Brothers in Crime - Wolfgang Pohrt - E-Book

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Wolfgang Pohrt

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Beschreibung

Ausgehend von Horkheimer, demzufolge die gesellschaftliche Herrschaft "aus ihrem eigenen ökonomischen Prinzip heraus in die Gangsterherrschaft" übergeht, beschreibt Pohrt die allgemeine Entwicklungstendenz. "Wer an der Spitze steht, steht auch mit einem Beim im Knast." Heute oft mit beiden. Top-Manager wie Uli Hoeneß und Thomas Middelhoff, deren Gesetzesverstöße öffentlich verharmlost werden, sind nur zwei aktuelle Beispiele. Jugendbanden und Russen-Mafia vervollständigen das Bild, und es vergeht kein Tag, an dem die organisierten Verbrecher nicht vor dem organisierten Verbrechen warnen. Statt noch einmal über die hinlänglich bekannten Machenschaften der herrschenden Klassen sich zu verbreiten, unternimmt Pohrt den Versuch, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen sich auflöst, was Gesellschaft war, und an deren Stelle ein System von Cliquen und Banden tritt.

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Wolfgang Pohrt

Brothers in Crime

Die Menschen im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit

Über die Herkunft von Gruppen, Cliquen, Banden, Rackets, Gangs

FUEGO

– Über dieses Buch –

Ausgehend von Horkheimer, demzufolge die gesellschaftliche Herrschaft »aus ihrem eigenen ökonomischen Prinzip heraus in die Gangsterherrschaft« übergeht, beschreibt Pohrt die allgemeine Entwicklungstendenz. »Wer an der Spitze steht, steht auch mit einem Bein im Knast.« Heute oft mit beiden. Top-Manager wie Uli Hoeneß und Thomas Middelhoff, deren Gesetzesverstöße öffentlich verharmlost werden, sind nur zwei aktuelle Beispiele. Jugendbanden und Russen-Mafia vervollständigen das Bild, und es vergeht kein Tag, an dem die organisierten Verbrecher nicht vor dem organisierten Verbrechen warnen. Statt noch einmal über die hinlänglich bekannten Machenschaften der herrschenden Klassen sich zu verbreiten, unternimmt Pohrt den Versuch, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen sich auflöst, was Gesellschaft war, und an deren Stelle ein System von Cliquen und Banden tritt.

»Pohrt schreibt so ruppig, wie Leitartikler gerne schreiben würden. Er holt sich seine Munition aus der Geschichte der Mafia, von Karl Marx und Max Horkheimer. Seine Polemik liest sich so gut, daß vermutlich die meisten für einen Augenblick vergessen, wie wenig sie ihr glauben.«

Süddeutsche Zeitung

Maschinenpistolen

Ende der Sechziger Jahre wurde die Maschinenpistole Kultgegenstand. Sie symbolisierte Beweglichkeit und Stärke, deshalb galt sie als Wahrzeichen revolutionärer Militanz. Palästinensische Untergrundkämpfer posierten mit ihr; Gruppen, die im eigenen Operationsgebiet für so viel Feuerkraft kaum Verwendung hatten, wie die RAF zum Beispiel, schmückten trotzdem mit der stilisierten Abbildung einer Kalaschnikow das eigene Signet.

 

 

Neuerdings taucht das Gerät wieder auf, allerdings mit veränderter Bedeutung. Oft sind die Benutzer jünger als damals, und ins alte Schema passen sie nicht mehr. Bartlose Halbwüchsige beispielsweise führen die Waffe mit, wenn sie in Gesellschaft Gleichaltriger die verlassenen Straßen einer Stadt durchkämmen, umsichtig und professionell zwar wie Berufssoldaten beim Patrouillengang, aber auf eine fröhliche, unbekümmerte Art. Jeder kennt die Teenager, wie sie ihre Macht genießen, weil die Satellitenüberspielung aus Monrovia, Kigali oder Kabul das Beste ist, was die Nachrichtenredaktionen bieten können.

Für den Zuschauer hegt der Reiz des fiktiven Dabeiseins nicht im Überraschungsmoment, in der Einmaligkeit einer unerwarteten Begebenheit, sondern in der Wiederholung. Alle Berichte gleichen sich: auf die Jagd- und Gefechtsszenen, oft wie mit wackliger Handkamera aufgenommen, folgen ruhigere Bilder, solche von klapprigen Lastwagen, Fuhrwerken oder Schiffen, vollgestopft und behängen mit Menschen auf der Flucht. Zum Ausklang gibt es dann Motive aus dem Lagerleben oder welche aus dem Krankenhaus. Die Leute lungern, waschen, kochen und versorgen ihre Wunden. Sie quälen sich ein bisschen und sie langweilen sich, wenn sie nicht gerade vor die Kamera gebeten werden. Der Alltag hat sie wieder.

Live-Reportagen von Kampf und Elend befriedigen einen Bedarf, weil sie spannungslösend wirken. Sie unterbrechen kurzfristig eine Leidenszeit, denn die peinigenden Fantasien hören auf, wenn die Katastrophe eintritt. Nur sie besitzt die Kraft, die Menschen aus dem sich ständig erweiternden Labyrinth, welches ihre Vermutungen und Ahnungen bilden, wieder zurückzuholen in eine umgrenzte, berechenbare Wirklichkeit. Je furchtbarer die über sie hereinbrechende Realität, desto erlöster oft die Menschen, weil der Notfall eine Schnellabschaltung der Bewusstseinstätigkeit bewirkt und, damit verbunden, eine Mobilisierung der unbewussten Reflexe. Dass man weder empfinden noch denken darf, sondern handeln muss, ist die beste Therapie, wenn der Mensch an den Produkten des eigenen Vorstellungsvermögens irrewird.

