Long Island - Colm Tóibín - E-Book
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Long Island E-Book

Colm Tóibín

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Beschreibung

Die neue große Liebesgeschichte von Colm Tóibín, dem Autor des Welterfolges "Brooklyn"

Ein Mann und eine Frau treffen sich nach fast zwanzig Jahren wieder – und stehen noch einmal vor der Entscheidung ihres Lebens. Eilis lebt in Long Island mit ihren Kindern und Tony, für den sie ihre Jugendliebe Jim in Irland zurückließ. Als sie erfährt, dass Tony sein uneheliches Kind in der gemeinsamen Familie aufziehen will, bricht sie in ihre Heimat auf. Dort holen sie ihre alten Gefühle ein. Mit atemberaubender Intensität und psychologischer Klarsicht erzählt Tóibín von dem Versteckspiel, das sich zwischen den ehemaligen Liebenden entspinnt. Der neue Roman des Autors von „Brooklyn“ ist ein Meisterwerk der Erkundung widersprüchlichster Gefühle: mitreißend, aufwühlend, unwiderstehlich.

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Das ist das Cover des Buches »Long Island« von Colm Tóibín

Über das Buch

Ein Mann und eine Frau treffen sich nach fast zwanzig Jahren wieder — und stehen noch einmal vor der Entscheidung ihres Lebens. Eilis lebt in Long Island mit ihren Kindern und Tony, für den sie ihre Jugendliebe Jim in Irland zurückließ. Als sie erfährt, dass Tony sein uneheliches Kind in der gemeinsamen Familie aufziehen will, bricht sie in ihre Heimat auf. Dort holen sie ihre alten Gefühle ein. Mit atemberaubender Intensität und psychologischer Klarsicht erzählt Tóibín von dem Versteckspiel, das sich zwischen den ehemaligen Liebenden entspinnt. Der neue Roman des Autors von »Brooklyn« ist ein Meisterwerk der Erkundung widersprüchlichster Gefühle: mitreißend, aufwühlend, unwiderstehlich.

Colm Tóibín

Long Island

Roman

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

Hanser

Teil 1

I

»Dieser Ire«, sagte Francesca und setzte sich an den Küchentisch, »war wieder da. Er hat an jeder Tür geklingelt, aber sprechen will er dich. Ich habe ihm gesagt, dass du bald heimkommen würdest.«

»Was will er denn?«, fragte Eilis.

»Ich habe alles versucht, um es aus ihm herauszubekommen, aber er wollte es nicht sagen. Er hat ausdrücklich nach dir gefragt.«

»Er weiß meinen Namen?«

Francescas Lächeln hatte etwas leicht Anzügliches. Eilis wusste die Intelligenz ihrer Schwiegermutter ebenso zu schätzen wie ihren verschmitzten Humor.

»Noch ein Mann ist das Letzte, was ich gebrauchen kann«, sagte Eilis.

»Wem sagst du das«, entgegnete Francesca.

Sie lachten beide, während Francesca wieder aufstand. Eilis sah ihr vom Fenster aus nach, wie sie vorsichtig über den feuchten Rasen zu ihrem Haus ging.

Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt für eine Zigarette. Aber als sie herausgefunden hatte, dass Larry, mit vierzehn, rauchte, hatte sie mit ihm abgemacht, dass sie ganz damit aufhören würde, wenn er seinerseits versprach, nicht wieder zu rauchen. Sie hatte noch immer ein Päckchen oben.

Als es an der Tür klingelte, stand Eilis langsam auf in der Annahme, es sei einer von Larrys Cousins, der mit ihrem Sohn spielen wollte. Im Flur erschien allerdings durch das Mattglas der Haustür der Umriss eines Mannes. Erst als er ihren Namen rief, kam ihr der Gedanke, dass das der Mann war, von dem Francesca gesprochen hatte. Sie öffnete die Tür.

»Sie sind Eilis Fiorello?«

Der Akzent war irisch, dachte sie, mit einem Anflug von Donegal, wie ein Lehrer, den sie auf der Schule gehabt hatte. Auch wie der Mann dastand, als machte er sich auf einen Streit gefasst, erinnerte sie an die Heimat.

»Bin ich«, sagte sie.

»Ich hab Sie gesucht.«

Sein Ton war fast aggressiv. Sie fragte sich, ob Tonys Firma ihm vielleicht Geld schuldete.

»Hat man mir gesagt.«

»Sie sind die Frau vom Klempner?«

Da die Frage barsch klang, sah sie keinen Grund zu antworten.

»Er versteht sein Geschäft, Ihr Mann. Ich wette, er ist sehr gefragt.«

Er hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhörte.

»Bei uns zu Haus hat er alles perfekt erledigt«, sagte er weiter und zeigte mit einem Finger auf sie, »er hat sogar etwas mehr gemacht als vereinbart. Ja, er ist regelmäßig wiedergekommen, wenn er wusste, dass die Frau im Haus sein würde und ich nicht. Und er ist so gut im Rohrverlegen, dass sie im August ein Kind von ihm kriegt.«

Er trat einen Schritt zurück und quittierte ihre ungläubige Miene mit einem breiten Grinsen.

»Genau. Deswegen bin ich hier. Und ich kann Ihnen schriftlich geben, dass ich nicht der Vater bin. Ich hatte nichts damit zu tun. Aber ich bin mit der Frau verheiratet, die dieses Kind kriegt, und falls einer glaubt, ich würde das Balg eines italienischen Klempners in mein Haus aufnehmen und würde mir anhören, wie es mitten in der Nacht plärrt, und meine Kinder glauben lassen, es wäre auf genauso anständige Weise auf die Welt gekommen wie sie, dann hat er sich geschnitten!«

Er streckte ihr wieder einen Finger entgegen.

»Sobald dieses Hurenbalg also da ist, nehme ich es und liefere es hier ab. Und wenn Sie dann nicht zu Hause sind, dann drücke ich es dieser anderen Frau in die Hand. Und wenn überhaupt keiner da ist, in keinem eurer Häuser, dann lege ich es genau hier vor Ihrer Tür ab.«

Er trat ein paar Schritte näher und senkte die Stimme.

»Und Ihrem Mann können Sie von mir ausrichten, wenn er sich je wieder in der Nähe meines Hauses blicken lässt, geh ich mit einer Brechstange auf ihn los, die ich parat habe. Haben Sie das verstanden?«

Eilis wollte ihn fragen, aus welcher Gegend von Irland er stammte, als nähme sie nicht zur Kenntnis, was er gerade gesagt hatte, aber er hatte sich schon abgewandt. Sie versuchte, sich etwas anderes zu überlegen, was ihn vielleicht aufhalten könnte.

»Haben Sie das verstanden?«, fragte er noch einmal, als er sein Auto erreicht hatte.

Da sie keine Antwort gab, tat er so, als wollte er wieder zurückkommen.

»Wir sehen uns im August, vielleicht auch schon Ende Juli, und das wird dann das letzte Mal sein, dass ich Sie sehe, Eilis.«

»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«, fragte sie.

»Ihr Mann scheint ein großer Plauderer zu sein. Daher weiß ich, wie Sie heißen. Er hat meiner Frau lang und breit von Ihnen erzählt.«

Wäre er ein Italiener oder einfach ein Amerikaner gewesen, hätte sie nicht gewusst, wie sie ihn einschätzen sollte. Sie hätte nicht sagen können, ob er vielleicht eine leere Drohung aussprach. Sie glaubte zwar, dass er jemand war, der sich gern reden hörte, aber in seiner Stimme erkannte sie etwas wieder, eine Sturheit, oder vielleicht sogar eine gewisse Art von Aufrichtigkeit.

Sie hatte in Irland Männer wie ihn gekannt. Sollte einer dieser Männer, dachte sie, herausfinden, dass seine Frau ihn betrogen hatte und davon schwanger geworden war, würde er das Kind nie in seinem Hause dulden.

