Brüssel zwischen Kyjiw und Moskau: Das auswärtige Handeln der Europäischen Union im ukrainisch-russischen Konflikt 2014-2019 - Iuliia Barshadska - E-Book

Brüssel zwischen Kyjiw und Moskau: Das auswärtige Handeln der Europäischen Union im ukrainisch-russischen Konflikt 2014-2019 E-Book

Iuliia Barshadska

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Beschreibung

Der Sieg der Euromaidan-Revolution, russische Anschluss der Krim und Beginn des Krieges im Donbas im Laufe des Jahres 2014 waren Glieder einer sich bis heute fortsetzenden hochkomplexen Ereigniskette. Sie haben die internationale Gemeinschaft sowie insbesondere die Europäische Union in neuer Form herausgefordert. In diesem Buch wird die Reaktion der EU auf den ukrainisch-russischen Konflikt mittels einer detaillierten Untersuchung des auswärtigen Handelns der EU bis ins Jahr 2019 beleuchtet. Wie haben sich EU-Akteure im ukrainisch-russischen Konflikt positioniert und versucht ihren Beitrag zur Konfliktbeilegung zu leisten? Es wird insbesondere die Komplexität des Konflikts in und um die Ukraine seit Beginn der Euromaidan-Revolution Ende 2013 verdeutlicht – einschließlich politischer, wirtschaftlicher und kultureller Zusammenhänge im Kontext hochsensibler außenpolitischer Themen der EU. Warum und in welcher Weise waren einzelne EU-Institutionen und -Mitgliedstaaten in Versuche zur Konfliktbeilegung in der Ukraine involviert? Auf Grundlage eines Prinzipal-Agenten-Modells und des Actorness-Ansatzes werden verschiedene Problemfelder, mit denen sich die EU auseinandersetzen musste, analysiert. In welchem Maße und auf welche Art gelang beziehungsweise misslang es der Union ihre Akteursrolle in Krisen- und Konfliktsituationen zu stärken sowie ihre außenpolitische Autonomie zu erhöhen? Diese theoriegeleitete politik-, verwaltungs- und rechtswissenschaftliche Fallstudie leistet einen quellen- und datengesättigten Beitrag zur laufenden Diskussion über Delegationsbeziehungen innerhalb der EU sowie ihre Handlungsfähigkeit bei der Beilegung internationaler Konflikte. Die Autorin: Dr. Iuliia Barshadska, geb. 1990, studierte Jura und Politologie mit dem Schwerpunkt Deutschland- und Europastudien in Kyjiw und Jena. Von 2017 bis 2021 promovierte sie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Stipendiatin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Barshadska ist Mitglied der Deutsch-Ukrainischen Akademischen Gesellschaft e.V. Sie lebt und arbeitet in München. Der Vorwortautor: Apl. Prof. Dr. Olaf Leiße ist Leiter des Arbeitsbereichs Europäische Studien am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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ibidem-Verlag, Stuttgart

 

Inhalt

Vorwort

Danksagung

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Wissenschaftliche Problemstellung

1.2 Methodische Vorgehensweise und Aufbau der Untersuchung

2 Theoretische Grundlagen zur Erforschung des Auswärtigen Handelns der EU

2.1 Zum Begriff der Außenpolitik und des auswärtigen Handelns der EU

2.2 Zur Akteursqualität der EU

2.3 Das Prinzipal-Agenten-Modell als Ansatz zur Erforschung der EU

2.3.1 Charakteristische Prinzipal-Agenten-Probleme und Kontrollmechanismen in der EU

2.3.2 Delegation und Diskretion in der EU-Außenpolitik und Konfliktresolution

2.4 Die Relevanz theoretischer Grundlagen für die Untersuchung des auswärtigen Handelns der EU im Kontext des ukrainisch-russischen Konfliktes