Diese Situation entsteht, wenn grundlegende Überzeugungen zerbrechen. Als die revolutionäre Gewissheit verlorengegangen war, welche das Vertrauen in einen gesetzmäßigen, begreiflichen und zu einem guten Ende führenden Ablauf der Geschichte einschloss, fand man auf der Suche nach einer klar umrissenen Welt zwischenzeitlich im Glauben Trost, wenigstens Termin und Verlauf des Weltuntergangs zu kennen. Die Mittelstreckenrakete, mit Atomsprengköpfen bestückt, trat hinsichtlich des Bekanntheitsgrads die Nachfolge der Maschinenpistole an.

Im Gegensatz zur Vorgängerin verhieß die neue Waffe zwar keinen Sieg der guten Sache, sie stand nicht für das Ende von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern für das Ende überhaupt. Erhalten geblieben aber war die in der Internationale besungene Idee vom »letzten Gefecht«, die übrigens auch im »Endsieg« der Nazis steckt und in den »Nie wieder«-Parolen der Antifaschisten. In der Untergangsangst der Atomwaffengegner lebte ein Motiv der abgestorbenen revolutionären Erlösungshoffnung fort, nämlich der Wunsch, es möge die Geschichte zum Stillstand kommen. Besser ein Ende mit Schrecken als keins.

Aber der bangend ersehnte Atomkrieg blieb aus, nur der Ostblock zerfiel. Er tut dies heute noch, kein Ende ist abzusehen. Das Leben geht unerbittlich immer weiter, lehren 1989 und die Folgen, und sie lehren auch, dass es keine Hoffnung auf einen befriedigenden Endzustand geben kann, nicht mal die Vorstellung von einem erstrebenswerten Ziel. So hat der Eintritt in eine diesseitige Ewigkeit stattgefunden. Das Bewusstsein, darin ausharren zu müssen, wie es das Schicksal der Gespenster gewesen ist, verursacht mehr Befürchtungen und Angst als jede Todeserwartung.

Anregung, diese Überlegung auszuspinnen, boten auf spektakuläre Weise verschiedene Vorkommnisse: Der Kollaps ganzer Bezirke von Los Angeles im Sommer 1992, als plündernder, brandschatzender Mob durch die Straßen zog und über der Stadt dichter Qualm hing; die Ereignisse von Hoyerswerda und Rostock, die nicht weiter erläutert werden müssen; schließlich der jugoslawische Bürgerkrieg, der die Mattscheiben in den davon nicht betroffenen Ländern beherrschte.

Aber auch im Alltag verdichten die Hinweise und Zeichen sich, die gedeutet werden wollen. Überall rüstet die Zivilgesellschaft sichtbar auf, sogar in Gegenden, die als spannungsarm galten. Obgleich die Bundesrepublik sich stets mit besonderer Intensität an das Trugbild von der »gewaltfreien« Gesellschaft geklammert hat, gehört hier zum größeren Kaufhaus mittlerweile uniformiertes Wachpersonal. Demonstrativ in der Eingangszone postiert, signalisiert es dem Publikum, dass die Geschäftsführung mit der entfesselten Raffgier oder Zerstörungswut der Kundschaft rechnet. Auf den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung bereitet man sich vor, denn Feinde, die erklärte Ziele verfolgen, gibt es nicht. Die organisierten Gegner des Konsumterrors sind ebenso verschwunden wie die politisch Engagierten unter den Beamten, auf welche der Radikalenerlass gemünzt gewesen war. Wo früher die Gesinnungsprüfer saßen, sitzen heute die Sonderermittler vom Korruptionsdezernat. Wenn es zum Kampf kommt, kämpft keiner für Freiheit oder Sozialismus. Jeder kämpft gegen jeden, jeder kämpft für sich.

 

*

 

»Jeder für sich« war die Spielregel in John Carpenters 1981 angelaufenem Film Escape from New York, ins Jahr 1997 datierter Social Fiction. Die erste Einstellung zeigt nur Linien und Punkte auf einem Monitor, sie signalisieren Verfügung und Kontrolle. Elektronisches Gebrumm setzt ein, warm und voll, unterbrochen wird es von einer kalten Stimme aus dem Off. Langsam stellt sich heraus, dass dies die Kommandozentrale einer mobilen Truppe ist. Sie überwacht einen Sperrgürtel, der an die Befestigungsanlagen mittelalterlicher Städte erinnert, mit dem Unterschied nur, dass Mauern und Gräben sich statt gegen Eindringlinge gegen die Bewohner richten. Wo sie leben, zieht es keinen hin. Alle wollen ausbrechen, aber Fluchtversuche sind vergeblich.

Die Vorgeschichte: »1988 steigt die Verbrechensrate in den Vereinigten Staaten um 400 Prozent. Die ehemals freie Stadt New York wird das einzige ausbruchssichere Gefängnis des Landes. Umgeben wird dieses Gefängnis von einer 20 Meter hohen Mauer, welche entlang der Küste von New Jersey über den Haarlem-River bis zur Küste von Brooklyn führt. Sie umgibt ganz Manhattan Island. Alle Brücken und Wasserstraßen sind vermint. Die Polizei der Vereinigten Staaten ist wie eine Armee um die Insel herum stationiert. Innerhalb des Gefängnisses gibt es keine Wächter, sondern nur Gefangene – und eine Welt, die sie selbst geschaffen haben. Die Regeln sind einfach: Wer erst mal drin ist, kommt nicht wieder raus.«

Oder wer erst mal draußen ist, kommt nicht wieder rein, wenn man die Sache von der anderen Seite aus betrachtet. Jedenfalls ist die Welt aufgeteilt, und jeder kennt solche Endgültigkeiten. Im Gefängnis hat sich das frühere Deportationssystem mit seinen Strafkolonien erhalten. Die Strafkolonie wiederum tradiert alten Stammesbrauch. Wer nicht spurt, wird verstoßen, und Entzug der Mitgliedschaft bedeutet Tod. »Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben«, wissen kleine Kinder schon. Ihr Leben lang werden sie das Hänsel-und-Gretel-Gefühl nicht los, denn hinter der Jagd nach Erfolg und Anerkennung steckt die Angst vor sozialer Ächtung und Deklassierung. Weitere Informationen braucht der Zuschauer daher nicht, um die Situation zu verstehen.