In Enniscorthy, wo sie herkam, konnte aber niemand ein neugeborenes Kind nehmen und einfach so jemand anderem vor die Tür legen. Irgendjemand würde ihn dabei sehen. Ein Priester oder ein Arzt, oder ein Garda würde ihn zwingen, das Kind wieder mitzunehmen. Hier aber konnte der Mann einen Säugling vor ihre Haustür legen, ohne dass jemand etwas mitbekam. Das konnte er wirklich. Und der Ton seiner Worte, sein vorgerecktes Kinn, die Entschlossenheit in seinem Blick hatten sie überzeugt, dass er durchaus beabsichtigte, seine Drohung wahrzumachen.

Als er fortgefahren war, ging sie ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf den Stuhl. Sie schloss ihre Augen.

Irgendwo, nicht weit weg, gab es eine Frau, die von Tony ein Kind erwartete. Eilis wusste nicht, warum sie davon ausging, dass die Frau ebenfalls Irin war. Vielleicht war es eher vorstellbar, dass ihr Besucher von eben eine Irin herumkommandierte. Jede andere würde ihm wahrscheinlich die Stirn bieten oder ihn verlassen. Plötzlich machte ihr die Aussicht, dass eine alleinstehende Frau mit Kind sich hilfesuchend an Tony wandte, noch mehr Angst als die, dass ein Kind vor ihrer Haustür abgelegt wurde. Aber auch dieses zweite Bild, das sie sich in aller Nüchternheit ausmalte, konnte sie nicht ertragen. Was, wenn das Kind weinte? Würde sie es hochnehmen? Und wenn ja, was würde sie dann tun?

Als sie aufstand und sich auf einen anderen Stuhl setzte, erschien ihr der Mann, der eben erst so real und plastisch und imposant vor ihr gestanden hatte, wie jemand, über den sie gelesen oder den sie im Fernsehen gesehen hatte. Es war schlicht nicht möglich, dass in diesem Haus in dem einen Moment völlige Stille herrschte und im nächsten dieser Besucher hereinplatzte.

Wenn sie jemandem davon erzählte, dachte sie, würde sie wissen, was sie empfinden, was sie tun sollte. Blitzartig kam ihr das Bild ihrer jetzt seit über zwanzig Jahre toten, älteren Schwester Rose in den Sinn. Während ihrer ganzen Kindheit hatte sie sich, selbst in der kleinsten Krise, an Rose wenden können, und sie hatte dann die Sache in die Hand genommen. Ihrer Mutter hatte sie sich nie anvertraut, und die war ohnehin in Irland und hatte kein Telefon. Ihre zwei Schwägerinnen Lena und Clara stammten beide aus italienischen Familien und standen zwar einander nah, ihr, Eilis, aber nicht.

Im Flur stand das Telefon auf seinem Tischchen. Wenn es bloß eine Nummer gäbe, die sie anrufen, eine Freundin, der sie die Szene schildern könnte, die sich gerade an ihrer Haustür abgespielt hatte! Es war nicht so, dass der Mann, wie immer er heißen mochte, realer werden würde, wenn sie ihn jemandem beschrieb. Sie zweifelte ja nicht daran, dass er real war.

Sie nahm den Hörer ab, als wollte sie eine Nummer wählen. Sie lauschte dem Freizeichen. Sie legte den Hörer auf und nahm ihn dann wieder ab. Es musste doch eine Nummer geben, die sie anrufen könnte! Sie hielt sich die Hörmuschel ans Ohr und begriff, dass es keine gab.

Hatte Tony gewusst, dass dieser Mann kommen würde? Sie versuchte, sich zu erinnern, wie er sich während der vergangenen Wochen benommen hatte, aber ihr fiel nichts Ungewöhnliches ein.

Eilis ging nach oben und sah sich in ihrem Schlafzimmer so um, als wäre sie fremd in diesem Haus. Als sie Tonys Pyjamahose vom Fußboden aufhob, wo er sie an dem Morgen liegen gelassen hatte, fragte sie sich, ob es einen Sinn hätte, seine Sachen nicht mehr mitzuwaschen. Und dann sah sie ein, dass es nicht den geringsten Sinn hätte.

Vielleicht sollte sie ihm sagen, er sollte sich zu seiner Mutter verziehen, und sie würde mit ihm reden, wenn sie ihre Gedanken gesammelt hätte.

Aber was, wenn es ein Missverständnis war? Dann wäre sie im Unrecht, zu schnell bereit gewesen, von dem Mann, mit dem sie seit über zwanzig Jahren verheiratet war, das Schlimmste zu glauben.

Sie ging in Larrys Zimmer und betrachtete den Stadtplan von Neapel, den er an die Wand geheftet hatte. Er hatte darauf beharrt, das sei seine wahre Heimatstadt, ungeachtet ihrer Bemühungen, ihm klarzumachen, dass er zur Hälfte Ire war und auch sein Vater in Amerika geboren war und seine Großeltern, so oder so, nicht aus Neapel, sondern aus einem Dorf weiter südlich stammten.

»Nach Amerika haben sie sich in Neapel eingeschifft«, hatte Larry gesagt. »Frag sie!«

»Ich habe mich in Liverpool eingeschifft, aber das bedeutet nicht, dass ich von dort bin.«

Ein paar Wochen lang, während er an einem Klassenprojekt über Neapel arbeitete, war Larry wie seine Schwester geworden, fasziniert von Detailwissen und bereit, lange aufzubleiben, um die einmal begonnene Aufgabe zu Ende zu bringen. Aber kaum war das erledigt, war er wieder ganz der Alte gewesen.

Jetzt, mit sechzehn, war Larry größer als Tony und hatte dunkle Augen und eine viel dunklere Hautfarbe als sein Vater oder seine Onkel. Von ihnen geerbt, dachte sie, hatte er allerdings die Unart zu fordern, dass seine Interessen im Haus respektiert wurden, und gleichzeitig die Ansprüche seiner Mutter und seiner Schwester, ihrerseits ernst genommen zu werden, lachhaft zu finden.

»Ich will nach Hause kommen«, sagte Tony oft, »mich waschen, mir ein Bier schnappen und die Füße hochlegen.«

»Und genau das will ich auch«, sagte Larry.

»Ich frage Gott oft«, sagte Eilis, »ob es nicht noch etwas gibt, was ich tun könnte, damit mein Mann und mein Sohn sich behaglicher fühlen.«

»Weniger Gelaber und mehr Fernsehen«, sagte Larry.

Die Kinder von Tonys Brüdern Enzo und Mauro, größtenteils im Teenageralter, redeten bei sich zu Hause nicht so frei von der Leber weg wie Rosella und Larry. Rosella schätzte Diskussionen, die sie dadurch gewinnen konnte, dass sie Fakten vorbrachte und Fehler in der gegnerischen Argumentation nachwies. Larry liebte es, jede Diskussion sehr schnell in Albernheiten enden zu lassen. Sosehr sich Eilis auch um Unparteilichkeit bemühte, endete es immer damit, dass sie Rosella Recht gab, genauso wie Tony oft über irgendeine Albernheit, die Larry vorgebracht hatte, noch eher loslachte als Larry selbst.

»Ich bin nur ein Klempner«, sagte Tony oft. »Ich werde nur gebraucht, wenn etwas undicht ist. So viel ist sicher, dass kein Klempner es je ins Weiße Haus schaffen wird, es sei denn, die haben da Probleme mit ihren Rohren.«

»Aber das Weiße Haus ist doch voll von undichten Stellen«, sagte Larry.

»Siehst du«, sagte Rosella, »du interessierst dich ja doch für Politik!«

»Wenn Larry was für die Schule täte«, sagte Eilis, »könnte er alle überraschen.«

*

Als sie Rosella hereinkommen hörte, fragte sich Eilis, ob solch entspanntes Tischgeplänkel zwischen ihnen von nun an noch möglich sein würde. Wenn sich dieser Besucher keinen geschmacklosen Scherz erlaubt hatte, war ein Teil ihres Lebens zu Ende. Einen Moment lang wünschte sie sich, der Mann hätte sich in Sachen der Schwangerschaft seiner Frau für eine andere Vorgehensweise entschieden, eine, die weder sie noch Tony in welcher Weise auch immer einbezog. Doch dann erkannte sie, wie verzweifelt und wie zwecklos eine solche Überlegung war. Sie konnte den Mann nicht zwingen, nicht an ihre Tür zu klopfen, nur weil sie es so wollte.

