Brooklyn - Colm Tóibín - E-Book

Brooklyn E-Book

Colm Tóibín

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Beschreibung

Die junge Irin Eilis Lacey wandert um 1950 nach Amerika aus, um in Brooklyn eine neue Arbeit zu finden. Doch sie passt sich nur langsam an das neue Leben an, schließt nicht leicht Freundschaft. Ganz allmählich gewinnt sie Selbstvertrauen und merkt, dass sie zu einer selbständigen, erwachsenen Person geworden ist. Das macht ihr die Entscheidung zwischen Irland und Amerika, zwischen dem einen und dem anderen Mann, nicht leichter. Der preisgekrönte Autor Colm Tóibín beschreibt eindrucksvoll ein klassisches Schicksal einer Emigration, den Werdegang einer ganz normalen Frau - ganz und gar aus ihrer Perspektive gesehen.

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Colm Tóibín

Brooklyn

Roman

Aus dem Englischen von

Giovanni und Ditte Bandini

Carl Hanser Verlag

Die englische Originalausgabe erschien 2009

unter dem Titel Brooklyn bei Penguin in London.

Der Verlag dankt dem Ireland Literature Exchange-Fonds,

Dublin, Irland, für die Förderung der vorliegenden Übersetzung.

www.irelandliterature.com

[email protected]

eBook ISBN 978-3-446-23670-7

© Colm Tóibín 2009

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2010

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Für Peter Straus

Erster Teil

Eilis Lacey, die am Fenster des Wohnzimmers im Obergeschoss des Hauses an der Friary Street saß, sah ihre Schwester, die mit raschem Schritt von der Arbeit zurückkam. Sie beobachtete Rose dabei, wie sie, am Arm die neue Lederhandtasche, die sie in Dublin bei Clery im Ausverkauf gekauft hatte, die Straße von Sonnenlicht zu Schatten überquerte. Rose hatte sich eine cremefarbene Strickjacke über die Schultern gelegt. Ihre Golfschläger standen in der Diele; Eilis wusste, in ein paar Minuten würde jemand ihre Schwester abholen, und sie würde erst zurückkehren, wenn der Sommerabend verblasst wäre.

Eilis’ Betriebswirtschaftskurs war jetzt fast zu Ende; sie hatte ein Lehrbuch über verschiedene Methoden der Buchführung auf dem Schoß, und auf dem Tisch hinter ihr lag ein Hauptbuch, in das sie als Hausaufgabe den täglichen Umsatz einer Firma, deren Zahlen sie sich in der vergangenen Woche in der Berufsschule notiert hatte, auf der Soll- und Habenseite eingetragen hatte.

Sobald sie hörte, dass die Haustür sich öffnete, ging Eilis nach unten. Rose stand im Flur und hielt sich ihren Taschenspiegel vor das Gesicht. Sie musterte sich aufmerksam, während sie sich Lippen und Augen schminkte, überprüfte dann ihre gesamte Erscheinung kurz im großen Flurspiegel und strich sich dabei die Haare zurecht. Eilis sah schweigend zu, während sich ihre Schwester die Lippen befeuchtete und dann noch einen Blick in den Taschenspiegel warf, bevor sie ihn einsteckte.

Ihre Mutter kam aus der Küche in den Flur.

»Du siehst wunderhübsch aus, Rose«, sagte sie. »Du wirst das schönste Mädchen im ganzen Golfklub sein.«

»Ich bin am Verhungern«, sagte Rose, »aber ich habe keine Zeit zu essen.«

»Ich richte dir später extra was«, sagte ihre Mutter. »Eilis und ich essen jetzt zu Abend.«

Rose griff in ihre Handtasche, holte ihren Geldbeutel heraus und legte eine Ein-Shilling-Münze auf die Ablage im Flur. »Das ist für den Fall, dass du ins Kino möchtest«, sagte sie zu Eilis.

»Und was ist mit mir?« fragte ihre Mutter.

»Wenn sie wieder zu Haus ist, kann sie dir den Film erzählen«, erwiderte Rose.

»Das ist ja reizend!« sagte ihre Mutter.

Während sie alle drei lachten, hörten sie, wie ein Auto vor der Tür hielt und hupte. Rose hob ihre Golfschläger auf und war weg.

Später, während ihre Mutter das Geschirr spülte und Eilis abtrocknete, klopfte es an der Tür. Als Eilis aufmachte, stand vor ihr ein Mädchen, das sie von Kellys Lebensmittelgeschäft neben der Kathedrale her kannte.

»Ich soll Ihnen etwas von Miss Kelly ausrichten«, sagte das Mädchen. »Sie will Sie sprechen.«

»Ach ja?« entgegnete Eilis. »Und hat sie auch gesagt, worum es geht?«

»Nein. Sie sollen nur heute abend vorbeikommen.«

»Aber warum will sie mich sprechen?«

»Gott, ich weiß es nicht, Miss. Ich hab sie nicht gefragt. Möchten Sie, dass ich zurückgehe und sie frage?«

»Nein, schon gut. Aber bist du auch sicher, dass die Nachricht für mich ist?«

»Ja, Miss. Sie sagt, Sie sollen bei ihr vorbeikommen.«

Da sie ohnehin beschlossen hatte, an einem anderen Abend ins Kino zu gehen, und genug von ihrem Hauptbuch hatte, zog Eilis ein anderes Kleid an, streifte eine Strickjacke über und verließ das Haus. Sie ging die Friary Street und die Rafter Street entlang bis zum Market Square und dann den Hang hinauf zur Kathedrale. Miss Kellys Laden war geschlossen, also klopfte Eilis an die Seitentür, die zum Obergeschoss des Hauses führte, in dem, wie sie wusste, Miss Kelly wohnte. Es öffnete das junge Mädchen, das vorher zu ihr gekommen war und sie jetzt aufforderte, im Flur zu warten.

Eilis hörte Stimmen und Schritte im ersten Stock, und dann kam das junge Mädchen wieder herunter und sagte, Miss Kelly werde bald kommen.

Sie kannte Miss Kelly vom Sehen, aber ihre Mutter kaufte in ihrem Geschäft nicht ein, weil es dort zu teuer war. Außerdem hatte sie den Eindruck, dass ihre Mutter Miss Kelly nicht leiden mochte, obwohl sie sich keinen Grund dafür denken konnte. Es hieß, dass Miss Kelly den besten Schinken in der ganzen Stadt verkaufte und die beste Molkereibutter und von allem, einschließlich Sahne, das Frischeste, aber Eilis konnte sich nicht erinnern, jemals in dem Geschäft gewesen zu sein, höchstens hatte sie im Vorbeigehen einen Blick hineingeworfen und Miss Kelly hinter dem Ladentisch gesehen.

Miss Kelly kam langsam die Treppe herunter und machte Licht.

»So«, sagte sie, und wiederholte das Wort, als sei es eine Begrüßung. Sie lächelte nicht.

Eilis wollte eigentlich erklären, man habe nach ihr geschickt, und höflich fragen, ob sie jetzt auch nicht ungelegen komme, aber als sie sah, wie Miss Kelly sie so abschätzig musterte, beschloss sie, nichts zu sagen. So wie sie sich verhielt, fragte sich Eilis, ob Miss Kelly von jemandem in der Stadt beleidigt worden war und sie mit der betreffenden Person verwechselt hatte.

»Da bist du also«, sagte Miss Kelly.

Eilis sah, dass mehrere schwarze Regenschirme gegen die Ablage im Flur gelehnt standen.

»Ich habe gehört, du hast keine Arbeit, aber einen Kopf für Zahlen.«

»Wirklich?«

»Ach, die ganze Stadt, jeder, der irgend etwas zählt, kommt zu mir in den Laden, und ich erfahre alles.«

Eilis fragte sich, ob das eine Anspielung auf die Tatsache war, dass ihre Mutter grundsätzlich in einem anderen Lebensmittelgeschäft einkaufte, aber sie war sich nicht sicher. Die dicken Gläser von Miss Kellys Brille machten es schwer, ihren Gesichtsausdruck zu deuten.