Die Partie beginnt damit,, dass die Air Force One Probleme meldet. An Bord befindet sich der Präsident, aber es gibt noch andere Gäste. Im Cockpit der Maschine hat sich ein Selbstmordkommando verschanzt, über Bordlautsprecher lässt es den Präsidenten und seine Begleiter wissen: »Euer ganzes imperialistisches Waffensystem und eure Lügen können ihn nicht mehr retten. Wir schmieren ab. Wir werden abstürzen. Erzählt dies euren Arbeitern, wenn sie wissen wollen, wo ihr Staatsoberhaupt ist. Wir, die Soldaten der Nationalen Befreiungsfront der Vereinigten Staaten von Amerika, haben im Namen aller Arbeiter und aller, die von diesem imperialistischen System unterdrückt worden sind, dem rassistischen Polizei- und Obrigkeitsstaat einen vernichtenden Schlag versetzt. Welches Beispiel wäre besser dazu geeignet, als den Präsidenten im Ghetto seines eigenen imperialistischen Gefängnisses zugrunde gehen zu lassen. Diese rassistischen Schweine haben es nicht besser verdient. Dies war unser erster Schlag, und es werden weitere folgen.«

Schläge ins Wasser allerdings, weil die Schwätzer weder den eigenen Status noch die Situation begreifen. Sie sind nur eine Bande unter vielen, es gibt kein Drinnen und Draußen, das ausbruchssichere Gefängnis ohne Wächter ist die Welt. Sich selbst für Freiheitskämpfer und den Präsidenten für einen Imperialisten zu halten, heißt, eine Konfrontation aufzublasen, die in Wahrheit längst keine Parteien und Ideologien mehr kennt, nur Gewinner und Verlierer. Befangen noch im Glauben an einen Kampf zwischen verschiedenartigen Gesellschaftssystemen, zwischen Böse und Gut, unterschätzen die Soldaten der Nationalen Befreiungsfront die persönlichen Qualitäten ihres Gegners. Der sei ein Trottel, meinen sie, ein Werkzeug, gefährlich nur als Agent und Repräsentant der Klassenherrschaft, der er sich verschrieben hat.

Aber längst macht nicht mehr der Geschäftsmann Karriere, der sich für die Firma ruiniert. So hoch wie der Präsident kommt in einer Welt wie dieser vielmehr nur, wer schon als Säugling wusste, dass man sich keiner Person oder einer Sache restlos hingeben darf. Das Reserve-As im Ärmel gehört zum Spiel dazu. Kühl, geschäftsmäßig erteilt der erprobte Überlebenskünstler also Weisung, dass seine persönliche Rettungskapsel startklar zu machen sei. Von den Mitarbeitern, die in der Maschine bleiben müssen, nimmt er Abschied mit den Worten: »Gott rette mich und beschütze Sie alle« – man beachte den feinen Unterschied. Und er landet auch unversehrt, nur eben — keine Sicherheitsvorkehrung, die nicht neue Gefahren schaffen würde, wie jeder weiß, der schon mal einen Schlüssel verlor – ausgerechnet an diesem Ort, der dafür präpariert ist, dass keiner rauskommt.

Bevor man reinkommt, passiert man eine Art Terminal. Schilder mahnen »No Talking. No Smoking.«, und wieder die Stimme aus dem Off: »Achtung, Sie betreten jetzt die Transportzone. Bitten reden Sie nicht und rauchen Sie nicht. Folgen Sie der orangenen Linie zur Kontrolle. Die nächste planmäßige Abfahrt zum Gefängnis ist in zwei Stunden. Sie haben jedoch die Wahl, sich töten und einäschern zu lassen. Wenn Sie diese Möglichkeit in Betracht ziehen, begeben Sie sich zu einem der Private Duty Sergeants in Ihrer Kontrollzone.«

Dort begegnet uns Snake Plissken, ein breitschultriger, muskulöser, langmähniger, wortkarger, misstrauisch und mürrisch dreinschauender Typ mit schwarzer Augenklappe: Amerikaner laut Akte, außerdem »Lieutenant, Spezialeinheit Black Light, Auszeichnung zwei Lederherzen, Einsatz in Leningrad und Sibirien jüngster Officer, der vom Präsidenten ausgezeichnet wurde, Einbruch im Nuklearwaffendepot, verurteilt zu lebenslänglicher Strafe im Staatsgefängnis New York.«

Also der richtige Mann, den Präsidenten aus der von ihm installierten Hölle wieder rauszuholen, und als Belohnung winkt Straferlass. Damit beginnt eine wirre Geschichte, die im Einzelnen nicht nacherzählt werden muss. Wichtig ist, dass wir mit Plissken in eine reichlich bizarre, meist nur spärlich beleuchtete Welt abtauchen, die allerhand Ähnlichkeit mit jugoslawischen Bürgerkriegsgebieten hat. Versorgt wird sie per Hubschrauber über eine »Lebensmittelabwurfzone«, die im Central Park eingerichtet worden ist. Sonst sind alle Verbindungen zur Außenwelt unterbrochen — kein Strom, kein Benzin, kein Öl. Die Straßen gleichen Autofriedhöfen, überall stapelt sich Schrott, kokelnder Müll wirft flackerndes Licht. Gestalten huschen im Halbschatten herum, stets sind sie Mitglieder einer von zahllosen rivalisierenden Banden. Einander quälen und einander beim Quälen zuschauen ist ihr bevorzugter Zeitvertreib.

