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Autor Oliver Heigl zieht mit Zelt und Mountainbike aus, um inmitten einer Wohlstandsgesellschaft das letzte bisschen Abenteuer zu suchen; und erlebt Norddeutschland aus einer eher ungewöhnlichen Perspektive. Er begegnet ungezogenen und unangezogenen Menschen und dreht trotz ausbleibender Erregung, erwartungsfroh an der Kurbel. Er wird mit Wattestäbchen gefoltert, beinahe verhaftet, badet in Bakterienschorle und durchleidet so manch andere Strapaze. Es ist nicht nur eine topographische Reise, mit Höhen und Tiefen, sondern auch mental. Er erlebt Momente von Trail Magic und dessen Gegenteil; und sinniert dabei über Gott und die Welt. Heigl schreibt, mit gewohnt zynisch spitzer Feder und ausgestattet mit einer gehörigen Portion Humor, Sarkasmus und Selbstironie, eine packende autobiographische Erzählung nieder - von zerbrochener Freundschaft, vergessenen Helden, den Abgründen menschlicher Psyche und Wetterextremen der Superlative. »Brockensturm« ist allerfeinster Lesestoff für alle Radsportler und Bikepacker; für Outdoorbegeisterte und für echte Abenteurer - oder die, die es werden wollen.
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Seitenzahl: 189
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Oliver Heigl, am 02.05.1979 in Hamburg geboren, entdeckte schon früh seine Liebe zu Büchern und ließ sich bereits für seine Schulaufsätze feiern. Dennoch glaubte er lange Zeit nicht an sein Talent und widmete sich seiner zweiten großen Liebe; dem Mountainbike.
Heute führt er quasi eine sportiv-literarische Dreiecksbeziehung. Er unternimmt Bikepacking-Touren und fährt MTB Rennen; seine Erlebnisse schreibt er regelmäßig in seinem Blog nieder. Dem Drängen seiner Freunde nachgebend, macht der Underdog nun aber auch die Welt der Printmedien unsicher.
…. meine Tochter Mia. Du bist das größte Geschenk auf Erden und mein Sonnenschein, der mir selbst dunkle Tage zu erhellen vermag. Dein Lachen ist Musik in meinen Ohren, deine strahlenden Kinderaugen erwärmen meine Seele und deine Lebensfreude erweckt auch meine immer wieder neu. Deine Warmherzigkeit, deine Güte und deine aufrichtige Liebe, sind es wert, auch nach Tiefschlägen immer wieder aufzustehen und sich wagemutig in das Abenteuer Leben zu stürzen.
»Mia, bleib wie du bist! Du bist einzigartig, wunderbar, ein ganz besonderer Mensch und das beste Kind der Welt. Ich hab dich unendlich doll lieb!«
…. meinen Vater, der mich stets in allen erdenklichen Lebenslagen unterstützt hat. Du bist bester Berater und aufrichtigster Kritiker, hast das Herz am rechten Fleck und warst mir stets ein guter Papa. Ich kann mich immer auf dich verlassen, auf deine Hilfe, deinen Zuspruch; aber auch darauf, dass du deinem Sohn bei Bedarf die Leviten liest.
»Mein Papa kann alles!«
…. Manon, die mir schöne Jahre und eine so wundervolle Tochter schenkte, oft viel Geduld aufbringen und doch irgendwann einen anderen, einen ihr vorbestimmten Weg gehen musste.
»Wir wollten im Buch des Lebens unser ganz eigenes Kapitel schreiben.«
…. Jeff und Sira, die mir treue Freunde und Weggefährten waren und uns viel zu früh verlassen mussten.
