Bruchstellen - Franz Supersberger - E-Book

Bruchstellen E-Book

Franz Supersberger

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Beschreibung

Mit seiner Fähigkeit, das Wesentliche zu kurzen Texten zu verdichten, bringt Supersberger seine Beobachtungen einfühlsam, aber immer zum Nachdenken anregend ins Wort. In den Texten finden sich Aufzeichnungen über menschliche Verhaltensweisen genauso wie Kommentare zu den Zeiterscheinungen. Mit ruhiger Bestimmtheit skizziert er die Front zwischen dem schönen Schein des Fortschrittlichen und dem, was davon verdrängt und erstickt wird.

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Seitenzahl: 289

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Franz Supersberger wurde in Ferndorf geboren und hat schon als Jugendlicher mit dem Schreiben begonnen. Nach der Ausbildung zum Buchhändler war er selbstständiger Kaufmann in Arnoldstein. Heute lebt er als Buchhändler in Muse in Villach. Sein literarisches Schaffen wurde im Hörfunk und in Literaturzeitschriften sowie in mehreren Büchern veröffentlicht. Er ist Autor des Blogs www. schlagloch.at. Das Blog wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach, www.dla-marbach.de, langzeitarchiviert.

Buchveröffentlichungen u. a.: An schean Tog; Gsund bleibn; Zeitenwandel; Die Beobachtungen;

Die Texte von Franz Supersberger haben einen gewissen anarchistischen Zug und sind dabei dennoch nostalgieverhaftet. Es finden sich Aufzeichnungen über menschliche Verhaltensweisen genauso wie Kommentare zu den Zeiterscheinungen, mal mit den Neuerern sympathisierend, mal mit den Bewahrern. Der Beobachter blickt als geschichtlich geprägter Mensch mit seinen persönlichen Erfahrungen auf die inzwischen veränderte Welt und – notiert. Mit seiner Fähigkeit, das Wesentliche zu kurzen Texten zu verdichten, bringt er seine Beobachtungen einfühlsam und wehmütig, aber immer zum Nachdenken anregend ins Wort. (P. D.)

Die Texte in diesem Buch, erweitert und überarbeitet, sowie die Kommentare als Fußnoten stammen aus dem Blog www.schlagloch.at. Das Weblog ist seit dem Jahre 2003 im Netz und wird vom Autor laufend aktualisiert.

Inhaltsverzeichnis

Wer handwerkliches Geschick beim Hausbauen zeigt und es zu mehreren Häusern bringt, wird für seinen Fleiß gerühmt…

Wir haben die Untugend, vieles auf später zu verschieben, anstatt es sofort in den Lebensalltag einzubauen…

Mir eröffnet sich ein neuer Aspekt, wenn ein Geistlicher zu mir sagt: „Ein Dogma ist nichts Endgültiges, auch für…

Stehe ich im leeren Lagerraum des Betriebs, spüre ich die körperliche Unsicherheit und weiß, dass ich hier nichts mehr zu…

Im Supermarkt werden die Lebensmittel in Schütten öffentlich zur Schau gestellt, sie umgibt nichts Bäuerliches. Ich habe das Gefühl…

Eine freie Zeiteinteilung ist für die wenigsten möglich, die meisten Arbeitszeiten sind vorgegeben. In einer Übergangsphase…

Als Menschen bleiben wir trotz sozialer Bindungen einsam. Betrachten wir die Ausdehnung des Universums, hausen wir…

Spreche ich mit Freunden darüber, was sich in den letzten Jahrzehnten geändert hat, dann wird zumeist der technische…

Wer handwerkliches Geschick beim Hausbauen zeigt und es zu mehreren Häusern bringt, wird für seinen Fleiß gerühmt. Für jemanden, der Geschichten schreibt, zeigt man wenig Verständnis...

Aus den Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen erfahre ich, wie europäische Staaten zahlungsunfähig werden und wie Ratingagenturen plötzlich über die Zukunft eines Staates entscheiden. Von einzelnen Regierungen wurden ohne das Einverständnis der Bürger enorme Kredite aufgenommen und der Schuldenberg immer größer. Der Staat stellt für auf Pump alle Wünsche sofort einen Freibrief aus. Das Schuldenmachen ist heute eine Selbstverständlichkeit, eine Vielzahl der täglichen Güter wird auf Kredit angeschafft. Den Wohlstand wollen alle prompt. Warten und sparen, zwei Tugenden aus dem vorigen Jahrhundert. Höre ich mich bei Bekannten um, dann leben Personen mit Schulden fröhlicher und besser als solche, die in alter Tradition sparen. Diese sind eine aussterbende Gattung.

Dazumal wurde gespart, um sich eine größere Anschaffung zu leisten und einen unverhofften Schicksalsschlag finanziell abzufangen. Heute bangen die Sparbuchbesitzer um ihr Ruhekissen, obwohl der Staat für die Einlagen haftet. Vergnügter leben jene, die damit spekulieren, durch eine Inflation oder Geldentwertung einen Teil ihrer Schulden loszuwerden. Ihnen geht es im Leben um den Spaß, hier und jetzt.

Am meisten leiden wir unter unseren Abhängigkeiten – vom Körper, vom Arbeitsplatz, von der Zuneigung anderer: Wir sind nicht frei. Wahre Freiheit erlangt man durch Nichtanhaften. Deren Umsetzung würde uns wirklich frei machen – vom Leib, von Besitz, Beruf und Beziehungen, dies würde zur Autonomie führen. Yoga- und Zenmeister bieten Seminare zur Losgelöstheit und für ein sanftes Denken in Wirtschaftsfragen an. Die Klöster müssen sich heute selbst erhalten und öffnen dafür ihre Veranstaltungsräume. Auch Äbte sind begehrte Vortragende bei Besinnungstagen für Manager.

Sie setzen sich für eine Wirtschaft, die dem Menschen keinen seelischen Schaden zufügt, ein. Als zweifelnder Büchernarr habe ich keine Erfahrung, wie weit Klosterregeln und Meditation im Alltag umsetzbar sind. Die Wirtschaftsführung der Abteien ist mir fremd, meine Berührungspunkte beschränken sich auf Seminarbesuche.