Wenn sie sich abends zu Tisch setzten, erzählte Tony immer von seinem Arbeitstag, seinen Kunden, von denen er, ob Mann, ob Frau, Imitationen lieferte, und, besonders ausführlich, von ihren Häusern und dem oft verdreckten Bereich um Spüle oder Kloschüssel. Wenn Eilis ihn gelegentlich bitten musste, damit aufzuhören, dann nur, weil er Rosella und Larry damit zu sehr zum Lachen brachte.

»Damit verdienst du also unsere Brötchen«, sagte Larry dann.

»Aber das ist noch gar nichts, heute Nachmittag war’s schlimmer«, nahm Tony den Faden wieder auf.

Künftig, dachte Eilis, würde sie ihn betrachten und sich fragen, was er wohl alles verheimlichte.

Nachdem sie Rosella einen Gruß zugerufen hatte, kehrte sie ins Elternschlafzimmer zurück und schloss die Tür. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Rosella, und auch Larry, auf die Neuigkeit reagieren würden, dass Tony ein Kind gezeugt hatte. Larry, dachte sie, war trotz seiner Großtuerei noch unschuldig, und die Vorstellung, dass sein Vater mit einer Frau, in deren Haus er ein leckes Rohr flicken musste, geschlafen hatte, würde über seinen Horizont gehen, aber Rosella las Romane und erörterte mit ihrem Onkel Frank, dem jüngsten von Tonys Brüdern, die grässlichsten Rechtsfälle. Wenn ein Mann seine Frau erwürgt und anschließend in Stücke gehackt hatte, fand Frank grundsätzlich noch haarsträubendere Details heraus und teilte sie seiner Nichte umgehend mit. Zu erfahren, dass ihr Vater mit einer anderen Frau zusammen gewesen war, würde Rosella schwerlich schockieren, aber wirklich sicher konnte sich Eilis da nicht sein.

Seltsamerweise, dachte sie, war Tony prüder als sie. Wenn sich im Fernsehen eine Kussszene zu sehr in die Länge zog, wurde es ihm unbehaglich. Bei Familienessen stupsten sich er und seine Brüder oft gegenseitig und spielten auf Witze an, die man bei Tisch nicht erzählen könne, aber das war auch schon das Äußerste. Die Witze selbst erzählten sie nie. Es gefiel ihr, wie altmodisch Tony war. Sie erinnerte sich, dass er immer errötet war, wenn sie über Familienplanung gesprochen hatten. Am Ende, nachdem sie ein Gespräch zwischen ihren zwei Schwägerinnen mitgehört hatte, die keine Probleme damit zu haben schienen, sich über kirchliche Verbote hinwegzusetzen, hatte sie einfach eine Packung Kondome in seine Nachttischschublade gelegt.

Er hatte gelächelt, als er sie bemerkt hatte, und das Päckchen geöffnet, als wüsste er nicht recht, was es enthielt.

»Sind die für mich?«, hatte er gefragt.

»Ich glaube, sie sind für uns beide«, hatte sie erwidert.

Vor ein paar Monaten, dachte sie, hätte er eines der Kondome sinnvoll einsetzen können und ihnen dadurch den Ärger ersparen, der ihnen jetzt bevorstand.

Sie setzte sich auf die Bettkante. Wie konnte sie Tony auch nur erzählen, dass der Mann da gewesen war? Einen Augenblick lang wünschte sie, sie könnte irgendwohin gehen, wo sie keinen von ihnen zu sehen und nicht mehr über die Sache nachzudenken bräuchte.

Das Extrazimmer, das sie angebaut hatten, früher Eilis’ Büro, diente jetzt Rosella und Larry zum Lernen, wenngleich Larry tatsächlich nur wenig Zeit darin verbrachte.

»Ich kann dir Tee machen, oder auch Kaffee, wenn du möchtest«, sagte Eilis zu Rosella, die bereits dort saß.

»Hast du gestern schon«, antwortete Rosella. »Ich bin dran.«

Rosella hatte eine beherrschte, ernste, schweigsame Art, die sie von ihren Cousinen unterschied. Die nutzten jede Gelegenheit, um in lautes Gelächter oder Ausrufe der Verwunderung auszubrechen, während Rosella ihre Mutter ansah in der Hoffnung, diese Familienveranstaltung bald wieder gegen die Stille ihres Zuhauses eintauschen zu dürfen. Wenn Tony und Larry begannen, diese Stille zu stören, häufig indem sie darin wetteiferten, den Radiokommentar zu irgendwelchen Baseballspielen nachzumachen, zog sich Rosella in ihr, wie sie es nannte, »Studierzimmer« zurück. Sie hatte von Tony sogar ein Schloss an der Tür anbringen lassen, damit Larry nicht hereinplatzte, wenn sie sich gerade zu konzentrieren versuchte.

Manchmal empfand sie es als erdrückend, Haus an Haus mit Tonys Eltern und seinen zwei Brüdern und deren Familien zu wohnen. Sie konnten ihr fast durch die Fenster hereinschauen. Wenn sie beschloss, einen Spaziergang zu machen, fragte sie eine ihrer Schwägerinnen oder ihre Schwiegermutter anschließend garantiert, wo sie gewesen war und warum. Oft warfen sie ihr dieses Bedürfnis nach Privatsphäre und Distanz als typisch irisch vor.

Da Rosella aber so italienisch aussah, glaubten sie nicht wirklich, dass sie irgendetwas Irisches an sich hätte. Daher konnten sie sich nicht erklären, wo ihre Ernsthaftigkeit herkommen mochte.

Rosella versuchte, nicht hervorzustechen. Sie hörte sich brav alles an, was ihre Cousinen und Tanten zu neuen Kleidern und Frisuren zu sagen hatten, interessierte sich aber nicht ernsthaft für Mode. Sie hätten sie für einen verschrobenen Bücherwurm gehalten, wusste Eilis, wenn sie nicht so gut ausgesehen hätte.

»All ihre Schönheit und Anmut«, sagte ihre Großmutter, »kommt von meiner Mutter und meiner Tante. Sie hat unsere Generation übersprungen — ich habe, weiß Gott, nichts davon abbekommen — und ist dann nach Amerika gelangt. Und diese Frauen auf meiner Seite der Familie waren nicht nur schön, sondern hatten auch Grips. Meine Tante Giuseppina war so gescheit, dass sie fast nicht geheiratet hätte.«

»Wäre das gescheit?«, fragte Rosella.

»Na ja, manchmal schon, aber letzten Endes wohl nicht. Und ich bin sicher, dich wird sich auch einer schnappen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.«

An zwei Tagen die Woche, zwischen Schule und Abendessen, ging Rosella nach nebenan und unterhielt sich eine Stunde lang mit ihrer Großmutter.

»Aber worüber redet ihr denn?«, fragte Eilis.

»Über die Wiedervereinigung Italiens.«

»Ernsthaft.«

»Weißt du, von ihren drei Schwiegertöchtern mag sie dich am liebsten.«

»Tut sie nicht!«

»Heute hat sie mich gebeten, mit ihr zu beten.«

»Wofür?«

»Dass Onkel Frank eine nette Ehefrau findet.«

»Womit sie eine italienische meint?«

»Sie meint, überhaupt eine Ehefrau. Und bei seinem Grips, sagt sie, und seinem Gehalt und den Prämien müssten ihm eigentlich die Frauen auf der Straße nachlaufen. Ich glaube, es wäre ihr egal, ob sie Italienerin ist. Sieh doch nur, was Dad auf einem irischen Tanzabend gefunden hat!«

»Wäre es dir nicht lieber, eine italienische Mutter zu haben als eine irische? Würde es nicht das Leben einfacher machen?«

»Mir gefällt’s so, wie es ist.«

*

Während sie in den Büchern auf Rosellas Schreibtisch blätterte, kam Eilis die Erkenntnis, dass das Leben, das Rosella für selbstverständlich hielt, davon abhing, dass ihr Vater und dessen zwei verheiratete Brüder sich in ihrem Beruf anstrengten und fleißig und zuverlässig waren und ihnen so die Leute vertrauten. An die meisten Aufträge kamen sie durch Mundpropaganda. Ihr Einzugsgebiet war weit größer als eine Stadt, aber bisweilen schien es intimer, in sich abgeschlossener. Es würde nicht lange dauern, bis jemand erfuhr, dass Tony eine Frau geschwängert hatte, während er bei ihr zu Hause arbeitete. Und dann würde es sich genauso schnell herumsprechen wie in einem Dorf.

