Bright Falls 1. Delilah Green Doesn't Care - Ashley Herring Blake - E-Book

Bright Falls 1. Delilah Green Doesn't Care E-Book

Ashley Herring Blake

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Beschreibung

Dieser TikTok-Hit erobert sämtliche Herzen im Sturm: smart, spicy, queer und einfach unwiderstehlich Delilah Green hat sich geschworen, nie wieder nach Bright Falls zurückzukehren. Mittlerweile lebt sie in New York, ihre Karriere als Fotografin nimmt langsam Fahrt auf, und ihr Bett ist niemals leer. Als ihre Stiefschwester Astrid sie mit einem dicken Scheck lockt, ihre Hochzeit zu fotografieren, wirft Delilah ihre Vorsätze über Bord und macht sich auf in das verfluchte Städtchen, das sie einst ihr Zuhause nannte. Bei den Hochzeitsvorbereitungen trifft sie auf Claire Sutherland, eine von Astrids hochnäsigen Freundinnen. Dabei stellt Delilah fest, dass doch nicht alles so unattraktiv ist in Bright Falls, wie zunächst gedacht… Das alles ist so herzerwärmend und witzig, dass wir sicher sind: Bright Falls lässt nicht nur Delilah, sondern auch dich nicht mehr los.   Von zweiten Chancen und diversen Formen der Liebe. - Dein Must-Read mit über 5 Millionen Views auf TikTok in den USA. - Die LGBTQI+ Rom-Com der amerikanischen Bestsellerautorin Ashley Herring Blake. - So cool: Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen mit viel Humor und noch mehr Spice. - Freu dich auf New York und eine Kleinstadt, alte Freunde und ganz neue Gefühle.Welcome to Bright Falls! Der Reihen-Auftakt der queer-romantischen Komödie startete in den USA auf BookTok als absoluter Hit. Kein Wunder, so viel Romance und Diversity zugleich wirst auch du lieben.

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Über dieses Buch

EINE SPRUNGHAFTE FOTOGRAFIN AUS NEW YORK.

EINE ORDNUNGSLIEBENDE BUCHHÄNDLERIN, DIE ÜBERRASCHUNGEN HASST.

EINE HOCHZEIT IN DER KLEINSTADT, IN DIE DELILAH NIEMALS ZURÜCKKEHREN WOLLTE.

 

Delilah Green hat sich geschworen, nie wieder nach Bright Falls zurückzukehren. Mittlerweile lebt sie in New York, ihre Karriere als Fotografin nimmt langsam Fahrt auf, und ihr Bett ist niemals leer. Zwar verbringt sie jede Nacht mit einer anderen Frau, aber Verbindlichkeiten sind ohnehin nicht so ihr Ding. Als ihre Stiefschwester Astrid sie mit einem dicken Scheck lockt, ihre Hochzeit zu fotografieren, wirft Delilah ihre Vorsätze über Bord und macht sich auf in das verfluchte Städtchen, das sie einst ihr Zuhause nannte. Bei den Hochzeitsvorbereitungen trifft sie auf Claire Sutherland, eine von Astrids hochnäsigen Freundinnen. Dabei stellt Delilah fest, dass doch nicht alles so unattraktiv ist in Bright Falls, wie zunächst gedacht.

 

SMART, SPICY, QUEER UND EINFACH UNWIDERSTEHLICH

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Rebecca Podos, die mit mir in jedes große Abenteuer zieht

1

Delilah

Ein Summen auf dem Nachttisch riss Delilah aus dem Schlaf. Ruckartig öffnete sie die Augen und blinzelte, bis der unbekannte Raum nicht mehr ganz so verschwommen wirkte – einmal, zweimal. Es musste mindestens zwei Uhr morgens sein, vielleicht sogar noch später. Hektisch tastete sie nach ihrem Handy. Ein seidenweiches weißes Bettlaken wickelte sich um ihre nackten Beine, während sie sich verzweifelt in Richtung des Brummtons drehte, der laut genug war, um –

Verdammt.

Nicht schon wieder. Der Name der Frau, die neben ihr lag, schlängelte und wand sich durch ihr Gedächtnis, kaum greifbar zwischen den vagen Erinnerungen an letzte Nacht und die Kunstausstellung in der winzigen Galerie Fitz im Village. Ein paar ihrer Fotos hatten an den Wänden gehangen, und einige Gäst*innen hatten anerkennend genickt und sie gelobt. Aber niemand hatte genügend Interesse gezeigt, um etwas zu kaufen. Dafür war der Champagner in rauen Mengen geflossen, gefolgt von reichlich Bourbon in der schrillen Bar in der MacDougal Street.

Delilah warf einen Blick über die Schulter auf die schlafende Frau neben ihr. Dunkelblonder Pixie-Haarschnitt, cremeweiße Haut. Ein hübscher Mund, volle Schenkel, fantastische Hände.

Lorna?

Lauren.

Nein. Lola. Ihr Name war definitiv Lola.

Vielleicht auch nicht.

Delilah biss sich auf die Unterlippe, schnappte sich das noch immer vibrierende Handy und starrte blinzelnd auf den Namen, der ihr im Dunkeln auf dem Display entgegenleuchtete.

Ass-trid

Delilah grinste flüchtig, während sie sich daran erinnerte, wie sie den Namen ihrer Stiefschwester ganz bewusst falsch in ihre Kontaktliste eingetragen hatte, und tippte dann auf Ignorieren. Reiner Instinkt. Ihrer Erfahrung nach brachte ein Anruf um zwei Uhr morgens selten gute Neuigkeiten – vor allem, wenn Astrid Parker am anderen Ende der Leitung war. Außerdem: Wer zum Teufel rief heutzutage noch jemanden an? Warum konnte Astrid nicht eine Nachricht schicken wie jeder andere normale Mensch auch?

Okay, okay, möglicherweise schlummerten da ein paar unbeantwortete Textnachrichten in Delilahs Posteingang, aber eines musste man zu ihrer Verteidigung sagen: Mit der nächsten Monatsmiete vor der Tür und den ganzen Vorbereitungen für die Kunstausstellung in der Galerie, in der ihre Arbeiten nur deshalb hingen, weil sie die Besitzerin Rhea Fitz kannte – eine ehemalige Kollegin, deren Großmutter ihr genügend Geld hinterlassen hatte, um mit dem Kellnern aufzuhören und ihre eigene Galerie zu eröffnen –, hatte sie sich wahrscheinlich etwas hängen lassen. In den letzten Wochen war sie zwischen ihrem Teilzeitjob als Kellnerin im River Café in Brooklyn und ihren Freiberuflerinnenaufträgen für Porträtfotos und Hochzeiten hin und her gehetzt, wobei am Ende gerade genug Geld für Miete und Essen übrig blieb. Im Grunde war sie nur eine Katastrophe von einem Umzug nach New Jersey entfernt – der denkbar schlechteste Ort für jemanden, der sich in der gnadenlosen Kunstszene von New York einen Namen machen wollte. Sie hatte zwar ein paar ihrer Arbeiten verkaufen können, aber ihre Fotos galten als niche. Und damit ließ sich nun mal kein Geld machen, wie ein Agent ihr verraten hatte, als er ihre Vertretung abgelehnt hatte.

Mit anderen Worten: Sie war so sehr damit beschäftigt, sich den Hintern in ihrer Nische abzuarbeiten, dass sie keine Zeit gehabt hatte, mit ihrer Stiefschwester zu reden. Außerdem war es ja nicht so, als ob Astrid sie tatsächlich mögen würde. Schließlich hatten sie sich seit fünf Jahren nicht mehr gesehen.

War das wirklich schon so lange her?

Wie auch immer. Es war verdammt spät. Delilah ließ das Handy auf ihre Brust sinken, während Jax zum ersten Mal seit einer ganzen Weile in ihren Gedanken auftauchte. Zum ersten Mal seit Monaten. Sie schloss die Augen, öffnete sie dann wieder und starrte hinauf an die Decke, die mit selbstklebenden Leuchtsternen übersät war. Plötzlich jagte eisige Panik durch ihre Adern, und sie setzte sich ruckartig auf. War das hier etwa ein Studierendenwohnheim? O Gott – bitte nicht. Sie war mittlerweile fast dreißig, und Studentinnen … Nein, den Teil ihres Lebens hatte sie definitiv hinter sich. Außerdem stand sie seit jeher mehr auf Frauen in ihrem eigenen Alter und war froh und glücklich darüber, dass das Fummeln und Wimpernklimpern der frühen Unijahre hinter ihr lagen.

Als ihre Augen den Raum um sie herum immer deutlicher wahrnahmen und sie die Glätte teurer Bettwäsche unter ihren Fingern spürte, entspannte sie sich etwas. Das Schlafzimmer war mit modernen Möbeln eingerichtet – überall gerade Linien und cremefarbenes Holz. An den Wänden hing anspruchsvolle Kunst, fachkundig arrangiert. Eine geöffnete Tür führte in einen Wohnbereich, in dem Lana – oder Lily? – sie auf ein sehr nobles weißes Sofa gedrängt, ihr die Unterwäsche abgestreift und sie über die eigene nackte Schulter geworfen hatte.

Von Studierendenbuden-Level konnte hier definitiv keine Rede sein. Nicht mal von Delilah-Green-Level – dabei war sie längst keine Studentin mehr. Außerdem: Was Lilith mit ihrem Mund angestellt hatte, war definitiv auf einem ganz anderen Level gewesen.

Delilah ließ sich wieder in die Kissen sinken, mit weichen Knien bei der Erinnerung an die letzten Stunden. Ihre Augenlider senkten sich wohlig, als ihr Handy erneut brummte. Sie schoss in die Höhe, sofort wieder hellwach, starrte auf denselben, für diese Uhrzeit ungewöhnlichen Namen und drückte zum zweiten Mal auf Ignorieren.

Layton regte sich neben ihr, drehte sich um und blinzelte sie mit verschmierter Wimperntusche unter den Augen an. »Oh. Hey. Alles okay?«

»Ja, alles prima …«

Delilahs Handy brummte erneut.

