air, sortir après le souper, avant de Vous coucher, faire une bonne promenade pour que Vous trouviez le sommeil et que la tendance de réfléchir Vous passe.

Agréez, Monsieur, mes sentiments amicaux

       Carl Spitteler

Lucerne

le 5 Juillet 1915.

1Der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt war Spittelers Geschichtslehrer am Gymnasium in Basel. Als Student hörte Spitteler Burckhardts Vorlesungen an der Universität Basel und besuchte ihn von Ende 1865 bis Anfang 1870 zu prägenden Gesprächen. Im ersten Kapitel seines Erinnerungstextes Jakob Burckhardt und der Student, das am 4. Juli 1912 in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt wurde, schreibt Spitteler über Burckhardt: »Als den einzigen wirksamen Trost in dieser ›bösen Welt‹ nannte er mir die Arbeit. ›Jeden Tag arbeiten, bis man müde ist,‹ empfahl er mir, ›das ist das Einzige‹, und berief sich hiefür wiederum auf Voltaire.«

2Gemeint ist die Broschüre Unser Schweizer Standpunkt, die Seelig Spitteler mit der Bitte um eine Widmung schickte.

6 Carl Seelig an Carl Spitteler, Zürich, 7. Juli 1918

am 7. Juli 1918.

Verehrter Herr Doktor,

Verzeihen Sie, wenn ich mich Ihnen heute mit einer sehr grossen Bitte nahe:

Stefan Zweig, der österreichische Dichter, hat in mir die Lust geweckt, gleich ihm eine Manuskript-Sammlung anzulegen. Romain Rolland, Hermann Hesse u. ‌a. helfen mir, dass ich einen guten u. sicheren Grund dazu habe. Und ich wäre Ihnen, sehr verehrter Herr, nun von Herzen dankbar, wenn auch Sie mir eine Novelle, einige Gedichte oder einen Abschnitt aus dem »Olympischen Frühling«1 im Manuskript überlassen würden.

Freilich weiss ich nicht, wie es Ihnen danken. Verfügen Sie jederzeit voll und ganz über mich und glauben Sie an meine tiefe und aufrichtige Verehrung

Ihr ergebener

Carl Seelig.

Im Herbst erscheinen einige ungedruckte Gedichte von mir, von einem bekannten Komponisten vertont – ich sende sie Ihnen dann mit Vergnügen.2

Mythenquai 4

Zürich II

Brief, handschriftlich. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

1Spittelers Versepos Olympischer Frühling erschien von 1900 bis 1905 in vier Bänden im Diederichs-Verlag in Leipzig und Jena; 1910 folgte die überarbeitete Fassung in zwei Bänden.

21918 wurden drei Liederzyklen gedruckt, die Carl Aeschbacher zu Gedichten Seeligs komponiert hatte: Sechs schlichte Lieder. Op. 13, Sechs Lieder. Op. 14 und Acht Lieder. Op. 15.

7 Carl Seelig an Carl Spitteler, Zürich, 11. Juli 1918

Verehrter Herr Doktor,

Es tut mir sehr leid, dass Ihnen mein Brief soviel Ungelegenheiten gemacht hat. Ich habe meine Bitte um Überlassung eines Manuskriptes – seien es auch nur einige Seiten eines Aufsatzes oder einige Gedichte – aus reiner Liebe zur Dichtung – und speziell der Ihren – gestellt und Sie dürfen versichert sein, dass ich es in jeder Weise hochhalten u. zu keinerlei Nebenzwecken benützen würde.

Freund Hesse schickte mir gestern einige Gedichte u. Seiten einer Novelle im Manuskript, ebenso bedenken mich Romain Rolland, Barbusse1 u. ‌a. und es würde mir sehr leid tun, Sie in diesem Ringe freier Geister u. tapfrer Männer missen zu müssen.2

Selbstverständlich werde ich sofort anordnen, dass meine Arbeiten im Luz. Tgbl. nunmehr unter den Initialen C. Sg. erscheinen – wenn es auf mich ankäme, würde immer der volle Name stehen.3 Denn für das, was man schreibt, soll man ja auch jederzeit einstehen können.

Wollen Sie mich, verehrter Herr Doktor, bitte Ihrer Frau Gemahlin u. Frl. Tochter empfehlen4 und den Ausdruck meiner tiefen Verehrung entgegennehmen

Ihr

Carl Seelig.

Mythenquai 4

11. Juli 1918.

Zürich II

Brief, handschriftlich. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

1Gemeint ist der französische Autor Henri Barbusse, mit dem Seelig ab 1917 in Kontakt stand, wie 29 Briefe von Barbusse in Seeligs Nachlass bezeugen; auch mit Romain Rolland korrespondierte Seelig (RWA, Nachlass Carl Seelig; ZB, Nachlass Carl Seelig).

2Seelig besaß neben den Briefen zwei weitere Autografen Spittelers: eine undatierte Karte mit einem Zitat aus dessen Essaysammlung Lachende Wahrheiten (Erstausgabe: Florenz, Leipzig: Diederichs 1898) und einen einseitigen, auf August 1919 datierten Entwurf zum Vorwort von Carl Spittelers Gottfried Keller-Rede in Luzern (Luzern: Selbstverlag der Freien Vereinigung Gleichgesinnter Luzern 1919). 1957 verkaufte Seelig diese Autografen der Schweizerischen Landesbibliothek, der heutigen Nationalbibliothek, der das Schweizerische Literaturarchiv angegliedert ist.

3Im Luzerner Tagblatt, in dem Seelig seit 1917 meist unter vollem Namen publiziert hatte, erschienen am 11. Mai sowie am 6. und am 9. Juli 1918 drei Artikel von ihm unter dem Kürzel ›C. ‌S.‹, das vermutlich zu Verwechslungen mit Spitteler führte. Am 25. Juli zeichnete Seelig einen Artikel mit ›C. Sg.‹, ehe er wieder mehrheitlich unter vollem Namen für die Zeitung schrieb.

4Mit seiner Frau, Marie Spitteler, geb. Op den Hooff, hatte Spitteler zwei Töchter, Anna und Marie-Adèle.