»Und uns wächst hier jeden Sonntag die Arbeit über den Kopf. Klar, es hat ja sonst nichts auf. Und es kommen die verschiedensten Leute, gut, schlecht und mittelmäßig. Normalerweise öffne ich nach der Sieben-Uhr-Messe, und zwischen dem Ende der Neun-Uhr-Messe und dem der Elf-Uhr-Messe und sogar noch später kann man sich in dem Geschäft kaum rühren. Mary geht mir zur Hand, aber sie ist furchtbar langsam von Begriff, also wollte ich jemand mit Köpfchen haben, jemand, der einen Blick für die Leute hat und richtig herausgibt. Aber wohlgemerkt, nur sonntags. Den Rest der Woche kommen wir allein zurecht. Und man hat dich mir empfohlen. Ich habe Erkundigungen über dich eingezogen, und es gäbe siebeneinhalb Shilling die Woche, das könnte deiner Mutter ein bisschen weiterhelfen.«

Miss Kelly kniff nach jedem Satz den Mund fest zusammen und sprach, fand Eilis, als schilderte sie eine ihr zugefügte Kränkung.

»Das ist also alles, was ich jetzt zu sagen habe. Du kannst am Sonntag anfangen, aber komm schon morgen ins Geschäft, damit du alle Preise auswendig lernst, und wir zeigen dir, wie die Waage und die Schneidemaschine funktionieren. Du musst dir die Haare hinten zusammenbinden und bei Dan Bolger oder Burke O’Leary einen guten Kittel besorgen.«

Eilis prägte sich schon die ganze Zeit dieses Gespräch für ihre Mutter und Rose ein; sie wünschte sich, ihr fiele eine schlagfertige Erwiderung ein, die nicht direkt unhöflich gewesen wäre. So blieb sie stumm.

»Nun?« fragte Miss Kelly.

Eilis begriff, dass sie das Angebot nicht ausschlagen konnte. Es wäre immer noch besser als nichts, und momentan hatte sie nichts.

»O ja, Miss Kelly«, sagte sie. »Ich fange an, wann immer Sie möchten.«

»Und am Sonntag kannst du zur Sieben-Uhr-Messe gehen. So machen wir es auch, und anschließend öffnen wir.«

»Das ist schön«, sagte Eilis.

»Also, dann komm morgen. Und wenn ich beschäftigt bin, schicke ich dich wieder nach Haus, oder du kannst Zucker in Tüten abfüllen, während du wartest, aber wenn ich nicht zu viel zu tun habe, zeige ich dir alles.«

»Danke, Miss Kelly«, sagte Eilis.

»Deine Mutter wird sich freuen, dass du etwas hast. Und deine Schwester auch«, sagte Miss Kelly. »Wie ich höre, ist sie eine sehr gute Golfspielerin. Geh jetzt also nach Hause wie ein braves Mädchen. Den Weg hinaus findest du ja selbst.«

Miss Kelly drehte sich um und begann, langsam die Treppe hinaufzusteigen. Auf dem Heimweg dachte Eilis, dass ihre Mutter sich tatsächlich darüber freuen würde, dass sie selbst etwas Geld verdienen konnte, dass Rose allerdings meinen würde, hinter dem Ladentisch eines Lebensmittelgeschäfts zu arbeiten, sei nicht gut genug für sie. Sie fragte sich, ob Rose ihr das ins Gesicht sagen würde.

Unterwegs schaute sie bei Nancy Byrne vorbei, ihrer besten Freundin, und traf dort auch ihre gemeinsame Freundin Annette O’Brien. Die Byrnes hatten im Parterre ein einziges Zimmer, das gleichzeitig als Küche, Ess- und Wohnzimmer diente, und es war unverkennbar, dass Nancy irgendwelche Neuigkeiten zu erzählen hatte, von denen Annette schon einen Teil zu wissen schien. Nancy nutzte daher Eilis’ Erscheinen als Ausrede für einen Spaziergang, damit sie ungestört reden konnten.

»Ist etwas passiert?« fragte Eilis, sobald sie auf der Straße waren.

»Sag nichts, bevor wir nicht einen Kilometer von diesem Haus entfernt sind«, sagte Nancy. »Mama weiß, dass etwas los ist, aber von mir erfährt sie nichts.«

Sie gingen die Friary Hill hinunter und über die Mill Park Road zum Fluss und dann die Promenade entlang in Richtung Ringwood.

»Sie hat sich George Sheridan angelacht«, sagte Annette.

»Wann?« fragte Eilis.

»Beim Tanz im Athenaeum am Sonntagabend«, sagte Nancy.

»Ich dachte, du wolltest da nicht hin.«

»Wollte ich auch nicht, dann bin ich aber doch.«

»Sie hat den ganzen Abend mit ihm getanzt«, sagte Annette.

»Gar nicht, nur die letzten vier Tänze, und dann hat er mich nach Haus begleitet. Aber alle haben es gesehen. Es wundert mich, dass du nichts davon gehört hast.«

»Und, wirst du ihn wiedersehen?« fragte Eilis.

»Ich weiß nicht.« Nancy seufzte. »Vielleicht werde ich ihn nur auf der Straße sehen. Gestern ist er an mir vorbeigefahren und hat gehupt. Wenn jemand anders da gewesen wäre, ich meine, eine von seiner Sorte, dann hätte er mit ihr getanzt, aber es war keine da. Er war zusammen mit Jim Farrell da, der stand bloß so rum und sah uns zu.«

»Ich möchte nicht wissen, was seine Mutter sagt, wenn sie davon erfährt«, sagte Annette. »Sie ist furchtbar. Ich geh schrecklich ungern in diesen Laden, wenn George nicht da ist. Meine Mutter hat mich einmal hingeschickt, damit ich zwei Scheiben Speck kaufe, und die Alte hat zu mir gesagt, sie verkauft Baconscheiben nicht paarweise.«

Dann erzählte Eilis ihnen, dass Miss Kelly ihr eine Stelle als Verkäuferin angeboten hatte.

»Hoffentlich hast du ihr gesagt, wo sie sich die Stelle hinstecken kann«, sagte Nancy.

»Ich habe ihr gesagt, dass ich sie annehme. Kann ja nicht schaden. So kann ich vielleicht mit dir ins Athenaeum gehen und selbst bezahlen und dich davor bewahren, ausgenutzt zu werden.«

»So war das gar nicht«, sagte Nancy. »Er war nett.«

»Wirst du ihn wiedersehen?« wiederholte Eilis.

»Kommst du am Sonntagabend mit mir mit?« fragte Nancy ihrerseits. »Vielleicht ist er auch gar nicht da, aber Annette kann nicht mitkommen, und ich werde Rückendeckung brauchen für den Fall, dass er doch da ist und mich nicht zum Tanzen auffordert oder mich nicht mal anschaut.«

»Vielleicht bin ich zu müde, nachdem ich bei Miss Kelly gearbeitet habe.«

»Aber du kommst?«

»Ich bin seit Ewigkeiten nicht mehr dort gewesen«, sagte Eilis. »Ich kann diese ganzen Bauernburschen nicht ausstehen, und die aus der Stadt sind noch schlimmer. Halb betrunken und nur darauf aus, dich in die Tan Yard Lane zu schleppen.«

»George ist nicht so«, sagte Nancy.

»Er ist viel zu eingebildet, um auch nur in die Nähe der Tan Yard Lane zu gehen«, sagte Annette.

»Vielleicht können wir ihn fragen, ob er es sich nicht überlegt, Speck künftig auch in Scheiben zu verkaufen«, sagte Eilis.