Ass-trid

»Solltest du da nicht rangehen?«, fragte Linda, während ihr verwuscheltes Haar hinreißend über eines ihrer strahlend blauen Augen fiel. Eine solche Sexgöttin konnte niemals Linda heißen.

»Ja, vermutlich.«

»Dann mach das. Und wenn du fertig bist, möchte ich dir unbedingt was zeigen.«

Lydia – klar, warum nicht? – grinste und zog für den Bruchteil einer Sekunde das Laken bis zu den Hüften hinunter, bevor sie sich wieder bis zum Kinn darin einwickelte.

Delilah warf lachend die Bettdecke von sich und glitt völlig nackt aus dem Bett. Fast hätte sie den Anruf so entgegengenommen, doch dann griff sie nach einem seidenen Morgenmantel – auch nicht gerade Studierendenbuden-Level –, der über einem grauen Polsterstuhl in der Ecke lag. Sie konnte und wollte nicht völlig hüllenlos mit ihrer Stiefschwester sprechen.

Während sie den Morgenmantel überstreifte, ging sie in das kleine Wohnzimmer mit der offenen Küche, setzte sich auf einen Barhocker und stellte ihre Ellbogen auf die kühle Marmortheke. Dann atmete sie tief ein … und wieder aus. Anschließend schüttelte sie die Arme aus und ließ langsam den Kopf kreisen. Sie musste sich auf Gespräche mit Astrid vorbereiten wie ein Boxer auf einen Kampf. Handschuhe überstreifen, Mundschutz zwischen die Zähne. Ihr Handy auf der Theke beruhigte sich, und Astrids Name verschwand – nur um sofort wieder aufzuglühen wie eine Grußkarte aus der Hölle. Am besten brachte sie das Ganze schnell hinter sich. Sie wischte mit dem Finger über das Display.

»Was ist?«

»Delilah?«

Astrids samtweiche Stimme drang durch das Handy – wie eine amerikanische Cate Blanchett, nur viel hochnäsiger und weniger Bi-Queen. Genau die Art von Stimme, die Delilah sich bei einer erwachsenen Astrid immer vorgestellt hatte.

»Ja«, sagte Delilah und räusperte sich. Ihre eigene Stimme lag eher zwischen cocktailkrächzend und schlafmangelrau.

»Wurde auch Zeit, dass du endlich rangehst.«

Delilah seufzte. »Es ist schon spät.«

»In Oregon ist es gerade mal elf Uhr abends. Außerdem habe ich mir gedacht, dass das die beste Zeit ist, dich überhaupt ans Handy zu bekommen. Verwandelst du dich nicht um Mitternacht in eine Fledermaus?«

Delilah schnaubte. »Genau. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich muss wieder in meine Höhle zurück.«

Astrid schwieg einen Moment – lange Sekunden, in denen Delilah sich fragte, ob sie überhaupt noch am anderen Ende der Leitung war. Doch sie würde das Schweigen auf keinen Fall als Erste brechen. Sie hatten ohnehin nur wenige Male miteinander telefoniert, seit Delilah am Tag nach ihrem Highschoolabschluss Bright Falls verlassen hatte. Sie war mit ihrer Bright-Falls-High-Tasche auf der Schulter in den ersten Bus nach Seattle gestiegen, während Astrid sich mit ihren widerlichen besten Freundinnen für eine Abschlussfahrt nach Frankreich aufgemacht hatte. Isabel – Astrids Mutter und Delilahs böse Stiefmutter – hatte sie beide mit genügend Geld ausgestattet, dass sie ihr zwei Wochen lang nicht auf die Nerven gingen. Der Unterschied bestand nur darin, dass Astrid wieder zurückkehrte, bereit für ihr Studium in Berkeley – eben ganz die pflichtbewusste Tochter –, während Delilah nach New York flog und sich eine winzige Bruchbude in der Lower East Side mietete. Sie war dem Gesetz nach erwachsen, und nichts und niemand hätte sie dazu bringen können, auch nur eine Sekunde länger als unbedingt nötig im Haus ihrer Stiefmutter zu bleiben.

Dabei war es nicht so, als ob Isabel ihren Abschied übermäßig bedauert hätte.

Und das Gleiche galt für Astrid, soweit Delilah das beurteilen konnte. Auch wenn hin und wieder genau das hier passierte: Textnachrichten, die Delilah ignorierte und die dann zu peinlichen Telefonaten führten, in denen Astrid so tat, als hätte sie Delilahs ohnehin einsame Kindheit nicht zur Hölle auf Erden gemacht. In den vergangenen zwölf Jahren war Delilah fünf- oder sechsmal nach Bright Falls zurückgekehrt, für ein paar Weihnachts- und Thanksgiving-Feiern und zur Beerdigung ihrer Lieblingskunstlehrerin. Das letzte Mal war sie vor fünf Jahren dort gewesen, als sie mit einem frisch gebrochenen Herzen New York entflohen war und irrtümlich angenommen hatte, die vertraute Umgebung von Bright Falls wäre Balsam für ihre Seele. Das Ganze hatte sich als Fehler herausgestellt, sie aber immerhin auf die Idee für eine Fotoserie gebracht, die ihr Lebensziel veränderte – von um Anerkennung kämpfende, freischaffende Fotografin, die kaum ihre Miete bezahlen kann zu erfolgreiche, queere Künstlerin mit einem fantastischen Apartment in Williamsburg.

Dieses Ziel hatte sie zwar noch nicht erreicht, aber sie gab ihr Bestes.

»Und … kommst du?«

Astrids Stimme durchschnitt ihre Gedanken, und sie blinzelte, bis Lucindas Küche wieder klar zu sehen war. »Ob ich komme …?« Der Rest eines schmutzigen Witzes lag ihr förmlich auf der Zunge, doch sie konnte sich gerade noch beherrschen.

»O mein Gott«, sagte Astrid. »Meinst du das ernst? Sag mir, dass du das nicht ernst meinst.«

»Ich …«

»Delilah, ich will eine Antwort!«

»Ich versuch’s ja, aber dafür musst du mal einen Moment die Klappe halten!«

Astrid stieß so laut den Atem aus, dass es in Delilahs Ohr fauchte. »Okay, okay. Tut mir leid, ich bin einfach gestresst. Hab zurzeit viel um die Ohren.«

»Okay«, sagte Delilah und zerbrach sich den Kopf, was zum Teufel Astrid denn um die Ohren hatte. »Äh, na dann …«

»O nein, nein, nein. Du wirst jetzt nicht einfach auflegen, Delilah Green. Sag mir, dass du das jetzt nicht tun wirst.«

»Himmel, Ass, jetzt reg dich wieder ab!«

»Bitte nenn mich nicht so, und leg bloß nicht auf.«

Delilah schwieg einen Moment. Vielleicht hatten der Anblick ihrer eigenen Kunstwerke an den Wänden einer echten, wenn auch winzigen Galerie und der nachfolgende fantastische Sex ihr Gehirn etwas umnebelt, aber irgendwann würde ihr schon wieder einfallen, wovon zum Teufel Astrid da gerade redete. Sie nahm das Handy vom Ohr, drückte auf die Freisprechtaste und checkte das Datum auf ihrer Kalender-App: Samstag, 2. Juni. Frühmorgens. Freitag, der 1. hatte sich natürlich über Monate in ihr Gedächtnis eingebrannt, während der Vorbereitungen für die Fitz-Ausstellung. Aber da war noch etwas anderes gewesen, irgendetwas Juni-artiges und Astrid-förmiges und …

Fuck.

»Deine Hochzeit«, sagte Delilah.

»Ganz genau – meine Hochzeit«, bestätigte Astrid. »Die Hochzeit, die ich schon seit Monaten plane und bei der Mutter darauf bestanden hat, dich als Fotografin zu engagieren.«

»Jetzt flipp nicht gleich aus vor Begeisterung.«

»Ich habe ein anderes Wort dafür.«

»Damit tust du dir gerade keinen Gefallen, Ass.«

Astrid schnaubte eingeschnappt.

»Ich bin noch immer tief enttäuscht, dass du mich nicht zu einer deiner Brautjungfern gemacht hast«, meinte Delilah trocken. Aber die Tatsache, dass ihre Stiefschwester kurz davorstand, mit irgendeinem armen Kerl in den Stand der Ehe zu treten, ließ ihr Herz schneller schlagen, weil eine Mischung aus Entsetzen und Erleichterung durch ihren Körper strömte.

Einerseits war eine vornehme Parker-Hochzeit in Bright Falls so ziemlich das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Oder jemals. Schließlich hatte sie dank der Ausstellung im Fitz einige Agent*innen auf sich aufmerksam gemacht und sogar ein Foto verkauft. Zugegeben, die neue Besitzerin schlief gerade im Nebenzimmer. Aber Loretta hatte ihr den vollen Betrag rübergeschoben, bevor sie Delilah auch nur wahrgenommen hatte. Zumindest war Delilah sich ziemlich sicher, dass das Ganze so abgelaufen sein musste, denn sie war innerlich die ganze Zeit vollkommen aus dem Häuschen gewesen, dass ihr tatsächlich jemand Geld für etwas von ihr Erschaffenes gezahlt hatte.

Wie auch immer. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für irgendwelchen Astrid-Schrägstrich-Isabel-Mist. Denn sie hatte das Gefühl, gerade kurz davorzustehen, etwas Wichtiges zu erreichen, jemand zu werden. Und Bright Falls war ein seelentötender Strudel der Verzweiflung, in dem sie nie mehr sein würde als ein Niemand.

Andererseits – und hier meldete sich die Seite zu Wort, die Delilah mit Nahrung und Kleidung zu versorgen versuchte – hatte Isabel Parker-Green ihr eine Wahnsinnssumme dafür geboten, dass sie Astrids Hochzeit und die Veranstaltungen in den zwei Wochen vor der Hochzeit fotografierte. Und weil die Einzelheiten seit Astrids erstem Anruf und der Ankündigung dieses Großereignisses langsam wieder in Delilahs Gedächtnis auftauchten, erinnerte sie sich auch daran, dass es hier definitiv um eine fünfstellige Summe ging. Zwar im unteren fünfstelligen Bereich, aber immerhin. Kleingeld für Isabel Parker-Green und die meisten Familien der gehobenen Brooklyner Gesellschaft – aber für Delilah, die mit einem Dollar tagelang auskommen konnte, eine Infusion für ihr dürres Bankkonto.