Danach habe ich im Klosterladen eine Flasche Wein oder ein Glas Marmelade aus der klostereigenen Landwirtschaft gekauft. Dabei hatte ich den Eindruck, im Klostershop stehen Verkäufer in ausreichender Zahl zur Verfügung. Die Zustände in den ersten Vormittagsstunden im Verkaufsraum eines Lebensmittelmarktes sind andere. Bei den Verkäuferinnen herrscht rege Betriebsamkeit, an allen Enden und Ecken werden Waren nachgefüllt. Die leeren Kartons und die Plastikverpackungen blockieren die Mittelgänge. Die Angestellten, zumeist haben sie nur einen Teilzeitjob, gehören zu den minderbezahlten Arbeitskräften. Die Patres in den Klöstern arbeiten für Gottes Lohn, sie erhalten ein kleines Taschengeld sowie Unterkunft und Verpflegung. Vielerorts werden von ihnen die Pfarreien in der Umgebung betreut und in einer öffentlichen Schule wird Religion unterrichtet. So kommt von auswärts Geld in die Klosterkasse. Den Bonus der Freiwilligkeit gibt es in der freien Wirtschaft nicht. Egal, ob Mittel- oder Großbetrieb: Hier ist das Arbeitstempo ein anderes. Die Konkurrenzsituation zwischen den Mitarbeitern und den Mitbewerbern verschärft zudem das Betriebsklima. Etwas vom klösterlichen Miteinander könnte in die Betriebe einfließen.

Die Weihnachtszeit endet mit dem Fest der Heiligen Drei Könige. Manche Leute sind froh, wenn die Feiertage vorbei sind und morgen das geregelte Leben beginnt. Alles hat dann seine vorbestimmten Abläufe, der Tag beginnt wieder mit dem Weckerläuten. Viele Gläubige sind heute dem Stern von Bethlehem gefolgt und in die Kirche Heiligste Dreifaltigkeit gekommen. Der Gottesdienst wird von Radio Kärnten live übertragen. Die Heiligen Drei Könige ziehen mit dem Pfarrer in die Kirche ein. Ihr Stern wird von den Radiomikrofonen überragt. Als Friedensbotschafter waren sie in den letzten Tagen bei den Menschen in den Wohnsilos von Völkendorf unterwegs. Es verstört, läutet es an der Wohnungstür und die Heiligen Drei Könige haben sich nicht über die Sprechanlage am Hauseingang angemeldet. Was passiert, wenn man die Tür öffnet? Eine Schlammlawine könnte in die Wohnung hereinbrechen und das Leben radikal verändern. Dem Ruf der Drei Sterndeuter haben auch die Erstkommunionkinder gehorcht, alle kommen pünktlich und festlich gekleidet in die Kirche. Dem Pfarrer ist es ein Anliegen, Kinder in die Gestaltung der Messe einzubinden. Gehen die Kinder durch die Reihen, nennen dabei den Erwachsenen ihren Namen und reichen ihnen die Hand, fühlen sich manche Kirchenbesucher in ihrer Andacht gestört. Das Kirchenvolk lauscht dem Gesang der Capella Trinitatis und der Singgruppe Immanuel. Im Evangelium wird geschildert, wie sich die Drei Weisen aus dem Morgenland bei Herodes nach dem neugeborenen König erkundigen. Sie wollen ihm huldigen. Herodes erschrickt bei dieser Nachricht, er sieht seine Macht gefährdet. Er bittet die Gelehrten, nach dem Neugeborenen zu suchen und ihn darüber zu informieren. Sie finden das Kind in der Krippe, beschenken es und kehren auf einem anderen Weg in ihre Heimat zurück. In der Predigt weist der Pfarrer darauf hin: Schon viele Generationen sind dem Stern von Bethlehem gefolgt, jetzt sind wir dran. Herodes, ein Mann aus der Provinz, ängstigt alles Neue, bei ihm drehte sich alles um seinen Machterhalt. Er befürchtet, trotz großartiger Bauwerke, vor dem wahren Licht zu verblassen.

Die Sterndeuter, internationale Wissenschaftler, erkennen im Stern eine Botschaft der Natur, die auf den Messias hindeutet, das wahre Licht. Auf der Suche nach der geheimen Wahrheit sind sie weiter vorgedrungen als alle Egoisten und Herdentiere. Jeder ist eingeladen, den wirklichen Jesus zu finden. Amen. Die Gläubigen verlassen nach dem Segen die Kirche, sie begeben sich auf die Suche nach dem wahren Stern. Die elektrischen Weihnachtssterne am Hauptplatz sind es nicht, sie werden mit heutigem Tag abgeschaltet.1

Zu Jahresbeginn fällt es mir schwer, die neue Jahreszahl zu merken. Im Rechnungswesen und beim Kassiervorgang ist heute alles automatisiert, das Datum fügt sich selbst ein. Dazumal wurde für jeden Kauf ein Paragonzettel geschrieben und dabei das Datum händisch eingetragen. Durch die tägliche Umstellung des Datumstempels für den Schriftverkehr habe ich mir die Jahreszahl nach drei Tagen gemerkt. Der Vorteil dieses Jahres ist: Es ist ein Zehnerjahr. Keine drei Monate wird es dauern, bis ich mir dieses Mal die Jahreszahl merke.