»Ich vermisse Euch! Habt keine Angst! Geht nicht zu weit! Ich komme nach, wenn meine Zeit gekommen ist. Es gibt ein Wiedersehen!«
Malle olé
Wohlstandswampe
Tachoterror
Dicke Luft
Moonlight
Travelpussy
Beim Arbeitsamt
Auf los geht´s los
Nackedei
Panzer und anderer Irrsinn
Fast Food
Waschtag
Schweinshaxe
Obdachlos
Duell der Gartenzwerge
Münchhausen
Dr. Quincy
Die Mauer
Lochplatte
Brockensturm
Sehnsucht
Kahlschlag
Paradise City - green and pretty
Schwiegerhexe
Sandale und Tennissocke
Heimliches Geschäft
Stromlos in Celle
Men in Black
Blaues Licht
Ich habe die Nase gestrichen voll, ich mag nicht mehr. Ich bin irgendwo im Nirgendwo. The middle of nowhere; das Nirwana Niedersachsens; das Epizentrum der Abgeschiedenheit, es befindet sich genau hier - und ich mich mittendrin.
Normale Menschen, oder vielmehr die sich dafür halten, machen kreditfinanzierten Urlaub in Plaja del Irgendwas auf Mallorca. Sie blasen zwei Stunden lang Tonnen von Kerosin in die Atmosphäre, damit sie auf einer sonnenverwöhnten Insel fern der Heimat ihre Ferien verbringen können, um sich dann den ganzen Tag faul rumliegend, in der Gluthitze braten zu lassen. Schon am zweiten Tag sehen sie aus wie gegrillte Krakauer in Badehose.
Einen solchen Pauschalurlaub habe ich auch mal ausprobiert und fand ihn kacke. Mit All-inclusive Drinks angeschwipst, traute ich mich an den Hotelpool, um mich beim täglich stattfindenden und vom Animateur reißerisch angepriesenen »Miss Bikini Wettbewerb« lüstern nach einem Urlaubsflirt umzusehen, und torkelte alsbald angesichts meiner Enttäuschung wieder zum Tresen zurück. Schade, erneut hatten sich nur, neben der reichlich formlosen Cellulite-Uschi, die pickelige Ines mit der Hornbrille und den Igelnasen un-term T-Shirt, sowie Kumpel Uwe in seinem giftgrünen Borat-String und mit dunkler Perücke, die er allerdings nicht auf dem Kopf trug, auf die Bühne gewagt.
Die mannstolle 70 jährige Renate, die offenbar ihren zweiten, möglicherweise auch schon dritten Frühling durchlebte und fast jedem halbwegs zeugungsfähigen Kerl um den Hals fiel, musste sich schon auf dem Weg zur Bühne gnadenlos auspfeifen lassen.
»Wie es denn im Urlaub war?«, wollten andere sich auch für normal Haltende, also ebenfalls potenzielle Pauschalurlauber später von uns wissen.
Während ich gar nicht darüber reden, am liebsten nicht mal daran denken wollte, schwärmte Uwe inbrünstig.
»Voll geil, ey«, lautete die Antwort, obwohl der Gefragte sich an die 14 Tage Dauerdelirium garantiert kaum noch erinnern kann. »Der Pool war geil, das Hotel mega sauber - außer einmal, da hab ich auf den Flur gekotzt - und richtig geile Miezen in dem Schuppen«, übertrieb er schamlos das durchaus überschaubare Aufgebot attraktiver Frauen.
»Die Eine..voll so 80-60-90«, prahlte er weiter und deutete dabei die ertasteten Körperproportionen seiner Tanzpartnerin, übrigens der Einzigen in diesem Urlaub, wage an. Ich verkniff es mir, ihn und die Umstehenden darauf aufmerksam zu machen, dass die Cellulite-Uschi aber eigentlich auch einen zweiten Oberschenkel hat. Und das er mit den geilen Miezen Renate und Ines meinte, und selbst die nicht in das mit Wanzen verseuchte Hotelbett zerren konnte, erzählte er freilich auch nicht.
»Und wie hat dir die Landschaft gefallen? Soll ja auch richtig schön sein«, lautete die nächste Frage.