Abgesehen vom Geld – von dem Astrid genau wusste, dass Delilah es nicht abschlagen konnte – hatte ihre Stiefschwester auch noch eine wenig subtile Bemerkung von sich gegeben: »Mom sagt, dein Vater hätte gewollt, dass du bei meiner Hochzeit dabei bist.« Delilah nahm ihr das noch immer übel, vor allem, weil sie wusste, dass Isabel recht hatte. Andrew Green war zu Lebzeiten ein so hingebungsvoller Familienmensch gewesen, dass es ans Lächerliche gegrenzt hatte. Er hatte auf gemeinsamen Abendessen, alljährlichen Frühlingsferien und Weihnachtstraditionen bestanden, ihre Hausaufgaben kontrolliert und sogar Haare flechten gelernt, nur damit Delilah während des Ausflugs zum Mittelaltermarkt nicht das einzige Mädchen war, das keinen Zopfkranz hatte.

Über eine Hochzeit ließ sich also nicht verhandeln. Man zeigte seine Familientreue – selbst wenn man dafür bezahlt wurde und die ganze Zeit über die Zähne zusammenbeißen musste.

»Die Vorhochzeitsevents beginnen am Sonntag«, verkündete Astrid jetzt. »Und du hast zugesagt, bei allen dabei zu sein, schon vergessen? Die Details, die ich dir per E-Mail geschickt habe, besagen, dass du vom dritten bis zum einschließlich sechzehnten Juni gebucht bist. Ich habe deinen Vertrag unterschrieben, bin auf all deine Forderungen eingegangen und …«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Delilah und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Mist. Sie wollte nicht zwei volle Wochen nach Bright Falls zurückkehren. Noch dazu ausgerechnet im Pride-Monat. Sie liebte die Pride-Paraden in New York. Und wer zum Teufel hatte eigentlich mit diesem ganzen Vorhochzeitsschwachsinn angefangen – so früh vor dem eigentlichen Hochzeitstag? Tja, irgendwas sagte ihr, dass sie genau wusste, wer dahintersteckte.

»Astrid …«

»Komm mir nicht mit irgendeiner beschissenen Ausrede.«

»Also wirklich, Ass! Was würde Isabel zu so einer Wortwahl sagen?«

»Sie würde dieses und noch einen Haufen anderer, wesentlich schlimmerer Wörter benutzen, falls du versuchen solltest, so kurz vor der Hochzeit ihrer einzigen Tochter abzusagen.«

Delilah sog unwillkürlich die Luft ein.

Ihrer einzigen Tochter.

Sie wollte gegen den plötzlichen Stich ankämpfen, die Worte einfach an sich abgleiten lassen, aber es gelang ihr nicht. Es war ein Reflex, dieses Gefühl, ein Überbleibsel aus einer Kindheit mit zwei toten Eltern und einer Stiefmutter, die sie im Grunde nie hatte haben wollen.

»Scheiße«, sagte Astrid und klang dabei reumütig und verärgert zugleich – als ob es Delilahs Schuld wäre, dass sie vergessen hatte, dass Isabel die Vormundschaft über die damals zehn Jahre alte Delilah übernommen hatte, nachdem ihr Vater, Isabels zweiter Ehemann, an einem Aneurysma verstorben war.

»Noch so eine anstößige Wortwahl«, sagte Delilah und lachte, trotz des Kloßes im Hals. »Langsam fange ich an, die neue gestresste Astrid zu mögen.«

Ihre Stiefschwester schwieg ein paar Sekunden. Doch diese Stille am anderen Ende der Leitung dauerte lange genug, um Delilah klarzumachen, dass sie mit dem ersten Morgenflug New York verlassen würde.

»Sei einfach pünktlich, okay?«, meinte Astrid schließlich. »Es ist zu spät, um jetzt noch eine halbwegs anständige Fotografin zu finden und dich zu ersetzen.«

Delilah rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Okay.«

»Was war das?«

»Okay!«, brüllte Delilah förmlich. »Ich werde da sein.«

»Gut. Ich habe dir bereits ein Zimmer im Kaleidoscope besorgt …«

»Wie bitte? Ich wohne also nicht bei unserer herzallerliebsten Mutter?«

»… und ich werde dir eine E-Mail mit dem Veranstaltungsplan schicken. Noch mal.«

Delilah schnaubte nur und hängte auf, bevor Astrid das Gespräch beenden konnte. Dann ließ sie das Handy auf die Küchentheke fallen, als stünde es in Flammen, schraubte den Verschluss einer halb vollen Flasche Gin ab, die neben der Spüle stand, und nahm einen kräftigen Schluck – ein Glas war jetzt unnötig. Der Alkohol brannte sich einen Weg durch ihre Kehle, versengte ihre Nasenschleimhäute und ließ ihr das Wasser in die Augen treten.

Zwei Wochen. Es waren doch nur zwei Wochen.

Zwei Wochen – aber dafür genug Geld, um drei Monate lang die Miete zu bezahlen.

Sie schnappte sich das Handy – verdammter Verräter! – und ging wieder ins Schlafzimmer. Laniers Morgenmantel glitt zu Boden, und sie fand ihren eigenen trägerlosen schwarzen Jumpsuit, der die vielen Tattoos auf ihren Armen zur Geltung brachte, auf einem Kleiderhaufen neben dem Frisiertisch. Nachdem sie hineingeschlüpft war, suchte sie etwa zehn Sekunden nach ihrem Slip – ihr violetter Lieblings-Cheeky mit Spitze –, konnte ihn aber nirgends entdecken.

»Scheiß drauf«, murmelte sie, warf sich ihre Tasche über die Schulter und fasste ihre wilde Mähne aus dunklen Locken zu einem unordentlichen Knoten zusammen. Sie fand ihre roten Pumps mit den Zehn-Zentimeter-Absätzen neben einer riesigen gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografie, die an der Wand lehnte. Das Foto zeigte eine weiße Frau in einem dünnen weißen Kleid, die die betrachtende Person anschaute, während Mascara über ihr feuchtes Gesicht lief. Die Frau saß in einer Badewanne; ihr Kleid war völlig durchnässt und durchsichtig, die Nippel kaum sichtbar über der milchig-weißen Wasseroberfläche, während ihre Finger den rostigen Rand der weißen Wanne umklammerten. Das Foto stammte von Delilah – eine ihrer vier Arbeiten für die Fitz-Galerie. Langsam verdichtete sich die Erinnerung daran, wie Leila-Lucy-Luna ihr echte Geldscheine in die Hand gedrückt hatte, nur um anschließend ihre Zunge in Delilahs Mund zu stecken. Aber der verdammte Name wollte ihr noch immer nicht einfallen.

»Hey«, sagte die Frau, hob den Kopf mit den verwuschelten Haaren aus dem Kissenberg und blinzelte Delilah im Licht der Stadt an. »Was denn? Musst du schon weg?«

»Ja, leider«, erwiderte Delilah, stieg in ihre Pumps und überprüfte kurz, ob ihre Schlüssel, das Portemonnaie und ihre U-Bahn-Karte auch in ihrer Tasche waren. »Danke, das war schön.«

Leah grinste. »Definitiv. Bist du sicher, dass du nicht doch wieder ins Bett kommen willst?« Fragend zog sie eine Augenbraue hoch, während ihr Bettlaken gerade weit genug herunterrutschte, dass es den Blick auf eine schöne Hautwölbung freigab.

»Ich wünschte, ich könnte«, sagte Delilah und ging langsam in Richtung Tür. Das Angebot war verlockend, doch ihre Gedanken hatten diese Wohnung bereits verlassen und waren in ihrem eigenen Apartment angekommen, wo sie sich mit der Frage beschäftigen musste, welche Art von Kleidungsstücken sie für die Hochzeit einpacken sollte und für all die verdammten Brunchs und Geschenkpartys und – Himmel hilf! – für den Junggesellinnenabschied, den Astrid geplant hatte.

Astrid und ihre Gang von gemeinen Girls.

Londons Mundwinkel sanken herab. »Oh. Okay, dann … schickst du mir eine Nachricht?«

Delilah kehrte der Frau den Rücken zu und betrat den Flur. Während sie die Haustür öffnete, hob sie eine Hand zum Gruß. »Ganz sicher. Versprochen.« Aber sie wusste, dass sie das Versprechen nicht halten würde. Das tat sie nie.

In der U-Bahn auf dem Heimweg nach Bedford-Stuyvesant wurde ihr erst richtig bewusst, worauf sie sich da eingelassen hatte. Eine Rückkehr nach Bright Falls war an sich schon schlimm genug, aber zwei Wochen lang nach Astrids und Isabels Pfeife tanzen? Das war eine ganz andere Nummer.

Allerdings hatte Delilah nicht vor, es den beiden leicht zu machen.

2

Claire

Claire leerte ihr Weinglas nun schon zum zweiten Mal an diesem Abend und stellte es dann ein wenig zu hart auf dem rauen Holztisch ab.

»Entspann dich«, sagte Iris, die ihr gegenübersaß und die Orange in ihrem Wodka Soda herumschob.

»Was glaubst du, was ich hier gerade versuche?«, erwiderte Claire und goss sich noch etwas Shiraz ein. Sie wusste, dass sie das bereuen würde – von Rotwein bekam sie immer Kopfschmerzen. Aber Ruby übernachtete zum ersten Mal seit zwei Jahren in Joshs Apartment. Und sie hatte Iris erzählt, dass sie ausgehen wollte, um den Kopf freizubekommen und Josh mitsamt seinem unaufhörlichen Ich-bin-ein-toller-Typ!-Lächeln und den funkelnden haselnussbraunen Augen möglichst weit hinter sich zu lassen. Deshalb hockte sie jetzt hier, leicht angeschickert in Stella’s Tavern, der einzigen Bar in ganz Bright Falls, und versuchte, nicht zu hyperventilieren, während die neonbunte Jukebox in der Ecke einen grauenhaften Countrysong nach dem anderen spielte.