Bislang hatte sie es nach Kräften vermieden, sich Tony in seiner Arbeitskluft im Haus dieser Frau vorzustellen. Jetzt kam ihr das Bild in den Sinn, wie er aufstand, nachdem er ein Rohr repariert hatte, und sah, wie die Frau des Hauses ihn dankbar anschaute. Sie konnte sich Tonys anfängliche Scheu vorstellen. Und dann würde er, schon aufbruchsbereit, zögern. Es würde eine befangene Stille eintreten.

»Hast du Probleme auf der Arbeit?«, fragte Rosella.

»Nein, nicht die geringsten.«

»Du siehst besorgt aus. Gerade jetzt.«

»Auf der Arbeit läuft’s gut. Ist nur ziemlich viel los.«

*

Als Larry kam, gab er ihr ein Küsschen auf die Wange und zeigte auf seine Füße.

»Meine Schuhe sind picobello sauber, aber ich hab sie trotzdem draußen gelassen. Und jetzt muss ich Radio hören. Falls mich jemand sucht, bin ich in meinem Zimmer.«

Als Tony erschien, ging er, wie gewohnt, direkt nach oben, um zu duschen und sich saubere Sachen anzuziehen. Wieder unten, ging er zu Rosella, so wie er es, seit sie ein Baby war, täglich getan hatte. Wenn sie es schaffte, ihr Gespräch zu belauschen, erfuhr Eilis dann oft etwas, was weder er noch Rosella ihr erzählt hatten, etwas, was Rosellas Großmutter gesagt hatte, oder irgendetwas über seine Brüder, was Tony seiner Tochter anvertraut hatte.

Sie gab Kartoffeln zu dem Schmorgericht, das sie am vorigen Abend vorbereitet hatte, während Larry den Tisch deckte. Bislang hatte sie es geschafft, Tony aus dem Weg zu gehen, ohne dass jemand was merkte. Jetzt saß er im Wohnzimmer und sah fern. Ihr graute bei dem Gedanken, er könnte in die Küche kommen und sich über den köstlichen Duft äußern oder mit Larry ein paar Scherzworte wechseln. Er hatte die Gabe, stets eine Stimmung von freundlicher Aufmerksamkeit zu verbreiten. Ihre Schwägerinnen beklagten sich über das Schweigen und die schlechte Laune ihrer Männer, sobald sie zu Hause bei der Familie waren. Ihre Schwiegermutter hatte Rosella gefragt, wie sich ihr Vater zu Hause benahm.

»Und was hast du ihr gesagt?«, hatte Eilis gefragt.

»Ich hab gesagt, dass er alles komisch findet und dass er immer lieb ist.«

»Und was hat deine Großmutter gesagt?«

»Sie hat gesagt, dass du aus jedem das Beste hervorholst, dass Lena und Clara sich von dir also vielleicht etwas abgucken könnten, und dann wären Onkel Enzo und Onkel Mauro zu Hause vielleicht auch besser gelaunt.«

»Das hat sie nur zu dir gesagt. Ich wüsste gern, was sie zu anderen Leuten sagt.«

»Sie sagt nie etwas, was sie nicht auch meint.«

*

Eilis behielt die Tür weiterhin im Rücken, während sie den Eintopf umrührte und dann zur Spüle ging und ein paar Teller ausspülte. Wenn’s bloß einfach so weitergehen könnte!, dachte sie. Wenn Tony sich doch vom Fernsehen nicht losreißen könnte und möglichst spät zum Essen käme!

Als er dann doch kam, drehte sie sich nicht um, sondern trocknete umständlich die Teller ab und stellte sie auf die Arbeitsfläche. Einen Moment lang konnte sie sich nicht erinnern, in welcher Reihenfolge sie normalerweise das Abendessen servierte. Konnte es sein, dass sie Tony als Erstem auftischte? Oder vielleicht Larry, als dem Jüngsten? Oder Rosella? Sie füllte die Teller mit Eintopf, trug dann zwei davon an den Tisch und setzte sie Rosella und Larry vor. Dann, ohne ein Wort oder einen Blick in Tonys Richtung, ging sie die zwei anderen Teller holen. Er erzählte Rosella und Larry gerade, wie er von einem Hund angefallen worden sei, während er mit dem Oberkörper in einem Spültisch steckte, um sich ein undichtes Rohr anzusehen.

»Kaum hatte das Vieh meinen Hosenboden zwischen den Zähnen, fing es an zu zerren. Und sein Frauchen war eine Norwegerin, die bis dahin noch kein einziges Mal einen Mann in ihrer Wohnung gehabt hatte.«

Eilis stand da und hörte ihm zu. Er hatte, da war sie sich sicher, nicht die leiseste Ahnung, wie diese Geschichte in ihren Ohren klang. Es war einfach nur eine seiner zahllosen Geschichten. Sie ließ ihren eigenen Teller vorerst stehen, nahm Tonys und kehrte damit, während Tony weiterredete, erneut zum Tisch zurück. Gerade als sie so weit war, dass sie den Teller absetzen konnte, ließ sie ihn langsam kippen, bis er überzulaufen begann. Dann kippte sie ihn noch ein bisschen mehr. Das Essen fiel neben Tony auf den Fußboden. Als er erschrocken zu ihr aufsah, blieb sie regungslos stehen, den leeren Teller in der Hand.

Rosella stürzte herbei, nahm ihrer Mutter den Teller aus der Hand und führte sie vom Tisch weg, während Tony und Larry Tisch und Stühle beiseiterückten, damit der Fußboden aufgewischt werden konnte. Tony begann, Fleischstücke vom Boden aufzulesen.

»Was war mit dir los?«, fragte Rosella. »Du hast einfach nur dagestanden.«

Eilis wandte kein Auge von Tony, der aus der Vorratskammer einen Mopp und einen Eimer Wasser geholt hatte. Sie wartete darauf, dass er ihren Blick erwiderte.

»Im Topf ist noch was da«, sagte Larry.

Nachdem der Fußboden aufgewischt, der Tisch wieder an seinen Platz gerückt und Tony ein neuer Teller Eintopf hingestellt worden war, aßen sie schweigend. Setzte Tony einmal zum Sprechen an, fiel ihm Eilis sofort ins Wort. Ihr war klar, dass Rosella und Larry spüren mussten, dass sich zwischen ihren Eltern irgendetwas abspielte. Aber es war Tony, auf den sie sich konzentrierte; er sollte wissen, dass sie Bescheid wusste.

II

Das Samstagmorgen-Ritual von Tonys Vater bestand darin, seine Söhne, die in der Nähe wohnten, nacheinander zu besuchen, um zu erfahren, ob sie Probleme mit ihren Autos gehabt hatten. Als Eilis sich ein billiges Auto kaufte, schenkte ihr Schwiegervater ihr fortan mehr Aufmerksamkeit und fragte sie jedes Mal, wenn er sie sah, wie sich das Auto machte.

»Scheint sich als ein Schnäppchen zu erweisen«, sagte er. »Ich hatte seinerzeit ja meine Zweifel. Meine Frau meinte, ich sollte sie für mich behalten, aber jetzt, wo sie sich als falsch erwiesen haben, kann ich ja offen reden.«

Sonntags, sobald Frank vorfuhr, kam sein Vater heraus, um sein Auto zu inspizieren, öffnete die Motorhaube, trotz der Ermahnungen seiner Frau, sich nicht dreckig zu machen, und prüfte Öl- und Wasserstand.