Ist es sinnvoll, das Datum vom heutigen Tag zu merken, denn morgen gibt es ein neues? Eine Trägheit des Alters. Wehmütig denke ich an die Jahrtausendwende zurück. Experten warnten, die Computerprogramme würden die Jahreszahl 2000 nicht erkennen. Sie wären bis zum Jahre 1999 vorprogrammiert, um dann wieder bei 1900 anzufangen. Dies würde Ausfälle in der Energieversorgung oder Flugzeugabstürze verursachen. Deshalb habe ich mich am Silvesterabend geweigert, das Haus zu verlassen. Ich wollte eingreifen, sollte die Steuerung der Heizung oder die Energieversorgung ausfallen. Meine Zugfahrt in den Westen Österreichs habe ich auf den zweiten Jänner mit der Begründung verschoben, es könnte wegen falsch gesetzter Signale im Zugsverkehr zu Verspätungen oder zu einem Zusammenstoß kommen. Nichts von alldem ist eingetroffen, auch nicht die Prophezeiungen der Astrologen, weltweite Naturkatastrophen, der Weltuntergang und das Jüngste Gericht. Unser privates Unglück, Wirtschaftskrise, Hungersnot, Kriege und Umweltprobleme schaffen wir uns selbst.2

Bei den Gailtaler Bauern wird zum Faschingshöhepunkt für den Eigenbedarf ein Schwein geschlachtet. Unter den Hofleuten verbreitet sich eine Unruhe, überall herrscht emsige Geschäftigkeit.

Der Haartrog wird auf seine Wasserdichtheit überprüft. Der Dreifuß und die Schlachtbank, zum Aufhängen und Zerteilen des toten Schweines, werden gesäubert. Das Pökelsalz, zum Konservieren des Specks, mit verschiedenen Gewürzen vermischt, die Wurstmaschine aus der Rumpelkammer geholt. Am Schlachttag soll alles geräuscharm und schnell von der Hand gehen. Die Bäuerin sieht dem Tag mit gemischten Gefühlen entgegen. Eines ihrer liebgewonnenen Schweine, welche sie seit dem Sommer gefüttert hat, wird abgestochen. Als Wiedergutmachung wird dem Schwein am Tag davor eine Extraportion Mastfutter verabreicht. Nüchtern sieht der Bauer dem Tag entgegen, er freut sich auf eine Portion geröstete Leber und Nierndln. Am frühen Morgen des Schlachttages wird im Futterkessel das Wasser für die Enthaarung erhitzt. Jeder Lärm wird beim Betreten des Schweinestalls vermieden. Mit einem behutsamen Schups wird das Schwein aus der Stallung gestoßen, mit dem Schussapparat getötet und zum Ausbluten mit dem Messer gestochen. Das jüngste Kind fängt teilnahmslos das Blut, welches zu Blutsuppe und Blutwurst verkocht wird, in einem Reindl auf. Nach dem Enthaaren wird die Sau am Dreifuß aufgehängt und ausgeweidet. In sicherer Entfernung lauern die Hauskatzen und warten auf die Abfälle, die ihnen zugeworfen werden. Rund um das Schwein picken die Hühner alles, was zu Boden fällt, auf. Das Verarbeiten der Schweinehälften dauert bis in die Abendstunden, es braucht viele fleißige Hände. Für Schnitzel, Schweinsbraten und Gulasch wird das Fleisch in Portionen aufgeteilt und in der Tiefkühltruhe eingefroren. Achtsam werden die Fleischstücke zerlegt, die für das Speckselchen vorgesehen sind. Diese werden mit der Pökelsalzmischung beidseitig eingerieben und das Einbeizen wird in den nächsten Wochen mehrmals wiederholt. Im ganzen Haus riecht es nach frischem, rohem Fleisch. Manches wird in den nächsten Tagen weiterverarbeitet. Die Innereien werden in den folgenden Tagen für das Mittagessen verkocht, der Schweinskopf in einem großen Häfen ausgekocht. Aus dem Sud bildet sich eine Sulze, die zur Jause mit Essig, Öl und Zwiebel serviert wird. Am Faschingsdienstag findet der traditionelle Sauschädelschmaus statt. Die Gedärme werden gesäubert und als Wursthaut verwendet. Bevor sie über die Düse der Wurstmaschine gestülpt werden, werden sie von der Bäuerin aufgeblasen. Auf einer Kunstausstellung in Venedig habe ich ein Video gesehen, in dem der amerikanische Aktionskünstler Bruce Neumann einen Darm aufbläst, als wolle er beim Wursten helfen.3

Die rührigsten Faschingsgilden gibt es in Kärnten, der Steiermark und dem Wiener Raum. Jeder größere Ort in Kärnten hat seine eigene Gilde, mit einem Prinzenpaar und den dazugehörigen Faschingssitzungen. Es ist eine Auszeichnung, wird man zur Faschingsprinzessin oder zum Faschingsprinzen gewählt. In der Öffentlichkeit bekannte Personen hoffen, sie kommen in einer Parodie der lokalen Faschingssitzung vor. Über Nacht ist ein privates Geheimnis dem ganzen Ort bekannt. Vom österreichischen Fernsehen werden zum Faschingsausklang Aufzeichnungen von den Faschingssitzungen aus ganz Österreich gesendet; als letzte die vom Villacher Fasching. Für den Gildenkanzler der Draustadt ist Kärnten die Narrenhochburg Österreichs. Ebenso bühnenreif sind viele politische Vorkommnisse im Land. Die Unfähigkeit, im Alltag über menschliche Gebrechen zu reden, bietet sich als Gag für die Showbühne an. Dabei scherzt man über alte Menschen, Frauen als Lustobjekte und als verrückt stigmatisierte Personen. Über die Aussichtslosigkeit, mit heiklen Alltagssituationen zurechtzukommen, wird ein Witz gemacht und erntet dafür den meisten Applaus.

Die Lebenszeit des einzelnen Menschen ist nicht nur zum Jahresbeginn ein Thema. Vor allem ältere Menschen sind froh darüber, dass sie gut im neuen Jahr angekommen sind und ein Teil vom Winter vorbei ist. In den Wintermonaten ist die Gefahr groß, Opfer einer Verkühlung, Grippe oder Lungenentzündung zu werden. Dazu kommt das Risiko, auf einem vereisten Gehsteig auszurutschen. In Kärnten büßt der Winter etwas an Schrecken ein, es gibt keine durchgehende Kälteperiode und Schneedecke mehr. Es wechseln sich Schneefall und Regen, Kälte und Tauwetter ab. Viele Menschen blicken mit Zuversicht auf das nahende Frühjahr.