»Ich glaube nicht, dass der Alkohol dabei wirklich hilft«, wandte Iris ein und schaute sich in der Bar um, deren Kundschaft größtenteils aus Männern bestand, die Billard spielten – abgesehen von einer Gruppe von Collegestudierenden, die über die Sommerferien nach Hause zurückgekehrt waren.

»Nein, vermutlich nicht.«

»Wollen wir woanders hingehen?« Iris drückte ihre Hand. »Wir könnten einfach zu dir nach Hause fahren und uns einen Film ansehen.«

Claire schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich völlig überdreht – so wie damals im letzten Highschooljahr, als Josh und sie Pot ausprobiert hatten und ihr Herz danach gute zwei Stunden lang mit tausend Schlägen pro Minute geklopft hatte. Sie musste diese Energie irgendwie loswerden, und ein Abend auf dem Sofa mit noch mehr Alkohol und Pizzaresten würde das nicht schaffen.

»Ich brauche einfach eine Ablenkung«, sagte sie.

Iris’ Augenbrauen gingen in die Höhe. »An welche Art von Ablenkung hast du gedacht?« Ihre Stimme hatte einen anzüglichen Unterton, und Claire wusste genau, worauf ihre Freundin hinauswollte. Iris las dauernd irgendwelche Liebesromane und war berüchtigt für ihre ständigen Verkupplungsversuche – selbst wenn eine solche »Beziehung« nur eine Nacht anhielt. »Zum Beispiel …« Iris ließ ihre Hand kreisen und forderte Claire damit auf weiterzureden.

Claire rollte mit den Augen, musste aber lächeln. »Okay, also gut. Diese Art von Ablenkung.«

»Ach ja?«

»Ja.«

Iris klatschte einmal und rieb sich dann die Hände wie ein Bösewicht in einem schlechten Film. »Na endlich! Es ist schon eine Ewigkeit her, seit wir dafür gesorgt haben, dass du flachgelegt wirst.«

Hastig beugte Claire sich zu ihr hinüber. »Pssst! Nicht so laut! Halt dich zurück, okay?«

»Mit Zurückhaltung kriegst du heute Abend ganz sicher niemanden in die Kiste.«

»Mein Gott, du willst doch nicht etwa …«

»Hey, Bright Falls!«, rief Iris, stand auf und legte ihre Hände wie einen Schalltrichter an den Mund. Viele Köpfe wandten sich ihr zu, die Lippen bereits zu einem Lächeln verzogen – wie immer, wenn Iris Kelly eine Rede hielt. »Wer möchte bei dieser gut aussehenden jungen Frau neben mir sein Glück versuchen? Sie braucht ganz dringend einen ordentlichen Fi…«

»Iris, hör auf!« Claire zerrte am hauchdünnen Trägertop ihrer besten Freundin und wünschte insgeheim ein wenig, dass es dabei zerreißen würde. Iris ließ sich auf ihren Stuhl fallen, während Claires Gesicht so rot glühte wie der Kern der Sonne. Die ganze Bar starrte sie an, und sie bemerkte ziemlich viele hochgezogene Augenbrauen. Matthew Tilden, der auf der Grundschule einige extrem unpassende Kommentare über Claires Hintern gemacht hatte, drehte sich auf seinem Barhocker zu ihr um und prostete ihr mit seinem Bier zu, während Hannah Li – die Kindergärtnerin, Herrgott noch mal! – sie ganz sanft anlächelte, bevor sie unendlich langsam die langen Wimpern senkte. Claires Magen machte einen Satz.

»Bist du wahnsinnig geworden, Ris?«, knurrte Claire.

»Ich dachte, du wolltest heute Abend noch jemanden abschleppen?«, fragte Iris. Ihr Lächeln verschwand, während sie sich über den Tisch beugte und ihr feuerrotes Haar ihr ins Gesicht fiel. Iris ging alles mit tausendprozentigem Einsatz an, während Claire normalerweise nicht mehr als zehn Prozent investierte.

»Das wollte ich auch. Ich meine, das will ich ja auch. Es ist nur …« Claire seufzte. Sie war einfach nicht gut darin. Dating. Romantik. Sex. Sie hatte noch nie einen One-Night-Stand gehabt, nie einen Sex-Buddy. Schließlich hatte sie mit neunzehn ihr erstes Kind bekommen; da war keine Zeit für Sex-Buddys geblieben. Aber in letzter Zeit hatte sie wieder häufiger daran gedacht, mit jemandem auszugehen. Daran gedacht. Mehr war da nicht gewesen. Sie hatte einfach nicht die Zeit dafür. Sie musste sich um ihren Buchladen kümmern und dazu noch ein Kind großziehen und fiel jeden Abend gegen zehn, sobald Ruby eingeschlafen war, völlig erschöpft ins Bett.

»Wie lange ist es her?«, fragte Iris.

Claire öffnete den Mund, schloss ihn dann aber sofort wieder. Es war schon eine ganze Weile her – nein, eigentlich viel länger als eine Weile.

»Ah ja«, meinte Iris. »Eine Ewigkeit also. Wer war es?«

»Wie bitte?«

»Die letzte Person, mit der du geschlafen hast. Ach verdammt … die letzte Person, mit der du ausgegangen bist.«

Claire trank noch einen kräftigen Schluck Wein, weil sie wusste, dass ihre Antwort Iris’ romantisches Herz schockieren würde. »Nathan.«

Iris verschluckte sich fast an ihrem Cocktail. »Nathan? Mein Assistent Nathan? Der Nathan, mit dem ich dich verkuppelt habe, weil ihr beide fürchterlich detailverliebt seid und weil ich gehofft habe, ihr würdet über eure Liebe zu Ablagesystemen oder so was zueinanderfinden? Der Nathan, den du zum Abendessen zu einem Hummerbrötchen-Foodtruck nach Astoria geschleppt und danach nicht wieder angerufen hast? Was in der Woche danach die Arbeit mit ihm im Laden für mich unglaublich peinlich gemacht hat? Der Nathan?«

Claire ließ sich gegen die Stuhllehne sinken, nahm ihre Brille mit dem dunkelvioletten Gestell ab, polierte die Gläser an ihrer Bluse und schwieg.

»Das war vor sechs Monaten, Claire. Sechs Monate. Ich hätte nie gedacht, dass die Lage so verzweifelt ist.«

Die Sache mit Nathan war einfach zur falschen Zeit gekommen, das war schon alles. Er hatte sich als wirklich nett herausgestellt … und als äußerst attraktiv, und Claire hatte sich definitiv zu ihm hingezogen gefühlt. Aber Ruby hatte in jener Woche gerade ihren ersten Riesenkrach mit ihrer besten Freundin gehabt – was dazu geführt hatte, dass Claire trotz aller Mühe vergebens versucht hatte, ihrer Tochter beim Navigieren durch diesen besonderen Höllenkreis namens Grundschulfreundschaften zu helfen. Außerdem hatte sie gerade ihre Buchhandlung umgestaltet … ihr größtes Projekt seit der Übernahme des Ladens von ihrer Mom. Ein wichtiger Schritt, bei dem viel auf dem Spiel gestanden hatte.

»Und ich weiß, dass du definitiv nicht mit ihm geschlafen hast«, fügte Iris hinzu.

Claire zog eine Augenbraue hoch. »Dann zählt er nicht zu der Kategorie ›Ein Gentleman genießt und schweigt‹?«

»Doch, doch. Nathan hat Stil. Aber ich erinnere mich genau, dass du am nächsten Tag noch genauso verspannt warst wie vorher.«

Claire zeigte ihrer Freundin den Mittelfinger.

Iris nippte an ihrem Cocktail und beugte sich erneut vor. »Bitte, bitte sag jetzt nicht, dass dein letzter Sex mit dem Vater deiner entzückenden, kostbaren, Stern-meines-Herzens-Tochter war. Bitte nicht.«

Claire erstarrte, das Geständnis bereits auf der Zunge. Doch dann erkannte sie, dass das nicht mal stimmte. Sie winkte abschätzig mit der Hand. »Ach, komm schon, Iris, du weißt, dass das nicht der Fall ist.«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Ich erzähl dir doch alles.« Oder fast alles. Josh und sie hatten sich vor neun Jahren getrennt. Allein der Gedanke daran versetzte ihr einen Stich ins Herz. Die Streitereien, die Tränen. Die zweijährige Ruby, die mit weit aufgerissenen, verängstigten Augen verfolgt hatte, wie ihre zu jungen Eltern sich gegenseitig mit Worten zerfleischten.