»Also ehrlich gesagt; wir waren meistens im Hotel. Da kriegst du ja so´n Bändchen an´n Arm und dann kannst du umsonst saufen bis nix mehr geht. An den Strandbars und so, da musst du ja alles selber blechen, das schockt doch nicht«, wusste Uwe zu berichten.
Das diese Art von Urlaub schocken kann, wage ich nach dem Erlebten grundsätzlich nicht anzuzweifeln. Wobei schocken im wortwörtlichen Sinn zu verstehen und mit Schockzustand gleichzusetzen ist.
Im zarten Alter von 18 Jahren habe ich dennoch einen zweiten kläglich scheiternden Versuch unternommen, Pauschalreisen etwas abgewinnen zu können. Bereits am dritten Urlaubstag war mir sterbenslangweilig. Während meine Freundin stets unmittelbar nach dem Frühstück an den Strand eilte, um dort wahlweise zum Abkühlen wie Dosen-Spargel im Wasser zu stehen (»schwimmen geht nicht, da verschmiert doch das Make up, du Depp!«), oder sich ihres Bikinioberteils entledigt, auf dem am Strand ausgebreiteten Badelaken posierend zu rekeln und sich schrittfeucht von aller Welt auf die Nippel glotzen zu lassen (»lass sie doch gucken«), zog ich mir alsbald jeden Morgen die Laufschuhe an und trabte über die staubigen Feldwege der Insel. Mallorca ist, bewegt man sich abseits der Touristenmärkte und Hotelburgen, ein wunderschönes Stück Erde.
Abends saß ich dann mit ihr in irgendeinem der vielen und immer gleichen Strandlokale, trank abartig warmen Sangria aus einem eher an einen Spucknapf erinnernden Edelstahleimer und sehnte mir das Ende dieser Touri-Verarsche herbei, für die ich stattliche 1400 DM bezahlt hatte.
Nein, nochmal würde ich sicher keinen solchen Pauschalurlaub buchen. Dennoch muss ich eingestehen, dass ich meine Alternative, die von mir praktizierte Art und Weise einer Individualreise, ernsthaft beginne zu hinterfragen. Es muss ja nicht gleich ein Vier-Sterne-Hotel mit Wellnessoase und Saunatempel sein, kein mit Daunenkissen staffiertes Doppelbett mit mehrlagiger Schaumzonenkomfortmatratze; und auch eine Lounge, brauche ich nicht wirklich, um mich wohlfühlen zu können. Aber mein Rücken vermeldet, dass es gern eine etwas altersgerechtere, eine geringfügig softere Version von bikepacking hätte sein dürfen. Mit Mitte 40 ist der Lack offenbar schon ab. Werde ich langsam weich, so wie damals Uschis Busen auf Mallorca?
Mehr als 10 Stunden sitze ich nun schon auf dem Rad. Seit einer gefühlten Ewigkeit ist der Hintern wund, als hätte ich mir im Sitzpolster der Hose Brenneseln eingenäht. Die Finger sind taub; abgestorbener Fremdkörper am Ende eines schmerzenden Unterarms gleich, wollen mir meine Hände nur noch widerwillig gehorchen. Dumpf fühlen sich Berührungen an. Schaltung und Bremse lassen sich nur mühsam und unter Aufbietung all meiner verbliebenen Willensstärke bedienen. Mechanisch verrichten die Beine Kilometer für Kilometer ihren Dienst und scheinen mich dennoch nicht vorwärts bringen zu können. Und meine Heimatstadt Hamburg, ist noch so unfassbar weit entfernt.