»Es sind schon die besten Autos der Welt stehen geblieben, nur weil die Besitzer es versäumt hatten, nach dem Öl und dem Wasser zu schauen.«

Wenn eines der Autos Aufmerksamkeit erforderte, empfahl er seinen Freund Mr Dakessian, den Armenier, der, wie er sagte, von Autos fast so viel verstand wie er selbst, was nur recht und billig war, da ihm eine Autowerkstatt gehörte: die beste weit und breit, mit dem freundlichsten Service, wenn man Mr Dakessian davon abhalten konnte, über armenische Geschichte zu dozieren, und den konkurrenzfähigsten Preisen.

»Die anderen würden dein Auto schmähen und dich anschließend schröpfen«, sagte der alte Mann. »Probleme mit dem Auto? Geh zu Dakessian.«

Da Eilis damals noch die Buchhaltung für den Familienbetrieb machte, hatte sie regelmäßig mit Mr Dakessian zu tun, der sich um die Autos von Tony und seinen Brüdern kümmerte. Sie fand ihn genauso sympathisch und zuverlässig, wie ihr Schwiegervater sagte.

*

Eines Tages, als sie den Ölstand in ihrem Auto überprüfen ließ, gab ihr Mr Dakessian ein Buch über armenische Geschichte.

»Sie sind Irin«, sagte er. »Ihnen wird das alles vertraut vorkommen. Hierzulande verstehen die Leute solche Dinge einfach nicht. Ihr Schwiegervater glaubt, ich denke mir das alles aus. Ich habe versucht, ihm dieses Buch zu geben, aber er wollte es nicht.«

Während sie darin blätterte, fragte Eilis Mr Dakessian, der ihrer Schätzung nach in den Sechzigern sein musste, ob er 1918 tatsächlich in Armenien gewesen war.

»Ich bin dort geboren, aber ich war drei, als wir weggezogen sind, und so habe ich keinerlei Erinnerung an das Land. Wir wurden gewarnt und kamen gerade noch rechtzeitig raus, bevor das Morden losging. Das macht mich alles traurig, manchmal, besonders wenn ich zusehe, wie mein Sohn Erik hier aufwächst und nicht weiß, von wo er herkommt.«

Seine Tochter, mit der Eilis oft zu tun hatte, weil sie in der Werkstatt die Bücher führte, würde bald heiraten.

»Sie heiratet einen Armenier, und so wird der ganze Gottesdienst auf Armenisch sein. Es wird so sein, als wären wir nie ausgewandert. Einen Tag lang.«

»Tonys Angehörige benehmen sich häufig so, als wären sie nie ausgewandert«, sagte Eilis.

»Die können sich glücklich schätzen, dass Sie für sie die Buchhaltung machen. Ich weiß nicht, was ich machen werde, wenn Lusin aufhört. Erik interessiert sich überhaupt nicht für das Geschäft.«

Als sie das nächste Mal da war, erzählte er ihr, dass er ein Buch über Irland gefunden hatte, und was dort passiert war, sei genauso schlimm wie in Armenien gewesen.

»Gewusst hatte ich das schon immer, aber jetzt habe ich’s schwarz auf weiß. Ich gebe Ihnen das Buch, sobald ich damit fertig bin.«

Mr Dakessian kam wieder darauf zu sprechen, dass seine Tochter aufhörte.

»Ich möchte die Stelle nicht ausschreiben und jemanden bekommen, den ich nicht kenne. Das ist ein Familienbetrieb, mit lauter langjährigen Kunden. Wenn Sie Lust hätten, sich zu verändern und inmitten von Abgasen und heulenden Motoren zu arbeiten, dann wären Sie hier willkommen. Aber Sie müssten mir bald Bescheid geben.«

Da beschloss Eilis kurzerhand, Mr Dakessians Angebot anzunehmen. Sie hatte ihre liebe Not gehabt, Tony und seine Brüder dazu zu bringen, ein System der Rechnungsstellung und Buchführung zu akzeptieren, das sie sich ausgedacht hatte. Enzo hatte sich bei seiner Mutter beklagt, Eilis versuche, ihnen vorzuschreiben, wie sie ihr Geschäft zu führen hätten. Seine Mutter hatte es an Frank weitergegeben, der es wiederum seiner Schwägerin referiert hatte.

»Sie erwarten von dir mehr Bescheidenheit«, sagte Frank. »Ich weiß schon, was ich machen würde.«

»Was würdest du machen?«, fragte Eilis.

»Sie sind meine Brüder. Ich liebe sie. Aber für sie arbeiten würde ich nicht ums Verrecken.«

Eilis wusste, dass sie die Möglichkeit, die Stelle in der Autowerkstatt anzunehmen, mit Tony besprechen sollte, aber sie war sich sicher, dass es ihm lieber sein würde, wenn sie weiterhin für ihn und seine Brüder die Bücher führte. Es würde nicht leicht sein, ihm zu gestehen, dass sie bereits zugesagt hatte.

»Fangen Sie so bald wie möglich an«, sagte Mr Dakessian. »Da kann Lusin Sie noch einarbeiten, bevor sie geht.«

»Und ich würde gern, wie Lusin, täglich um zehn anfangen und um drei aufhören, und ich hätte gern vier Wochen Urlaub, davon zwei unbezahlten.«

Mr Dakessian stieß einen Pfiff gespielter Verblüffung aus und nannte dann den Betrag, den er seiner Tochter zahlte.

»Ich vermute, Sie wollen mehr.«

»Über eine Erhöhung können wir uns nach den ersten drei Monaten unterhalten.«

Mr Dakessian war einverstanden und sagte, er würde sich nur eben das Motoröl von der Hand waschen, dann könnten sie einschlagen.

III

Eilis hatte den Fußboden noch einmal gewischt und sich vergewissert, dass keine Fettrückstände vom Schmorgericht zurückgeblieben waren. Dann hatte sie sich im Haus zu schaffen gemacht. Als Tony ihr zu folgen schien, setzte sie sich mit Rosella an den Küchentisch.

»Ich meine, du solltest zum Arzt gehen«, sagte Rosella, »deine Hand ist plötzlich völlig kraftlos geworden, und du warst wie erstarrt. Wenn dir das beim Fahren passieren würde, wär’s übel.«

»Jetzt geht’s mir besser«, sagte Eilis, aber sie sah Rosella an, dass sie nicht überzeugt war.

Sie ging früh zu Bett, lag bei brennendem Licht da und dachte nach. Als Tony ins Zimmer kam, lächelte er leicht und bewegte sich dann auf Zehenspitzen, so als ob sie schon schliefe. Kaum war er im Bett, schaltete er seine Lampe aus, und sie die ihre.

Sie wartete, damit er die Möglichkeit hätte, sich zu äußern, irgendetwas zu sagen, und wenn auch nur von der Arbeit zu reden, oder der Sendung, die er sich gerade angesehen hatte. Er lag auf dem Rücken, dann drehte er sich von ihr weg, und dann legte er sich wieder auf den Rücken. Er musste wissen, dass sie wach war. Sie hörte ihn sich räuspern.

Im Dunkeln konnte sie dieses Schweigen so lange andauern lassen, wie sie für richtig hielt. Sie konnte sogar beschließen, es überhaupt nicht mehr zu brechen, neben ihm einschlafen und ihn dazu zwingen, einen weiteren Tag lang zu rätseln, was sie wohl wusste oder wie sie reagieren würde.

Aber es kam ihr die Befürchtung, er könnte einschlafen, während sie wach neben ihm lag und sich überlegte, was sie hätte sagen können. Sie musste etwas sagen.

»Eine Sache muss ich wissen«, flüsterte sie und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Er rührte sich nicht.

»Meint dieser Mann, der heute da war, wirklich, was er sagt? Hat er wirklich vor, einen Säugling vor meiner Haustür zu lassen, oder will er uns damit nur zu verstehen geben, wie wütend er ist?«

Noch immer zeigte er keine Reaktion.

»Wenn das nur eine leere Drohung ist, musst du es mir jetzt augenblicklich sagen.«

Als sie nichts hörte, seufzte sie.