»Tja, dann muss ich wohl einen Gedächtnisaussetzer haben«, meinte Iris und sah sich erneut in der Bar um. »Wo zum Teufel steckt Astrid? Sie schreibt solche Sachen doch immer auf.«

»Was? Infos über mein Liebesleben?«

»Über all unsere Liebesleben, einschließlich ihres eigenen.« Iris hob eine Hand, tat so, als würde sie etwas in die Luft schreiben, und verkündete mit einem piekfeinen Akzent, der nichts mit Astrids tatsächlichem Tonfall zu tun hatte: »Montag, 3.Mai, 21.23 Uhr. Ich habe Spencer heute Abend gestattet, mich zu penetrieren – was recht anregend war. Beim nächsten Mal werde ich vielleicht meine wilde Seite herauslassen und mal Reverse Cowgirl ausprobieren. Er fragt zwar ständig nach Analverkehr, aber ich …«

»O mein Gott, hör auf«, lachte Claire. »Das schreibt sie nicht in ihren Kalender.«

»Sie schreibt definitiv irgendetwas postkoital hinein. Das garantier ich dir.«

»Sie steht nun mal auf Ordnung. Du bist doch diejenige, die ihren Kalender personalisiert hat.«

»Stimmt. Und ich hab am unteren Ende von jedem Tag extra ein kleines Kästchen eingefügt, mit der Kategorie: Geschlechtsverkehr: ja, nein, vielleicht. Und zwar nur für sie.«

Claire prustete los. »Das ist nicht dein Ernst.«

Iris zwinkerte ihr zu und trank einen weiteren Schluck. Sie alle waren seit der fünften Klasse beste Freundinnen, als sowohl Claire als auch Iris im selben Sommer nach Bright Falls gezogen waren. Lediglich während der vier Jahre, in denen Astrid und Iris aufs College gegangen waren und Claire sich mit einer kleinen Überraschung in Gestalt ihrer Tochter beschäftigt hatte, waren sie nicht ständig zusammen gewesen. Nach dem Uniabschluss waren ihre Freundinnen nach Bright Falls zurückgekehrt und hatten das Trio wieder zusammengeschweißt. Und Claire war unendlich erleichtert gewesen. Astrid und Iris hatten sich nach Kräften bemüht, ihr während Rubys ersten Lebensjahren zu helfen. Wobei Claire jedoch nicht zugelassen hatte, dass sie ihr eigenes Leben deshalb vernachlässigten. Außerdem hatte sie ja Josh gehabt.

Bis zu dem Moment, wo er nicht mehr da gewesen war.

Trotzdem: Sie hatte es geschafft. Sie hatte mit neunzehn ein Kind bekommen, das sie über alles liebte, und die Trennung von Josh überlebt. Aber nie zuvor war sie so glücklich gewesen wie an jenem Tag, als ihre Freundinnen sich wieder in Bright Falls angesiedelt hatten. Astrid, bewaffnet mit einem nagelneuen BWL-Abschluss von der Berkeley University, übernahm Lindy Westbrooks sehr lukratives Innenarchitekturbüro, als die ältere Dame in Rente ging. Und Iris arbeitete als Buchhalterin, bis sie genügend Geld angespart hatte, um Paper Wishes zu eröffnen, ihr Schreibwarengeschäft direkt neben Claires Familienbuchhandlung an der Linden Street, mitten im Zentrum der Stadt. Iris war wahnsinnig begabt. Sie verkaufte von ihr persönlich und individuell gestaltete Kalender und hatte über fünfzigtausend Instagram-Follower, während Astrid etwa die Hälfte aller Häuser in Bright Falls fast im Alleingang neu gestaltete.

Inzwischen führte Claire River Wild Books – die Buchhandlung, die ihre Großmutter in den Sechzigerjahren gegründet hatte – mehr oder weniger eigenständig und bemühte sich, den Laden ins 21. Jahrhundert zu hieven. Ihre Mom ließ ihr freie Hand, aber das, was Claire sich für die Buchhandlung wünschte – ein Café mit Werken lokaler Künstler*innen an den Wänden und ein Onlineshop –, kostete Geld. Und zwar eine Menge. Bisher war es ihr gelungen, die Regale und Wände freundlicher zu gestalten und eine kleine Leseecke mit einladenden Ledersofas in der Mitte des Ladens einzurichten. Aber das war’s auch schon. Trotzdem: Es war zumindest ein Anfang.

Claire kippte den Rest ihres Weins hinunter. »Nicole Berry«, sagte sie leise, da der Klang des Namens ihr noch immer einen leichten Stich versetzte. Mit Nicole hatte sie nicht nur Sex gehabt, sondern auch eine »Beziehung« geführt. Ganze fünf Wochen lang, bis Claire einen Punkt erreicht hatte, an dem sie Nicole Ruby hatte vorstellen wollen. Aber bei der Aussicht darauf war Nicole total ausgeflippt. Claire hatte Nicole gemocht. Sehr sogar. Hätte sie sogar lieben können, wenn Nicole ihnen auch nur den Hauch einer Chance gegeben hätte.

Iris verzog das Gesicht. »Nicole.«

»Ja, Nicole«, bestätigte Claire in einem Tonfall, der leichter klang, als sie es tatsächlich empfand. »Sie war echt heiß, oder?« Und ob sie heiß gewesen war! Seidige Haare, lange Beine, die sie auf eine Weise um Claires Hüften geschlungen hatte, die Claire jetzt …

Bei der Erinnerung daran presste sie ihre Oberschenkel zusammen. Gott, es war wirklich viel zu lange her.

»Äh, klar doch, hinreißend«, erwiderte Iris sanft. Sie wusste, wie sehr Nicoles Abgang Claire verletzt hatte. »Und das liegt zwei Jahre zurück. Zwei Jahre, Claire. Hast du wirklich nicht mehr …«, sie schüttelte ihre Brüste (und sie hatte reichlich Oberweite zum Schütteln), »… seit zwei ganzen Jahren?«

»Ach, ich bitte dich. Heutzutage hat doch niemand mehr Zeit für Sex, Ris«, lautete ihre brillante Antwort.

Iris schenkte ihr einen Ach-du-armes-Kind-Blick. »Das stimmt definitiv nicht. Und das weißt du auch. Ich hab ständig Sex.«

»Du hast einen festen Freund.«

»Und du hast einen Vibrator.«

Claire hob ihr leeres Glas zum Salut. »Darauf kannst du wetten.«

»Und er ist sehr, sehr müde.«

Bei diesen Worten musste Claire lachen, konnte es aber nicht abstreiten. Im letzten Monat hatte sie die Batterien des Vibrators mindestens zweimal auswechseln müssen.

Iris hob ihr Glas und prostete ihr zu, und Claire atmete zum ersten Mal an diesem Abend auf. Seit Joshs Rückkehr vor zwei Monaten hatte sie wie unter Strom gestanden – seit seiner hochheiligen Beteuerung, dieses Mal werde er bleiben und einen eigenen Handwerksbetrieb gründen, statt Gelegenheitsjobs in der Baufirma seines Freunds Holden zu übernehmen, die es ihm ermöglichten, jederzeit abzuhauen. Und ab jetzt wolle er wirklich für Ruby da sein.

Dazu kam die Geschichte mit Astrid, die in letzter Zeit wie ein ins Trudeln geratener Kreisel durchdrehte und deren Hochzeit mit Spencer wie eine schwarze Wolke am Horizont aufragte. Na ja, da war es nur fair, dass Claire sich den einen oder anderen Drink genehmigte.

»Wie läuft’s denn so?«, fragte Iris, die wie immer Claires Gedanken gelesen hatte. »Mit Josh?«

Claire zuckte die Schultern. »Ruby betet ihn an.«

»Und dabei wollen wir es belassen?«

Claire stieß einen langen Atemzug aus. Josh war der Vater ihres Kindes, und er würde immer einen Platz in ihrem Herzen haben. Aber wenn er Ruby noch ein einziges Mal Hoffnungen machte, nur um dann wieder aus ihrem Leben zu verschwinden, würde sie ihn umbringen. Buchstäblich umbringen. Langsam und qualvoll. Sie hatte schon genug unzuverlässige Personen in ihrem Leben, und sie wollte nicht, dass Ruby mit den gleichen Gespenstern aufwuchs.

Rasch warf sie einen Blick auf das Display ihres Handys, das jedoch nur die Uhrzeit und das lächelnde Gesicht ihrer Tochter zeigte. Keine Nachricht von Josh. Ihre Sicht verschwamm gerade lange genug, dass sie genau wusste: Ein weiterer Drink, und sie würde sentimental werden. Und das konnte und wollte sie nicht in Joshs Gegenwart. Zwar würde er das nie gegen sie verwenden – zumindest nahm sie das an –, aber sie versuchte, ein gutes Beispiel als Mutter abzugeben.

»Ich sollte los«, sagte sie.

»Was ist mit deiner Ablenkung?«

Claire winkte ab. »Das kann warten.«

»Astrid ist noch nicht mal aufgelaufen.«

Claire rieb sich die Schläfen – all die Probleme in ihrem Leben verdichteten sich hinter ihren Augen zu Kopfschmerzen. »Ich will nur kurz überprüfen, wie es Ruby geht … drüben in Joshs Wohnung … bevor sie ins Bett muss.«

»Du meinst, Josh überprüfen.«

»Kannst du mir das etwa verübeln?«

Iris schüttelte den Kopf. »Nein, das würde ich nie tun. Und das weißt du auch, oder?«

Claire holte etwas Geld aus ihrem Portemonnaie. »Ja, das weiß ich.«

»Ich liebe deinen unter Sexentzug leidenden Hintern.«

Claire lachte. »Das ist auch besser so.«

»Für immer und ewig.« Iris streckte die Hand aus und legte sie auf Claires Finger mit der Geldbörse. »Also lass es dieses Mal langsam angehen.«

»Was soll ich langsam angehen?«

»Daten. Jemanden finden, den du magst.«

»Okay«, sagte Claire gedehnt. »Was meinst du damit …?«

»Eine einzige Handynummer. Das ist schon alles. Besorg dir heute Abend von irgendjemandem die Nummer und sieh zu, wie sich die Sache von da aus weiterentwickelt.«

Claires Schultern krümmten sich sofort in Richtung Hals. Alle, mit denen sie je zusammen gewesen war, hatte sie auf natürlichem Weg kennengelernt. Josh war ihr Highschoolfreund gewesen. Nicole war eine Autorin aus dem Ort, die vegane Kochbücher schrieb und ihr neuestes Werk Desserts auf Pflanzenbasis während einer Signierstunde in Claires Buchhandlung präsentiert hatte. Claire hatte alles organisiert, sie waren ins Gespräch gekommen, und der Rest hatte sich von selbst ergeben. Und mit Nathan hatte Iris sie verkuppelt. Obwohl Claire noch nie irgendjemanden in einer Bar aufgerissen hatte, hatte sie Iris seit ihrer Schulzeit etwa ein Dutzend Mal dabei beobachten können, und sie hatte sich immer gefragt, wie sich das wohl anfühlen mochte … die ganze Aufregung und der Nervenkitzel.