»Sag ihm nichts davon«, sagte Nancy. »Hast du wirklich vor, für Miss Kelly zu arbeiten? Bei der ist wirklich nicht gut Speck kaufen!«

Im Laufe der nächsten zwei Tage machte Miss Kelly Eilis mit dem gesamten Warenbestand vertraut. Als Eilis um ein Blatt Papier bat, um sich die verschiedenen Teesorten und die unterschiedlichen Päckchengrößen notieren zu können, sagte Miss Kelly, es sei nur Zeitverschwendung, alles aufzuschreiben; am besten sei es, alles auswendig zu lernen. Zigaretten, Butter, Tee, Brot, in Flaschen abgefüllte Milch, Kekse, gekochter Schinken und Corned Beef, sagte sie, seien die Dinge, die sonntags mit Abstand am besten gingen, und danach kämen Sardinen- und Lachskonserven, Mandarinenschnitze und Birnen und Obstsalat in Dosen, Hühnchen- und Schinkenpaste und Brotaufstrich und Salatsauce in Gläsern. Sie zeigte Eilis immer jedes Produkt einzeln, bevor sie ihr den jeweiligen Preis nannte. Wenn sie den Eindruck hatte, dass Eilis sich alles eingeprägt hatte, ging sie zu weiteren Waren über, wie abgepackte frische Sahne, Limonade, Tomaten, Kopfsalat, frisches Obst und Eiscreme.

»So, und dann gibt es Leute, die am Sonntag herkommen und Sachen wollen, die sie, mit Verlaub, schon die Woche über hätten kaufen sollen. Was kann man da machen?« Miss Kelly schürzte missbilligend die Lippen, zählte Seife, Shampoo, Toilettenpapier und Zahnpasta auf und nannte die jeweiligen Preise.

Manche Leute, fügte sie hinzu, kauften außerdem am Sonntag Zucker oder Salz und sogar Pfeffer, aber nicht viele. Dann gab es sogar welche, die Sirup oder Backpulver oder Mehl wollten, aber am meisten würden solche Sachen am Samstag verkauft.

Es kamen immer Kinder, sagte Miss Kelly, die Schokolade oder Karamelbonbons oder Brausepulver oder Gummibärchen wollten, und Männer, die einzelne Zigaretten und Streichhölzer kauften, aber um die kümmerte sich Mary, da sie mit großen Einkäufen sowieso nicht gut zurechtkomme und sich auch keine Preise merken könne und oft, fuhr Miss Kelly fort, wenn viele Kunden im Laden seien, eher ein Klotz am Bein als eine Hilfe sei.

»Ich kann ihr einfach nicht abgewöhnen, Leute ohne jeden Grund anzugaffen. Selbst einige der Stammkunden.«

Der Laden, stellte Eilis fest, hatte ein reichhaltiges Warenangebot mit vielen verschiedenen Teesorten, einige davon sehr teuer und alle teurer als bei Hayes auf der Friary Street oder dem L&N auf der Rafter Street oder bei Sheridan’s am Market Square.

»Du wirst lernen müssen, wie man Zucker abfüllt und Brot einpackt«, sagte Miss Kelly. »Das ist immerhin eines der Dinge, die Mary gut kann, Gott sei’s gedankt.«

Eilis bemerkte, dass Miss Kelly jede Kundin, die an den Tagen ihrer Einweisung das Geschäft betrat, jeweils anders behandelte. Manchmal sagte sie überhaupt nichts, sondern biss die Zähne zusammen und stand hinter dem Ladentisch in einer Pose, die zu verstehen gab, dass sie die Anwesenheit der betreffenden Kundin in ihrem Geschäft zutiefst missbilligte und es nicht erwarten konnte, dass sie wieder verschwand. Andere bedachte sie mit einem dünnen Lächeln, musterte sie mit grimmiger Herablassung und nahm das Geld in Empfang, als gewährte sie ihnen eine unvorstellbare Gunst. Und dann gab es Kundinnen, die sie herzlich und mit Namen begrüßte; etliche von ihnen ließen anschreiben, und so wechselte kein Bargeld die Besitzerin, sondern es wurden Beträge in ein Hauptbuch eingetragen, begleitet von Erkundigungen nach dem werten Befinden und Bemerkungen über das Wetter und Kommentaren über die Qualität des Schinkens oder des Bacon oder über die Vielfalt des angebotenen Brotes, von den Kastenbroten bis hin zum Rosinenbrot.

»Und ich versuche gerade, diese junge Dame anzulernen«, sagte sie zu einer Kundin, die sie mehr als alle anderen wertzuschätzen schien, eine Frau mit einer frischen Dauerwelle, die Eilis noch nie gesehen hatte. »Ich versuche, sie anzulernen, und ich hoffe, dass sie nicht bloß guten Willens ist, denn die arme Mary ist guten Willens, aber das nützt nichts, es nützt weniger als nichts. Ich hoffe, die Neue ist flink und intelligent und zuverlässig, aber heutzutage bekommt man so was nicht für Geld und gute Worte.«

Eilis sah Mary an, die verlegen bei der Registrierkasse stand und aufmerksam zuhörte.

»Aber der Herr erschafft eben solche und solche«, sagte Miss Kelly.

»Da haben Sie recht, Miss Kelly«, sagte die Frau mit der Dauerwelle, während sie ihr Einkaufsnetz mit Lebensmitteln füllte. »Und es nützt auch nichts, sich zu beklagen, nicht? Brauchen wir schließlich nicht auch Leute zum Straßenkehren?«

Am Samstag kaufte sich Eilis mit Geld, das sie sich von ihrer Mutter geborgt hatte, in Dan Bolgers Geschäft einen dunkelgrünen Kittel. Am Abend bat sie ihre Mutter um den Wecker. Am nächsten Morgen würde sie um sechs aufstehen müssen.

Als Jack, der ihr vom Alter her am nächsten stand, seinen zwei älteren Brüdern nach Birmingham gefolgt war, war Eilis in das Jungenzimmer umgezogen und hatte Rose ihr altes Zimmer überlassen, das ihre Mutter jeden Morgen sorgfältig aufräumte und putzte. Da ihre Mutter nur eine kleine Rente bekam, waren sie auf Rose angewiesen, die in der Verwaltung von Davis’s Mills arbeitete; ihr Gehalt deckte den größten Teil ihrer Bedürfnisse. Darüber hinaus kam gelegentlich etwas von den Jungen aus England. Zweimal im Jahr fuhr Rose nach Dublin zum Schlussverkauf und kam jeden Januar mit einem neuen Mantel und Kostüm zurück und jeden August mit einem neuen Kleid und neuen Strickjacken und Röcken und Blusen, die sie oft deshalb auswählte, weil sie glaubte, sie kämen nicht aus der Mode, und dann bis zum Jahr darauf beiseite legte. Rose’ Freundinnen waren mittlerweile größtenteils verheiratete Frauen, häufig ältere Frauen mit schon erwachsenen Kindern oder Ehefrauen von Bankangestellten, die Zeit hatten, im Sommer abends Golf zu spielen oder sich am Wochenende zu gemischten Viererpartien trafen.

Mit Dreißig war Rose, wie Eilis fand, attraktiver denn je, und obwohl sie mehrere Freunde gehabt hatte, war sie immer noch ledig; sie erklärte häufig, sie habe ein viel angenehmeres Leben als viele ihrer früheren Schulkameradinnen, die man jetzt Kinderwagen die Straßen entlangschieben sah. Eilis war stolz auf ihre Schwester, stolz darauf, wieviel Sorgfalt sie auf ihr Äußeres legte und wie sorgfältig sie darauf achtete, mit wem sie in der Stadt und im Golfklub verkehrte. Sie wusste, dass Rose versucht hatte, für sie eine Stelle in einem Büro zu finden, und es war auch Rose, die ihr jetzt, wo sie Buchführung und Grundlagen des Rechnungswesens lernte, die Bücher bezahlte, aber sie wusste auch, dass es in Enniscorthy, zumindest im Augenblick, für niemanden Arbeit gab, mochte er oder sie auch noch so qualifiziert sein.

Eilis erzählte Rose nichts von Miss Kellys Angebot; dafür prägte sie sich, während sie eingewiesen wurde, jedes Detail ein, um es anschließend ihrer Mutter zu berichten, die lachte und sie einzelne Passagen ihres Berichts wiederholen ließ.