8 Carl Seelig an Carl Spitteler, Kastanienbaum, 14. Mai 1923

Verehrter Herr Dr. Spitteler,

Darf ich das Erscheinen meiner »Erlebnisse« benützen, Ihnen ein Exemplar zu schicken?1 Wie Sie sehen, ist die Zeichnung von Rudolph Urech aus Basel, der mit seiner Frau schon längere Zeit bei uns wohnt.2 Da Sie sie kennen, sprechen wir oft von Ihnen und so entstund auch der Wunsch, Ihnen mein Bändchen zu senden. Ich hoffe, es macht Ihnen trotz der Unzulänglichkeit einiger Erzählungen (»Kämpfe« insbesondere) keinen schlechten Eindruck; es würde mich freuen, zu wissen, wie Sie darüber denken.

Inzwischen bin ich mit verehrungsvollen Grüssen, auch von Seiten der zwei Urechs,

     Ihr ergebener

Carl Seelig

Kastanienbaum bei Luzern

14. Mai 1923.

Brief, handschriftlich. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

1Seeligs Band Erlebnisse erschien 1923 im Verlag Der Garten Eden in Dortmund; er enthält zwölf Erzählungen, u. ‌a. die erwähnten Kämpfe.

2Der Basler Künstler Rudolf Urech schuf auch Zeichnungen zu Spittelers Olympischem Frühling und zu Seeligs Band Die Jahreszeyten im Spiegel schweizerischer Volkssprüche (Zürich: Orell Füßli 1925).

9 Carl Spitteler an Carl Seelig, Luzern, 18. Mai 1923

18 Mai 1923 Luzern

Hochgeehrter Collega,

Ich habe etwa die Hälfte Ihres Büchlein gelesen und zwar gerne gelesen, mich an den Geschichtlein und an dem mir nur ein Viertel bekannten und psychologisch räthselhaften Verfasser interessierend.

Wenn ich Sie persönlich vor mir hätte, würde ich mit Ihnen über Einzelnes sprechen können, denn ich habe mir mitunter Gedankennotizzchen beim Text angestrichen. Aber ich schreibe ungern, schlecht und wider das Gebot des Arztes, das Verbot meine ich.

Also nur ein paar allgemeine Sätzchen. Es ist Herz darin, und was seltener ist Wahrhaftigkeit. Sowohl die realen Dinge wie die psychologischen sind bemerkenswerth gut gezeichnet. Der Verfasser ist ein Denker, findet sinnvolle Merksätze und auch denkenswerthe Sprüche und Worte.x) Aber es ist alles ungleich und unausgeglichen, vom künstlerischen und stilistischen Standpunkt betrachtet öfters fast bis ins Dilettantische hinuntersinkend. Auch am Geschmack fehlts bisweilen, (z. ‌B. eigene Liebestriumphe zu berichten (Seite 31) ist nicht fein). »Auferstehung« ist bedeutend und wahr (aber Aufschlüsse worin der Zwist zwischen Vater und Sohn bestand unerläßlich). »Glückliche Reise« würde ich weglassen. In den inhaltreichen Fliehende Stunden die Zeitbestimmung im ersten Satz weglassen. Ich habe nichts gegen den kühnen ergreifenden Inhalt dieses Geschichtleins; auch nichts gegen Kämpfe; – u. ‌s. ‌w.1

Mit collegialischem Gruß

          Carl Spitteler

x) Augen die in mich stoßen lichte Haut gemiedene Häuser.2

Freundliche Grüße an das liebenswürdige Paar Urech.

Brief, handschriftlich. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

1Die Auferstehung, Glückliche Reise, Fliehende Stunden und Kämpfe sind Erzählungen in Seeligs Band Erlebnisse.

2Hier zitiert Spitteler drei Formulierungen aus Seeligs Erlebnissen (S. 33, 34 u. 75).

10 Gretel und Carl Seelig an Carl Spitteler, Kastanienbaum, 23. September 1923

Kastanienbaum, 23. Sept. 23

Verehrter Herr Dr. Spitteler –

Meine Frau hatte vor einigen Tagen das Vergnügen, unbekannter Weise im »Huguenin«1 an Ihrem Tisch zu sitzen; vielleicht erkennen Sie sie aus beil. Photographie wieder (ich habe sie mit einem x verdeutlicht).2

Da sie sich sehr freuen würde, Sie kennen zu lernen, – sie hat auch schon vieles von Ihrem schönen Garten erzählen hören –, erlaube ich mir, Sie anzufragen, ob wir Sie einmal auf ein Stündchen besuchen oder bei uns in Kastanienbaum zum Thee erwarten dürfen, vielleicht mit Ihrer Frau Gemahlin oder Fräulein Tochter?

Wir hoffen Ihnen mit diesem Wunsch nicht ungelegen zu kommen und begrüssen Sie in Verehrung als Ihre ergebenen

Gretel u. Carl Seelig.

Brief, handschriftlich. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

1Ehemaliges Restaurant in der Alpenstrasse in Luzern.

2Auf der beiliegenden Fotografie sind drei Frauen zu sehen; Seeligs damalige Frau, Maria Margareta ›Gretel‹, geb. Deutsch, ist in der Mitte mit einem Kreuz markiert.

11 Carl Spitteler an Gretel und Carl Seelig, [Luzern], 25. September 1923

Hochgeehrte Frau, hochgeehrter Herr,

Das ist lieb von Ihnen! Danke. Aber für Excursionen per Schiff oder Bahn bin ich mit meinen 78 Jahren nicht mehr recht mobil genug. Kommen Sie daher, bitte, lieber zu mir. Aber am nächsten Sonntag bin ich nicht daheim. Sonst immer, es sei denn, daß ich von 4-6 im Kursaal bin (Ende dieser Woche schließt er übrigens)1 oder bei schlechtem Wetter bei Huguenin. Weit bin ich nie weg und mit Gescheidtheit und Zufall findet man sich immer. Bei mir daheim, oder in der Stadt. Der Gipfel: kommen Sie zu mir ins Haus und gehn wir zusammen in die Stadt. Aber wie gesagt, am nächsten Sonntag bin ich nicht zu treffen. Räthselhaft für mich die Identität von Frau Seelig. »Bei Huguenin am selben Tisch?« Ich erinnere mich bloß an ein elegantes junges Baslerpaar neben mir. Aehnlichkeit der Photographie? Ich sehe etwas Schönes, sympathisches freundliches; etwas Persönliches aber sagt mir das hübsche Bild einstweilen nicht

Ergebenst

     Carl Spitteler

25 September

Karte, handschriftlich. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

1Der Kursaal (heute: Grand Casino Luzern) war damals nur während der Sommersaison geöffnet. Er war ein Stammlokal Spittelers, dessen Haus sich in der nahegelegenen Gesegnetmattstrasse 12 befand.