Trotz längerer Lebenszeit ist es nicht möglich, das Wissen des letzten Jahrhunderts vollständig zu studieren. Es ist schlichtweg unmöglich, das Geheimnis einer tausendjährigen Religion zu erfassen, zehntausende Romane zu lesen oder die neuesten Theorien von Mathematik und Physik zu entschlüsseln. Bei einem Bibliotheksbesuch bleibe ich beim Anblick zigtausender Bücher – einer gigantischen Ansammlung von Erfahrungen – in Fassungslosigkeit zurück. Heute wird dieses Volumen an Erkenntnissen durch das Internet rasant vergrößert. Zwischen diesen Wissensbergen bleibt für jeden nur die Hoffnung auf eine Offenbarung, was für ihn wichtig ist. Dazumal genügte es, wenn der Vater seine Erfahrungen an die Kinder oder der Lehrherr sein Wissen an die Lehrlinge weitergegeben hat.4

In welchem Alter hat man zu einem bestimmten Thema die richtige Einsicht? Welche Meinung hat mehr Gewicht – die des Zwanzigjährigen, des Vierzigjährigen oder des Fünfzigjährigen – in Bezug auf den arabischen Frühling, den Aufstand in Libyen, wo die Bevölkerung versuchte, sich von der Diktatur und dem Polizeistaat zu befreien? Die Meinung eines Zwanzigjährigen wird dazu spontaner ausfallen, er wird die neuen Chancen sehen, die sich für die Jugend auftun; politische Freiheiten und die Aussicht auf einen höheren Lebensstandard. Gedämpft optimistisch wird ein Fünfzigjähriger sein Urteil abgeben, versehen mit verschiedenen Einwänden. Es könnten die Fundamentalisten die Herrschaft übernehmen und was sind die politischen Folgen für diese Region, kommt es zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse? Gewinnt in Zukunft die USA, China oder Europa mehr Einfluss im Nahen Osten? Seine größte Sorge wird der Entwicklung des Ölpreises gelten und den Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum in Europa. Bei diesen Szenarien schwingt auch die Sorge um den eigenen Lebensstandard, den erworbenen Besitz und um die bereits gebuchte Mittelmeerkreuzfahrt mit. Ist es denkbar, sich als Fünfzigjähriger zur Gesellschaft, Wirtschaft und Politik so zu äußern, als sei man zwanzig oder dreißig Jahre alt? Diese Altersstufen kennt man aus eigener Erfahrung. Umgekehrt: Kann sich ein Zwanzigjähriger oder ein Dreißigjähriger in die Welt eines Fünfzigjährigen hineinversetzen?5

Die Anrainer einer Umfahrungsstraße ärgern sich über den stärker werdenden Verkehr und fragen den alteingesessenen Nachbar: „Wird der Verkehr in den nächsten zehn Jahren zunehmen?“ Beim genauen Hinschauen merken sie, das Gegenüber ist für einen Moment verunsichert. Zehn Jahre sind für einen Zwanzig-oder Dreißigjährigen ein überschaubarer Zeitraum, für einen Achtzigjährigen verbergen sich hinter diesem Zeitraum einige Unsicherheitsfaktoren. Das Unberechenbare im Alter ist die Gesundheit, viele Krankheiten brechen aus dem Nichts aus, bestehende Beschwerden können sich verschlechtern. Mit Bestimmtheit kann keiner im fortgeschrittenen Alter sagen: „Ich werde dies erleben.“ Auf die Pensions- und die Sozialleistungen ist in Österreich Verlass. Wird die

Wirtschaftskrise bewältigt, besteht Hoffnung, dass der Wohlstand keine Risse bekommt.

Menschen, die aus dem Arbeitsprozess ausscheiden, können sich ihrer inneren Berufung zuwenden. Wer mehr als ein Talent sein will, stellt fest, dass einige Jahre notwendig sein werden, um sich durchzusetzen. Wird die körperliche und geistige Gesundheit in den nächsten Jahren gleichbleiben? Vorhaben, für die drei Jahre geplant sind, benötigen jetzt fünf Jahre. Ein junges Wirtsehepaar in Warmbad erzählte während des Servierens, dass die Besucherzahlen seit der Eröffnung ständig steigen. Dies sei auch notwendig, sie müssten bis zum Ruhestand noch dreißig oder fünfunddreißig Jahre arbeiten. Ein älterer Gast stellt ihnen die Frage: „Was ist die schönere Perspektive – bis zur Pensionierung noch dreißig Jahre zu arbeiten oder die Wahrscheinlichkeit, in dreißig Jahren nicht mehr am Leben zu sein?“6

Im letzten Jahrzehnt musste ich erleben, dass Kollegen ihr Geschäft wegen Umsatzeinbußen oder nach Erreichung des Rentenalters zusperrten. Die Kinder hatten kein Interesse am Geschäft und es fand sich kein Nachfolger. Die sozialen Standards für Arbeitnehmer, eine geregelte Arbeitszeit, Krankenstand, ein Mindestlohn und Urlaubsanspruch, haben für Selbstständige keine Gültigkeit. Hat ein Geschäftskollege seinen Laden aufgegeben, weil für ihn in der Handelslandschaft kein Platz mehr war, hat dies bei mir Schmerzen verursacht, als wäre ein Freund gestorben. Andere Kollegen zögern damit, obwohl sie Umsatzrückgänge haben, den Betrieb aufzugeben. Sie fühlen sich den Kunden gegenüber im Wort und dienen als Lückenbüßer, wenn von den Bewohnern beim Einkauf in der Stadt etwas vergessen wurde. Ihr ganzes Leben haben sie dem Geschäft gewidmet, auf Hobbys verzichtet und fürchten sich vor dem Wechsel in die Rente. Dies bedeutet einen Schritt in einen unbekannten Raum, so bleibt man lieber im vertrauten Geschäft. Ein zweiundachtzigjähriger Kaufmann ist vor drei Monaten in Pension gegangen und hat bei einer Abschiedsfeier zu seinen Mitarbeitern gesagt, er möchte jetzt sein Leben genießen.7