»Diese Miss Kelly«, sagte ihre Mutter, »ist so schlimm wie ihre Mutter, und ich habe von jemand, der dort gearbeitet hat, gehört, dass diese Frau das leibhaftige Böse war. Vor ihrer Heirat hatte sie bloß im Roche’s bedient. Und das Kelly’s war früher nicht nur ein Laden, sondern auch eine Pension, und wenn man für sie arbeitete oder sogar wenn man dort wohnte oder im Laden einkaufte, war sie das leibhaftige Böse. Es sei denn natürlich, man hatte massenweise Geld oder gehörte zur Geistlichkeit.«

»Ich bleibe da nur so lange, bis ich etwas finde«, sagte Eilis.

»Genau das habe ich Rose auch gesagt, als ich es ihr erzählt habe«, erwiderte ihre Mutter. »Und sollte sie etwas sagen, hör nicht auf sie.«

Rose ließ allerdings kein Wort darüber fallen, dass Eilis bald bei Miss Kelly anfangen würde. Statt dessen schenkte sie ihr eine blassgelbe Strickjacke, die sie noch kaum getragen hatte, weil die Farbe, wie sie behauptete, ihr nicht stehe und an Eilis besser aussehen würde. Sie schenkte ihr auch einen Lippenstift. Am Samstagabend ging sie aus, bekam also nicht mit, dass Eilis, obwohl Nancy und Annette ins Kino gingen, früh schlafen ging, damit sie an ihrem ersten Sonntag in Miss Kellys Laden ausgeruht sein würde.

Eilis war nur ein einziges Mal, Jahre zuvor, zur Sieben-Uhr-Messe gegangen, und das war am Weihnachtsmorgen gewesen, als ihr Vater noch lebte und die Jungs noch zu Hause wohnten. Sie erinnerte sich, wie sie und ihre Mutter, während die anderen noch schliefen, die Geschenke im oberen Wohnzimmer unter den Baum gelegt hatten und auf Zehenspitzen aus dem Haus geschlichen waren, und als sie zurückkamen, waren die Jungs und Rose und ihr Vater wach und fingen gerade an, die Pakete zu öffnen. Sie erinnerte sich an die Dunkelheit, die Kälte und die schöne Leere der Stadt. Jetzt verließ sie das Haus, ihren Kittel in einer Einkaufstasche und ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, unmittelbar nachdem zwanzig vor sieben die Glocke geläutet hatte, und machte sich, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass mehr als genug Zeit blieb, auf den Weg zur Kathedrale.

Sie erinnerte sich, dass an jenem Jahre zurückliegenden Weihnachtsmorgen die Bänke im Mittelschiff der Kathedrale fast voll besetzt gewesen waren. Frauen, denen ein langer Vormittag in der Küche bevorstand, wollten sich möglichst früh an die Arbeit machen. Heute aber war fast niemand da. Sie schaute sich nach Miss Kelly um, sah sie aber erst bei der Kommunion und begriff dann, dass sie die ganze Zeit in ihrer Nähe gesessen hatte, auf der anderen Seite des Mittelganges. Sie beobachtete sie, wie sie mit gefalteten Händen und niedergeschlagenen Augen, von Mary gefolgt, die eine schwarze Mantille trug, an ihren Platz zurückkehrte. Sie hatten mit Sicherheit beide gefastet, dachte sie, so wie sie selbst ja auch, und sie fragte sich, wann sie wohl frühstücken würden.

Als die Messe vorüber war, beschloss sie, nicht vor der Kathedrale auf Miss Kelly zu warten, verweilte statt dessen kurz beim Kiosk, während Bündel von Zeitungen ausgepackt wurden, und stellte sich dann vor den Laden und wartete dort. Miss Kelly grüßte sie weder noch lächelte sie, als sie ankam, sondern ging mürrisch zur Seitentür und befahl Eilis und Mary, draußen zu warten. Als sie die Ladentür aufgeschlossen hatte und anfing, die Lichter einzuschalten, ging Mary nach hinten und begann, Brotlaibe zum Ladentisch zu tragen. Eilis wusste, dass es Brot vom Vortag war; sonntags wurde kein Brot ausgeliefert. Sie schaute zu, wie Miss Kelly einen neuen langen Streifen von gelbem klebrigem Fliegenpapier entrollte und Mary dann auf den Tresen steigen, den Streifen an der Decke befestigen und den alten, der schon ganz mit Fliegen übersät war, herunternehmen ließ.

»Keiner mag Fliegen«, sagte Miss Kelly, »am allerwenigsten sonntags.«

Bald kamen zwei, drei Leute ins Geschäft, um Zigaretten zu kaufen. Obwohl Eilis ihren Kittel schon angezogen hatte, befahl Miss Kelly Mary, sie zu bedienen. Als sie wieder gegangen waren, trug Miss Kelly Mary auf, nach oben zu gehen und eine Kanne Tee zu kochen, die sie dann – wie Eilis erfuhr, im Austausch gegen eine unentgeltliche Sunday Post, die Miss Kelly zusammenfaltete und beiseite legte – zum Zeitungskiosk trug. Eilis bemerkte, dass weder Miss Kelly noch Mary etwas aßen oder tranken. Miss Kelly führte sie in ein Hinterzimmer.

»Dieses Brot hier«, sagte sie und zeigte auf einen Tisch, »ist das frischeste. Es ist gestern abend von Stafford’s gekommen, aber es ist nur für besondere Kunden. Rühr dieses Brot also auf keinen Fall an. Das andere Brot ist für die meisten Leute gut genug. Und Tomaten haben wir keine. Die da bekommt niemand, es sei denn, ich gebe besondere Anweisungen.«

Nach der Neun-Uhr-Messe wurde es zum erstenmal richtig voll. Wer Zigaretten und Süßigkeiten wollte, schien zu wissen, dass er sich an Mary wenden sollte. Miss Kelly blieb im Hintergrund und teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen der Tür und Eilis. Sie überprüfte jeden Preis, den Eilis aufschrieb, sagte ihn ihr kurz angebunden vor, wenn sie sich an einen Preis nicht erinnern konnte, und schrieb dann, nachdem Eilis alles addiert hatte, jede Zahl noch einmal auf und rechnete alles zusammen und erlaubte ihr erst dann, das Wechselgeld herauszugeben, nachdem sie gesehen hatte, welchen Betrag die Kundin gezahlt hatte. Nebenher begrüßte sie bestimmte Kundinnen mit Namen, winkte sie nach vorn und bestand darauf, dass Eilis alles stehen und liegen ließ, um sie zu bedienen.

»Ah, Mrs. Prendergast«, sagte sie, »das neue Mädchen kümmert sich um Sie, und Mary trägt Ihnen dann alles zum Wagen.«

»Ich muss erst das hier fertig machen«, sagte Eilis, weil nur noch wenige Dinge fehlten, und sie hätte eine andere Bestellung abgeschlossen.

»Ach, darum kann sich Mary kümmern«, sagte Miss Kelly.

Mittlerweile standen die Leute schon in Fünferreihen an.

»Ich bin als nächster dran«, rief ein Mann, als Miss Kelly mit weiteren Brotlaiben zum Ladentisch zurückkam.

»Tja, wir sind sehr beschäftigt, da werden Sie schon warten müssen, bis Sie an der Reihe sind.«

»Aber ich war als nächster dran«, sagte der Mann, »und diese Frau ist vor mir bedient worden.«

»Also, was wollen Sie?«

Der Mann hatte einen Einkaufszettel in der Hand.

»Eilis wird sich gleich um Sie kümmern«, sagte Miss Kelly, »aber erst ist Mrs. Murphy an der Reihe.«

»Ich war auch schon vor ihr da«, sagte der Mann.