Wo keiner bleiben will und keiner wegkommt, verliert jede Tätigkeit ihren Sinn. Von vornherein ist ausgeschlossen, dass der Einzelne per Kraftanstrengung erreichen kann, was er am meisten wünscht. Herr der Lage wird er nur, indem er sich zum Vollstrecker des Gesetzes macht, dem er sich unterworfen glaubt. Als jemand, der sich von der Aussichtslosigkeit langsam abgetötet fühlt, wird er andere quälen. »Wenn sie sich langweilten«, heißt es in einem Bericht über die Jugend des späteren Mafia-Bosses Mooney Giancana, »lungerten Mo und der Rest der Gang in Goldstein's Delicatessen, Mary's Restaurant oder in Bonfiglio's Pool Hall herum. Um sich zu amüsieren, wandten sie sich der Vervollkommnung auserlesener Foltermethoden zu. Vor allem Mo hatte ein besonderes Talent, die anderen Mitglieder der Gang mit neuen Methoden zu unterhalten, wie man die Katzen, die in großer Zahl in den Gassen des Viertels herumschlichen, zu Tode prügeln konnte.« (Giancana 1995:29) Unter der Bedingung umfassender Vergeblichkeit wird das Zufügen von Schmerz zur Methode, mittels welcher das Subjekt sich von seiner Existenz überzeugen will. Die Folter soll Gewissheit stiften: Er schreit, also bin ich. Aber vielleicht ist der Schrei kein echter, und vielleicht hat die Seele des Ermordeten entweichen können. Vielleicht spürt er nichts, vielleicht ist er gar nicht tot. Die Folter stiftet keine Gewissheit, darum wird sie unendlich wiederholt.

Je ähnlicher sich, bedingt durch die ausweglose Lage, die Insassen sind, desto größeren Wert legen die Scarls darauf, dass keiner sie mit den verhassten Crazys verwechselt. Ob mit Wärtern oder ohne, nirgends funktioniert Bandenbildung besser als im Knast. Wenn Menschen gruppenweise übereinander herfallen sollen, muss man sie zusammensperren, wo durch die Übermacht der Umstände jeder Unterschied zwischen den Personen ausgelöscht ist.

Auch dieser Krieg aller gegen alle hat seine Ordnung. Dafür sorgt der Duke, der gefürchtete Slumlord, der in der Hierarchie über den Bandenchefs steht. Sein Hauptquartier sind abgestellte Eisenbahnwaggons auf der früheren Grand Central Station, wohin mittlerweile der Präsident verbracht worden ist. Gefesselt und an die Wand gestellt, soll er, zum Slumlord gewandt, nachsprechen: »Sie sind der Duke von New York, Sie sind die Nummer Eins.« Das fällt ihm schwer, er stammelt. Paar dicht neben seinen Kopf gezielte Schüsse aber räumen alle Hemmungen weg, und er schreit die Botschaft lauthals hinaus.

Später wendet sich das Blatt, und der Präsident hat die Demütigung nicht vergessen. Es kommt zu einer Autojagd, vom Duke verfolgt erreichen Plissken und sein Schützling den Polizeikordon. Statt erst mal durchzuatmen, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen oder seinen Rettern einen dankbaren Blick zu schenken, schreitet der Präsident sofort zur Tat. Er entreißt einem der Beamten die Maschinenpistole und richtet sie gegen den auf Schussweite herangerückten Verfolger. Dann bricht er in ein irrsinniges Lachen aus und kreischt so laut, dass es die Salve, mit der er den Duke niedermäht, übertönt: »He, Du bist die Nummer Eins? Du bist der Duke? Ich scheiß auf den Duke.«

Die Exekutions-Szene zeigt den Präsidenten als einen Chef von der Sorte, die auch selber mit anfassen kann.1Sich über die Bedienung der Waffe instruieren lassen braucht er nicht, die Griffe sitzen. Trotzdem ist klar, dass es sich um keinen Politiker mit Guérillero-Vergangenheit handelt, wie Allende einer sein wollte, als er in der Moneda mit der Maschinenpistole eigenhändig die Stellung hielt. Die Bilder vermischen sich, hinter dem verblassenden vom Guérillero taucht das ältere vom Gangsterboss wieder auf. Für die Schmutzarbeit hat er zwar längst seine Leute, bisweilen aber fällt er in alte Gewohnheiten zurück. Skrupellosigkeit, Impulsivität, Jähzorn, Sadismus – die Charaktereigenschaften, die ihn hochbrachten –, schlagen dann durch, und er lässt es sich wider alle Vernunft nicht nehmen, beim Erledigen ausgewählter persönlicher Feinde selber Hand anzulegen, wie er dies vor seinem Aufstieg an die Spitze tat.

Aus der Kalaschnikow am emporgereckten Arm des Revolutionärs wird wieder der »Hacker«, die »Schreibmaschine«, das »Chicagoklavier«, wie in den Zwanziger Jahren unter Gangstern deren Lieblingswaffe hieß. Das war die Thompson-Maschinenpistole, benannt nach dem amerikanischen Brigadegeneral, der sich den »Kehrbesen für Schützengräben« ausgedacht hatte. Allerdings fielen dann Produktionsreife und Kriegsende zusammen, so dass als einziger Abnehmer für die neue Wunderwaffe zunächst nur die Unterwelt blieb.

Viel anders als drinnen muss der Zuschauer beim Anblick des Präsidenten mit Maschinenpistole denken, kann es draußen nicht sein, denn hier wie dort sind die gleichen Typen am Ruder. Plissken sieht es ebenso, und das hat Konsequenzen. Seinen Auftraggebern ging es weniger um den Amtsträger selbst als um die Tonkassette, die der Staatsmann bei sich hatte. Eine ominöse Botschaft ist darauf, und nur diese Botschaft kann einen ebenso ominösen Atomkrieg, für den schon alle Vorbereitungen angelaufen sind, in letzter Minute noch verhindern. Präsident und Kassette waren zwischenzeitlich getrennt, Plissken hat beide eingesammelt, aber nur den Präsidenten abgeliefert. Die Übergabe des kostbaren Tonträgers steht noch aus.

Sie findet nun statt, wie Empfänger und Zuschauer glauben müssen, und dann kommt der große Augenblick. Doch statt dass das rettende Wort – über Fernsehen adressiert an ein »historisches Gipfeltreffen«, damals schon – zu hören wäre, dudelt aus dem Lautsprecher blöder Swing. Also noch einer, der weiß, dass man stets ein Reserve-As im Ärmel haben, sich immer ein Hintertürchen offenhalten muss. Dass es in die Hölle führt, spielt keine Rolle.