»Du musst —«, fing sie an.

»Er meint, was er sagt«, flüsterte Tony. »Daran besteht gar kein Zweifel. Er spielt sich gern als der große Boss auf. Er hat sie völlig eingeschüchtert.«

»Ich will von ihr nichts hören.«

»Du kannst dich darauf verlassen, dass er tun wird, was er sagt.«

»Das Kind buchstäblich vor unserer Haustür ablegen?«

»Ich kann dir versichern, dass er das vorhat. Seit Wochen suche ich schon krampfhaft nach einem Weg, dir die Sache irgendwie beizubringen.«

»Viel rausgekommen ist dabei aber nicht, Tony.«

»Das weiß ich.«

»Du hast das Reden ihm überlassen.«

»Ich weiß. Ich weiß.«

Eine Zeitlang lagen sie schweigend beieinander.

»Ich muss dich noch etwas anderes fragen«, sagte Eilis schließlich, »und du musst mir eine klare Antwort geben, und sag bitte nichts, was nicht stimmt. Hat es sonst noch jemanden gegeben?«

Tony schaltete seine Nachttischlampe ein.

»Es gibt sonst niemanden. Hat es nie gegeben.«

»Du musst es mir jetzt sagen, wenn es noch etwas gibt«, flüsterte sie.

»Nichts. Ich hab’s dir gesagt. Ich schwöre es dir. Nichts.«

»Nur das.«

»Nur das«, sagte er und seufzte.

*

Seit der Mann sie mit der Nachricht von dem Baby überfallen hatte, freute sich Eilis jeden Morgen darauf, zur Arbeit zu gehen, aus dem Haus zu kommen. Wenn viel los war, blieb sie freiwillig länger — alles, um nur nicht nach Hause zu müssen, wo Tony tat, als ob nichts passiert wäre.

Selbst die Unterhaltung bei Tisch hatte sich wieder normalisiert.

Ein paarmal, als sie versuchte, mit Tony zu besprechen, was sie tun könnten, sollte dieser Mann seine Drohung wahrmachen, spürte sie seinen erbitterten Widerstand gegen jede weitere Diskussion. Und da Rosella und Larry keine Ahnung hatten, was vor sich ging, trug Eilis diese Last allein. Der Mann war schließlich zu ihr gekommen. Sie hatte sein Gesicht gesehen und seine Stimme gehört. Niemand außer ihr wusste, wie es gewesen war. Und es gab niemandem, dem sie es hätte erzählen können.

Tony begann, früh schlafen zu gehen. Wenn sie dann auch kam, gab er vor zu schlafen. Manchmal lag sie im Dunkeln da und wusste, dass er neben ihr wachlag.

Eines Abends fand sie Tony in der Küche. Als sie hereinkam, wandte er den Blick ab und murmelte etwas von wegen, er wäre müde.

»Etwas habe ich dir noch nicht gesagt«, begann sie.

Er nickte langsam, wie um zu sagen, dass er darauf gewartet hatte.

»Ich werde mich unter keinen Umständen um ein Kind kümmern. Es ist deine Angelegenheit, nicht meine.«

»Vielleicht wärst du es lieber nicht«, sagte er leise, »aber du bist mit mir verheiratet.«

»Nur schade, dass du daran nicht gedacht hast, als du anderweitig Rohre verlegt hast. Aber davon will ich nicht reden. Du sollst nur wissen, dass wenn dieser Mann mit einem Säugling ankommt, ich nicht an die Tür gehe, und wenn er ihn vor die Tür legt, werde ich nicht aufmachen. Ich will nichts damit zu schaffen haben.«

»Und was machen wir dann?«

»Frag nicht mich.«

Sie las bis spät in einer Zeitschrift, die Frank ihr dagelassen hatte, in der Hoffnung, dass Tony schon schliefe, wenn sie ins Bett käme.

Sobald sie sich gestattete, die Sache aus seiner Perspektive zu sehen, lag das Dilemma auf der Hand. Wenn er wirklich glaubte, dass dieser Mann einen Säugling vor ihrer Tür abladen würde, dann musste er sich hilflos fühlen. Aber sie musste sich stählen, um kein Mitleid mit ihm zu empfinden. Wenn sie auch nur im mindesten weich wurde, wusste sie, konnte es leicht damit enden, dass sie jede Nacht aufstand, um das Kind einer anderen zu versorgen. Sie war fest entschlossen, das nicht zu tun.

Sie spürte, dass Tony sie bearbeitete, indem er traurig dreinsah und darauf achtete, nicht ein einziges Wort zu sagen, das ihre Beziehungen noch hätte verschlimmern können. Ohne ihre Unterstützung konnte er nichts tun.

Und dann ging ihr auf, dass sie sich, was seine Mutter betraf, durchaus auch irren konnte. Francesca beherrschte die Kunst, allen in der Familie, Eilis eingeschlossen, das Gefühl zu geben, dass sie nie etwas Falsches taten. Selbst als Lena in einem ihrer Wutanfälle versuchte, Enzo in ihrer Einfahrt zu überfahren, behauptete ihre Schwiegermutter, solche Dinge passierten selbst in den liebevollsten Familien.

*

Jedes Mal, wenn Eilis Francesca über den Weg lief, musterte sie sie nach Anzeichen dafür, dass ihre Schwiegermutter von dem Kind wusste, aber Francesca verhielt sich ihr gegenüber so wie immer. Tony, dachte sie, hatte sich also nicht getraut, sich seiner Mutter anzuvertrauen.

Aus einer Laune heraus rief sie eines Tages von der Werkstatt aus Franks Kanzlei an und ließ sich einen Termin bei ihm geben.

Im vergangenen Sommer hatte Rosella zwei Wochen in Franks Kanzlei verbracht, hatte mit im Empfang gesessen, sich mit dem Ablagesystem vertraut gemacht, Franks Kollegen kennengelernt. Sie bekam sogar Franks Wohnung in Hell’s Kitchen zu sehen, die sonst keiner von der Familie je betreten hatte. In den nächsten Schulferien würde sie ein Praktikum bei einer anderen Kanzlei machen.

Frank hatte mit Rosella über ihre Noten und ihre Ambitionen geredet und hatte begriffen, dass sie höchstwahrscheinlich von einem guten College angenommen werden würde. In diesem Fall, erklärte er Eilis, würde er ihre Studiengebühren übernehmen und auch für alle ihre sonstigen Ausgaben aufkommen.

»Für alle meine Nichten und Neffen kann ich das nicht machen«, sagte er. »Aber Rosella sollte wirklich aufs College, und sie will es auch. Sie ist sehr engagiert.«

»Weiß sie von der Sache?«

»Ja.«

»Hast du davon angefangen oder sie?«

»Ich hatte ihr von meiner Zeit in Fordham erzählt. Und ich sagte, ich glaubte, dass es ihr dort gefallen würde. Als ich angeboten habe, sie zu unterstützen, hat sie anfangs sehr gezögert.«

»Und dann?«

»Sie musste zugeben, dass es ihr Traum wäre.«

Eilis wartete, bis sie und Tony im Dunkeln redeten, flüsternd Alltägliches besprachen, bevor sie das Thema Rosella und Jurastudium anschnitt. Sie erklärte, dass Frank angeboten hatte zu bezahlen und Rosella erst nach vielem Zureden angenommen hatte.

»Und keiner hat nach meiner Meinung gefragt?«, sagte er.

»Nach meiner ebenso wenig«, sagte sie.

»Aber du weißt jetzt davon.«

»Du ebenfalls.«

»Und was werden Enzo und Mauro denken? Sie wissen, dass wir uns das gar nicht leisten könnten.«

»Also, für alle seine Nichten und Neffen kann Frank nicht bezahlen.«

»Und warum bezahlt er gerade für Rosella?«

»Weil sie die Intelligenteste ist.«

»Hast du ihn darum gebeten?«

»Natürlich nicht!«

»Was passiert, wenn die anderen es herausfinden?«

»Wir können sagen, dass sie ein Stipendium bekommen hat.«

Er verstummte. Sie fragte sich, ob es ihn vielleicht kränkte oder seinen Stolz verletzte, dass jemand anderes die Ausbildung seiner Tochter finanzieren würde.