Sie zwang sich, die Schultern zu entspannen. Schließlich war sie doch genau deswegen heute Abend hierhergekommen. Sie wollte … irgendetwas. Brauchte irgendjemanden – selbst wenn es nur um die Aussicht auf ein potenzielles Date ging –, um sicherzustellen, dass sie nicht wieder aus alter Gewohnheit mit Josh im Bett landete. Sie liebte ihn nicht mehr; das wusste sie genau. Aber ihr Körper flippte in seiner Nähe jedes Mal aus. Das war schon immer so gewesen.

Allerdings änderte das nichts an der Tatsache, dass die Vorstellung, auf eine fremde Person zuzugehen und sie anzusprechen, bei ihr das Gefühl auslöste, sich gleich übergeben zu müssen.

»Ab morgen …«, setzte Iris an und spürte wohl ihren bevorstehenden Panikanfall, »sind wir ganze zwei Wochen mit Hochzeitsquatsch beschäftigt.«

»Hochzeitsquatsch?«

Iris ignorierte sie. »Ich rede hier von Brunchs, Spitzendeckchen, Maniküren und einem sexfreien Junggesellinnenabschied.«

Claire lachte und erinnerte sich daran, dass Astrid für ihre letzte Party als Single alles Phallische strikt verboten hatte. Keine Penis-Strohhalme, keine Penis-Torten und definitiv keine Dildos. Iris war maßlos enttäuscht.

»Ganz zu schweigen davon …«, Iris senkte die Stimme und beugte sich ein weiteres Mal vor, »… dass wir mit Astrid noch das große G-e-s-p-r-ä-c-h führen müssen – wofür sie uns vermutlich den Rest ihres Lebens hassen wird.«

Claire schloss die Augen und atmete langsam durch die Nase ein und aus. Seit Astrid vor ein paar Monaten sogar Iris derart geschockt hatte, dass ihr die Worte gefehlt hatten – mit der Ankündigung ihrer geplanten Vermählung mit Spencer Hale, den sie gerade mal neunzig Tage gedatet hatte und den ihre besten Freundinnen kaum kannten –, befanden Claire und Iris sich in einem Zustand konstanter Alarmbereitschaft. Okay, er war gut aussehend und reich und der einzige Zahnarzt der Stadt, aber offenbar konnte er keine einzige Mahlzeit überstehen, ohne Astrid mit lächerlichen Forderungen zu überschütten.

Würdest du mir bitte das Salz reichen, Baby?

Kannst du den Kellner bitten, mir noch ein Bier zu bringen, Baby?

Du wolltest doch deine restlichen Pommes nicht mehr, oder, Baby?

Und das Schlimmste daran war: Astrid erfüllte seine Wünsche jedes Mal, selbst wenn der verdammte Salzstreuer direkt vor seiner Goldjungenvisage stand.

Iris und Claire hatten sich wieder und wieder versichert, sie würden einen Plan schmieden und mit Astrid darüber reden. Aber aus Wochen wurden Monate, und sie hatten noch immer keinen Weg gefunden, wie sie Astrid erklären sollten, dass die angebliche Liebe ihres Lebens ein totales Arschloch war. Denn der Typ war die schlimmste Sorte Arschloch: hinterhältig und lächelnd. In der Hälfte aller Fälle konnte Claire nicht mal genau sagen, was sie an diesem Mann so nervte. Sie hatte lediglich das Gefühl, bei jeder Begegnung einer Giftschlange gegenüberzusitzen – was natürlich kein ernsthafter Grund war, Astrid aufzufordern, sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Außerdem stand Astrid auf Fakten und Zahlen. Und weder Claire noch Iris hatten in dieser Hinsicht irgendetwas in der Hand … nichts außer einem miesen Gefühl, das sie einfach nicht abschütteln konnten.

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Claire jetzt.

»Ich will damit sagen, dass die nächsten beiden Wochen ziemlich übel werden. Und dass du in Vivian’s Tearoom oder in der Wellnessabteilung des Blue Lily Vineyard niemand Interessantes finden wirst.«

Claire schnaubte. »Hey, auch in Spas können sexy Sachen passieren.«

»Aber nicht in der Sorte von Spas, die Astrid bevorzugt.«

»Man kann nie wissen.«

Ein weiteres Mal beugte Iris sich vor. »Du willst mir also erzählen, dass du mit deiner Masseurin loslegen würdest, wenn sie Lust darauf hätte? Im Sinne von …«, sie senkte den Blick auf Claires angeblich vernachlässigten Unterleib und wackelte mit den Augenbrauen, »richtig loslegen?«

»Aber klar doch.«

»Blödsinn.«

Claire hob die Hände und ließ sie dann wieder fallen. »Okay, okay, ich würde zuerst auf ein Date gehen wollen. Verklag mich doch.«

»Ich weiß. Du bist nicht für Gelegenheitssex gestrickt – und das ist auch okay. Deshalb sollst du dir ja zuerst eine Handynummer besorgen. Ich weiß, dass du Tinder hasst und Her und Salad Match.«

»Nein, ich hasse diese Dating-Apps nicht, ich hab nur … Moment mal: Salad Match?«

»›Finde deinen Salat-Seelenverwandten‹. Das gibt’s echt.«

»O mein Gott.«

»Ganz genau.«

Claire schob einen Finger hinter ihre Brille und rieb sich die Augen. Die Dating-Welt jagte ihr eine Heidenangst ein. Nicht, dass sie besonders viel Erfahrung damit hatte. Bei Nicole hatte sie vorsichtig einen Fuß hineingesetzt – und das hatte ihr gereicht. »Ich hab ein Kind, das ich großziehen muss, Ris.«

Iris’ Blick nahm einen weichen Ausdruck an, und sie griff nach Claires Hand und drückte sie. »Ich weiß. Du hast hart gearbeitet und jede Menge Opfer gebracht. Und als Ergebnis hast du ein fantastisches Kind.«

Claire spürte einen Kloß im Hals, als sie den emotionalen Ton in der Stimme ihrer Freundin hörte. »Ris …«

»Umso mehr Grund, einen schönen, nicht selbst erzeugten Orgasmus zu genießen.«

Claire lächelte und entdeckte das Funkeln in Iris’ Augen, das sich auch dann jedes Mal zeigte, wenn sie an einem Kalenderdesign arbeitete oder ein nagelneues Set Tombow-Marker erwarb. Dieses Nur-nicht-aufgeben-Funkeln.

»Okay.« Claire setzte sich auf, rollte die Schultern und drehte den Kopf von links nach rechts, wie ein Boxer, der sich auf einen Kampf vorbereitete. »Okay, ich schaff das.«

»Und ob du das schaffst.«

»Ich seh heiß aus, oder?«

»Superheiß und wie eine badass Bitch.«

Claire schüttelte die Arme aus. »Nur eine Handynummer. Wie schwer kann das schon sein?«

»Total einfach. Jeder Anwesende in dieser Bar will deine Nummer.«

»Also, so weit würde ich jetzt nicht gehen.«

»Ich schon.« Iris streckte den Arm aus, klopfte Claire auf den Rücken und rief ihr über den Lärm hinweg zu: »Los, schnapp sie dir!« Dann ließ sie sich gegen ihre Stuhllehne sinken und nippte mit einem begeisterten Grinsen im Gesicht an ihrem Cocktail.

Claire drehte sich auf ihrem Stuhl um, wandte sich der hochglanzpolierten Theke zu und verfolgte das Treiben ein paar Sekunden lang. Schließlich schaute sie über die Schulter zu Iris. »Nur eine Nummer.«

»Genau, nur eine einzige Nummer. Aber eine, die zählt. Also von jemandem, den du wirklich scharf findest oder interessant oder was auch immer deine Mama-Gelüste heutzutage anspricht.«

Claire streckte ihr die Zunge heraus.

»Spar dir das für was Besseres auf, Süße«, erwiderte Iris und zwinkerte vielsagend.

Claire lachte. »Okay, okay.« Dann drehte sie sich wieder um und holte tief Luft. In der Bar herrschte Hochbetrieb. Wie an jedem Wochenende. Oder eigentlich wie an jedem Abend. Bright Falls war ein charmanter Ort, und sie lebte gern hier. Aber die meisten Geschäfte schlossen pünktlich um achtzehn Uhr, und es gab nur wenige Restaurants – was dazu führte, dass die einzige Bar in der Stadt regelmäßig gerammelt voll war. Claire sondierte die Tische in der Nähe der Theke, in der Hoffnung, Hannah Li dort wiederzuentdecken. Es würde ihr definitiv leichter fallen, eine Frau oder eine nichtbinäre Person anzusprechen. Seit ihrem Coming-out als bi während des vorletzten Jahrs in der Highschool hatte sie sich hauptsächlich zu anderen queeren Personen oder Femmes hingezogen gefühlt. Wobei Josh eine der wenigen, wenn auch gewaltigen Ausnahmen dargestellt hatte. Trotzdem: Sie kannte jede queere Frau in dieser Stadt, und die Hälfte davon war verheiratet oder verpartnert – einschließlich Iris, die während ihres zweiten Studienjahrs herausgefunden hatte, dass sie bi war. Und die für Claire immer eher eine Art Schwester gewesen war als eine potenzielle Partnerin. Also standen die Chancen, hier an diesem Abend eine Singlefrau zu finden, ziemlich schlecht.

Und Hannah war nirgends zu sehen, weder an ihrem ursprünglichen Tisch noch an der Theke.

Claire wollte schon aufgeben und sich wieder Iris zuwenden, als ihr Blick an einer engen schwarzen Jeans hängen blieb.

Die dazugehörige hellhäutige Frau war gerade hereingekommen und mit einem Rollkoffer zur Theke gegangen. Sie hatte üppige dunkle Locken und den Tischen den Rücken zugekehrt. Und Claire konnte einfach nicht den Blick von ihr abwenden – von der Art und Weise, wie sie sich auf die Zehen ihrer schwarzen Stiefel stellte, sich über die Theke beugte und bei Tom, dem Barkeeper an diesem Abend, ihre Bestellung aufgab. Tattoos rankten sich um ihre nackten Arme. Gott, Claire liebte gut tätowierte Arme.