Unter Bergsteigern wird der Begriff Seilschaft verwendet. Eine Seilschaft gibt bei anspruchsvollen Bergtouren Sicherheit und unterstützt die Schwächeren. Es ist beruhigend, sich auf den anderen in kritischen Momenten verlassen zu können. Unterstützen sich Menschen gegenseitig im Beruf, im politischen und öffentlichen Leben, spricht man von einer Seilschaft. Dies kann einen guten oder einen schlechten Beigeschmack haben. Eine Seilschaft stößt auf Missbilligung, wenn das Vorwärtskommen aus der Zugehörigkeit zu einem Verein oder einer Partei zustande kommt und keine eigene Leistung dahintersteht. So entsteht Misswirtschaft und Verschwendung von Steuergeldern. Auch eine Freundschaft und eine Lebensgemeinschaft werden als Seilschaft bezeichnet. Dort besteht das Risiko, dass jemand aus ihr ausbricht oder sie aufkündigt. Gibt es die lebenslange Seilschaft? In den volkstümlichen Schlagern werden die ewige Treue und die große Liebe besungen. Wie ist diese Ewigkeit zu verstehen? Unser Leben währt nicht unendlich, nur der Glaube bietet dies an. Gottes Seilschaft gilt für das Jetzt und für die Ewigkeit, wenn es sie gibt. In Völkendorf demonstrierten die Kirchenbesucher dies, indem sie sich an einem Seil festhielten und in einer Prozession durch den Kirchenraum wanderten. Ob diese Seilschaft über die Messfeier und das Pfarrcafé hinaus Bestand hat, wird sich beim nächsten Ausrutscher im Alltag erweisen.

Hanfseile spielten dazumal in der Schifffahrt und in der Fördertechnik eine große Rolle, die Herstellung war ein eigener Beruf. Während meiner Lehrzeit in der Lieserstadt bin ich in der Mittagspause an einer Seilerei vorbeigekommen. Im Ausstellungsraum hatten die dicksten Hanfseile die Stärke eines Oberarms. In vielen Anwendungsgebieten wurden sie durch Stahlseile verdrängt.

Jeder hat andere Vorstellungen davon, welche Sicherheiten er braucht und welche Risiken er bereit ist einzugehen. Die Entscheidung für ein risikofreies Leben beginnt mit der Berufsausbildung und setzt sich fort bei der Arbeitsstelle. Unterstützung erhält der Jugendliche dabei von den Eltern, sie versuchen ihn bei einer krisenfesten Firma, meistens sind dies halbstaatliche Betriebe, oder einer öffentlichen Körperschaft unterzubringen. Die Berufsentscheidung wird danach gefällt: Welche Sicherheiten gibt es und nach wie vielen Dienstjahren kann er in Pension gehen? Es klingt nicht trendig, wenn man sagt, dass die Tochter, der Sohn bei der Bahn oder der Post einen Job hat. Es hört sich aber krisenfest an. Aus der Vergangenheit weiß man, dass er durch eine starke Gewerkschaft vertreten wird, welche sich mit ihren Forderungen gegen jede Bundesregierung durchsetzen konnte. In den letzten Jahrzehnten haben die Schulden der staatlichen Betriebe das Budget so stark belastet, dass viele privatisiert wurden. Damit sind auch Privilegien verloren gegangen. Es besteht die Aussicht, dass der Sohn bei einem staatlichen Energieerzeuger einen lebenslangen Job haben wird. Scharenweise drängen die Absolventen der Handelsakademie und des Gymnasiums in den öffentlichen Verwaltungsbereich wie Gemeindeamt, Bezirkshauptmannschaft oder Landesdienst. Dort sind auch der Pförtner und das Küchenpersonal pragmatisiert. Beim Spazieren durch den inneren Bezirk der Landeshauptstadt bin ich von den Gebäuden der öffentlichen Verwaltung beeindruckt. Sei es der Sitz der Landesregierung, das Landesgericht oder die Wirtschaftskammer. In diesen – meist hohen – Räumen sitzen überall Beamte, die alles regulieren und aufzeichnen, von der Geburt bis zum Tod. Von hier geht eine Macht aus, es wird über das Volk geherrscht.8

Firmen, welche Wärmedämmungen durchführen, erleben zurzeit einen Auftragsboom. Die hohen Energiepreise und die staatlichen Zuschüsse veranlassen viele Eigenheimbesitzer, eine Wärmeisolierung mit Styroporplatten in Auftrag zu geben. Eine Wärmedämmung wird auch bei den Kirchenfassaden angedacht. Die hohen finanziellen Kosten versucht man hier durch Benefizkonzerte und freiwillige Spenden abzudecken. Grau ist der Renner bei den Fassadenfarben, dazwischen einzelne Mauerflächen in Dunkelrot. Die markanten Häuser im Ortszentrum verwandeln sich in graue Häuser. Die Vollzugsanstalt war einstmals mit dem Grauen Haus gemeint, die Graue Zelle war eine Gefängniszelle. Die Zeiten, als man Fassaden in kräftigen Farbtönen wie orange, blau, rot oder grün gestrichen hat, sind vorbei. Damals haben die Hausbesitzer Farbe bekannt und sich nicht hinter grauen Mauern versteckt. Es ergab ein farbenprächtiges Ortsbild. Alte Bauernhäuser büßen ihre Ausstrahlung ein, wenn man die Steinmauern für Energiesparmaßnahmen mit Styroporplatten verkleiden würde. Jeder Stein hat hier seine Geschichte. Die Freuden und die Sorgen der Bewohner sind über Jahrhunderte in die Mauern eingefräst, von jedem Stein geht eine Kraft aus.