Als er seufzte, rutschte sie näher heran.

»Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll«, flüsterte er.

Jetzt, wusste sie, war es wichtig, nichts zu sagen, deutlich zu machen, dass sie nicht sprechen würde, bevor er es täte.

»Es war so eine Art Scherz. Du weißt, wie Enzo und Mauro sich benehmen.«

Er verstummte kurz, als wäre er sich nicht sicher, ob er fortfahren sollte. Seine Stimme zitterte und wurde dann zuversichtlicher.

»Sie machen Witze über dich und Frank, dass ihr beiden euch so lange unterhaltet, er dir Zeitungen und Zeitschriften bringt, und fragen sich, warum sich Frank keine eigene Freundin zulegt.«

»Frank wird nie eine Freundin haben«, sagte Eilis.

»Warum denn nicht?«

»Frank ist einer von diesen Männern.«

Tony hielt den Atem an. Er setzte zum Reden an und brach dann ab.

»Du weißt, was ich meine«, sagte sie.

»Woher weißt du das?«, fragte Tony.

»Er hat es mir selbst gesagt.«

»Wer weiß es sonst noch?«

»Ich weiß nicht.«

»Weiß es meine Mutter?«

»Ich glaube nicht.«

»Versprichst du mir etwas?«

»Was?«

»Dass du das nie wieder sagst. Niemals. Weder mir noch sonst jemandem gegenüber.«

»Das hatte ich auch nicht vor.«

»Nein, nein. Ich will, dass du es mir versprichst. Ich muss sicher sein, dass niemand das je wieder sagt.«

*

Zu Franks Kanzlei waren es zwanzig Minuten zu Fuß von der Penn Station. In ihren Briefen aus Irland hatte ihre Mutter oft nach dem Glamour von New York gefragt, den eleganten Kaufhäusern, den Wolkenkratzern, den strahlenden Lichtern. Aber Eilis hatte ihr nie das Geringste über die City zu berichten. Sie schrieb ihrer Mutter regelmäßig und schickte ihr Bilder von den Kindern.

Ihre Mutter würde in dem Sommer achtzig werden; sie hätte sie sehr gern noch einmal wiedergesehen. Aber mehr als das, dachte sie, würde sie bereuen, nicht nach Enniscorthy gefahren zu sein, sollte sie die Nachricht erhalten, dass ihrer Mutter etwas zugestoßen war. Martin, ihr Bruder, war aus Birmingham zurückgekehrt und wohnte jetzt in Cush, am Rand des Kliffs, zehn Meilen außerhalb der Stadt. Er besuchte seine Mutter ein paarmal die Woche und schrieb Eilis oft, in seinem typisch weitschweifigen Stil, über den Gesundheitszustand der alten Frau.

Sie wusste, dass Francesca, ebenso wie Lena und Clara, deren Familien ganz in der Nähe wohnten, es seltsam fanden, dass jemand sein Leben so weit von seiner Familie entfernt verbrachte. In ihrer Welt kamen die Menschen gruppenweise nach Amerika. Niemand, den sie kannten, war allein gekommen, so wie Eilis, ohne Angehörige oder enge Freunde.

Zu Hause sprach sie beim Abendessen manchmal von Enniscorthy, besonders wenn ein Brief von ihrer Mutter oder von Martin gekommen war, und auf dem Kaminsims hatte sie ein Foto von Rose stehen, aufgenommen 1951, im Jahr vor ihrem Tod, als sie im Golfklub von Enniscorthy den Damenpokal gewonnen hatte. Aber Tony und Rosella und Larry interessierten sich nicht ernsthaft für Enniscorthy, oder überhaupt für Irland.

*

Als sie Frank die Geschichte von dem Mann und seiner Drohung erzählte, ihr das Neugeborene vor die Tür zu legen, hoffte sie, er würde ihr versichern können, dass es rechtliche Mittel gab, den Mann davon abzubringen.

»Natürlich«, sagte er, »darf man ein Kleinkind nicht einfach so irgendwo abladen. Aber die Frage für dich ist, was du tun kannst, wenn er trotzdem seine Drohung wahrmacht. Es könnte Tage dauern, bis man das Sozialamt oder selbst die Polizei dazu bringt, aktiv zu werden, besonders wenn das Kind bei seinem leiblichen Vater ist.«

»Lässt sich denn überhaupt beweisen, dass Tony der Vater ist?«

»Ja, du hast Recht. Und am Ende würde das Problem gelöst werden, und der Mann könnte sogar belangt werden, und es ließe sich eine Pflegefamilie finden. Aber was passiert in den ersten Tagen, oder selbst nur in den ersten Stunden?«

»Das ist Tonys Sache.«

»Aber was, wenn du gerade zu Hause bist, oder Rosella oder Larry da sind?«

»Vielleicht blufft der Mann ja nur, aber ich habe Tony gefragt, und er sagt, dass er nicht blufft. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das für seine Frau sein muss. Sie sollte doch wohl auch ein Wörtchen mitzureden haben …? Sie müsste doch diejenige sein …«

»Ich glaube, dieser Mann hat wirklich das Gefühl, dass die Anwesenheit eines Kindes, das nicht von ihm ist, seine Familie kompromittieren würde, und er ist außerdem der Meinung, dass seine Frau bei allen Entscheidungen, die jetzt zu treffen sind, keinerlei Mitspracherecht hat.«

»Und woher weißt du das alles?«

»Ich habe ihn gesprochen. Er war hier.«

Eilis beschloss, ihn nicht zu fragen, warum er ihr das nicht gleich gesagt hatte, als sie zu ihm gekommen war. Mit selbstgefälliger Miene wartete er jetzt darauf, Fragen gestellt zu bekommen. Er war ihr noch nie unsympathisch gewesen, aber jetzt ja. Selbst wenn das Schweigen zwischen ihnen noch eine Stunde lang andauern sollte, würde sie nicht diejenige sein, die es brach. Sie betrachtete das Fenster, dann das Bücherregal daneben, und dann richtete sie den Blick auf Frank.

»Ich dachte, Tony hätte dir das vielleicht erzählt«, sagte er.

»Frank, das hast du nicht gedacht.«

»Ich dürfte überhaupt nicht mit dir darüber sprechen. Als du hereinkamst, fühlte ich mich nicht befugt, dir zu sagen, dass ich die Geschichte schon kannte.«

»Und zwar besser als ich, wie es aussieht.«

»Wenn ich jetzt mit dir rede, dann nur unter dem Vorbehalt, dass du niemandem je weitererzählen darfst, was ich gesagt habe. Wusste jemand, dass du zu mir wolltest?«

»Nein.«

Bestimmt bedauerte er, dachte sie, sie überhaupt empfangen zu haben. Es war ein Fehler gewesen, sie in sein Büro einzulassen.

»Wirst du das, was ich dir sage, vertraulich behandeln?«

»Wem könnte ich wohl davon erzählen?«

»Ich frage dich noch einmal, ob dieses Gespräch vertraulich ist.«

»Ja, ist es.«

»Vor ungefähr zwei Wochen kam mein Vater zu mir. Er war noch nie in meiner Kanzlei gewesen. Er blieb keine fünf Minuten. Er sagte immer nur, ich müsse tun, was meine Mutter verlangte. Ich dachte ehrlich, sie hätten ein heiratswilliges Mädchen für mich aufgetan. Aber mehr wollte er mir nicht verraten. Als ein paar Tage später meine Mutter kam, erzählte sie mir das, was du mir gerade erzählt hast, fügte aber noch hinzu, sie habe das fragliche Ehepaar aufgesucht, den Mann, den du kennengelernt hast, und dessen Frau, und mit den beiden vereinbart, dass sie mich in der Kanzlei aufsuchen würden.«

Er verstummte und sah sie an.