12 Gretel Seelig an Carl Spitteler, Kastanienbaum, 4. Oktober 1923

4. Okt. 23.

Lieber Herr Dr Spitteler –

Als Dank für den gestrigen schönen Nachmittag1 sende ich Ihnen hier einen Korb Birnen aus unserm Garten, von denen allerdings einige noch längere Zeit lagern müßen. Ich hoffe, wir begegnen uns nun hie und da in einem der Luzernercafés. – oder kommen Sie doch einmal zu uns heraus?

Nehmen Sie inzwischen mit diesem parfümierten Brief vorlieb und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer

ergebenen

    Gretel Seelig

Brief, handschriftlich. Briefkopf: »Gretel Seelig // KASTANIENBAUMb/LUZERN / AM«. SLA, Nachlass Carl Spitteler.

1In einer Karte vom 1. Oktober 1923 hatten Gretel und Carl Seelig Spitteler vorgeschlagen, ihn am 3. Oktober gegen 15 Uhr bei ihm zuhause abzuholen (SLA, Nachlass Carl Spitteler).

13 Gretel Seelig an Carl Spitteler, Kastanienbaum, 18. November 1924

18. ‌11. ‌24.

Kastanienbaum

Lieber Herr Dr Spitteler,

Warum kommen Sie nicht mehr zu Huguenin? Sind Sie etwa erkrankt?1 Ich hoffe es nicht! – Wenn Sie sich nächsten Samstag wohl fühlen, dann kommen Sie doch hin – in 1. Etage, zum thé dansant.

Herzlich grüßt Sie Ihre Gretel Seelig

Postkarte, handschriftlich. Vordruck: »G.« SLA, Nachlass Carl Spitteler.

1Spitteler litt seit Jahren u. ‌a. an Kreislaufschwäche und Atembeschwerden; im November 1924 verschlechterte sich sein Zustand massiv. Er starb am 29. Dezember desselben Jahres in seinem Haus in Luzern.

Hermann Hesse

Carl Seelig war ein großer Verehrer von Hermann Hesse. Gelegenheit, mit dem berühmten Schriftsteller in Kontakt zu treten, bietet dem 22-Jährigen ein Zeitungsaufruf zur Einsendung von Büchern für die ›Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene‹, die Hesse während des Ersten Weltkriegs in Bern betreibt. Hesse, wegen Kurzsichtigkeit vom Kriegsdienst zurückgestellt, engagiert sich mit Büchersendungen und der Herausgabe von Zeitschriften für deutsche Soldaten in Lagerhaft. Ein Jahr später schickt Seelig dem bewunderten Dichter seinen zu dessen vierzigstem Geburtstag publizierten Artikel; Hesse fühlt sich missverstanden, zeigt jedoch Nachsicht mit dem schwärmerischen Seelig. Es entwickelt sich ein intensiver Briefwechsel: Seelig, der die Anerkennung des Idols sucht, liest dessen Bücher im Militärdienst, sammelt Manuskripte und Widmungsexemplare. Hesse ist einer der wenigen Briefpartner, die Seelig auch als Schriftsteller wahrnehmen: In seiner 1919 erschienenen Anthologie Alemannenbuch druckt er vier Gedichte von ihm ab.

Als Hesse im April 1919 seine Familie in Bern verlässt und ins Tessin zieht, unterstützt Seelig den in schwierigen finanziellen Verhältnissen lebenden Hesse, sendet Malutensilien, Nahrungsmittel und, immer wieder, die so notwendigen Brillen für den unter starken Augenschmerzen leidenden Autor. »Und wenn Sie mich wieder brauchen, so rufen Sie!«, schreibt Seelig einmal.1 Hesse seinerseits steht Seelig mit Rat in persönlichen wie professionellen Dingen zur Seite, empfiehlt ihm Autoren, liefert Vorworte zu Buchausgaben und steuert auch ein Werk zur Reihe der Zwölf Bücher bei, die Seelig im E. ‌P. Tal-Verlag herausgibt.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten setzen sich beide für Emigrierte ein, weisen auf besondere Notfälle hin und helfen sich bei ihren Bemühungen um gemeinsame Bekannte gegenseitig. 1946 ist Hesse auch von den außerordentlichen Korrespondenzpflichten, die durch die Verleihung des Nobelpreises noch gesteigert wurden, gänzlich erschöpft und bittet Seelig – »von meinen vielen Freunden der einzige, der etwas davon geahnt hat wie es um mich steht«2 – um Hinweise auf Kurhäuser.

Ihr schriftliches Gespräch führen Seelig und Hesse bis 1962 fort. Aus der ein halbes Jahrhundert währenden Korrespondenz sind rund 290 Briefe von Hesse und knapp siebzig von Seelig überliefert.

1Carl Seelig an Hermann Hesse, 1919 (SLA, Nachlass Hermann Hesse).

2Hermann Hesse an Carl Seelig, Anfang September 1946 (RWA, Nachlass Carl Seelig).

1 Carl Seelig an Hermann Hesse, Zürich, 5. Juli 1916

den 5. Juli 16.

Verehrtester Herr Hesse,

Heute habe ich in einer Zeitung gelesen, dass Sie noch Bücher für Ihre Schützlinge brauchen können. Nun habe ich zwar bereits einen Grossteil meiner Bibliothek an die deutschen, franz. und engl. Kriegsgefangenen geschickt und ich weiss nicht, ob die paar nachfolgenden Werklein genügen – aber man möchte immer noch mehr tun, denn ich habe selbst ein Jahr lang an der Schweizergrenze gestanden und meine Kameraden mit all ihren Absonderlichkeiten, Lastern und Schönheiten lieben gelernt.1

Verehrtester Herr Hesse, Sie wissen nicht, wie sehr Sie mir mit Ihren eigenen Schriften ans Herz gegriffen haben, und wenn ich auch alles herschenkte, so zittern doch heute noch die seltsamen, feinen Gedichte u. Erzählungen (z. ‌B. »in der alten Sonne!«)2 in mir nach.

Ich möchte mal die Kerls sehen, die Sie anzugreifen wagen!3 Was müssen das für Männer sein, die nicht das Gute und Segensreiche Ihrer Liebestätigkeit sehen. Lieb und besser sind Sie uns allen!

Ihr freundschaftl. gesinnter

Carl Seelig, jur.4

Mythenquai 4

Zürich 2.