Längst ist die Hitze des Julitages der feuchten Kühle des inzwischen angebrochenen Abends gewichen und dem allmählich schwindenden Tageslicht hat meine Notbeleuchtung nur wenig entgegenzusetzen. Auch die Müdigkeit macht mir zu schaffen, sie lässt mir die Augenlider immer schwerer werden. Und es wird noch eine lange, eine sehr lange Nacht werden. Was zur Hölle hatte mich bewegt, mir diese Schinderei anzutun? Eine ambitionierte, aber vor allem entspannende Radreise, war doch der ursprüngliche Plan. Wann genau war ich von diesem Plan abgewichen, hatte die Kontrolle verloren, das Ruder ab- und mich den Schicksalsfügungen ergeben?
»Mensch Olli....«, säuselte mir Martins Telefonstimme das drohende Fiasko, und damit den Anfang vom Ende einleitend, ins Ohr. »...ich habe mir überlegt,...«, nahm er nun Anlauf, um mir unter Garantie mal wieder mit einer neuen seiner vielen Schnapsideen verbal in die Magengrube zu treten und mir die Laune zu vermiesen. So war es schließlich schon seit Tagen gegangen - strenggenommen bereits seit dem Moment, an dem wir beschlossen hatten, gemeinsam eine mehrtägige Tour mit den Bikes zu unternehmen.
Mit »ich hab mir überlegt« fangen ganz unangenehme Dialoge an, immer! Meetings oder Gehaltsgespräche mit dem Chef zum Beispiel. Und wenn der Chef überlegt hat, kommt selten etwas Gutes dabei herum, das weiß jeder. Mit »ich hab mir überlegt« fangen Partnerinnen mit Torschlusspanik Gespräche an, wenn sie dem Liebsten in Sachen Familienplanung und/oder Hochzeitsabsichten, die Pistole auf die Brust setzen wollen. Ein »ich hab mir überlegt« ist nur die Ruhe vor dem Sturm. Strenggenommen sogar weniger. So wie man das Unwetter schon einige Minuten vor dem Ausbruch spüren kann (der Himmel verdunkelt sich, der Wind frischt merklich auf), so kann man auch bei »ich hab mir überlegt«, das Unheil schon kommen sehen und ist dennoch bei dem Versuch es abzuwenden, absolut machtlos.
Ich versuchte es einmal, indem ich meinem Gesprächspartner den Satz abschneiden wollte, bevor er ganz ausgesprochen war. Auf den Dialogeinstieg »ich hab mir überlegt«, meiner Lebensgefährtin, konterte ich schlauer Fuchs mit der Frage: »Womit denn das, bitteschön?«
Ich sage es mal so: Die Hochzeitspläne waren damit jedenfalls erst mal vom Tisch.
Nicht das ich Martin nicht mögen würde - im Gegenteil. Er ist ein feiner Kerl, ein sympathischer kleiner Tagträumer, trägt das Herz am rechten Fleck und ist stets gut gelaunt. Er hat einen ähnlich goldigen Humor wie der Hape Kerkeling und tatsächlich sogar ein wenig Ähnlichkeit mit ihm, was den Hape nur um so liebenswerter macht.
Mit Balu, wie seine Freunde Martin nennen, habe ich schon einige Kilometer auf dem Rad absolviert. Doch genau dabei zeigte sich alsbald ein kleines Problem: Es ist so, dass unser fahrtechnisches und körperliches Leistungsniveau dann doch etwas auseinanderklafft. Etwas, das wäre in etwa so, als würde man den Danny DeVito mit einem Arnold Schwarzenegger vergleichen. Hollywood hat die Beiden in »Twins« lediglich Gauner jagen lassen und das war schon ein Schuss in den Ofen. Man stelle sich dieses ungleiche Duo nun auf einer Mountainbiketour vor.
Auch unser jeweiliger Anspruch und die Erwartungshaltung an einen Tag auf dem Bike, das hat sich auf den bisherigen Touren gezeigt, ist recht unterschiedlich. Ich fahre eine Strecke durchaus schon mal sportlich ambitioniert. Martin hingegen ist eher gemütlich unterwegs, was für mich stets Kompromissbereitschaft im Bezug auf Terrain und Tempo bedeutet. Damit kann ich durchaus ganz gut leben, sofern wir nicht, was wegen Balu´s Trödelei gar nicht so selten vorkommt, von Rentnerausflugsgruppen auf Hollandrädern überholt werden.