Der persönliche Besitz hat in den Landgemeinden von Kärnten einen anderen Stellenwert als bei den Bewohnern von Mietwohnungen am Stadtrand. Die Täler werden von landwirtschaftlichen Betrieben unterschiedlicher Größe geprägt. Von Bauern mit dreißig Stück Vieh und etwas Forstwirtschaft oder von Nebenerwerbsbauern. Hier kreisen die Gespräche am Wirtshaustisch nach dem Kirchgang um Grund und Boden. Gesprächsstoff bieten das Gedeihen der Feldfrüchte, die Milchleistung bei den Kühen und der Preis für ein Kilogramm Lebendgewicht bei den Schweinen. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Holzpreise sind eine spannende Frage. Über all dem liegt die Unberechenbarkeit der Witterung, Regen und Hagel, Trockenheit und Frost, die Sorge vor Überschwemmungen und Murenabgängen. Ein trockener Sommer oder frostiger Winter kann vieles von den Früchten vernichten. Zu diesen Gesprächsrunden können sich der Maschinenhändler, der Tischler und der Fleischhauer dazusetzen. Die erste Frage unter den Kleinunternehmern gilt dem Umsatz der vergangenen Woche, der Kundenfrequenz und der Auftragslage. Berichtet ein Handwerker von steigenden Umsätzen, wird er von den Zuhörern gelobt.

Beim Stammtisch geduldet sind auch die Eigenheimbesitzer. Wer handwerkliches Geschick beim Hausbauen zeigt und es zu mehreren Häusern bringt, wird für seinen Fleiß gerühmt. Für jemanden, der Geschichten schreibt, zeigt man wenig Verständnis. Die wenigsten im Dorf können sich darunter etwas vorstellen. Aus Höflichkeit wird gefragt, wann es eine öffentliche Lesung gibt oder ob man an einem neuen Buch schreibt. Auf die Rückfrage, wer eines der Bücher gelesen hat, kommt eine ausweichende Antwort: „Man hat vom letzten Buch etwas gehört.“ Was macht Sinn: drei Häuser zu bauen oder drei Bücher zu veröffentlichen?9

In der Verwandtschaft nimmt jeder mit den Jahren seinen zugeteilten Platz ein. So hat man seine Rolle – ob als gutgelaunter Unterhalter, als passiver Zuhörer, als Fragender, als Störenfried oder als Besserwisser; egal, wo man ist: bei einer Familienfeier, bei einem Besuch, einem Vortrag und auch am Kirchweihfest. Ähnlich verhält es sich bei einem Ausflug. Unterbricht während der Fahrt zu einem Aussichtsturm eine Beifahrerin ihren Redefluss und fragt, ob man dazu etwas sagen möchte, so verursacht dies beim Angesprochenen eine Irritation. Er hat sich in der Rolle des passiven Zuhörers bequem gemacht und jetzt soll er dazu etwas sagen. So fühlt er sich dabei ertappt, dass er in der letzten Viertelstunde nur teilweise zugehört hat und nichts Konkretes weiß. Ist er schnell im Kopf, kann er aus den Schlagwörtern eine Geschichte konstruieren. Auf die Feststellung, dass früher alles besser war, hat er keine Antwort.

Der Aufruf zum lebenslangen Lernen ertönt aus allen Ecken, seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise verstärkt. Scharenweise hören wir auf, in späteren Jahren zu lernen, oder machen wir aus der Not eine Tugend? Das Loslassenkönnen von Besitz, im besten Fall vom Leben wird in vielen Kulturen als eine geistige Tugend gesehen. Loslassen von unserem Wissen, um unwissend in den Tod zu gehen? Wozu ist unser ganzes Wissen gut, da wir sterblich sind? Wir erwarten unseren Tod, wissen aber nicht, wann. Das Bewusstsein um unsere Sterblichkeit ist eine Bestrafung.10

Über Generationen wurden in der Verwaltung von den Beamten die Antragsformulare der Bürger entgegengenommen und bearbeitet. Sie sind für die verschiedenen Geschäftsfälle geschult. Die neuerdings mögliche Online-Erledigung von Behördenwegen setzt eine gewisse Praxis und Zeit voraus. Dies müsste uns der Hausverstand nahelegen. Nicht jeder PC-Benützer schafft es, damit Amtswege in kurzer Zeit zu erledigen. Wer vor einigen Jahren auf eine ansprechende Form Wert legte, hat die Geburtsanzeigen in einer Druckerei in Auftrag gegeben. Das Drucken von Geburts- und Vermählungsanzeigen, von Geburtstagseinladungen gehört zum Tagesgeschäft einer Druckerei. Heutzutage betätigen sich viele am PC als Grafiker, Schriftsetzer und Drucker. Die Berufsausbildung im graphischen Gewerbe ist anspruchsvoll und lange. Man darf sich darüber nicht wundern, dauert die Herstellung von Geburtsanzeigen am eigenen Computer einige Tage. Ein weiteres Beispiel für den Zeiträuber PC ist die Online-Erledigung der Bankgeschäfte. Der Abschluss einer höheren kaufmännischen Schule wird für eine Bewerbung in einer Bank vorausgesetzt. Es folgt eine dreijährige Einschulung in die verschiedenen Abläufe des Bankgeschäftes. Wer in der Buchhaltung die wesentlichen Aufgaben einer Bank kennengelernt hat, kann am Kundenschalter eingesetzt werden. Diese bankinternen Ausbildungszeiten kann kein PC-Kurs ersetzen. In vielen aufreibenden Nachtstunden bemühen sich manche, ihre Onlinebankgeschäfte zu erledigen, von der Umgebung ernten sie nur Unverständnis. Die allgemeine Meinung ist, dass uns durch den Einsatz von Computern mehr Zeit für persönliche Dinge zur Verfügung steht.