»Ich fürchte, Sie irren sich«, sagte Miss Kelly. »Jetzt Beeilung, Eilis, der Mann hier wartet. Nicht jeder hat den ganzen Tag Zeit, er ist also als nächster dran, nach Mrs. Murphy. Wieviel hast du für diesen Tee berechnet?«

So ging es fast bis ein Uhr weiter. Es gab keine Pause und nichts zu essen oder zu trinken, und Eilis war am Verhungern. Niemand wurde in der richtigen Reihenfolge bedient. Miss Kelly informierte einige ihrer Kundinnen – darunter zwei, die, da sie mit Rose befreundet waren, Eilis vertraulich grüßten –, dass sie schöne frische Tomaten hatte. Sie wog sie selbst ab, anscheinend beeindruckt von der Tatsache, dass Eilis diese Kundinnen kannte, während sie anderen mit Bestimmtheit erklärte, sie habe heute keine Tomaten, nicht eine einzige. Für bevorzugte Kundinnen holte sie das frische Brot ohne jede Hemmung, fast stolz nach vorn. Das Problem, begriff Eilis, war, dass es in der ganzen Stadt kein anderes Geschäft mit einer solchen Auswahl gab, das außerdem Sonntag vormittags aufhatte, aber irgendwie gewann sie den Eindruck, dass die Leute aus Gewohnheit kamen und dass es ihnen nichts ausmachte zu warten, dass sie vielmehr das Gedränge und die vielen Menschen genossen.

Eilis hatte zwar vorgehabt, solange Rose das Thema nicht zur Sprache brachte, während des Mittagessens nicht von ihrer neuen Arbeit in Miss Kellys Laden zu erzählen, aber dann konnte sie sich nicht beherrschen und begann, sobald sie sich gesetzt hatten, ihren Vormittag zu schildern.

»Ich war ein einziges Mal in diesem Laden«, sagte Rose, »auf dem Heimweg nach der Messe, und sie hat Mary Delahunt vor mir bedient. Ich habe mich umgedreht und bin gegangen. Und es hat da außerdem so komisch gerochen, keine Ahnung, wonach. Sie hat so eine kleine Sklavin, nicht? Die hat sie aus einer Klosterschule rausgeholt.«

»Ihr Vater war ein richtig netter Mann«, sagte ihre Mutter, »aber sie hatte keine Chance, denn ihre Mutter, ich hab’s dir ja schon erzählt, Eilis, war das leibhaftige Böse. Als eines der Dienstmädchen sich einmal verbrühte, durfte es nicht mal zum Arzt, hab ich gehört. Die Mutter ließ Nelly, sobald sie laufen konnte, im Laden mitarbeiten. Sie hat nie das Tageslicht gesehen, deswegen stimmt was mit ihr nicht.«

»Nelly Kelly?« fragte Rose. »Heißt sie wirklich so?«

»Auf der Schule hatte sie einen anderen Namen.«

»Nämlich?«

»Alle nannten sie Nettles Kelly. Die Nonnen konnten nichts dagegen unternehmen. Ich erinnere mich gut an sie, sie war eine oder zwei Klassen unter mir. Wenn sie den Mercy Convent verließ, hatte sie immer fünf oder sechs Mädchen im Schlepptau, die ihr ›Nettles‹ nachschrien. Kein Wunder, dass sie so verbiestert ist.«

Während Rose und Eilis das verdauten, herrschte eine Weile Schweigen.

»Da weiß man gar nicht, ob man lachen oder weinen soll«, sagte Rose.

Im weiteren Verlauf der Mahlzeit stellte Eilis fest, dass es ihr gelang, Miss Kellys Stimme so nachzuahmen, dass ihre Schwester und ihre Mutter lachen mussten. Sie fragte sich, ob sie die einzige war, die sich daran erinnerte, dass ihr Bruder Jack früher immer die Sonntagspredigt, die Sportberichterstatter im Radio, die Schullehrer und viele stadtbekannte Personen imitiert und sie damit alle zum Lachen gebracht hatte. Sie wusste nicht, ob den anderen beiden ebenfalls auffiel, dass sie zum erstenmal lachten, seit Jack den anderen nach Birmingham gefolgt war. Sie hätte so gern etwas über ihn gesagt, aber sie wusste, dass es ihre Mutter traurig gemacht hätte. Selbst wenn ein Brief von ihm kam, wurde er wortlos herumgereicht. Also fuhr sie fort, sich über Miss Kelly lustig zu machen, und hörte damit erst auf, als jemand kam, um Rose zum Golfspielen abzuholen, womit es Eilis und ihrer Mutter überlassen blieb, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen.

Als Eilis an dem Abend Nancy Byrne um neun Uhr abholte, war ihr klar, dass sie sich nicht schön genug hergerichtet hatte. Sie hatte sich die Haare gewaschen und ein Sommerkleid angezogen, aber sie fühlte sich wie eine graue Maus und hatte sich schon mit dem Gedanken abgefunden, dass sie, wenn Nancy mehr als nur einen Tanz mit George Sheridan tanzen sollte, allein nach Hause gehen würde. Sie war froh, dass Rose sie nicht gesehen hatte, bevor sie gegangen war, da sie ihr sonst zugeredet hätte, etwas mehr mit ihrem Haar zu machen und sich ein bisschen zu schminken und überhaupt zu versuchen, eleganter auszusehen.

»Also, der Plan lautet«, sagte Nancy, »dass wir George Sheridan keines Blickes würdigen, und vielleicht ist er ja auch mit einer ganzen Clique vom Rugbyverein zusammen oder überhaupt nicht da. Sonntagabends fahren die oft raus nach Courtown, diese Typen. Also müssen wir uns angeregt unterhalten. Und ich tanze mit keinem anderen, für den Fall, dass er auftaucht und mich sieht. Wenn also jemand uns auffordern will, stehen wir einfach auf und gehen auf die Toilette.«

Es war deutlich zu sehen, dass sich Nancy, mit Hilfe ihrer Schwester und ihrer Mutter, denen sie zuletzt doch von George Sheridan erzählt hatte, sehr große Mühe mit ihrem Aussehen gegeben hatte. Sie hatte sich am Vortag die Haare richten lassen, trug ein blaues Kleid, das Eilis erst einmal gesehen hatte, und schminkte sich jetzt vor dem Badezimmerspiegel, während ihre Mutter und Schwester im Zimmer ein und aus gingen und Ratschläge und bewundernde Kommentare von sich gaben.

Sie gingen schweigend von der Friary Street in die Church Street und dann um die Ecke in die Castle Street und ins Athenaeum und die Treppe hinauf in den Saal. Es überraschte Eilis nicht, wie nervös Nancy war. Es war ein Jahr her, seit ihr Freund sie schlimm enttäuscht hatte, indem er eines Abends in genau diesem Saal mit einem anderen Mädchen aufgetaucht und den ganzen Abend bei diesem Mädchen geblieben war und dabei Nancy, die dasaß und zuschaute, kaum zur Kenntnis genommen hatte. Später war er nach England gegangen und war nur für kurze Zeit zurückgekommen, um das Mädchen, mit dem er an dem Abend zusammengewesen war, zu heiraten. Nicht nur sah George Sheridan gut aus und hatte einen Wagen, sondern er führte auch einen florierenden Laden am Market Square; nach dem Tod seiner Mutter würde er ihn als Alleinerbe übernehmen. Für Nancy, die in Buttle’s Barley-Fed Bacon hinter dem Ladentisch arbeitete, war mit George Sheridan auszugehen ein Traum, aus dem sie am liebsten nie wieder aufgewacht wäre, dachte Eilis, während sie und Nancy sich im Saal umsahen, als schauten sie sich nur beiläufig um.

Einige Paare tanzten, und ein paar Männer standen in der Nähe der Tür herum.

»Die gucken so, als wären sie auf dem Viehmarkt«, sagte Nancy. »Du lieber Gott, am schlimmsten ist das Haaröl!«

»Wenn einer von ihnen zu uns kommt, stehe ich sofort auf«, sagte Eilis, »und du sagst ihm, dass du mich zur Garderobe begleiten musst.«

»Wir müssten Brillen mit dicken Gläsern haben und vorstehende Zähne, und unser Haar müsste ganz fettig sein«, sagte Nancy.

Der Raum füllte sich allmählich, aber von George Sheridan war nichts zu sehen. Und selbst als andere Männer den Saal durchquerten, um Frauen zum Tanz aufzufordern, kam niemand auf Nancy oder Eilis zu.

»Man wird uns bald nur noch die zwei Mauerblümchen nennen«, sagte Nancy.

»Es gibt Schlimmeres«, sagte Eilis.

»Keine Frage. ›Bus nach Courtnacuddy‹ genannt zu werden wäre noch schlimmer«, erwiderte Nancy.