»Es ist entschieden worden, dass meine Mutter das Kind übernimmt«, sagte er. »Ich versuche gerade, den besten Weg zu ermitteln, wie dies nach geltendem Recht zu bewerkstelligen ist.«

»War Tony bei einer der Besprechungen anwesend?«

»Nein.«

»Weiß er, was entschieden worden ist?«

»Ja.«

»Woher weißt du das?«

»Meine Mutter hat es mir gesagt.«

»Hast du deine Mutter gefragt, ob ich nach meiner Meinung gefragt worden war?«

»Ja.«

»Was hat sie gesagt?«

»Sie sagte, dass es so am besten sein würde.«

»Das ist nicht, wonach ich dich gefragt habe.«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte.

»Du solltest mit Tony reden, aber du darfst ihm nicht sagen, dass du mit mir gesprochen hast. Ihr müsst das unter euch beiden ausmachen, aber ich muss dir das wohl nicht erklären.«

»Hast du in Fordham so reden gelernt, oder kannst du gar nicht anders?«

»Es tut mir leid, dass das passiert ist.«

»Verschon mich mit deinem Mitleid, Frank, sei so gut. So, und bevor ich gehe, brauche ich Klarheit. Das Kind wird kurz nach seiner Geburt meiner Schwiegermutter ausgehändigt, und sie wird es in ihrem Haus aufziehen. So weit korrekt?«

»Das Kind soll adoptiert werden.«

»Von wem?«

»Daran arbeite ich zurzeit.«

»Von Tony?«

Sie lächelte fast bei dem Gedanken, dass man selbst mit Enzo und Mauro leichter zurande kam. Sie hatte Frank schon immer bewundert, weil er so anders als die anderen war; er hatte sich ein eigenes Leben aufgebaut. Jetzt wünschte sie, er hätte mehr mit seinen Brüdern gemeinsam.

»Wir arbeiten gerade die Details aus.«

»Frank, ich weiß, dass du das hier nicht zu deinem Vergnügen machst, also gib mir einfach eine Antwort. Adoptiert Tony das Kind?«

»Der Ehemann will, dass die Angelegenheit ein für alle Mal geregelt wird.«

»Frank, wenn Tony das Kind adoptiert, werde ich die Dokumente dann nicht auch unterschreiben müssen?«

»Tony und du werdet miteinander reden müssen.«

»Ich will dieses Kind nicht in meiner Nähe haben.«

»Schön, geh nach Haus und besprich das mit Tony. Und ich wiederhole: Du darfst niemandem erzählen, dass du hier warst.«

IV

In all den Jahren, seit die Fiorello-Sippe nach Lindenhurst gezogen war und vier Häuser in einer Sackgasse gebaut hatte, traf man sich jeden Sonntag, außer im Hochsommer, um eins zum gemeinsamen Mittagessen, einer Mahlzeit, die bis weit in den Nachmittag dauerte. Als die vier Häuser entworfen worden waren, hatte Tonys Mutter für ihr Haus ein sehr langes Esszimmer verlangt. Jetzt, mit Ehemann, vier Söhnen, drei Schwiegertöchtern und elf Enkelkindern, kochte sie jeden Sonntag ein üppiges Essen und deckte mit ausgesuchter Sorgfalt den langen Tisch, den Mauro für sie geschreinert hatte. Jede Woche, war vereinbart, half ihr eine der Schwiegertöchter in der Küche und assistierte ihr dann beim Servieren und anschließend beim Geschirrspülen.

»Am liebsten ist es mir, wenn du es bist«, sagte sie zu Eilis. »Du behältst immer die Ruhe, während diese Lena jeden Augenblick einen ihrer Wutanfälle kriegen kann. Und weil du nicht viel Ahnung vom Kochen hast, kritisierst du nicht an mir herum wie diese Clara, die unentwegt schnüffelt und missbilligt.«

Eilis war kurz davor zu fragen, ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte, aber sie genoss ihre Zeit mit Francesca und wusste zu schätzen, wie sehr sie sich bemühte, alle bei Laune zu halten.

Doch die Sonntagsessen waren anstrengend. Nach dem Teller Nudeln fühlte sie sich so abgefüllt, dass sie meist kaum noch Appetit auf das Lamm oder den Fisch hatte, die anschließend kamen. Noch am Montag dröhnte ihr der Kopf vom ununterbrochenen Durcheinander von Stimmen.

Sobald die Kinder alt genug waren, um mit am Tisch zu sitzen, stellte Francesca strenge Regeln für sie auf. Sie mussten stillsitzen, sie mussten leise sein, und sie mussten sich jederzeit manierlich benehmen. Bei ihren Bemühungen, elf Kindern Disziplin beizubringen, ging Francesca stets humorvoll und gütig vor, doch weder Lena noch Clara halfen ihr dabei, und erst recht nicht Enzo und Mauro, die ihre Kinder eher anzubrüllen und mit Drohungen zu traktieren pflegten. Da Rosella und Larry von ihren Eltern nie derlei zu hören bekamen, genossen sie im Haus der Großmutter einen besonderen Status.

Später, wenn die Erwachsenen ihren Kaffee tranken, durften die Kinder vom Tisch aufstehen. Das war für Eilis der schlimmste Teil der Mahlzeit. Niemand schaffte es je, einen Satz zu beenden, ohne von einem der anderen unterbrochen zu werden. Es war ein einziges Geschnatter.

Eines Tages nahm Eilis zum Essen ihre Kamera mit, um Fotos zu machen, die sie ihrer Mutter schicken könnte. Jedes Mal, wenn sie aufstand, um ein Foto zu machen, erhoben sämtliche Erwachsenen ihre Gläser und lächelten, und auch die Kinder posierten sofort mit glücklichen Gesichtern. Als sie die Abzüge abholte, zeigten sie eine Tafel, die sich unter Tellern und Flaschen und Gläsern und Schüsseln bog, und ließen die Fiorellos so festlich und glücklich miteinander erscheinen, als wäre es eher Weihnachten als ein gewöhnlicher Sonntag. Ihre Mutter hatte keine Enkelkinder in Enniscorthy. Martin hatte keine Kinder. Jack und Pat, ihre zwei älteren Brüder, waren in Birmingham geblieben und kamen selten nach Haus. Ihre Mutter hatte deren Frauen und Kinder überhaupt nur ein paarmal gesehen. Martin war laut den Briefen ihrer Mutter meistens eine Nervensäge. Er hatte keine Kinder. Daher war die allsonntägliche Zusammenkunft der Fiorellos etwas, was ihre Mutter nie erlebt hatte. Eilis beschloss, ihr diese Bilder nicht zu schicken. Sie hätten sie zu traurig gemacht.

Bei den Mahlzeiten saß ihr Schwiegervater am Kopfende des Tisches. Wenn es Lamm zu tranchieren gab, zelebrierte er das als eine heilige Pflicht. Er richtete es so ein, dass jeden Sonntag ein anderer seiner Söhne zu seiner Rechten saß. Langsam brachte er das Gespräch auf das, was seiner Mutter auf Ellis Island widerfahren war, als sie von Italien nach Amerika kam.

Eilis erinnerte sich, dass Tony ihr die Geschichte kurz nach ihrer Hochzeit erzählt hatte.

»Sie schickten seine Mutter zurück. Sie hatte irgendwas an den Augen. Sie kam zuerst in Quarantäne, aber dann haben sie sie nach Neapel zurückgeschickt. Das erzählt er uns, als ob es gestern passiert wäre. Jedes Mal. Immer dieselbe Geschichte.«

»Wie lange dauerte es, bis sie wiederkam?«

»Sie blieb in Italien. Sie wollte nicht riskieren, ein zweites Mal zurückgeschickt zu werden.«

»Dann hat er sie also nie wiedergesehen?«

»Jede Weihnacht ging sie in irgendeine größere Ortschaft und ließ sich fotografieren. Das Foto schickte sie dann. Enzo sagt, wenn er sich das noch ein einziges Mal anhören muss, geht er selbst in Quarantäne. Mauro musste früher deswegen immer weinen, aber jetzt, sagt er, hört er gar nicht mehr zu, er nickt einfach nur.«

»Und was machst du?«