Und dann erst diese Jeans. Diese Jeans war echt umwerfend.

»Gut gemacht!«, lobte Iris hinter ihr.

Claire drehte sich um. »Du weißt doch gar nicht, wen ich ansehe.«

»Also komm schon.« Iris zeigte mit ihrem Glas auf die tätowierte Frau. »Du stehst auf einen bestimmten Typ. Und diese Person entspricht ihm genau: grüblerisch und geheimnisvoll.«

Claire öffnete den Mund zum Protest. Aber wenn Iris recht hatte, dann hatte sie recht. Claire strich über ihre eigene Jeans, vergewisserte sich, dass der Kragen ihrer Bluse nicht hochstand, und justierte ihre Brille. Dann erhob sie sich und schlenderte in Richtung Theke.

3

Delilah

Stella’s Tavern roch exakt so wie bei Delilahs letztem Besuch – nach Schnaps, Schweiß und Sägespänen vom Sägewerk am Stadtrand, die die großen, kräftigen Holzfäller an ihren Stiefeln ständig mit hereinschleppten.

Eigentlich hatte sie nicht gleich die nächste Bar betreten wollen, als sie aus dem Taxi gestiegen war. Aber nach einem etwa fünfzehn Sekunden dauernden Blick auf das dunkle Stadtzentrum war ihr wieder eingefallen, dass ganz Bright Falls die Schotten dicht machte, sobald die Sonne hinterm Horizont verschwand, sogar samstagabends. Der Gasthof, in dem Astrid sie untergebracht hatte, besaß garantiert keine Alkohollizenz; im Grunde handelte es sich eher um eine aufgehübschte Frühstückspension. Aber sie war nicht bereit, ihren Stiefmonstern gegenüberzutreten, ohne sich vorher etwas Mut anzutrinken.

Doch als sie das Treiben im Inneren der Bar betrachtete und die laute Musik und das Gelächter an ihre Ohren drangen, zögerte sie einen Moment, und ihre Knie wurden weich. Seit ihrem letzten Besuch in Bright Falls waren fünf Jahre vergangen. Damals war sie aus New York geflohen, weg von Jax und ihrem hinreißenden Lügenmaul, und hierhergekommen: in diese gemütliche Kleinstadt, mit all den Gesichtern, die sich untereinander schon ihr ganzes Leben lang kannten. Zu diesem Club, dem sie sich nicht richtig zugehörig gefühlt hatte, der sie aber trotzdem irgendwie fasziniert hatte. Seit ihr Vater mit ihr im Alter von acht Jahren von Seattle hierhergezogen war, mit einem glänzenden neuen Ring an der linken Hand, hatte sie ständig dieses Gefühl gehabt – als würde sie im Regen vor einem hell erleuchteten, einladenden Haus stehen und vergebens an die Fensterscheiben klopfen. Und nach dem Tod ihres Vaters zwei Jahre später hatte sich die Situation nur verschlimmert. Delilah war allein bei ihrer Stiefmutter und -schwester zurückgeblieben, die keine Ahnung hatten, was sie mit ihr anfangen sollten.

Jetzt holte Delilah tief Luft und warf einen Blick Richtung Theke. Knapp dreißig Schritte und ein Meer aus Körpern trennten sie von einem Drink. Herrgott, sie war eine New Yorkerin. Eine Künstlerin. Okay, eine um Anerkennung kämpfende Künstlerin, aber nichtsdestoweniger eine Künstlerin. Diese Stadt, ihre Familie würden sie nicht in die Knie zwingen. Nicht mehr.

Delilah zog ihre graue Bomberjacke aus und drapierte sie um ihren Koffer. Schwüle, alkoholschwangere Luft streifte über ihre Arme, aber das war immer noch besser, als sich totzuschwitzen. Sie drehte ihren Körper so, dass sie möglichst wenig Leute berührte, und schlängelte sich mit gesenktem Kopf zur Theke. Dort angekommen, atmete sie erleichtert auf: Der Barkeeper war ein Fremder und nicht irgendein ehemaliger Schulkamerad, der sie mit zusammengekniffenen Augen mustern würde, als wäre sie ein Rätsel, das er nicht lösen konnte. Während der Highschool war sie mehr oder weniger unsichtbar gewesen, ein Geist mit einer Fülle dunkler, nicht zu bändigender Haare und blauen Augen, die sie ständig auf den schäbigen Fliesenboden geheftet hatte: eine seltsame Goth. Dagegen hatte Astrid gefunkelt wie eine Ballkönigin.

»Bourbon, pur«, sagte sie, stellte ihren Koffer neben einem Barhocker ab und stützte die Arme auf die Theke. Der Typ – Tom, seinem Namensschild nach zu urteilen – lächelte und zwinkerte ihr zu. Und dann machte er eine Riesenshow daraus, ihren Drink aus etwa fünfzig Zentimeter Höhe in ein Glas zu gießen.

Delilah starrte ihn nur an und trommelte mit ihren kurzen grau lackierten Fingernägeln auf die glänzende Holztheke.

Er stellte das Glas vor ihr ab und beugte sich vor. Wallende Haare, ordentlich gestutzter Bart, dunkelbraune Augen. Wahrscheinlich ziemlich niedlich – falls man auf Männer stand.

»Danke.« Delilah stürzte ihren Drink in einem Zug hinunter. Der Bourbon brannte den gesamten Weg durch ihre Kehle und wärmte sie auf eine Weise, die diese ganze elende Hochzeitsgeschichte irgendwie erträglicher erscheinen ließ. Allerdings wusste sie, dass diese Wirkung nicht lange anhalten würde.

»Kommst du aus der Gegend?«, fragte der Barkeeper.

Sie unterdrückte den Drang, mit den Augen zu rollen.

»Ich bin nicht dein Typ«, sagte sie.

Sein Lächeln verschwand. »Nein?«

»Nein.«

»Ich denke, du wärst durchaus mein Typ.«

Delilah tippte gegen ihr Glas, damit er es wieder auffüllte, woraufhin er ihrer Aufforderung mit noch größerer Show nachkam und jetzt das Glas und die Flasche in der Luft wirbelte. O Mann, wie sehr sie sich wünschte, dass er beides fallen lassen würde! Als er ihr den Drink servierte, verharrte er einen Moment und sah sie erwartungsvoll an. Dieses Mal nippte sie nur an dem Bourbon und schenkte ihm einen Blick, der ein Loch in die Wand hätte bohren können, in der Hoffnung, er würde sich verziehen.

Doch den Gefallen tat er ihr nicht.

Sie setzte sich auf den Barhocker und wusste, dass das Ganze vermutlich wieder damit enden würde, dass sie sich gegenüber einem völlig Fremden outen musste. Wie schon so oft. Und dann würde er wahrscheinlich einen grauenhaften Dreier-Witz reißen, den diese Pfeife für sexy hielt.

Während sie in Gedanken noch die Liste der Ich-bin-lesbisch-Varianten durchging, trat jemand neben sie an die Theke. Aus dem Augenwinkel sah Delilah eine Frau – helle Haut, hellbraune, zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckte Haare, dichter, seitlicher Pony, Brille mit dunkelviolettem Gestell und eine korallenrote Retro-Look-Bluse mit weißen Punkten. Delilah drehte den Kopf etwas in ihre Richtung und registrierte eine dunkle Highwaist-Jeans, die sich um üppige Hüften schmiegte, dazu weiche Arme und lavendelblauer Nagellack, der an den Spitzen bereits abgesplittert war.

Die Frau wandte sich ihr ebenfalls zu, und ihre Blicke trafen sich.

Delilah sog leise den Atem ein.

Diese Frau war umwerfend. Dunkelbraune Augen, lange Wimpern, hohe Wangenknochen und ein feuerwehrroter Mund mit einer vollen Unterlippe, die Delilah am liebsten sofort zwischen ihre Zähne gesogen hätte. Sie erinnerte sich daran, wie sie während der Highschoolzeit genau diese Fantasie gehabt hatte – jedes Mal, wenn Claire Sutherland zum Wisteria House gekommen war und dort was auch immer mit Astrid und deren Hexenzirkel getrieben hatte, während Delilah allein in ihrem Zimmer hockte. Claire war eines der Mädchen, die – ohne es selbst zu ahnen – Delilah bei der Erkenntnis geholfen hatten, dass sie queer war. Claire war kurvig und nerdy-sexy gewesen, und jetzt konnte Delilah sehen, dass das noch immer auf sie zutraf. Ihre Hüften und ihr Hintern waren sogar noch etwas üppiger als damals. Sie sah einfach fantastisch aus.

Aber jetzt, zwölf Jahre später und dem freundlichen Lächeln auf Claires hübschem Gesicht nach zu urteilen, erkannte sie Delilah zu hundert Prozent nicht wieder.

Überhaupt nicht.

Okay, das überraschte Delilah nicht allzu sehr. Während ihrer Jugend hatte Delilah Claire und diese laute Rothaarige – Iris – meistens nur aus der Ferne beobachtet. Nach dem Tod von Delilahs Vater, als sie alle zehn Jahre alt gewesen waren, hatte Isabel sich mit ihrem Kummer total abgeschottet, und Astrid und Delilah hatten das erste Trauerjahr mehr oder weniger auf sich allein gestellt verbracht. Astrid hatte bei ihren neuen Freundinnen Trost gesucht, und Delilah hatte sich in die Bücher zurückgezogen, die ihr Vater ihr geschenkt hatte. In die Fantasiewelten, in denen Waisenkinder die Held*innen waren und die merkwürdigen Kinder immer die Oberhand gewannen. Natürlich interessierte sie sich für Astrids Freundinnen, zumal sie selbst nie welche gehabt hatte. Sie hatte ihre Mutter im Alter von drei Jahren verloren, und das stille Naturell ihres Vaters hatte dazu geführt, dass sie beide sich nur allzu leicht in ihre eigene Welt verkrochen hatten. Delilah war aufmerksam und besonnen, wofür ihr Vater sie immer gelobt hatte. Aber nach seinem Tod waren diese Eigenschaften plötzlich seltsam und unwillkommen gewesen. Sie hatte die Mädchen tuscheln gehört, wenn Iris und Claire zu Besuch gekommen waren: Warum ist deine Schwester so merkwürdig? Späht sie da etwa um die Ecke? O mein Gott, man kann vor lauter Haaren nicht mal ihr Gesicht sehen. Astrid hatte ihre Freundinnen dann jedes Mal mit »Psst« zum Schweigen gebracht. Und Isabel hatte irgendwas Freundliches gesagt: Ach, Delilah, willst du diesen Film nicht auch sehen? Aber daraufhin waren die drei Mädchen total verstummt, offensichtlich erstarrt vor Angst, dass Delilah nicken würde. Und Isabel hatte nichts mehr unternommen, um ihren Vorschlag durchzusetzen.