Fahrrad fahrende Rentner sind in den seltensten Fällen geübte und konditionsstarke Radfahrer. Die gibt es freilich auch, doch die Zahl derer, die regelmäßig einen Fahrradhelm über ihr friedhofsblondes Haar stülpen, ist eher gering. Die Meisten sind dann doch eher Wochenendausflügler, die gelangweilt von den vielen absolvierten Butterfahrten, Busreisen und Kegelabenden, einen Hauch ihrer längst vergangenen Jugend aufleben lassen und noch mal Fahrrad fahren wollen, bevor der Sensenmann sie holt. 15 Kilometer dürfen es dann schon sein - wenn schon, denn schon. Einkehr ins Lokal oder den Biergarten inklusive. Auch damit lässt sich ein ganzer Renten-Samstag füllen.
Grundsätzlich finde ich solch rüstigen Seniorengruppen toll. Das sie sich auch im hohen Alter noch an der frischen Luft bewegen, sich körperlich betätigen und das Leben genießen, verdient Respekt. Und es ist allemal besser, als daheim auf dem Sofa zu sitzen und stumpf auf die Mattscheibe oder aus dem Fenster zu gucken, wie es meine Eltern tun. Die könnten sich ebenso gut auf eine Friedhofsbank setzen und warten bis sie an der Reihe sind.
Von einer Rentnergruppe überholt zu werden, ist aber nun mal grundsätzlich extrem peinlich, zumindest wenn man sich mit deren Söhnen und Töchtern im selben Alter befindet. Solche Situationen hatte ich dann immer, im Versuch nicht völlig deppert dastehen zu müssen, mit vorgetäuschten Pannen zu kaschieren versucht. Man kommt sich dennoch irgendwie doof vor, wenn man drei Plattfüße innerhalb einer Viertelstunde simuliert und irgendwann kapituliert vom vielen Aufpumpen schließlich auch der Bizeps.
Noch schlimmer aber ist, wenn junge Menschen mit einem dieser E-Bikes vorbeisurren wollen; Fahrrädern, die allenfalls bei Rentnern tolerierbar wären. Und wenn sie dann ihr hämisches Grinsen der vermeintlichen, wenn auch nur technisch bedingten Überlegenheit, schamlos und arrogant zu Markte tragen, ist bei mir der Kampfgeist geweckt. Da kommen tief in mir schlummernde Uhrzeittriebe zum Vorschein, von denen man meinen sollte, dass die Evolution sie der Menschheit bereits ausradiert hätte.
Dem eigenen Übergicht und dem seines Bikes mittels Motor unter die Arme greifen, der eigenen Bequemlichkeit nachgeben anstatt zu trainieren, sich womöglich als echter Mountainbiker und nicht als Mofafahrer fühlen und dann noch herablassend, ja allenfalls mitleidig grinsen? Der Zahn will gezogen werden. Demoralisiert will ich diese Cheater wissen, die sich ihr 6000 Euro E-Bike hart am Rande ihrer Liquiditätsgrenze finanzieren, damit dreimal im Monat zur Eisdiele fahren, um sich dann im Freundeskreis als waschechte Sportler und Mountainbiker zu profilieren und um Selfies in den sozialen Netzwerken natürlich nicht verlegen sind. Weinen sollen sie, wenn sie am Abend mit ihrem Schatzi bei Chips und Cola auf dem Sofa hocken und sich tröstend die angefutterte, aber eben nun mal nicht abtrainierte Wohlstandswampe kraulen lassen.