Brief, handschriftlich. SLA, Nachlass Hermann Hesse.

1Seelig leistete während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs militärische Einsätze im Rahmen der schweizerischen Dienstpflicht.

2Die Erzählung erschien zuerst in der Zeitschrift Die neue Rundschau im Dezember 1904, dann 1908 im Buch Nachbarn und 1914 in der gleichnamigen Sammlung, In der alten Sonne, im S. Fischer Verlag in Berlin.

3Am 3. November 1914 veröffentlichte Hesse in der Neuen Zürcher Zeitung den Artikel O Freunde, nicht diese Töne!, in dem er die Kriegseuphorie seiner Schriftstellerkollegen anprangerte; in der Folge meldete er sich immer wieder zu Wort und wurde für seine kritische Haltung stark angefeindet.

4Seelig studierte von 1916 bis 1920 an der Universität Zürich u. ‌a. Jura.

2 Hermann Hesse an Carl Seelig, Bern, 15. Juli 1916

Bern 15. Juli 16

Verehrter Herr Seelig!

Haben Sie schönen Dank für Ihre freundliche Büchersendung!

Wegen jener Feinde u. Angreifer müssen wir uns beruhigen. Es ist ersprießlicher u. edler, zur Minorität der Wohlgesinnten zu gehören als zur Majorität der Schweine.

Mit Grüßen Ihr

   H. Hesse

Brief, handschriftlich. ZB, Nachlass Carl Seelig.

3 Hermann Hesse an Carl Seelig, Bern, 4. Juli 1917

4. Juli 17

Lieber Herr!

Das Bild schicke ich Ihnen gern, und sage Dank für Ihren freundlichen Brief. Verstanden habe ich ihn und den Artikel nicht ganz.1 Alles, wie Sie sich das Verhältnis des Dichters zu dem, was er dichtet, denken, ist so ganz anders als ich es kenne. Und daß Sie einen Dichter lieben können, von dem Sie den Eindruck haben, er zwinge sich Gefühle auf, die er gar nicht hat.2 Ein Dichter, der das tut, ist ein Narr, und wenn man ihn dabei meint ertappt zu haben, ist er erledigt.

Kurz, die Sache sieht für mich anders aus. Ich gebe auch, genau umgekehrt wie Sie, die Romane alle preis und lege weit mehr Wert auf den Lauscher und die Gedichte.3

Sie sehen, wie verschieden man denken kann. Indessen habe ich nie Freude an Diskussionen gehabt und nie das Bedürfnis gefühlt, anderer Leute Meinungen zu korrigieren. Ebenso möglich, daß ich selber Unrecht habe.

Jedenfalls danke ich für Ihre freundliche Teilnahme!

Mit Grüßen Ihr

   H Hesse

Brief, maschinengeschrieben. Briefkopf: »Deutsche / Kriegsgefangenen-Fürsorge / Abt. Bücherzentrale / BERN / Thunstraße 23 // Bern,«. ZB, Nachlass Carl Seelig.

1Seelig publizierte zu Hesses vierzigstem Geburtstag im St. Galler Tagblatt vom 2. Juli 1917 eine Gesamtschau über dessen bisheriges Werk. Dabei machte er eine Entwicklung »von der kränklichen Sentimentalität zur herben, tapferen Männlichkeit« fest. Insgesamt spricht der Artikel bewundernd von Hesse, enthält jedoch auch irritierend abwertende Formulierungen. – Der erwähnte Brief von Seelig an Hesse, mit dem er ihm den Artikel übersandt hatte, ist nicht überliefert.

2Im genannten Artikel schreibt Seelig: »In den folgenden Gedichtbänden ›Unterwegs‹ und ›Musik des Einsamen‹ suchte der Dichter seinen Werken männlicheren Klang und Inhalt zu geben. Freilich habe ich den Eindruck, daß vieles bis jetzt auf Kosten der Poesie geschah, daß, um es offen zu sagen, Hesse sich selbst Gefühle aufzwingt, die er in Tat und Wahrheit gar nicht hat.«

3Zu Hesses Buch Hinterlassene Schriften und Gedichte von Hermann Lauscher (Basel: Reich 1901) meint Seelig im selben Artikel: »Das Frühwerk ›Hermann Lauscher‹ hat künstlerisch nur sehr geringen Wert und kann verschwiegen werden.«

4 Carl Seelig an Hermann Hesse, Zürich, 26. September 1917

Mein lieber Herr Hesse,

ich möchte Ihnen, bevor ich zur Grenze abmarschiere u. die bittern Monate kriegerischen Lebens vor mir habe, noch diesen letzten Gruss aus meinem Zürich senden. Eine dunkle Ahnung sagt mir, dass ich diesesmal nicht wiederkehren werde.

Glauben Sie mir, dass das Leid der armen Menschheit furchtbar in mir brennt; Gott gebe, dass wir den Frieden mit nach Hause bringen …

In meinem Tornister sollen Ihre Lieder mitwandern, das letzte, was für mich von Liebe singt.

Ihr allezeit getreuer

Stud. jur.  Carl Seelig

           Zürich II.

           Mythenquai 4.

26. ‌9. ‌17.

Karte, handschriftlich. SLA, Nachlass Hermann Hesse.

5 Carl Seelig an Hermann Hesse, Engelberg, 1. Oktober 1917

     Engelberg, 1. ‌10. ‌17.

Lieber Hesse,

meine Ahnungen haben sich schon erfüllt … Mein Vater wurde in Schnee und Eis mit zwei Bekannten tot am Kleinen Spannort aufgefunden. Die Berge, die er so sehr liebte, haben ihn erschlagen …1

Es hing an einem Haar, so wäre ich damals mit ihm gegangen. Dann wäre auch mein Kampf zu Ende gewesen.

Es sollte nicht sein …

Mir graut vor den Bergen, mir graut, nun da ich die Leiche meines Vaters ihrem Reiche entreisse …

Leben! Leben

Schenken Sie mir Ihre Liebe

Ihr Carl Seelig

Mythenquai 4

Zürich II.

Karte, handschriftlich. SLA, Nachlass Hermann Hesse.

1Seeligs Vater, Carl Seelig, kam am 27. September 1917 bei einem Bergunglück in den Urner Alpen ums Leben. Der Unternehmer war ein passionierter Alpinist, dem zahlreiche Erstbesteigungen gelangen.