Selbst nachdem sie beide aufgehört hatten zu lachen und sich wieder im Saal umsahen, brach immer wieder eine von beiden in Gekicher aus und steckte sofort die andere an.

»Die Leute müssen uns für verrückt halten«, sagte Eilis.

Nancy war allerdings plötzlich ernst geworden. Als Eilis zur Bar hinüberschaute, an der alkoholfreie Getränke ausgeschenkt wurden, sah sie, dass George Sheridan, Jim Farrell und mehrere ihrer Freunde aus dem Rugbyverein angekommen waren und mit etlichen jungen Frauen zusammenstanden. Jim Farrells Vater gehörte ein Pub auf der Rafter Street.

»Das war’s«, flüsterte Nancy. »Ich geh nach Haus.«

»Wart, tu das nicht«, sagte Eilis. »In der nächsten Pause gehen wir auf die Toilette, und dann besprechen wir, was wir tun.«

Sie warteten und überquerten dann die menschenleere Tanzfläche; Eilis vermutete, dass George Sheridan sie bemerkt hatte. Auf der Toilette sagte sie zu Nancy, sie sollte nichts unternehmen, nur warten, und sie würden wieder hinausgehen, wenn der nächste Tanz in vollem Gang sei. Als sie dann wieder im Saal waren und Eilis dorthin schaute, wo George und seine Freunde gewesen waren, trafen sich ihr und Georges Blick. Nancy war, während sie nach einem Sitzplatz suchten, über und über rot geworden; sie sah wie eine Schülerin aus, die die Nonnen aus dem Klassenzimmer geschickt hatten. Sie saßen schweigend da, während der Tanz weiterging. Alles, was Eilis einfiel, hätte lächerlich geklungen, also sagte sie nichts, aber es war ihr bewusst, dass sie jedem, der zu ihnen hinsah, einen jämmerlichen Anblick bieten mussten. Sollte Nancy auch nur die leiseste Andeutung machen, dass sie nach diesem Stück besser gehen sollten, würde sie sich sofort einverstanden erklären. Sie wünschte sich sogar, sie wäre bereits draußen; sie wusste, dass sie später irgendwie über die ganze Sache würden lachen können.

Am Ende des Stücks aber kam George herüber und forderte Nancy zum nächsten Tanz auf. Als Nancy aufstand, lächelte er Eilis zu, und sie erwiderte das Lächeln. Während sie tanzten und George leichthin plauderte, schien Nancy sich große Mühe zu geben, vergnügt auszusehen. Eilis wandte die Augen ab für den Fall, dass es Nancy befangen machte, wenn sie ihnen zuschaute, und dann schlug sie sie nieder und hoffte, dass niemand sie zum Tanzen aufforderte. Jetzt, dachte sie, wäre es am einfachsten, wenn George Nancy am Ende dieses Stücks um den nächsten Tanz bitten würde und sie unauffällig gehen könnte.

Statt dessen kamen George und Nancy auf sie zu und sagten, sie würden sich eine Limonade an der Bar holen und George wolle Eilis ebenfalls eine spendieren. Sie stand auf und durchquerte zusammen mit den beiden den Saal. Jim Farrell stand am Tresen und hielt George einen Platz frei. Ein paar ihrer anderen Freunde, von denen Eilis einen oder zwei dem Namen nach, die anderen nur vom Sehen kannte, standen dabei. Als sie näher kamen, drehte sich Jim Farrell um und behielt einen Ellbogen auf dem Tresen. Er sah Nancy und Eilis von oben bis unten an, ohne zu nicken oder ein Wort zu sagen, rückte dann zur Seite und sagte etwas zu George.

Als die Musik wieder anfing, gingen einige ihrer Freunde auf die Tanzfläche, aber Jim Farrell rührte sich nicht von der Stelle. Nachdem er Nancy und Eilis die Gläser voll Limonade gereicht hatte, stellte George sie Jim Farrell förmlich vor, der nur knapp nickte, ihnen aber nicht die Hand gab. George wirkte ratlos, wie er da stand und an seinem Glas nippte. Er sagte etwas zu Nancy, und sie antwortete. Dann nahm er einen weiteren Schluck. Eilis fragte sich, was er jetzt wohl tun würde; es war offensichtlich, dass sein Freund etwas gegen sie und Nancy hatte und nicht beabsichtigte, mit ihnen ein Wort zu wechseln; Eilis wünschte sich, man hätte sie nicht einfach so mit an die Bar genommen. Sie trank einen Schluck und schaute zu Boden. Als sie die Augen hob, sah sie, dass Jim Farrell Nancy kühl musterte, und als er dann merkte, dass er beobachtet wurde, änderte er seine Haltung und starrte mit ausdruckslosem Gesicht sie an. Er trug ein teures Sportsakko und ein Hemd mit einem Halstuch.

George stellte sein Glas auf die Theke, wandte sich zu Nancy und forderte sie zum Tanzen auf; er gab Jim ein Zeichen, als wollte er ihm zu verstehen geben, er sollte das gleiche tun. Nancy lächelte George und dann Eilis und Jim zu, stellte ihr Glas hin und begleitete ihn zur Tanzfläche. Sie wirkte erleichtert und glücklich. Als Eilis sich umschaute, sah sie, dass sie und Jim Farrell allein an der Theke standen und dass an der Damenseite des Saales kein einziger Platz frei war. Sie saß in der Falle, konnte höchstens wieder auf die Toilette oder nach Hause gehen. Für einen Moment sah es so aus, als würde Jim Farrell einen Schritt nach vorn tun, um sie zum Tanzen aufzufordern. Da sie das Gefühl hatte, sie habe keine andere Wahl, war Eilis bereit anzunehmen; sie wollte Georges Freund gegenüber nicht unhöflich sein. Gerade als sie seine Aufforderung annehmen wollte, schien Jim Farrell es sich aber anders zu überlegen, zog sich wieder zurück und sah sich, ohne sie weiter zu beachten, mit einer fast herrischen Miene im Saal um. Er schaute sie nicht wieder an, und als das Stück zu Ende war, suchte sie Nancy, sagte ihr leise, sie gehe jetzt, und verabschiedete sich. Sie gab George die Hand und entschuldigte sich damit, sie sei müde, und dann verließ sie den Saal so würdevoll, wie es ihr möglich war.

Am nächsten Tag erzählte sie ihrer Mutter und Rose beim Abendessen die Geschichte. Anfangs hörten sie mit Interesse, dass Nancy an zwei aufeinanderfolgenden Sonntagen mit George Sheridan getanzt hatte, aber als Eilis ihnen von Jim Farrells unhöflichem Betragen erzählte, wurden sie richtig aufgeregt.

»Mach ab jetzt einen großen Bogen um das Athenaeum«, sagte Rose.

»Euer Vater kannte seinen Vater gut«, sagte ihre Mutter. »Das ist Jahre her. Sie sind ein paarmal zusammen zum Pferderennen gegangen. Und euer Vater trank manchmal ein Glas im Farrell’s. Es ist ein sehr gepflegtes Lokal. Und seine Mutter ist eine reizende Frau, sie war eine Duggan aus Glenbrien. Es muss am Rugbyverein liegen, dass er so geworden ist, und es muss traurig für seine Eltern sein, einen solchen Schnösel zum Sohn zu haben, denn er ist ihr einziges Kind.«

»Er klingt allerdings wie ein Schnösel, und er sieht auch wie einer aus«, sagte Rose.

»Na ja, jedenfalls war er gestern abend schlecht gelaunt«, sagte Eilis. »Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Vermutlich meint er, dass George jemand Besseres als Nancy haben sollte.«

»Das ist keine Entschuldigung«, sagte ihre Mutter. »Nancy Byrne ist eines der schönsten Mädchen dieser Stadt. George könnte sich sehr glücklich schätzen, sie zu bekommen.«

»Ich weiß nicht, ob seine Mutter derselben Meinung wäre«, sagte Rose.