Meine Taktik ist immer gleich: Am Anstieg wird sich möglichst unauffällig ans Hinterrad gesetzt. Hier zu schon attackieren wäre sinnlos, der Elektromotor hat einfach mehr Dampf; das zeigt sich deutlich am Schaltverhalten. Während ich stetig Gang für Gang durchschalte und bald am größten Ritzel ankomme, surrt der E-Biker mit niedriger Trittfrequenz und mittlerem Gang den Anstieg hoch.
Kurz vor der Kuppe heißt es dann für mich beißen, dickeren Gang einlegen und das Brennen der Beine in ihrem Milchsäurerausch ignorieren. Es gilt auf gleiche Höhe zu ziehen, möglichst unverkrampft zu wirken und die Atmung soweit zu stabilisieren, dass ein kurzes »Moin« herauskommen kann. Dann wird im Wiegetritt angetreten. Ein kurzer Sprint und es sind drei, vier Meter Boden gutgemacht, während hinter mir hektisch auf dem Display getippt und vom Sport- in den Turbomodus umgestellt wird, um den Motor noch schriller aufheulen und vermeintlich satte 250 Prozent zusätzliche Leistung an der Kette zerren zu lassen. Was viele E-Biker gar nicht wissen: Der Motor liefert diese 250 Prozent basierend auf der an der Tretkurbel eingehenden Wattleistung. Wo wegen untrainierter Beine wenig reingeht, geht trotz Motor auch wenig raus. Mit so was werben die Marketingabteilungen der Hersteller natürlich nicht.
Diese drei, vier Meter aber sind es, die den größten Ausschlag geben. Selbst dann, wenn ein durchaus fitter E Biker, und die sind dann doch nicht so selten, der Kontrahent ist. Denn wenn erst dieser Vorsprung geschaffen und das Fahrtempo in der Abfahrt oder Ebene auf über 25 Km/h gestiegen ist, ist Sense mit Motorunterstützung. Ab da muss der Fahrer das Tempo selber halten, was ihm meistens nicht, schon gar nicht dauerhaft, gelingt. Dann kann der Rückstand einfach nicht mehr wettgemacht werden; zu schwer und wuchtig sind ihre Bikes.
Doch so ganz bierernst, wie es zunächst wirken mag, sehe ich das Ganze dann doch nicht. Ich mache mir schlicht einen Spaß daraus, mir ungläubig auf Displays starrende Gesichter und ihre Bikes verfluchende Fahrer vorzustellen. Wobei ich Letztere nicht per se als Feindbild deklariere. Vielmehr ist es die zunehmende Elektrifizierung der Bikes, die mir nicht schmeckt. Sich von einem fitteren Fahrer auf einem Bio-Bike, und mit solchen liefere ich mir ebenfalls häufig Duelle, (man kennt das: erste abschätzende Blicke nach Material und Wadenstruktur, kurzer Blickkontakt, gegenseitig drauf lauern wer zuerst antritt) bezwingen zu lassen ist okay. Das ist ein faires Duell zwischen Sportlern. Aber vor einem elektrischen Hilfsmotor kapitulieren zu müssen, vor einer Erfindung, die ursprünglich für körperlich Beeinträchtigte konzipiert wurde, vor einem Rehaprodukt für altersschwache Greise in die Knie zu gehen, ist ein No-Go. Das ist eine Frage der Ehre und meine Form der Rebellion gegen die Bikeindustrie, die jedes Jahr, auf die Umsatzzahlen schielend, das Rad neu erfinden zu müssen glaubt.
Seit das Mountainbike Ende der 80er seinen unaufhaltsamen Siegeszug antrat, hat sich in Sachen Technik viel getan. Es gab Innovationen wie etwa Scheibenbremsen, Federgabeln, Dämpfer und multifunktionale Schalthebel. Und es gab allerhand Flops. Insbesondere bei Rahmenkonstruktionen. Nicht immer gelang Herstellern und Konstrukteuren der ganz große Wurf. Vieles verschwand schneller, als es gekommen war. Doch das Produkt Mountainbike war jung und ließ viel Raum für Experimente und Visionen.