6 Carl Seelig an Hermann Hesse, Zürich, 15. Juni 1918

Mein lieber Herr Hesse,

Ihr malerisches Tessinerbild hat wieder lebhafte Erinnerungen in mir wach gerufen und ich danke Ihnen schönstens dafür.1

Ich möchte Sie nun fragen, ob ich Ihnen beil. Gedicht zueignen darf – es wurde mit einigen anderen (sämtliche bisher ungedruckt!) von einem jungen Musicus, Ernst Levy,2 Prof. am Basler Konservatorium, vertont und findet hoffentlich Ihren Beifall. Ich mache die zweite Liebe meines Lebens durch und fühle tief im Innersten, wievieles mit ihr stirbt oder sich zum Leben emporreckt …3

Sonntags treffe ich mich mit Zweig und Levy. Und auch von Huggenberger soll ich Sie grüssen lassen!4

Ich bleibe von Herzen der Ihrige

Carl Seelig.

15. Juni 1918.          Mythenquai 4

         Zürich 2.

Jetzt brennen deine heissen Küsse

Wohl wie wilde Heckenrosen

Auf den Lippen eines Andern.

Wandern

Muss ich manche Nacht,

Tiefberauscht von schwerem Wein,

Und mit liebestollem Munde

All mein Leid zum Himmel schrein.5

Dem Minnesänger Hermann Hesse

herzlichst

Carl Seelig.

Juni 1918.

Brief, handschriftlich. SLA, Nachlass Hermann Hesse.

1Hesse sandte Seelig immer wieder Aquarelle sowie bemalte Briefe und Karten.

2Der Basler Komponist Ernst Levy vertonte zahlreiche von Seeligs Gedichten.

3In der Erzählung Fliehende Stunden im Band Erlebnisse schildert Seelig eine leidenschaftliche Liebesgeschichte mit der hospitalisierten Inge, die schließlich an ihrer schweren Erkrankung stirbt (Dortmund: Der Garten Eden 1923, S. 28-37).

4Mit dem Schweizer Heimatschriftsteller Alfred Huggenberger stand Seelig zeitweise in intensivem brieflichem Kontakt. Rund siebzig Briefe von ihm an Seelig sind überliefert. Stefan Zweig lebte von November 1917 bis März 1919 mehrheitlich in und bei Zürich.

5Hesse nahm dieses und drei weitere Gedichte Seeligs in das von ihm 1919 herausgegebene Alemannenbuch auf, in dem mit Robert Walser, Jakob Schaffner, René Schickele, Robert Faesi, Felix Moeschlin und Hesse selbst klingende Namen vertreten waren.

7 Hermann Hesse an Carl Seelig, Bern, 19. Juli 1918

19. Juli 1918

Lieber Herr Seelig!

Eine Frage in der Not: Ich ginge gern baldmöglichst, wenn auch nur für kurze Zeit, an einen stillen Ort in der Nähe von Luzern. Bitte um ein Wort. Am liebsten wohnte ich privat und äße im Wirtshaus, wenn das geht. Ich brauche die Nähe von Luzern meines Freundes und Arztes wegen, der dort wohnt.1 Von hier muß ich so bald wie möglich weg, weil ich hier zur Zeit in einer Hölle lebe, die ich nicht schildern kann.2 Mein Leben ist am Zusammenbrechen. Schreiben kann ich nicht darüber.

Herzlich Ihr

      H. ‌H.

Brief, maschinengeschrieben. Briefkopf: »Deutsche / Kriegsgefangenen-Fürsorge / Abt. Bücherzentrale / BERN / Thunstraße 23 // Bern, den«. ZB, Nachlass Carl Seelig.

1Gemeint ist wahrscheinlich der Psychoanalytiker Josef Bernhard Lang aus Luzern, bei dem Hesse von Mai 1916 bis Herbst 1917 fast wöchentlich Therapiesitzungen absolvierte.

2Im Juli 1918 verschlechterte sich die schon angespannte Beziehung von Hesse und seiner ersten Frau, Maria Bernoulli. Bernoulli, die unter psychischen Problemen litt, nahm einen arbeitslosen Mann in ihr Haus in Bern auf. Die Situation eskalierte und Bernoulli wurde, nach psychischen Zusammenbrüchen, bis zur Scheidung im Juli 1923 mehrmals in Nervenheilanstalten eingewiesen.

8 Carl Seelig an Hermann Hesse, Zürich, 1. August 1918

am 1. Aug. 1918.

Mein lieber Herr Hesse,

Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr mich Ihr Zustand erschüttert – ich leide mit Ihnen und hoffe nur, dass Sie aus all den dunkeln Wegen wieder die Strasse zum Lichte finden. Sie haben sich in schönen Zeiten eine Welt gebaut, zu deren Fortdauer alle Kräfte herangerufen werden müssen … Dennoch: das Gute, das Schöne wird und muss siegen!

Wenn ich Ihnen etwas sein kann oder meine Hilfe von Nutzen ist, so werden Sie meine Herzenstore stets offen finden. Sie sind mir ein lieber und willkommener Gast …1 Und in diesem Sinne grüsse ich Sie recht herzlich

und freundschaftlich

      Ihr Carl Seelig

Mythenquai 4, Zürich II.

Das Glas brauchen wir nicht mehr. Hoffentlich kommt die Butter glücklich an2

Brief, handschriftlich. SLA, Nachlass Hermann Hesse.

1Zu einem Aufenthalt bei Seelig kam es nicht; Hesse meldete ihm im nächsten Brief, er könne nun doch nicht weg (ZB, Nachlass Carl Seelig).

2Seelig sandte Hesse regelmäßig Lebensmittel zu; von seinen Militäreinsätzen im Jura etwa schickte er Honig.

9 Hermann Hesse an Carl Seelig, [Montagnola], 4. Oktober 19191

Lieber Freund Seelig!

Während Sie Ihr liebes Brieflein an mich schrieben, mußte ich dieser Tage viel an Sie denken und war etwas bange um Sie, sandte Ihnen darum auch vorgestern einen kleinen gemalten Gruß.