Also hatte Delilah Abstand gehalten und nur dann etwas gesagt, wenn man sie etwas gefragt hatte – was nicht allzu oft vorgekommen war. Irgendwann war die Einsamkeit so erdrückend geworden, dass sie das Gefühl gehabt hatte, dass sie ganz allein in ihrem Zimmer ersticken würde. Nachts hatten sie Albträume geplagt, dass sie sterben könnte und es wochenlang niemand bemerken würde.

Als Astrid und sie auf die Highschool wechselten, hatte sich bereits eine Routine eingestellt: Delilah sonderte sich, so gut es ging, von allen ab, bewegte sich in ihrer eigenen Welt und hatte nur mit ein paar Mitschüler*innen aus dem Kunstunterricht Kontakt. Isabel bestand darauf, dass sie jeden Abend alle gemeinsam aßen, und kümmerte sich eher beiläufig um ihre Wohltätigkeitsarbeit, aber fast schon besessen um Astrids Erfolg, Schönheit und Status. Und obwohl Delilah ein paarmal hatte beobachten können, dass Astrid sich gegen ihre immer dominanter werdende Mutter auflehnte, hatte sie sich zum Liebling der Stadt entwickelt – immer lächelnd und umgeben von anhimmelnden Fans.

Darunter auch Claire Sutherland. Deshalb war ihr vollkommen klar, dass Claire sie jetzt nicht erkannte. Außerdem hatten die letzten Jahre es gut gemeint mit Delilah. Sie hatte endlich herausgefunden, was sie mit ihren widerspenstigen Haaren anstellen musste, damit sie eher wie … na ja, wie Haare aussahen und nicht wie ein Vogelnest. Und sämtliche Tattoos, die sich über ihre Arme wanden, hatte sie sich erst in den vergangenen fünf Jahren zugelegt. Sie wusste, dass sie nicht mehr wie zu Teenagerinnenzeiten aussah und auch nicht wie die Fünfundzwanzigjährige beim letzten Besuch in dieser Stadt: weniger Make-up, besser passende Kleidung.

Trotzdem traf sie das Nichterkennen in Claires Augen wie ein Schlag ins Gesicht.

»Hi«, sagte Claire und senkte dann den Blick, sodass ihre Wimpern über ihre Wangenknochen flatterten. Ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie schob sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr und holte tief Luft.

Delilah zog eine Augenbraue hoch. Wurde sie etwa …? Ja, definitiv. Claire Sutherland errötete tatsächlich. Ihre runden Wangen begannen zu glühen, als wären sie einem kalten Wind ausgesetzt gewesen. Delilah warf einen Blick auf Claires Haltung – ein Knie leicht gebeugt, die Hüfte etwas ausgestellt und die Unterarme so nah neben Delilahs auf die Theke gestützt, dass sie die feinen Härchen auf Claires Haut fast spüren konnte. Jetzt schaute sie zu Delilah hoch, lächelte, lief noch röter an und blickte wieder nach unten.

Claire Sutherland machte sie doch tatsächlich an.

Sie. Delilah Green, den Ghul des Wisteria House. So hatten Astrid, Claire und Iris sie mal genannt. Damals waren sie alle etwa vierzehn gewesen. Die Mädchen hatten sich in der Küche aufgehalten – in der Küche, die Delilahs Vater entworfen hatte. Und Delilah war leise hineingeschlüpft, um sich einen Apfel zu holen. Die drei hatten geredet, gelacht und beim Backen von Zimtschnecken oder Karamellhaferplätzchen oder sonst irgendeinem Scheiß eine Riesensauerei veranstaltet. Doch als Delilah den Raum betreten hatte, waren sämtliche Gespräche verstummt, und die Mädchen hatten wie versteinert dagestanden. Delilahs Wangen hatten förmlich geglüht – daran erinnerte sie sich genau: an das Feuer, das sie jedes Mal von innen zu verzehren schien, sobald Astrids Freundinnen zu Besuch gewesen waren. Dabei konnte sie nicht sagen, ob es sich dabei um Verlegenheit oder Wut gehandelt hatte oder um den verzweifelten Wunsch dazuzugehören.

»Hi, Delilah«, hatte Claire damals gesagt.

Auch daran erinnerte Delilah sich genau. Claire hatte oft »Hallo« gesagt, aber Delilah hatte nie herausfinden können, warum. An der Tür hatte Delilah die Hand zum Gruß gehoben – eine steife, linkische Geste einer einsamen Vierzehnjährigen –, sich dann aus der Schüssel auf der Kücheninsel einen der sechs Dollar teuren Bio-Honeycrisp-Äpfel genommen, auf deren Kauf Isabel immer bestand, und war aus der Küche geflohen.

»O Mann«, hatte sie Iris’ Stimme beim Verlassen des Raums gehört. »Warum schleicht sie immer so herum?«

»Iris«, hatte Claire getadelt, allerdings mit einem lachenden Unterton.

»Was denn? Sie ist wie ein Geist, der die Gänge von Wisteria House heimsucht. Nein, Moment … sie ist wie ein Ghul.«

»Wo ist denn da der Unterschied?«, fragte Astrid.

»Keine Ahnung. Ghuls sind unheimlicher?«

Dann hatte Iris einen zittrigen Heulton ausgestoßen, woraufhin die drei wieder in schallendes Gelächter ausgebrochen waren. Im Obergeschoss hatte Delilah ihre Zimmertür geschlossen und so fest in ihren Apfel gebissen, dass sie fast fürchtete, sich einen Zahn abzubrechen. Auch daran erinnerte sie sich gut.

Und jetzt hockte sie hier, der Ghul des Wisteria House, in Stella’s Tavern, während eine sehr niedliche Claire Sutherland sie anlächelte.

»Ebenfalls hi«, erwiderte Delilah und drehte sich auf dem Barhocker so, dass sie Claire direkt ansehen konnte. Dadurch erhielt Claire auch einen klaren Blick auf ihr Gesicht, das sich – also komm schon! – seit der Schulzeit nicht so sehr verändert hatte. Okay, inzwischen hatte sie ihre von Natur aus dichten Augenbrauen etwas besser im Griff, und außerdem hatte sie gelernt, den Eyeliner nicht ganz so dick aufzutragen. Aber trotzdem!

Sie legte den Kopf leicht auf die Seite und gab Claire damit jede Chance, ihre Identität zu erkennen.

Claire neigte den Kopf ebenfalls, erneut ein winziges Lächeln um die Lippen.

»Was trinkst du da?«, fragte sie.

Delilah betrachtete sie einen Moment. Sie könnte es ihr sagen. Sie sollte es ihr sagen. Sie sollte jetzt sofort den Mund öffnen und erwidern: Hey, erinnerst du dich noch an mich?

Oder aber …

Sie könnte mit dieser umwerfenden Frau flirten – vielleicht sogar mehr als nur flirten und sich jeden Tagtraum erfüllen, den die Teenagerin-Delilah von Claire Sutherland gehabt hatte. Und dann abwarten, was passierte. Es war offensichtlich, dass Claire sie attraktiv fand. Sonst würde sie jetzt nicht hier stehen und mit den Wimpern klimpern. Ein warmes, wohliges Gefühl breitete sich in Delilahs Brustkorb aus, während sie daran dachte, wie sie am nächsten Morgen vielleicht neben gemeiner BFF aufwachte … und es ihr dann mitteilte.

Zusätzlicher Bonus? Astrid würde stinksauer sein.

»Bourbon«, antwortete Delilah.

Claire bedeutete Tom, ihr das Gleiche einzuschenken, und beugte sich vor, während sie wartete und der Barkeeper den Drink ohne große Show einschenkte und dabei Delilah stirnrunzelnd musterte. Als Claire das Glas schließlich in den Händen hielt, bemerkte Delilah, dass Claires Finger zitterten.

»Kalt?«, fragte Delilah und zeigte auf den Bourbon.

Claire lachte. »Nein. Ich denke … ich denke, ich bin nervös.«

Delilah hätte fast losgeprustet. Das hier war einfach perfekt.

»Weshalb?«

Claire nippte an ihrem Drink und wandte sich ihr dann zu. Delilah spreizte die Knie, nur ein wenig … gerade weit genug, dass Claire fast dazwischenstand. Eigentlich erwartete sie, dass Claire erneut erröten würde, doch stattdessen senkte sie den Blick und zog eine Augenbraue hoch.

»Aber vielleicht hab ich auch gar keinen Grund, nervös zu sein«, sagte sie.

»Ja, vielleicht nicht«, erwiderte Delilah.

Claire kniff die Augen leicht zusammen, und Delilah fragte sich, ob sie jetzt wohl endlich darauf kam.

»Es ist immer ein Risiko, eine Frau in einer Bar anzusprechen«, fuhr Claire fort. »Nicht, dass ich das oft machen würde.«

»Ein Risiko?«

Claire nickte. »Du könntest immerhin total straight sein.«

Delilah lachte, gab aber noch immer nichts preis. »Und das bist du nicht?«

»Oh.« Das Glühen der Wangen kehrte zurück. »Nein, ganz und gar nicht.«