Das sieht heutzutage ganz anders aus. Moderne Bikes erscheinen ausoptimiert. Wirkliche, und vor allen Dingen auch sinnvolle Neuerungen, gibt es nicht. Ein Rahmen gleicht dem anderen; farblich, aber auch in der Geometrie. Selbstverständlich präsentieren alle Hersteller Jahr um Jahr ein neues Modell, doch unterscheiden tut es sich zum Vorgänger meist nur marginal. Vorbei die Zeit experimenteller und gewagter Tuningparts. Vorbei auch die Zeit der Individualisierung mit schrill eloxierten Alufrästeilen. Heute bekommen Bikes nur immer mehr Federweg, breitere Achsen und Tretlager im Booststandart; außenliegende Tretlager, eingepresste Lager und übergroße Lager; eine 3x10 Schaltung statt 3x9, dann 2x10, 2x11, 1x11, 1x12. Manch einer schaltet inzwischen elektronisch. Zunächst gab es mechanische, dann hydraulische und jetzt elektronische Sattelstützen. Und zu allem Überfluss verkaufen sich nun diese Fahrräder mit Elektromotoren wie geschnitten Brot. Als wenn so was irgendjemand wirklich brauchen würde.
Balu lassen meine Demonstrationen von Willenskraft und Stärke gegenüber akkubefeuerten Bikern stets völlig kalt. Er trottet, in dem Wissen, dass ich am nächsten Abzweig ohnehin auf ihn warten werde, stets gemütlich hinterher. Offenbar vermag er überhaupt keinen Sinn darin erkennen, sich in irgendeiner Form mit irgendwem bei irgendwas zu messen und empfindet mich womöglich in meinem Handeln als unkultiviert. Das mag schon angehen, aber man kann einen Wikinger nun mal auch nicht zu Tee und Gebäck bitten - er wird stets nach Met und Rauferei verlangen.
Was Balu und mich jedoch in jedem Fall eint: Der Erlebniswert einer Tour, das Genießen von Land und Leuten, der Natur und dem Gefühl von Freiheit, stehen im Vordergrund. Touren mit ihm sind Radfahrten - keine Trainingseinheiten und machen dennoch, oder vielmehr gerade deswegen, sehr viel Spaß.
Es ist längst kein Kampf mehr mit Wetter oder Topografie, kein Kampf mit Streckenlänge oder Gewicht des Reisegepäcks. Es ist ein Kampf mit dem eigenen Schweinehund, den es nun auszufechten gilt. Denn der Körper folgt dem Geist. Der Wille bricht immer zuerst ein. Man muss bereit sein, die Komfortzone zu verlassen. Was sich anfühlt wie die persönliche körperliche Belastungsgrenze, ist lediglich das Ende der Komfortzone und der Körper hat allenfalls 40 Prozent seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit erreicht. Das ist nicht nur mein persönlicher Erfahrungswert, oft habe ich während meiner Dienstzeit in der Armee genau dieses Phänomen erlebt, sondern ist sogar wissenschaftlich belegt. Ich behaupte: Wenn man es schafft, aus seinem »ich kann nicht mehr« ein »scheiß drauf - jetzt erst recht«, werden zu lassen, kann ein Mensch Dinge vollbringen, die er sich selbst nie zugetraut hätte. Ob es 100, 120 oder 140 Kilometer werden, spielt dann keine Rolle mehr - wenn denn der Kopf mitspielt. Und genau das tut der leider grade mal so gar nicht. Was sonst gut klappt, wenn es sehr zäh wird - Kopf ausschalten, drauf scheißen und stoisch Strecke abspulen - will im Moment nicht gelingen. Vielleicht fehlt mir ein Drill-Instruktor, der mir mal so richtig in den Hintern tritt; und zwar so weit, bis seine Schuhsohle meinen Gaumen berührt.