Guérilleros

Verdientermaßen kam der Film bei der Kritik schlecht weg. Zu echt sind die Figuren, als dass sie überzeugen könnten. Echte Geschäftsleute und Politiker sehen stets wie im B-Picture aus. Kein Mensch kaufte Clinton die Präsidentenrolle ab, wenn er sie im Studio spielen müsste. Auch die Gegenseite, die Stadtguerilla-Gruppe mit dem offizielle Amtlichkeit nachäffenden und deshalb affig klingenden Namen »Soldaten der Nationalen Befreiungsfront der Vereinigten Staaten«, wirkt ohne echte Kulissen und Requisiten läppisch. Das Vermächtnis der Desperados scheint aus der Feder eines schriftstellern- den Gymnasiasten zu stammen. Kein Kunstgenuss zwar und von mäßigem Unterhaltungswert, aber realistisch, weil die Protestbewegung wirklich schlechtes Theater war. Eine Laienschar spielte vor allem sich selbst was vor. Sie tat es im besten Glauben, und vielleicht hatte sie keine andere Wahl.

Entgegen einem weitverbreiteten Irrtum heißt Revolution machen wollen keineswegs primär, Mitgefühl für die Ausgebeuteten zu entwickeln und den Entschluss zu fassen, deren Lage zu bessern. Revolution machen wollen heißt vielmehr, einen großen Ausbruch zu planen – den Ausbruch aus einem Zeitabschnitt, von dem man meint, dass man darin nicht mehr die Luft zum Atmen fände. Um die Details wie Wohnung, Entlohnung, Ernährung, die durch allmähliche Reformen zu verbessern wären, geht es nicht. Man will ans Fenster stürzen, um es aufzureißen, und zwar mit einem Ruck.

Marx hat erklärt, wie es dazu kommen kann. Im Lauf ihrer Entwicklung, schreibt er, bringt eine bestimmte Produktionsweise irgendwann »die materiellen Mittel ihrer eignen Vernichtung zur Welt. Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im Gesellschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen.« (Marx, MEW 23:789) Für den Menschen, der von solchen Kräften und Leidenschaften ergriffen worden ist, stellt die alte Ordnung ein Gefängnis dar. Die vorgefundenen Verhältnisse hindern ihn daran, die Welt als »Laboratorium seiner Kräfte« zu behandeln, als »Domäne seines Willens« (Marx, Grundrisse:396). Er leidet unter aufgezwungener Kraftlosigkeit und Willenlosigkeit, weil er umständehalber auf möglich erscheinende Unternehmungen verzichten muss. Beklagt werden Armut und Elend immer, aber ein Motiv für Rebellion und Revolution stellen quälende Entbehrungen erst im Moment ihrer objektiven Überflüssigkeit dar. Bedingung und Folge ihrer Fortdauer ist dann, dass die Menschen ihr Selbstbewusstsein verlieren, weil sie sich wie unfreie, willenlose Wesen verhalten. Nehmen sie die Verhältnisse hin, von denen sie sich gefesselt fühlen, werden sie Gefangene. Mit der Zeit entwickelt sich bei ihnen ein Insassensyndrom, sie empfinden die Welt als Zuteilungsstelle und sich selber als Empfänger. Wer reicher ist, fühlt sich besser abgefüttert, selber essen kann er auf legalem Wege nicht. Deshalb schmecken geklaute Äpfel besser.

Oft allerdings ist das Lebensgefühl revolutionär, doch die Verhältnisse sind es keineswegs. Damals, Ende der Sechziger Jahre, waren sie nicht nur ausbruchssicher, dicht wie Manhattan Island in Carpenters Riesengefängnisfilm, sondern sie glichen abhärtendem Beton. Was an der Protestbewegung fröhlich wirkte und aufbruchsgestimmt, war die Ausgelassenheit einer Abschiedsparty, wie sie von Junggesellen vor der Heirat gefeiert wird oder von jungen Männern vor der Einberufung zum Militär. Man kostete den Restbestand hinfällig gewordener alter Freiheit auf eine Weise aus, als wolle man ihn vernichten.

Eine solche Konstellation entsteht, wenn die Realität sich schneller geändert hat als das Bewusstsein der Menschen. Die Leute kämpfen dann, getrieben von zwiespältigen Gefühlen, gegen die eigenen, lästig gewordenen Denk- und Lebensformen an, während sie eine Welt aus den Angeln zu heben meinen. Wie bei Kindern, die der Puppe zufügen, was die Mutter mit ihnen tat, liegt der Grund des Missverständnisses darin, dass der Leidende lieber Täter wäre, wenn er die Qual nicht verhindern kann. Identifikation mit vorhandenen Verhältnissen heißt, dass die Menschen das Vorgefundene als von ihnen Hervorgebrachtes betrachten. Sie verhalten sich so, dass ihnen die eigene Anpassung an die äußere Welt als deren Umwälzung erscheinen muss.

Mit großem Schwung rannte die Protestbewegung also offene Türen ein, soweit sie ein kulturrevolutionäres Unternehmen blieb, das seinen Hauptgegner in den tradierten Moralvorstellungen und den sie konservierenden Institutionen hatte. Die selbstquälerische Ablehnung von Repressivität stieß auf allgemeine Sympathie, auch wenn dies zunächst nicht allgemein eingestanden wurde. Dass die Alten, als sie die ersten nackten Jungen sahen, sich empörten, bevor sie ihrerseits die Hüllen fallenließen, gehörte zum Spiel mit verteilten Rollen, welches der Unterwerfung unter den Status quo den kämpferischen Anstrich gab, dessen euphorisierende Wirkung den Umstellungsschmerz unfühlbar machen sollte.

Anders hingegen sahen die Chancen aus, wenn statt der neuartigen unbegrenzten Nacktbadekonzession die überfällige Einlösung alter Versprechen gefordert wurde. Auch die Traditionalisten, denen es um die Herstellung einer Welt ohne Entmündigung, Elend und Hunger ging, waren Produkt des aktuellen Veränderungsdrucks, nur missverstanden sie starrsinnig dessen Bedeutung. Im Glauben, statt der Anpassung an die Verhältnisse stünden diese selbst zur Disposition, wollten sie zum Abschluss bringen, was stets nur begonnen, dann aufgeschoben und halb vergessen worden war.