3 Ein Rückblick: Vom Euromaidan bis zum Krieg im Donbas

3.1 Das Phänomen des Euromaidans und seine Folgen

3.2 Die Krim-Krise

3.3 Militärische Aggression im Osten der Ukraine

3.4 Definitionsprobleme: Ukraine-Krise, -Konflikt oder -Krieg?

3.5 Zwischenfazit: Russische Aggression in der Ukraine als Herausforderung für Europa

4 Das Auswärtige Handeln der EU im Ukrainisch-Russischen Konflikt

4.1 Die Reaktion der EU: Präzedenzlos oder unentschlossen?

4.2 Restriktive Maßnahmen der EU gegen Russland: Sanktionen und ihre Wirkung

4.3 Mediation europäischer Art: Normandie und Minsk

4.4 Zwischenfazit: Die Rolle der Europäischen Union in der Deeskalation des Konfliktes

5 Die Involvierung Europäischer Institutionen und Nicht-Institutioneller Akteure in Versuche zur Lösung des Ukrainisch-Russischen Konfliktes

5.1 Kooperation und Konkurrenz zwischen den institutionellen Agenten der EU bei der Konfliktresolution und Sanktionierung

5.1.1 Der Europäische Rat

5.1.2 Die Hohe Vertreterin der EU und der Europäische Auswärtige Dienst

5.1.3 Der Rat der Europäischen Union

5.1.4 Die Kommission

5.1.5 Das Europäische Parlament

5.2 Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Union

5.3 Die Akteursqualität der EU im Kontext des ukrainisch-russischen Konfliktes

5.4 Zwischenfazit: Besonderheiten der Involvierung einzelner Akteure in die Lösung des Konfliktes und deren Folgen für die EU-Handlungsfähigkeit

6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Literatur- und Quellenverzeichnis

Interviews

Offizielle Dokumente

Monografien

Sammelbände

Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden

Pressemitteilungen

Wissenschaftliche Internetquellen und digitale Berichte

Internetquellen und digitale Zeitungsartikel

Filmdokument

Soviet and Post-Soviet Politics and Society

Impressum

ibidem-Verlag

Vorwort

Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland ist eines der bittersten Kapitel in der jüngeren Geschichte Europas und nach dem Zerfall Jugoslawiens die verlustreichste und bis in die Gegenwart hinein auch gefährlichste Auseinandersetzung des Kontinents. Im sogenannten postsowjetischen Raum gibt es zahlreiche „frozen conflicts“, die seit vielen Jahren bestehen und deren Lösung sich in keiner Weise abzeichnet, aber die ukrainisch-russische Feindschaft ist sicher der heißeste aller eingefrorenen Konflikte. Insbesondere der Kampf um die Ostukraine und die selbst ernannten Volksrepubliken im Donbas fordert bis heute zahlreiche menschliche Opfer und stürzt eine ganze Region in wirtschaftliche Agonie.

Zugleich ist dieser Konflikt auch eine der größten außenpolitischen Herausforderungen der Europäischen Union, liegen doch die umkämpften Territorien in der Nachbarschaft der Gemeinschaft und werden von der Östlichen Partnerschaft der EU abgedeckt. Das übrige Europa, und vor allem die Europäische Union, kann und darf sich nicht wegducken, wenn auf dem Kontinent noch immer blutige Auseinandersetzungen an der Tagesordnung sind. Allerdings ist die EU bekanntermaßen in erster Linie eine Wirtschaftsgemeinschaft. Ihre Unterstützung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion beschränkt sich daher zumeist auf die Beeinflussung der Transformation im Sinne einer Europäisierung. Durch die Übernahme „europäischer“ Werte, Normen und Standards sollen die Länder Osteuropas an die EU herangeführt, politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität gefördert werden.

Eine nicht nur diplomatisch, sondern auch militärisch geführte Auseinandersetzung führt die Gemeinschaft jedoch schnell an ihre Grenzen, ist sie ihrem Selbstverständnis nach vor allem eine Zivilmacht, die zudem kaum über hinreichende diplomatische und militärische Ressourcen verfügt, um die Kontrahenten nachhaltig zu beeinflussen. Intern besteht die Europäische Union aus einem komplizierten Geflecht heterogener Akteure, deren Zuständigkeiten oft nicht klar geregelt sind, die kein weitergehendes Mandat, wenig Kompetenzen und noch weniger administrative Kapazitäten haben und die darüber hinaus auch noch von den Mitgliedstaaten argwöhnisch beäugt werden. Daher bleibt das außenpolitische Regieren jenseits des Nationalstaats für die Europäische Union bislang eine Herausforderung, der sie nicht immer hinreichend gewachsen ist.