Wie schön, daß auch Tagore im Verlag mitmacht!2 Wegen Stifter und Grimm erbitte ich dann später weitere Auskünfte.3

Auf die Rahmen freue ich mich sehr.4

Jetzt aber zu Ihnen, lieber Freund! Sie haben wieder Schweres erlebt und sich Wunden aufgerissen, und Sie schreiben mir, daß Sie verstehen könnten, wie ein Mensch unter Umständen zum Mörder wird.5 Nun, gerade damit war auch ich, der ich ja kein Weiser, sondern ein sehr leidender und rastloser Mensch bin, diesen ganzen Sommer beschäftigt, mit dem Mörder nämlich, der auch in mir lebt, und habe versucht, ihn in eine gefährliche und kühne Dichtung zu bringen,6 vielleicht um ihn für eine Weile aus dem eigenen Herzen los zu werden.

Sie stehen, lieber Freund, zwischen zwei Polen, bald zum einen bald zum andern neigend. Die Mördermöglichkeit ist der eine Pol, der andre ist die Güte und abgeklärte Schicksalbereitschaft, die mich bei Ihnen beim letzten hiesigen Zusammensein fast frappierte.7 Beides muß sein, und ich wünsche Ihnen zwar keine Leiden, aber auch nicht den Stillstand bei einem der beiden Pole. Der Mörder mahnt immer wieder laut und peinigend an die Tiefen in uns, die voll Schlamm und dunkler Urwelt sind. Der andre Trieb geht nach Reinigung, Verklärung, Güte, aber er geht auch nach Beschönigung des Peinlichen, nach Weglügen und Verschweigen des Unverdauten.

Ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücken kann, vermutlich klingt es ziemlich wirr. Aber als Sie hier waren, fiel mir an Ihnen in zwei Gesprächen eine stille resignierte Güte auf, die zu keinem Leiden mehr Nein sagen will, und die ich mit Rührung und Liebe wahrnahm. Zugleich aber war in Ihnen eine gewisse Ungeduld und Gereiztheit gegen Andres, das auch zur Welt gehört, gegen die Expressionisten und Neuerer zum Beispiel, und ich hatte das Gefühl, diese Abwehr, deren Heftigkeit nicht mit Ihrer übrigen Stimmung harmonierte, sei das, was die Psychologen eine »Verdrängung« heißen, das heißt, Sie wehren sich gegen Dunkles, Triebhaftes und Übermächtiges, was in Ihnen ist und was Sie nicht wahr haben und nicht laut werden lassen wollen. Nun ist es da, in Gestalt des Verständnisses für den Mörder, und ich bin im Grunde froh, daß es so ist.

Lieber Carl Seelig, auch ich schlage mich mit dem Mörder, mit dem Tier und Verbrecher in mir beständig herum, aber ebenso auch mit dem Moralisten, mit dem allzufrüh zur Harmonie Gelangenwollen, mit der leichten Resignation, mit der Flucht in lauter Güte, Edelmut und Reinheit. Beides muß sein, ohne das Tier und den Mörder in uns sind wir kastrierte Engel ohne rechtes Leben, und ohne den immer neuen flehentlichen Drang zum Verklären, zur Reinigung, zur Anbetung des Unsinnlichen und Selbstlosen sind wir auch nichts Rechtes.

Mir ist es so gegangen, daß ich, unter dem Einfluß von Vorbildern wie Goethe, Keller etc, als Dichter eine schöne und harmonische, aber im Grund verlogene Welt aufbaute, indem ich alles Dunkle und Wilde in mir verschwieg und im Stillen erlitt, das »Gute« aber, den Sinn fürs Heilige, die Ehrfurcht, das Reine betonte und allein darstellte. Das führte zu Typen wie Camenzind und der »Gertrud«,8 die sich zugunsten einer edlen Anständigkeit und Moral um tausend Wahrheiten drücken, und brachte mich schließlich, als Mensch wie als Dichter, in eine müde Resignation, die zwar auf zarten Saiten Musik machte, keine schlechte Musik, die aber dem Leben abgestorben war. Und nun, fast schon ein alter Mann, nachdem mir alles, was das Leben mir an äußern Gütern und Erfolgen gab, wieder zusammengebrochen ist, nach der Trennung von Liebe, Ehe, Familie, dem Verlust des äußern Wohlbehagens, der Vereinsamung durch Gesinnung während dem Krieg – nach alle dem bin ich, krank und halb irrsinnig vor Leid, zu mir selbst zurück gekommen, und muß nun in mir selbst aufräumen und muß vor allem das alles, was ich früher weggelogen oder doch verschwiegen hatte, anschauen und anerkennen, alles Chaotische, Wilde, Triebhafte, »Böse« in mir. Ich habe darüber meinen früheren schönen harmonischen Stil verloren, ich mußte neue Töne suchen, ich mußte mich mit allem Unerlösten und Uralten in mir selber blutig herumschlagen – nicht um es auszurotten, sondern um es zu verstehen, um es zur Sprache zu bringen, denn ich glaube längst nicht mehr an Gutes und Böses, sondern glaube, daß alles gut ist, auch das, was wir Verbrechen, Schmutz und Grauen heißen. Dostojewski hat das auch gewußt.

Genug, ich will Sie nicht langweilen. Ich will Ihnen bloß sagen: der Mörder in Ihnen hat seinen Bruder bei mir, und Sie werden mit dem Mörder desto besser fertig, je mehr Sie ihm zuhören, ihn zu Wort kommen lassen, ihn zu verstehen suchen.

Je weniger wir uns vor unsrer eigenen Phantasie scheuen, die im Wachen und Traum uns zu Verbrechern und Tieren macht, desto kleiner ist die Gefahr, daß wir in der Tat und Wirklichkeit an diesem Bösen zugrund gehen.

Von Herzen grüßt Sie Ihr

        Hesse

Brief, maschinengeschrieben. Briefkopf auf Rückseite: »Deutsche / Kriegsgefangenen-Fürsorge / Abt. Bücherzentrale / BERN / Thunstraße 23«. ZB, Nachlass Carl Seelig.

1Datierung nach Hermann Hesse: Die Briefe. Band 3. 1916-1923. Hg. v. Volker Michels. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 262.

2Die Werke des indischen Literaturnobelpreisträgers von 1913, Rabindranath Tagore, erschienen in deutscher Übersetzung im Kurt Wolff Verlag. Im Tal-Verlag sind keine Publikationen Tagores nachgewiesen.

3Bezieht sich auf nicht realisierte Buchideen Seeligs.

4Seelig sandte regelmäßig Malutensilien – Papier, Farbe und Bilderrahmen – nach Montagnola im Tessin, wohin Hesse im April 1919 zog.

5Der Brief von Seelig ist nicht überliefert.