Das aber hieß, sich mit dem Blechlöffel durch meterdickes Mauerwerk zu kratzen, und als Konsequenz daraus ergab sich die Alternative Resignation oder Realitätsverlust. Zwei Weltkriege, Faschismus und hundert nicht wahrgenommene Chancen hatten tausendmal das Manifest der Kommunistischen Partei von 1847 widerlegt. Die Bourgeoisie, glaubten Marx und Engels damals, »produziert vor allem ihren eignen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich« (Marx/Engels 1989:50). In absehbare Nähe gerückt schien der Punkt, wo der versteckte Bürgerkrieg »in eine offene Revolution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet«. Anlässlich der Jubiläumsausgabe 25 Jahre später waren es dann die Verfasser selbst, die in ihrem alten Text nur noch ein »historisches Dokument« sahen.

Und nun, um 1970 herum, war wiederum ein knappes Jahrhundert vergangen, das Industrieproletariat eine Schrumpfgröße geworden und die Masse keine Klasse mehr. Nach dem Konzept für die Angestelltenheere suchte man in der Literatur vergeblich, sie kamen bei Marx und Engels gar nicht vor. Die Bevölkerung stellte sich als amorphe Menge dar, unterteilbar in beliebig viele Schichten. Den Willen und die Kraft, ein besseres Zeitalter zu erkämpfen, besaß sie offensichtlich nicht.

Wie vom Himmel geschickt mussten deshalb Che Guevara und Régis Debray erscheinen. Der eine hatte angeblich das Wundermittel entdeckt, um die apathisch dahindämmernde Masse der Bauern in Lateinamerika zu revolutionieren. Der andere, sein Begleiter, hatte sich dabei Notizen gemacht. Die kamen 1967 in Frankreich unter dem Titel Révolution dans la révolution? und zeitgleich in deutscher Übersetzung auf den Markt. Das Bändchen wurde aufgenommen wie eine Offenbarung. Denn wenn der Kunstgriff, den es verriet, bei der abgestumpften Landbevölkerung armer Länder wirkte, wirkte er bei der stumpfsinnigen Masse in den reichen Ländern sicher auch. Somit bestand kein Bedarf mehr danach, sich den abgesessenen, schmächtigen, müden Mann hinter der Rechenmaschine als schmiedehammerschwingenden Donnergott (»Wenn dein starker Arm es will«) vorzustellen. Das Trugbild von der Fortdauer alter klassenkämpferischer Arbeitermacht war überflüssig, denn die neue Methode wies offenbar über Marx hinaus. Keine Revolution ohne revolutionäre Klasse, hatte der gesagt. Man kommt auch ohne aus, schienen die Erfahrungen in Lateinamerika nun zu zeigen.

Debrays Rezept ist eine Konsequenz aus der Tatsache, dass keine Revolution bislang über intakte Sicherheitskräfte siegte. Es sieht vor, zunächst die Unterdrückungsmaschinerie der staatlichen Exekutivorgane durch viele militärische Nadelstiche zu schwächen. Erst danach habe der Widerstand der Landbevölkerung eine Chance. Die Massen, die nach parteikommunistischer Überzeugung aus Mangel an Bewusstseinsbildung stillhalten, sind ihren philosophisch geschulten Aufklärern an materialistischer Einsicht voraus. Sie wissen genau, warum sie sich nicht wehren. Spontane Aufstände würden zerschlagen mittels der »modernen, von einer wohlausgerüsteten amerikanischen Militärmission trainierten und unterstützten Armee«, »die mit einer zahlenmäßig kleinen, aber aggressiven Elitetruppe ausgerüstet ist« (Debray 1967:34). Machtverhältnisse sind nur durch Machtmittel zu ändern, »Brüderlichkeit und Mut ersetzen keine Waffen: siehe Spanien, siehe die Pariser Commune« (56).

Gegen die kleine, aber aggressive Elitetruppe tritt nun, so Debrays Szenario, ein Verbund noch kleinerer, noch aggressiverer bewaffneter Gruppen an – die Guerilla. Sie operiert vollkommen isoliert, ohne Unterstützung durch die Zivilbevölkerung, welche der Repression der Exekutivorgane hilflos ausgeliefert wäre. Wer nicht gefasst, gefoltert und getötet werden will, muss nach der Methode »hit and run« zuschlagen können. Die Bevölkerung kann es nicht. Sie klebt an dem Stück Erde, das sie ernährt, und es muss auf die Frauen und Kinder Rücksicht genommen werden. Außerdem bleibt den Bauern zum Kämpfen wenig Kraft. Sie sind von der schweren Landarbeit erschöpft, und sie leiden unter schlechter Ernährung.

Auch im eigenen Interesse aber muss die Guerilla »von der Zivilbevölkerung in ihren Aktionen wie in der militärischen Organisation unabhängig« (43) sein. Wer schwach ist, ist erpressbar. Er wird leicht zum Verräter und zum Kollaborateur: »Mehrere einsichtige Gründe machen das Misstrauen der Zivilbevölkerung gegenüber notwendig und zwingen dazu, sich von ihr entfernt zu halten.« (44)

Am Anfang operiert die Guerilla deshalb autark und autonom. Ihre Aufgabe besteht ausschließlich darin, den Repressionsapparat zu zermürben. Feuerüberfälle auf abgelegene Polizeiposten und Armeekasernen bewirken, dass er seine Kräfte bündeln muss. Wenn sein Aktionsradius kleiner wird, bleiben Gebiete zurück, welche die Guerilla kontrolliert. Unter ihrem Schutz werden die Massen revolutionär, sie erwachen aus ihrer Apathie, die von umfassender Machtlosigkeit herrührte. Guerillatätigkeit ist für Debray ein Unternehmen, »das aus sich selbst heraus die Vorbedingungen für eine Revolution schafft, das heißt also nicht unbedingt auf Bedingungen gegründet sein muss, die vorher geschaffen worden sind« (Oppenheimer 1971: 52). Die Revolutionäre mögen nicht länger warten auf den »richtigen Augenblick«; sie führen ihn herbei.