Auf uns strömt täglich aus der Zeitung, dem Radio, dem Fernsehen und dem Handy eine Fülle von Sätzen ein. In Volkshochschulkursen wird für den Beruf und für die Beziehung trainiert, um alles zu zerreden. So geht das Gespür für den einzelnen Satz verloren, bei einem Satz innezuhalten. Mit ein wenig Glück kommt einem ein Vaterwort oder ein Mutterwort, ein Satz aus der Kindheit in den Sinn. Diese Sätze prägen Menschen, sie legen den Grundstein für ein ganzes Weltbild. Die ganze Lebensweise kann auf einer These beruhen: Es mag mich niemand. Wer diesen Satz gesprochen hat, zu wem und in welcher Situation, ist nebensächlich. Dies wird eine Lebenseinstellung. Zu uns Kindern wurde am Bauernhof gesagt: Ihr müsst gescheiter sein als die Viecher. Gemeint waren die Kühe, Pferde, Schweine, Hühner und Schafe. Beim Kühehüten lag es an unserer Achtsamkeit, dass sie nicht in das Getreidefeld oder in den Obstgarten ausbüxten; wir das Pferd nicht durch eine unachtsame Bewegung erschrecken und es mit den Hufen ausschlägt. Nach dem Verlassen des Hausgartens durfte das Tor nicht offen stehen. Es dauerte keine fünf Minuten und die ganze Hühnerschar zerrupfte den Salat. Die Schuldigen waren wir Kinder.11

Bei den Massagen, den Fangopackungen oder der Unterwassergymnastik geht es nicht nur darum, die Beschwerden des Bewegungsapparates zu mildern, es gibt tiefere Gründe. Die Schmerzen haben eine lange Vorgeschichte und die Auslöser liegen nicht allein bei der körperlichen Arbeit. Muskelverspannungen können ihre Ursache in seelischen Verstimmungen haben. Zu viele Verpflichtungen, die auf den Schultern sitzen, unerwartete Sorgen drücken auf die Brust. So nehmen die Muskelschmerzen in diesen Bereichen zu.

Die schwindende Elastizität oder eine ungeschickte Bewegung führen im fortgeschrittenen Alter zu Problemen in den Gelenken. Die Kurgäste brauchen neben der Gymnastik und der Massage auch das Gespräch. Dabei wurde die Gesprächstherapie im Rahmen eines Kuraufenthaltes für den degenerativen Formenkreis gestrichen, da die Krankenkassen bei den Ausgaben sparen. Beim Kaffeetrinken, zwischen zwei Behandlungen, wenden sich Kurgäste an ihre Tischnachbarn und erzählen von ihren Belastungen. Von dem, was sie am meisten bedrückt, wollen sich die Menschen befreien. Eine ältere Frau erzählte mir, dass die Kinder halbtags den Vater betreuen, damit sie im Kurzentrum eine ambulante Therapie machen kann.

Seit drei Jahren pflegt sie ihren Mann – waschen, füttern und auf das WC führen. Sie ist immer in seiner Nähe, seit Jahren redet er mit ihr kein einziges Wort mehr. Um die Medikamenteneinnahme bei Alzheimer abzustimmen, begab er sich in das Krankenhaus. Während des Aufenthalts wurde er, ihrer Meinung nach, mit Medikamenten zugemüllt und dadurch wurde ein Schlaganfall übersehen. Abgemagert, sprach- und hilflos ist er vom Spital nach Hause gekommen und wird jetzt von ihr und den Kindern gepflegt.12

Die Kurärztin verweist bei der Abschlussuntersuchung darauf, dass sich der Heilungsfolg zumeist nach vier bis sechs Wochen nach der Kur einstellt. Dies sei wissenschaftlich erwiesen. Der eingeleitete Genesungsprozess hört nicht mit der Kur auf, sondern setzt sich danach fort. Dies bedeutet kein Vertrösten der Klienten, welche während den Behandlungen oftmals über mehr Beschwerden klagen als vor der Kur. Aus meiner Kurerfahrung weiß ich, manche Muskelverspannungen lösen sich nicht durch die Galvanisation, Moorbad oder Wassergymnastik, sondern indem sie sich Gehör verschaffen. In Bad Vigaun ist der Kurheurige Georg ein Ort, um gehört zu werden. Abends ist dies beschwerlich, das Stimmengewirr ist groß. Viele versuchen jemanden zu finden, der ihnen zuhört. Ein Großteil der Kurgäste sind Pensionisten. Diese klagen zuerst darüber, dass ihnen niemand zuhören will, obwohl sie eine Menge an Erfahrungen haben. In der Rente ist es möglich, manches auszusprechen, was man früher aus Sorge um seinen Arbeitsplatz, eine Geschäftsbeziehung oder einen Kredit verschwiegen hat. Sie kommen zu dem Urteil: Ist man aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden, wird man von der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen. Der Kurheurige bietet eine der wenigen Möglichkeiten, sich zu äußern, vom überwiegenden Teil wird dies in großem Umfang genützt.

Vorrangig kommen in unserer Gesellschaft die Rücksichtslosen zu Wort, nicht diejenigen, die Wesentliches zu sagen haben. Beim Heurigen wird durch das Zusammentreffen von Menschen aus verschiedenen Orten Österreichs offenbar, was andere vom eigenen Heimatort kennen. Der Grenzlandchor und ein Akteur beim Villacher Fasching sind über die Gemeindegrenzen hinaus bekannt. Sie sind die Aushängeschilder unseres Ortes.

Begegnen einander Menschen auf der Straße, wird oft gefragt: „Wie geht es Dir?“ Die häufigste Antwort: „Ich bin wunschlos glücklich.“ Wunschlos glücklich kann ich sein, liege ich mit einem grippalen Infekt im Bett; es dabei keine ernsten Komplikationen gibt und ich Zeit habe zum Auszuspannen. Nichts muss funktionieren, niemand verlangt etwas, alles geschieht freiwillig, den Körper baumeln lassen.