Genau so tat es R. Lee Ermey in der Rolle des Gunnery Sergeant Hartmann (welch passender Name) in Full Metal Jacket mit dem schwächelnden Privat Paula. Da mir »paint it black«, der ultimative Klassiker von den Stones, der in keinem Vietnamepos fehlen darf, zu schwermütig erscheint und um mich herum ja eh bereits alles schwarz ist, summe ich stattdessen »Hey yo Captain Jack - bring me back to the railroadtrack« als mentalen Arschtritt in die Finsternis, auch wenn das nicht wirklich standesgemäß und im Grunde weit entfernt von militärischem Drill ist. Aber ich ackere hier ja auch nicht für Sold, sondern just for fun; wenngleich ich genau diesen, grade ein wenig vermisse.
Apropos Moneten: Als Radsportler kann man für sein Equipment allerhand Geld ausgeben. Da wechselt für einen unscheinbaren Tacho schnell mal ein ganzer Tageslohn binnen weniger Minuten den Besitzer. Außenstehende würden angesichts dreistelliger Kaufsummen sicherlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Zugegeben: Gutes hatte freilich schon immer seinen Preis. Doch wie viel Technik brauche ich denn nun tatsächlich? Hochwertige Modelle erfassen mehr als nur Wegstrecke und Geschwindigkeit, wie es auch günstige Produkte um die 15 Euro tun. Trittfrequenz, Durchschnittsgeschwindigkeit, Fahrzeit usw. - all das ist auch bei einfacheren Tachos inzwischen Standard. Die wirklichen Spitzenmodelle sind jedoch heutzutage gleichzeitig auch Navigationsgerät und Trainingsanalytiker. Sie sind nicht nur internetfähig, sondern auch mit Bluetooth koppelbar. Mit entsprechenden Sensoren versehen, können sie die Trittleistung in Watt erfassen und auch auswerten, Trainingspläne managen, den Fahrer navigieren, sich mit Komoot und anderen Planungstools verbinden und auch Strecken, sowie Tourdaten herauf- oder herunterladen und noch so viele technische Dinge mehr, von denen ich, als elektronisch absolut unbegabter Mensch, mal so was von gar keine Ahnung habe.
Ich könnte solch ein Hightech-Gerät gar nicht wirklich bedienen. Und mir persönlich würde ja auch schon eine simple Akkuanzeige als Zusatzgimmick völlig ausreichen. Denn genau da liegt der Hase im Pfeffer: Tachos laufen ausnahmslos batteriebetrieben. Und Batterien, das wissen wir alle, folgen leider irgendeinem ungeschriebenen Gesetz der Regelmäßigkeit und sind immer dann leer, wenn man sie am Nötigsten braucht. Jetzt gerade, hier in dieser dunklen Nacht irgendwo nördlich von Celle zum Beispiel.
Alternativen allerdings scheinen Mangelware zu sein. Zu meinem 9. Geburtstag bekam ich eine, die keine war. Einen derartigen Fauxpas der Fahrradgeschichte, hatte ich weder jemals zuvor gesehen, noch anschließend je wieder zu Gesicht bekommen.
Passend zu meinem, auch zu damaliger Zeit schon, technisch völlig überholten Dinosaurier der Fahrradevolution, einem 24 Zoll Jugendrad, das meine Eltern vermutlich als Sonderposten günstig im Abverkauf oder aus einer Insolvenzmasse aufgekauft hatten, schenkte mir meine Oma tatsächlich einen analogen Fahrradtacho. Ja, richtig gelesen: Analog!
Mit Tachowelle und einem mechanischem Zählwerk, sowie Geschwindigkeitszeiger ausgestattet, hatte das Teil die Gehäusegröße eines Taschenrechners und passte damit so hervorragend an den Lenker, wie ein Nashornbaby in einen Puppenwagen.