Lösen soll sich der Bann, unter dem die Menschen verdummen und verwildern—nicht nur in den Armutsgebieten der Dritten Welt. Auch die freudlosen Spaßvögel mit ihren Baby-faces und ihrem penetranten kindischen Getue in den reichen Ländern sind Ausdruck der Ohnmacht des Einzelnen vor der gesellschaftlichen Übermacht. Ihr als erwachsene Person gegenüberzutreten hieße, sie herauszufordern. Weil Infantilismus Selbstschutz ist, ahmen erwachsene Frauen die Stimmlage und den Tonfall kleiner Mädchen nach. Deshalb klingt der Sprecher im Werbefunk wie ein Kastrat, wenn er ekstatisch irgendwas bejubelt.

Im Alltag mag jene Übermacht erfahren werden als gewaltloser Zwang, ausgeübt von Verhältnissen, die keine Angriffsflächen bieten, weil bis zum Kanzleramt hinauf hinter jedem Schalter ein freundlicher Angestellter sitzt, der mit Bedauern auf seinen eingeschränkten Handlungsspielraum verweist, wenn er die Bittsteller abwimmelt. Doch der Frieden dauert nur, solange alle Einsicht aufbringen und Geduld. Die Schwachen zeigen sich verständig, weil die geschichtliche Erfahrung besagt, dass sie im Konfrontationsfall keine Chance hätten. Beim Umsturz werden sie auf die Straße gerufen, wenn die Würfel gefallen sind. Die Toten, anders als bei Kriegen nicht allzu viele meist, sind dann echt, der Kampf, worin sie starben, war es nicht. Den hatte der neue Befehlshaber nach gelungenem Staatsstreich zu Propagandazwecken inszeniert. Mit dem Sturm auf die Bastille verglichen waren die Montagsdemonstrationen das miesere Straßentheater, keine schlechtere Politik.

 

*

 

Auch bei Debray kommt die Bevölkerung erst ins Spiel, wenn die wichtigste Runde entschieden ist, die Masse darf sich dann mit der neuen Power-Clique arrangieren. Dass die Guerilla rein unter militärtechnischen Gesichtspunkten zu betrachten wäre, als Hilfsmittel zur Schwächung des Repressionsapparats ohne eigene politische Ambitionen, als Verein, welcher die Spontaneität der Massen freisetzt und schützt, ist in Debrays Konzept bloß der Speck, mit dem man Mäuse fängt. Wer angebissen hat, wird der Volksbefreiungstruppe bald weitere Funktionen und Kompetenzen zugestehen müssen, immerhin zeichnen deren Mitglieder sich durch ein außergewöhnliches Maß an Selbstlosigkeit, Mut, Entschlossenheit und Opferbereitschaft aus.

Es handelt sich um »eine Handvoll Männer ohne andere Alternative als Tod oder Sieg, in Augenblicken, wo der Tod eine tausendmal gegenwärtige Vorstellung ist und der Sieg der Traum, den nur ein Revolutionär träumen kann« (Debray 1967:115), um »Männer der Offensive« eben, »beharrlich und verantwortungsbewusst. Jeder von ihnen versteht Sinn und Ziel dieses bewaffneten Klassenkampfes, die durch Führer vermittelt werden, welche – wie sie – Kämpfer sind und von denen sie jeden Tag sehen, dass sie, wie jeder während des Marsches, dieselben Gewichte auf dem Rücken schleppen, dass sie ebenfalls unter Blasen an den Füßen leiden und vor Durst krepieren.« (121) Ähnlich, nur ein konventionelleres Bild und mehr Schmalz benutzend, hatte Lenin es gesagt: »Wir schreiten als eng geschlossenes Völklein, uns fest an den Händen haltend, auf steilem und mühevollem Weg dahin, wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen fast stets unter ihrem Feuer marschieren.« (Zitiert nach Voslensky 1980:104.) Wenn Machtmenschen larmoyant werden, wenn sie von ihrem Leidensweg sprechen, den zu gehen keiner sie gezwungen hatte, melden sie Forderungen an.

Nur im Hinblick auf die Kampfzeit also ist die Guerilla Mittel zur Schwächung staatlicher Macht. Im Hinblick auf den Frieden danach aber ist der Kampfverband die Keimzelle künftiger Herrschaft. Hier festigt die kommende Machtgruppe sich, hier werden die Jungs gedrillt und gesiebt, die später ganz oben stehen sollen.

Berufspolitiker werden sie nur, wenn sie sich als Berufsrevolutionäre bewähren, die Guérilleros wie vor ihnen die Bolschewiki, über die Lenin schrieb: »Das einzige, erste Organisationsprinzip muss für die Funktionäre unserer Bewegung sein: strengste Konspiration, strengste Auslese der Mitglieder, Heranbildung von Berufsrevolutionären«, die einander das »volle und kameradschaftliche Vertrauen« entgegenbringen. Auf jeden ist Verlass, denn alle wissen »aus Erfahrung, dass eine aus wirklichen Revolutionären bestehende Organisation vor keinem Mittel zurückschrecken wird, wenn es gilt, sich von einem untauglichen Mitglied zu befreien.« (Zitiert nach Voslensky 1980:103.)

Der Anhängerschaft wie unter Berufsganoven mit dem Genickschusskommando zu drohen, verrät eine Unsicherheit, die es bei der Guerilla nicht gibt. Im Unterschied zu Lenins altertümlichem Verein mit seinem Hang zu Kontrolle und Paranoia kann die Guerilla auf Strafmaßnahmen gegen Abtrünnige verzichten. Wer unzuverlässig ist, kommt erst gar nicht rein.