»Manche Ladenbesitzer in dieser Stadt«, sagte ihre Mutter, »besonders die, die billig einkaufen und teuer verkaufen, haben nichts anderes als ein paar Meter Ladentheke, und sie müssen den ganzen Tag herumsitzen und auf Kundschaft warten. Ich weiß nicht, auf was sie sich eigentlich so viel einbilden.«

Obwohl Miss Kelly Eilis lediglich siebeneinhalb Shilling die Woche bezahlte dafür, dass sie sonntags arbeitete, schickte sie oft Mary auch zu anderen Zeiten vorbei, damit sie sie holte – einmal, als sie sich die Haare richten lassen wollte, ohne den Laden schließen zu müssen, und ein andermal, als alle Konservendosen aus den Regalen geholt und abgestaubt und dann wieder an ihren Platz gestellt werden sollten. Zwar gab sie Eilis jedesmal zwei Shilling, aber sie hielt sie stundenlang auf und beklagte sich bei jeder Gelegenheit über Mary. Außerdem gab Miss Kelly Eilis jedesmal, bevor sie ging, einen Laib Brot für ihre Mutter mit, von dem Eilis wusste, dass er altbacken war.

»Sie muss uns für Hungerleider halten«, sagte ihre Mutter. »Was sollen wir mit altbackenem Brot anfangen? Rose wird fuchsteufelswild werden. Wenn sie das nächstemal nach dir schickt, geh nicht hin. Sag, du hättest was anderes zu tun.«

»Aber ich hab nichts anderes zu tun.«

»Es wird sich schon noch eine richtige Arbeit für dich finden. Darum bete ich jeden Tag.«

Ihre Mutter rieb das altbackene Brot zu Semmelbröseln und nahm sie als Füllung für einen Schweinebraten. Sie verriet Rose nicht, wo die Semmelbrösel herkamen.

Eines Tages erwähnte Rose, die immer um eins vom Büro heimkam und um Viertel vor zwei wieder zurückging, beim Mittagessen, dass sie am vergangenen Abend mit einem Priester, einem gewissen Father Flood, Golf gespielt habe, der vor Jahren ihren Vater gekannt habe und auch ihre Mutter als junges Mädchen. Er sei aus Amerika da – sein erster Urlaub in der Heimat seit vor dem Krieg.

»Flood?« fragte ihre Mutter. »Es gab einen Haufen Floods in der Nähe von Monageer, aber ich kann mich nicht erinnern, dass einer von ihnen Priester geworden wäre. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, man sieht heutzutage keinen mehr von ihnen.«

»Es gibt das Murphy Floods Hotel«, sagte Eilis.

»Das ist nicht dasselbe«, erwiderte ihre Mutter.

»Wie auch immer«, sagte Rose, »als er sagte, er würde dich gern besuchen, hab ich ihn zum Tee eingeladen, und er kommt morgen.«

»O Gott«, sagte ihre Mutter. »Was mag ein amerikanischer Priester wohl zum Tee? Ich werde gekochten Schinken besorgen müssen.«

»Miss Kelly hat den besten gekochten Schinken«, sagte Eilis lachend.

»Niemand kauft was bei Miss Kelly«, erwiderte Rose. »Father Flood wird essen, was wir ihm vorsetzen.«

»Wäre gekochter Schinken mit Tomaten und Kopfsalat in Ordnung oder vielleicht Roastbeef, oder hätte er lieber Spiegeleier mit Bratkartoffeln?«

»Ihm wird alles recht sein«, sagte Rose. »Mit viel Schwarzbrot und Butter.«

»Wir werden im Esszimmer essen und das gute Porzellan benutzen. Wenn ich vielleicht ein bisschen Lachs bekommen könnte … Würde er das essen?«

»Er ist sehr nett«, sagte Rose. »Er wird alles essen, was du ihm auftischst.«

Father Flood war groß; sein Akzent war eine Mischung aus Irisch und Amerikanisch. Nichts von dem, was er sagte, konnte Eilis’ Mutter davon überzeugen, dass sie ihn oder seine Familie je gekannt hatte. Seine Mutter, sagte er, sei eine Rochford gewesen.

»Ich glaube nicht, dass ich sie gekannt habe«, sagte ihre Mutter. »Der einzige Rochford, den wir kannten, war das alte Axtgesicht.«

Father Flood sah sie feierlich an. »Axtgesicht war mein Onkel«, sagte er.

»Tatsächlich?« fragte ihre Mutter. Eilis sah, dass sie kurz davor stand, vor Nervosität zu lachen.

»Aber natürlich nannten wir ihn nicht so«, sagte Father Flood. »Sein richtiger Name war Seamus.«

»Er war wirklich sehr nett«, sagte ihre Mutter. »War es nicht abscheulich von uns, ihn so zu nennen?«

Rose schenkte Tee nach, während Eilis leise das Zimmer verließ, da sie befürchtete, sie müsste sonst über kurz oder lang laut loslachen.

Als sie zurückkam, merkte sie, dass Father Flood von ihrer Arbeit bei Miss Kelly gehört und sich schockiert darüber geäußert hatte, wie niedrig ihr Lohn war. Er erkundigte sich nach ihrer Ausbildung.

»In den Vereinigten Staaten«, sagte er, »gäbe es jede Menge Stellen für jemanden wie Sie, und zwar gut bezahlte.«

»Sie hatte eigentlich nach England gehen wollen«, sagte ihre Mutter, »aber die Jungen sagten, sie sollte warten, die Zeiten wären dort im Moment nicht rosig, und sie würde vielleicht nur Arbeit in einer Fabrik bekommen.«

»In Brooklyn, wo meine Pfarre ist, gäbe es Büroarbeit für jemanden, der fleißig und ehrlich ist und eine gute Ausbildung hat.«

»Es ist allerdings sehr weit weg«, sagte ihre Mutter. »Das ist der einzige Nachteil.«

»In manchen Vierteln von Brooklyn«, erwiderte Father Flood, »kommt man sich vor wie in Irland. Dort leben jede Menge Iren.«

Er schlug die Beine übereinander, trank einen Schluck Tee aus der Porzellantasse und sagte eine Weile lang nichts. Das Schweigen, das sich über sie senkte, verriet Eilis, was die anderen dachten. Sie sah zu ihrer Mutter hinüber, die ihren Blick, absichtlich, wie ihr schien, nicht erwiderte, sondern die Augen fest auf den Fußboden gerichtet hielt. Rose, die normalerweise so geschickt ein Gespräch in Gang halten konnte, wenn Besuch da war, sagte ebenfalls nichts. Sie drehte ihren Ring hin und her und dann ihren Armreif.

»Es wäre eine große Chance, besonders für einen jungen Menschen«, sagte Father Flood endlich.

»Es könnte sehr gefährlich sein«, sagte ihre Mutter, die Augen noch immer auf den Fußboden geheftet.

»Nicht in meiner Pfarre«, sagte Father Flood. »Das sind lauter wunderbare Menschen. Ein großer Teil des Lebens spielt sich rund um die Kirche ab, sogar noch mehr als in Irland. Und es gibt Arbeit für jeden, der arbeiten will.«

Eilis fühlte sich wie als Kind, wenn der Arzt ins Haus kam und ihre Mutter verschüchtert und respektvoll zuhörte. Neu war für sie Rose’ Schweigen; sie sah sie jetzt an, wollte, dass ihre Schwester eine Frage stellte oder eine Bemerkung machte, aber Rose schien wie in einem Traum versunken zu sein. Als sie sie betrachtete, kam Eilis der Gedanke, dass Rose noch nie so schön ausgesehen hatte. Und dann wurde ihr bewusst, dass sie schon jetzt das Gefühl hatte, sie müsse sich an dieses Zimmer, ihre Schwester, diese ganze Szene, wie aus der Ferne erinnern. Während keiner etwas sagte, begriff sie, war irgendwie stillschweigend vereinbart worden, dass Eilis nach Amerika gehen würde. Father Flood war bestimmt zu ihnen eingeladen worden, weil Rose wusste, dass er es organisieren konnte.