Die handschriftlich geführten Journale und Geschäftsbücher von traditionsreichen Firmen, die über Jahrhunderte Bestand hatten, werden im Stadtarchiv gezeigt. Darin wurde genau aufgezeichnet, was von wem wann und wo eingekauft wurde. Ebenso, was wem wann und wo verkauft und wie es bezahlt wurde. Aus Ausstellungen kennen wir ähnliche Aufzeichnungen von den Geldverleihern und den Bankiers des Mittelalters. Jede Kontobewegung wurde penibel festgehalten. Wer alte Handschriften lesen kann, findet in den Bordbüchern der Segelschiffe alle Vorkommnisse und jede Fracht an Bord vermerkt. Diese Aufzeichnungen wären, hätte es die Siebenjahresfrist schon vor Jahrhunderten gegeben, nicht mehr vorhanden. Für die heutige Steuerbehörde müssen die Buchhaltungsunterlagen sieben Jahre aufbewahrt werden. Die verjährten Buchhaltungsunterlagen wandern in die Papiermülltonne. Hinter diesen trockenen Papieren versteckt sich eine Menge Arbeit: Bestellen, Liefern, Auspacken, Einräumen und viele Verkaufsgespräche mit den Kunden. Jetzt gelangt alles in den Müll, auch die Erinnerungen. Dabei stelle ich fest, dass manche Firmen nicht mehr existieren oder dass ich mit ihnen keinen geschäftlichen Kontakt mehr habe. Solche Veränderungen passieren schon innerhalb von sieben Jahren. Was wird sich alles in siebzig oder in siebenhundert Jahren ändern?13

Immer noch versehen heimische Firmen ihre Geschäftspapiere und Produkte mit der Aufschrift: Kaiser- und Königlicher Hoflieferant. Jede Erwähnung von kaiserlichem und monarchistischem Gedankengut war in Österreich ein halbes Jahrhundert lang verboten. Heute sehnen sich viele nach einer autoritären Ordnung und einem Machtwort, die länger bestehen als eine Frühjahrs- und Herbstkollektion, zurück. Aus unserer nüchternen Gegenwart flüchten manche in eine Nostalgiewelle. Auf der Senftube weist eine Kärntner Firma darauf hin, sie war kaiser- und königlicher Hoflieferant. Mit dem Kauf dieser Tube hofft man, ein Naturprodukt – ohne chemische Zusätze – zu erwerben. Hoflieferant kann jemand sein, der spezielle Waren im Sortiment hat, die in den Einkaufszentren ausgelistet wurden, die Umschlaghäufigkeit ist nicht gegeben.14

Eine Marotte von älteren Menschen ist, gerne von den früheren Zeiten zu schwärmen: Damals war vieles besser. Auf den Straßen hat sich in den letzten vierzig Jahren manches verändert, dies erlebt man täglich im Berufsverkehr. Morgens und abends gibt es in den Großstädten den obligatorischen Stau und die Autofahrer benehmen sich zueinander rücksichtslos. Die wichtigsten Dinge für das tägliche Leben kaufte man früher beim ortsansässigen Gemischtwarenhändler: Lebensmittel, Kleider, Schuhe und Eisenwaren. Für den Kauf von vier Bilderhaken muss man heute in einen überdimensionierten Baumarkt fahren. Die große Auswahl in den Megamärkten – es ist einerlei, ob beim Joghurt, dem Käse, Thunfisch

oder der Marmelade – macht die Entscheidung beim Einkaufen nicht leichter. Die Lebensmittel waren früher natürlicher, vieles schmeckt nicht besser, trotz der Werbung, Ja natur. Die Kleidermode wechselte nicht alle vier Monate. Ohne Gesichtsverlust konnte man dieselbe Hose drei Jahre lang tragen. Im Freizeitverhalten der Jugendlichen hat sich mit den Jahren vielerlei geändert. Vormals wurde alles gemeinsam gespielt, die Spiele am PC und am Handy spielt man alleine. Die Heranwachsenden verständigen sich untereinander über das Handy, jeder bleibt in seinem Zimmer sitzen. Die Erwachsenen waren mit zwei Fernsehprogrammen zufriedener als heute, wo sie aus zweihundert Programmen wählen können.

In einem Gespräch mit einem vierzigjährigen Mann zeigt sich, wie früh Nostalgie einsetzen kann. Er erkundigte sich bei mir im Laden, ob es eine Möglichkeit gibt, Geli-Flugzeugmodelle zu bestellen. Nach Jahren möchte er wieder Geli-Modelle zusammenbauen. In den sechziger und siebziger Jahren waren dies beliebte Bastelbögen zum Ausschneiden und Zusammenkleben. Es war eine Geduldsarbeit, die mit maßstabgetreuen Zivil- und Militärflugzeugen belohnt wurde. Für wenige Schillinge, von 2,90 bis 24,90 waren die Bastelbögen erhältlich. In vielen Wohnungen sind Geli-Flugzeuge auf dem Fernseher oder im Wohnzimmerschrank zu sehen gewesen.15

Lese ich in meinen Notizheften, in den Eintragungen vor einem Jahr, gerate ich ins Staunen. Es ist kein nennenswerter Zeitraum, auf keinen Fall ein historischer. Dort lese ich über unseren Aufenthalt in Crikvenica und den Besuch des Meeresaquariums. Dabei mussten wir zusehen, wie ein Krebs mit seinen Zähnen einen Fisch zerkleinerte und ihn gefressen hat. Bei den Fischen gab es eine so ungeheure Muster- und Farbenvielfalt, dass wir annehmen konnten, diese sind extra für die Besucher mit schillernden Farben bemalt worden. Danach spazierten wir in den Konzum. Die Geschäftseinrichtung des Konzum-Warenhauses strahlte das Flair der siebziger Jahre aus. Durch die Vielfalt der Waren herrschte in den Regalen ein Chaos. Die Artikel wurden augenscheinlich dort eingeräumt, wo gerade Platz war. Unter dem Namen Konsum gab es in Österreich eine marktbeherrschende Handelskette, bis zu ihrem Konkurs in den neunziger Jahren. In einem Strandcafé blättern wir, nach einer Woche Zeitungsabstinenz, in der Süddeutschen Zeitung. In Mitteleuropa ist die Schweinegrippe und, dass Berlusconi von seiner Frau verlassen wurde, ein Thema. Vor der Heimreise warne ich meine Lebensgefährtin davor, bei der Grenzkontrolle zu husten. Es besteht die Gefahr, dass wir dadurch in Quarantäne kommen. In Kroatien gab es die ersten Schweinegrippefälle und bei den Nachbarstaaten herrscht Schweinegrippealarm. Im darauffolgenden Winter hatte fast jeder dritte Patient eine leichte Form von Schweinegrippe.