6Hesse spielt auf seine Novelle Klein und Wagner an, die 1920 im Erzählungsband Klingsors letzter Sommer im S. Fischer Verlag in Berlin erschien.

7Seelig war im September 1919 bei Hesse in Montagnola zu Gast.

8Peter Camenzind (Berlin: S. Fischer 1904) und Gertrud (München: Albert Langen 1910) sind frühe Romane von Hesse.

10 Carl Seelig an Hermann Hesse, Zürich, 5. September 1933

5. September 1933

Lieber Herr Hesse,

Etwas betrübt war ich, dass Sie meiner Einladung zu einer Vorlesung ein Nein entgegenrufen mussten.1 Ihre Gründe verstehe ich aber durchaus und zudem haben Sie meine Betrübnis durch ein so tröstliches Gedicht gemildert, dass ich Ihnen auch meinerseits eine kleine Freude machen möchte. Bitte nehmen Sie diese zwei Aquarell-Büchlein auf Ihre herbstlichen Malerfahrten mit und zaubern Sie etwas vom Glück der Farben, der Welt und des beschwingten Herzens hinein!

Ich selbst stehe gegenwärtig in einem etwas wilden und sinnlosen Trubel von journalistischer Arbeit; da ich zu wenig Talent und Phantasie zum Bücherschreiben habe, mache ich notgedrungen diese, für die N. ‌Z. ‌Z., die National-Zeitung etc. Meine eigentliche Berufung wäre jedoch auf einer Redaktion oder bei einem Verlag; aber was wollen Sie: es holt mich niemand hinein. Übrigens träume ich davon, wieder einmal eine lange, lange Reise zu unternehmen: an den oberen Nil oder nach Mexiko; sicher werde ich sie auch eines Tages machen. Vor zwei Jahren bin ich durch den ganzen Balkan gewandert, von Jugoslawien über Albanien nach Griechenland und der Türkei; auch nach der Südsee, wo ich früher war, habe ich oft Sehnsucht und nach Südafrika;2 schön ist es, an alle diese Länder und braunen Menschen zu denken; ich war oft glücklich dort, viel glücklicher als in diesem komplizierten Europa, das mein Leben auffrisst, ich weiss nicht wie und wozu?

Dank, lieber Herr Hesse, dass ich einmal bei Ihnen vorbeikommen darf. Wenn Sie in Zürich rasten, berichten Sie mir vielleicht auch; ich würde mich freuen, wieder einmal eine kl. Stunde mit Ihnen zu verleben.

Alles Gute wünscht Ihnen

Ihr:

    ‌Carl Seelig.

Brief, maschinengeschrieben. Briefkopf: »Carl Seelig / Zürich 8 / Mühlebachstrasse 17 – Tel. 27.620«. SLA, Nachlass Hermann Hesse.

1Vermutlich lud Seelig Hesse zu einer Lesung ins Studio Fluntern in Zürich ein, wo er 1933 und 1934 mit zahlreichen (Exil-)Autorinnen und Autoren in Zusammenarbeit mit der Verlagsbuchhandlung Oprecht Lesungen organisierte.

2Im Frühjahr 1929 brach Seelig zu einer fast einjährigen Weltreise auf, die ihn nach Afrika, Australien, Neuguinea und Ceylon führte. Er berichtete darüber in einer Reihe von Artikeln.

11 Hermann Hesse an Carl Seelig, [Montagnola], März 1938

Lieber Herr Seelig  In Burg im Aargau lebt ein Herr Max Burger, Cigarrenfabrikant,1 der hie und da in einem Anfall von Großmut und guter Laune irgend etwas Gutes tut. So hat er neulich den Radiovortrag über mich zum 60. Geburtstag, den sein Nachbar, der Lehrer von Burg, damals gehalten hat, auf seine Kosten hübsch drucken lassen, stellt mir beliebig Exemplare davon zur Verfügung etc.2

Mit jenem Lehrer in Burg, Herrn Basler, habe ich je und je einen Brief zu wechseln, und schrieb ihm neulich von der Lage Rob. Walsers und fragte, ob er nicht Herrn Max Burger davon sprechen wolle.3 Er hat es getan, und Burger hat ihm gesagt, man möge ihm die Sammelliste für R. Walser nur senden, er wolle schon einen Beitrag zeichnen.4

Also falls Sie nicht allzu krank sind,5 teilen Sie bitte gleich Herrn Max Burger in Burg (Aargau) das Nötige mit, berufen Sie sich auf mich und auf Herrn Basler, und bitten Sie ihn um einen Beitrag für Walser. Ich glaube schon, daß er 500 bis 1000 Fr. zeichnen wird, wenn man ihm einen netten Brief schreibt.

Sollten Sie es nicht wollen oder können, so übernähme es vielleicht der Schriftstellerverein, sich mit der Bitte um einen Beitrag zur Walsergabe an Herrn Burger zu wenden.

Dies in Eile, ich bin immer scheußlich überbürdet, jeden Tag ist der Schreibtisch voll Briefe, die Hälfte davon Emigrantensorgen etc, und sehr selten bleibt von meinem Tag ein kleiner Rest von Arbeits- und Augenkraft für mich selber und meine Arbeit übrig.

Viele gute Wünsche von Ihrem

         H Hesse

Brief, maschinengeschrieben. ZB, Nachlass Carl Seelig.

1Die Zigarrenfabrik Burger Söhne wurde in den 1930er Jahren zur größten Zigarrenproduzentin der Schweiz. Seelig veröffentlichte kurz nach diesem Hinweis Hesses unter seinem Pseudonym Thomas Glahn eine Reportage über die Firma: In der Heimat des Stumpens. In: Neue Zürcher Zeitung, 17. April 1938.

2Otto Basler: Hermann Hesse 60 Jahre. Gesprochen an der Hesse-Feier am 2. Juli 1937 im Studio Zürich. Menziken: Buchdruckerei A. Baumann 1937.

3Hesse schrieb dem Lehrer und Publizisten Otto Basler am 11. März 1938: »Gestern schrieb mir die Schwester von Robert Walser. Man sollte ihm helfen, er ist davon bedroht, ins Armenhaus zu müssen. Sollten Sie jemand wissen, der einen Beitrag gäbe, so erzählen Sie ihm davon. Wir wollen jetzt beim Schriftsteller-Verein eine Ehrengabe für ihn beantragen.« (Hermann Hesse: Die Briefe. Band 5. 1933-1939. Hg. v. Volker Michels. Berlin: Suhrkamp 2018, S. 526)

4Bald nachdem Seelig 1936 begonnen hatte, den in der psychiatrischen Klinik in Herisau internierten Robert Walser zu besuchen, initiierte er Geldsammlungen mit dem Ziel, Walser ein Leben außerhalb der Anstalt zu ermöglichen.