Wegweisend war, dass die Guerilla das herkömmliche Trainingslager mit einem erst später in Mode gekommenen Ausleseverfahren für Stellenbewerber kombinierte, das sich Assessment-Center nennt. Ziel dabei ist, »in zwei, drei Tagen ›das Innerste der Kandidaten nach außen kehren‹« (FAZ vom 20.4.96). Man will, wie in der Wohngemeinschaft, die »soziale Kompetenz« des Probanden kennenlernen, seine »Persönlichkeit«: »Wer entpuppt sich als Leithirsch, wer kommt nicht zu Wort, wer macht sich mit einer Außenseitermeinung lächerlich?« Unerlässlich daher, »dass ständig jemand dabei ist, meist im Rücken, der sich Notizen macht.«

Protokollanten sind Angestellte, die aus Nachlässigkeit oder Dummheit irren können, die Guerilla braucht sie nicht. Was eine Person unter Extrembedingungen tut und wie sie reagiert, spielt sich hier 24 Stunden täglich vor den Augen aller ab, umfassenderes Beobachtungsmaterial liefern nicht mal Überwachungskameras im Labor. Kein noch so kleiner Rest Privatleben existiert, wo der Einzelne der Kontrolle durch die Gruppe und ihrem Konformitätsdruck wenigstens temporär entzogen wäre. Im Vergleich zur Guerilla stellen lizenzierte Agenturen wie Internat, Gefängnis, Erziehungsheim und Kaserne nur Behelfslösungen dar. Zellen, Mauern und Zäune sind immer Flickwerk am unvollkommenen System. Wo es perfekt ist, sind sie überflüssig, auf hoher See wie im Dschungel.

Nicht müde wird Debray daher, die erzieherische Kraft des Lebens in der Natur zu rühmen. Unwegsame Berge können »den Bürger und den Bauern zum Proletarier« machen, in der Stadt werden »selbst Proletarier Bürger« (79f.). Dort nämlich genießt der Einzelne eine gewisse Unabhängigkeit vom Kollektiv. Faulenzen, wenn alle arbeiten, ist mit Nachteilen verbunden, aber möglich. Wer den eigenen Regungen nachgeben kann, braucht sie nicht mit aller Härte niederkämpfen. Weich gegen sich selbst, ist er auch weich gegen andere, zur Ausübung von Herrschaft eignet er sich kaum.

Die Befähigung dazu muss er erst erwerben: »Man sagt ganz richtig, dass wir im Sozialen baden: Lange Bäder verweichlichen. Es gibt nichts Besseres, als aus ihnen auszusteigen, um sich bewusst zu werden, wieweit dieser lauwarme Brutkasten kindisch macht und verbürgert.

Während der ersten Zeit in den Bergen ist das Leben ganz einfach ein täglicher Kampf, in seinen kleinsten Einzelheiten — und zuallererst ein Kampf des Guérillero gegen sich selbst, um seine alten Gewohnheiten zu überwinden, die Narben, die der Brutkasten in seinem Körper hinterlassen hat, die Schwäche. Der Feind, den es in den ersten Monaten zu besiegen gilt, ist man selbst.« (75)

So geht es allen, die besonderen Bedürfnisse und Wünsche eines jeden sind der gemeinsame Feind. Die Gruppe ist Kampf- und Leidensgemeinschaft, auch ohne militärischen Gegner. Aus kollektiver Selbstunterwerfung macht sie soziale Kohärenz: »Das Zusammenleben, die Kämpfe, und die gemeinsam ertragenen Strapazen schmieden langsam ein Bündnis, das die einfache Kraft der Freundschaft hat.« (117)

Die gleiche »einfache Kraft der Freundschaft« entsteht überall, wo das Zusammensein für den Einzelnen Entsagung und Qual bedeutet, oft in der geschlechtshomogenen Gruppe. Sie wächst zusammen in der Sauna, beim Mannschaftssport, beim Trinkgelage, bei der Sitzung, die bis zur physischen Erschöpfung aller Beteiligten dauert. Heute erfüllt fast jede Art von Geselligkeit diesen Zweck.

Bei der Guerilla aber ist die Bindewirkung ungleich stärker, weil hier das kollektive Martyrium nicht inszeniert werden braucht. Es ist die Konsequenz aus Bedingungen, unter welchen die schiere physische Selbsterhaltung von jedem die Selbstaufgabe als Person verlangt. Anderswo wird es bloß behauptet, hier stimmt es, »dass man nicht allein überleben kann. Das Interesse der Gruppe ist auch das jedes Einzelnen – und umgekehrt. Leben und siegen, d.h., dass alle zusammenleben und siegen« (117) – oder sterben, wie man hinzufügen darf.

Wo alle im Interesse des eigenen Überlebens sich permanent dem Allgemeinwohl unterordnen müssen, werden individuelle Unterschiede zwischen den Einzelnen ausgelöscht. Sie kennen irgendwann sich selbst nicht mehr, sie kennen nur noch die Gruppe, die hinsichtlich des Zusammenhalts allen ähnlichen Verbindungen überlegen ist. Selbst beim Himmelfahrtskommando, und sogar in der Fremdenlegion, weiß der reguläre Soldat eine Armee hinter sich. Für den Guérillero existiert außer seinen Kameraden nichts. Dies Angewiesensein aufeinander bedeutet für jeden Einzelnen Restriktionen »von einer Unerbittlichkeit«, »die der Contrat social nicht kennt« (122).

Die eine mögliche Schlussfolgerung daraus wäre der Verzicht. Die Kämpfer für eine bessere Gesellschaft ziehen sich zurück im Moment, wo das Ziel erreicht ist. Den Grund dafür hat Oppenheimer in seinem Guerilla-Buch erläutert. Menschen, schreibt er, die als Untergrundkämpfer leben müssen; die sich an solche Bedingungen gewöhnen und sich am Ende darin sogar »wohlfühlen, können, und wenn sie sich noch so leidenschaftlich darum bemühen, keine Gesellschaft hervorbringen, die von den Gesetzen der Menschlichkeit regiert wird. Das war der Grund, warum es Moses lediglich gestattet war, das Gelobte Land zu sehen, nicht aber, es zu betreten.« (Oppenheimer 1972:70f.)