Ihre Mutter war so dagegen gewesen, dass sie nach England ging, dass diese neue Erkenntnis für Eilis einen Schock bedeutete. Sie fragte sich, ob sich die beiden, wenn sie nicht die Arbeit in dem Laden angenommen und ihnen nicht von ihren allwöchentlichen Demütigungen durch Miss Kelly erzählt hätte, ebenso bereitwillig auf dieses Gespräch eingelassen hätten. Sie bereute, ihnen so viel erzählt zu haben; sie hatte es vor allem deswegen getan, weil es Rose und ihre Mutter zum Lachen gebracht hatte; etliche gemeinsame Mahlzeiten waren dadurch aufgeheitert worden, angenehmer und ungezwungener als irgend etwas sonst seit dem Tod ihres Vaters und dem Auszug der Jungen. Jetzt ging ihr auf, dass sie es ganz und gar nicht lustig fanden, dass sie bei Miss Kelly arbeitete, und sie erhoben keinerlei Einwände, als Father Flood vom Lobpreis seiner Gemeinde zu der Erklärung überging, er glaube fest daran, dass es ihm gelingen werde, für Eilis in Brooklyn eine angemessene Anstellung zu finden.

In den darauffolgenden Tagen fiel kein Wort über Father Floods Besuch oder die Andeutung des Priesters, dass sie nach Brooklyn gehen könnte, und es war gerade dieses Schweigen, das Eilis davon überzeugte, dass Rose und ihre Mutter über die Sache diskutiert hatten und sie guthießen. Sie hatte nie mit dem Gedanken gespielt, nach Amerika zu gehen. Viele, die sie kannte, waren nach England gegangen und kamen oft zu Weihnachten oder im Sommer zurück. Es war Teil des Lebens in der Stadt. Sie wusste zwar von Freundinnen, die regelmäßig Geldgeschenke oder Kleider aus Amerika erhielten, aber die kamen immer von ihren Tanten und Onkeln, Leuten, die schon lange vor dem Krieg ausgewandert waren. Sie konnte sich nicht erinnern, dass einer von ihnen je in den Ferien in der Stadt aufgetaucht wäre. Es war eine lange Überfahrt, mindestens eine Woche per Schiff über den Atlantik, und sie war bestimmt teuer. Außerdem hatte sie die Vorstellung – sie wusste selbst nicht, warum –, dass Leute, die nach Amerika gingen, richtig reich werden konnten, während die Jungen und Mädchen aus der Stadt, die nach England gegangen waren, normale Arbeit für normale Bezahlung verrichteten. Genauso rätselhaft war es ihr, woher ihre Überzeugung kam, dass diejenigen, die nach Amerika gegangen waren, niemals Heimweh hatten, während die Leute aus der Stadt, die in England lebten, Enniscorthy vermissten. Die nach Amerika Ausgewanderten waren vielmehr glücklich und stolz. Sie fragte sich, ob das wirklich stimmte.

Father Flood kam nicht wieder zu Besuch; dafür schrieb er, nach Brooklyn zurückgekehrt, ihrer Mutter einen Brief, in dem er berichtete, er habe kurz nach seiner Ankunft mit einem Mitglied seiner Gemeinde, einem Kaufmann italienischer Abstammung, über Eilis gesprochen und wolle Mrs. Lacey darüber informieren, dass bei ihm bald eine Stelle frei werden würde. Nicht im Büro, wie er gehofft hatte, sondern in der Verkaufsabteilung des großen Kaufhauses, das der bewusste Gentleman besaß und leitete. Aber ihm sei versichert worden, fügte er hinzu, dass Eilis, sollte sie sich in ihrer ersten Stellung bewähren, genügend Aufstiegsmöglichkeiten und sehr gute Aussichten haben würde. Er würde außerdem, schrieb er, die nötigen Dokumente liefern können, die die Botschaft verlangte, was heutzutage häufig gar nicht so leicht sei, und würde es ganz gewiss schaffen, für Eilis eine passende Unterkunft in der Nähe der Kirche und nicht weit von ihrem Arbeitsplatz zu finden.

Nachdem sie den Brief gelesen hatte, reichte ihn ihre Mutter an sie weiter. Rose war schon zur Arbeit gegangen. In der Küche herrschte Schweigen.

»Er wirkt sehr zuverlässig«, sagte ihre Mutter. »Das muss man ihm lassen.«

Eilis las noch einmal den Satz über die Verkaufsabteilung. Sie vermutete, damit war gemeint, dass sie hinter einem Ladentisch arbeiten würde. Father Flood verlor kein Wort darüber, wieviel sie verdienen würde oder wie sie das Geld für die Überfahrt aufbringen sollte. Dafür empfahl er, sich mit der amerikanischen Botschaft in Dublin in Verbindung zu setzen und in Erfahrung zu bringen, was für Dokumente genau sie für die Einreise benötigen würde, so dass alles rechtzeitig beschafft werden könnte. Während sie den Brief wieder und wieder las, hantierte ihre Mutter, mit dem Rücken zu ihr, in der Küche und sagte kein Wort. Eilis saß, ebenfalls schweigend, am Tisch und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis ihre Mutter sich umdrehte und etwas sagte; sie beschloss, sie würde sitzen bleiben und warten und jede Sekunde zählen, da sie wusste, dass ihre Mutter nicht wirklich etwas zu tun hatte. Tatsächlich sah Eilis, dass sie sich einfach nur mit irgendwelchen Dingen beschäftigte, um sie nicht ansehen zu müssen.

Schließlich drehte sich ihre Mutter um und seufzte.

»Verwahr diesen Brief gut«, sagte sie, »und wenn Rose nach Haus kommt, zeigen wir ihn ihr.«

Innerhalb weniger Wochen hatte Rose alles organisiert und es sogar geschafft, sich übers Telefon mit jemandem in der amerikanischen Botschaft in Dublin anzufreunden, der die notwendigen Formulare und eine Liste von Ärzten schickte, die befugt waren, Eilis eine Gesundheitsbescheinigung auszustellen, außerdem eine Liste weiterer Dinge, die die Botschaft benötigen würde, darunter ein verbindliches Stellenangebot, und zwar für eine Beschäftigung, für die Eilis besonders qualifiziert war, als Garantie, dass sie nach ihrer Einreise finanziell abgesichert sein würde, sowie eine Reihe von Zeugnissen und Referenzen.

Father Flood schrieb einen offiziellen Brief, in dem er garantierte, für Eilis’ Unterbringung sowie für ihre allgemeine und finanzielle Sicherheit zu sorgen, und von Bartocci & Company, Fulton Street, Brooklyn, kam ein Schreiben mit Briefkopf, in dem ihr eine Stellung in dem Hauptgeschäft an der oben genannten Adresse angeboten und auf ihre buchhalterischen Fähigkeiten und ihre allgemeine Berufserfahrung hingewiesen wurde. Unterzeichnet war es von einer Laura Fortini; die Handschrift, bemerkte Eilis, war klar und schön, und selbst das Briefpapier wirkte mit seiner hellblauen Farbe und der über dem Briefkopf eingeprägten Darstellung eines großen Gebäudes schwerer, teurer, vielversprechender als alles, was sie in der Art bis dahin gesehen hatte.

Es wurde vereinbart, dass ihre Brüder in Birmingham gemeinsam für ihre Überfahrt nach New York aufkommen würden. Von Rose würde sie das nötige Geld bekommen, um bis zur ersten Lohnauszahlung leben zu können. Sie erzählte einigen wenigen Freundinnen die Neuigkeiten und bat sie, sie niemandem weiterzuerzählen, aber sie wusste, dass ein paar von Rose’ Kolleginnen die Telefonate nach Dublin mitgehört hatten; ihr war außerdem klar, dass ihre Mutter außerstande sein würde, die Neuigkeiten für sich zu behalten. Deswegen hatte sie das Gefühl, es wäre besser, Miss Kelly davon zu erzählen, bevor sie es von jemand anders erfuhr. Am besten, dachte sie, an einem Wochentag, wenn nicht so viel los war.

Als sie den Laden betrat, stand Miss Kelly hinter der Theke. Mary stand auf einer Leiter und räumte abgepackte getrocknete Erbsen in die höheren Regale.