5Seelig erlitt, wie aus Briefen von Max Picard hervorgeht, im März und April 1938 einen langwierigen Rückfall einer früheren Malariaerkrankung (RWA, Nachlass Carl Seelig).

12 Carl Seelig an Hermann Hesse, Zürich, März 1938

Zürich 8, Mühlebachstrasse 17

Mein lieber Herr Hesse,

Langsam geht es mir etwas besser. Aber ich habe eigentlich Hemmungen, Ihnen zu schreiben, da ich nicht möchte, dass Sie mir antworten, wenn es Ihnen selbst nicht gut geht oder die vielen Schreibereien Sie ermüden.

Zuerst eine gute Nachricht: von einer Stiftung, die mich um grösste Diskretion gebeten hat, erhielt ich nach einigen Bemühungen für Robert Walser tausend Franken, sodass meine Sammlung auf rund 5000.– Frk. angewachsen ist. Hingegen hat Hr. Max Burger noch nicht geantwortet.1

Obwohl ich noch äusserst ermüdet bin, im Kopf und im ganzen Körper, habe ich fast täglich mit Künstlern zu tun, die aus Österreich geflohen sind. Ich muss mit ihnen auf die Fremdenpolizei, zu Anwälten, Geld beschaffen etc. – es ist ein rechtes Elend, das sich da auftut. Polgar ist mit seiner Frau hier,2 viele Schauspieler etc. Egon Friedell hat sich das Leben genommen;3 der kranke Arnold Höllriegel, Hans Reisiger und Hermann Broch (der in Alt-Aussee lebte) sind in Konzentrationslager gebracht worden.4 Besonders verzweifelt bin ich über Broch, der ein körperlich sehr zarter und angegriffener Mann von besonderer Anständigkeit ist. Ich habe viel mit ihm korrespondiert u. ihn zwei- oder dreimal gesehen, auch Arbeiten von ihm in der N. ‌Z. ‌Z. untergebracht.5 Eine andere Arbeit hat eben die Fischer'sche Rundschau angenommen.6 Ich halte sein Leben für absolut gefährdet, wenn er den brutalen Situationen des Konz. Lagers ausgesetzt wird. Aber was kann man nur für ihn tun? Ich kenne keinen Deutschen, der grossen Einfluss hat. Vielleicht Wilhelm Schäfer, den ich einige Male gesehen habe.7 Aber wer wagt es, zu seinen Gunsten einzugreifen? Falls Sie mir einen Hinweis geben können, wäre es schön; ich fürchte aber, dass Sie selbst, wie ich, bei den massgebenden Nationalsoz. nicht gut angeschrieben sind, wenigstens lassen mich das die Anpöbeleien der Neuen Literatur vermuten.8

Eine kurze Weile war ich auch mit Hans Walter9 zusammen. Aber ich bin so müde, dass ich manchmal fast umfalle.

Adjö, lieber Freund! Wie funktioniert die Brille? Brauchen Sie vielleicht eine Arznei? Von ganzem Herzen

         Ihr:

Carl Seelig

Brief, maschinengeschrieben. SLA, Nachlass Hermann Hesse.

1Ein Schreiben Burgers an Seelig ist nicht belegt.

2Alfred Polgar und seine Frau hielten sich bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich im März 1938 in Zürich auf. Da sie in der Schweiz keine Arbeitserlaubnis erhielten, flohen sie weiter nach Paris. Siehe den Briefwechsel mit Polgar in diesem Band.

3Der Schriftsteller und Journalist Egon Friedell beging am 16. März 1938 in Wien Suizid, um einer Kontrolle durch die SA zu entgehen.

4Hermann Broch wurde im März 1938 im Bezirksgefängnis Bad Aussee inhaftiert, bevor er über Großbritannien in die USA emigrieren konnte. Der Journalist und Schriftsteller Arnold Höllriegel (Pseudonym von Richard Arnold Bermann) emigrierte in die USA. Der Autor und Übersetzer Hans Reisiger überstand den Nationalsozialismus in Berlin.

5Bezieht sich vermutlich auf Hermann Brochs Feuilleton Der Regisseur, das am 20. März 1934 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien; es ist der einzige nachgewiesene Text unter Brochs Namen in der NZZ in den 1930er Jahren. Zu Seeligs Kontakt mit Broch siehe das Kapitel in diesem Band.

6Gemeint sind vermutlich die von Broch zusammen mit Hans Vlasics verfassten Hausinschriften, die unter Vlasics' Namen in der Neuen Rundschau (Nr. 7, 1938) erschienen.

7Den konservativen Autor und Herausgeber der Zeitschrift Die Rheinlande Wilhelm Schäfer gewann Seelig 1919 für eine Publikation in den Zwölf Büchern. Am 3. Oktober 1933 las Schäfer in der Lesereihe im Studio Fluntern. Spätere Briefe sind nicht überliefert.

8In der Zeitschrift Die Neue Literatur beschuldigte der nationalsozialistische Autor Will Vesper im Februar 1937 Hesse, die deutsche Dichtung an ›die Juden‹ verraten zu haben.

9Hans Walter war ein Schweizer Schriftsteller, der auch mit Hesse in Briefkontakt stand.

13 Carl Seelig an Hermann Hesse, Mai 1940

Gefr. Carl Seelig, Territor. Bat. 159/III.

Kommandozug.

Feldpost

An der Grenze. Mai 1940

Lieber Herr Hesse, Herzlich denke ich auf Feldwache und Gebirgsmärschen an Sie. Ich werde jetzt wohl wieder einige Monate Dienst tun,1 worüber ich fast froh bin, denn das Schreiben ist mir allmählich zur Qual geworden – wenigstens, soweit ich es für die Zeitungen betreibe. Ich kann mir denken, wie schwer auch Sie der Krieg an Ihrem Lebensnerv trifft. Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie freundschaftlich verbunden ich mich Ihnen fühle und wie gern ich Sie nochmals sehen möchte, bevor es zu spät ist

Ihr Carl Seelig

Brief, handschriftlich. ZB, Nachlass Carl Seelig.

1Seelig leistete auch während des Zweiten Weltkriegs Militärdienst.