Die vorliegende Studie zeigt materialreich und akribisch, wie sich die Europäische Union im ukrainisch-russischen Konflikt positioniert, wie sie als Mediator wirkt, wie sie die Kontrahenten immer wieder versucht an einen Tisch zu bringen und wie sie im Laufe der Verhandlungen in ihre Rolle hineingewachsen ist und sich letztendlich, jedenfalls bis heute, doch den Realitäten eines eingefahrenen Konflikts geschlagen geben muss. Als wenig hilfreich erwies sich für die Europäische Union die Doppelstruktur aus Gemeinschaftsinstitutionen und Mitgliedstaaten, die für die Außenpolitik so charakteristisch ist. Maßgeblich in den Verhandlungen war das so genannte Normandie-Format, in dem von EU-Seite Deutschland und Frankreich die Verhandlungen mit der Ukraine und Russland führten. Die Europäische Union selber, die ebenfalls über fähige Institutionen verfügt, blieb dagegen eher randständig. So musste sie deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben und konnte in diesem Konflikt nicht genug mit ihren Aufgaben wachsen.

Dabei wäre allen Akteuren zu wünschen, dass sie an diesem Konflikt wachsen und die Größe finden, ihn mittelfristig beizulegen. Russland hätte dann eine Front weniger, der Ukraine wäre eine schwere Bürde genommen und sie könnte sich auf die Sicherung der politischen Stabilität und den Aufbau einer starken Wirtschaft konzentrieren. Für die Europäische Union wäre ein Friedensschluss ein großer außenpolitischer Erfolg, der ihre Handlungsfähigkeit auf der internationalen Bühne unter Beweis stellt.

Die vorliegende, höchst informierte und detaillierte Studie über das auswärtige Handeln der Europäischen Union im Ukraine-Konflikt kommt im gelungenen Zusammenspiel von Dokumentenanalyse und Interviewauswertung zu empirisch belegten, gehaltvollen und stets nachvollziehbaren Schlüssen, die hier natürlich nicht vorweggenommen werden sollen. Das „Puzzle“ von Konflikt und Konfliktlösungsversuchen aber, so viel sei verraten, erschließt sich im Laufe dieser komplexen Studie, der eine breite Leserschaft zu wünschen ist.

 

 

Olaf Leiße Jena, im November 2021

 

 

Danksagung

Die Begeisterung und mein ausgeprägtes wissenschaftliches Interesse für die Europäische Union entwickelte sich bereits während meines Doppelmasterstudiums an der Kyjiwer Mohyla-Akademie und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Ereignisse in der Ukraine, die sich seit November 2013 abspielten, und ihre Bedeutung für die internationale Politik sowie europäische Sicherheit bewegten mich dazu, die kontrovers diskutierte Reaktion der Europäischen Union auf die Entwicklungen des ukrainisch-russischen Konfliktes gründlicher zu erforschen.

An erster Stelle gilt tiefer Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Olaf Leiße, der mich mit viel Geduld von der Idee bis zum fertigen Manuskript unterstützt und mit konstruktiven Anregungen und Hinweisen begleitet hat. Einen wichtigen Beitrag leistete auch mein Zweitbetreuer Dr. Andreas Umland, der mir mit seinem umfassenden fachlichen Wissen u.a. im Bereich Osteuropa und Ukraine wertvolle Einsichten auf mein Untersuchungsthema eröffnet hat. Besonders danken möchte ich Prof. Leiße und Dr. Umland auch für zahlreiche Freiheiten, die sie mir während des Verfassens meiner Arbeit gewährt haben.

Diese Forschungsarbeit genoss die Förderung der Friedrich-Nauman-Stiftung für die Freiheit mit Mitteln des Auswärtigen Amtes. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle der Begabtenförderung. Dank ihrer ideellen und finanziellen Unterstützung konnte ich mich komplett auf die Forschung und das Verfassen meiner Dissertation konzentrieren. Wertvolle Erfahrung, die ich als Koordinatorin des Arbeitskreises „Internationales“ sammeln durfte, sowie der Meinungsaustausch trugen zur kritischen Analyse während des Verfassens meiner Arbeit bei und hatten einen sehr positiven Einfluss auf die entstandenen Ergebnisse.

Ohne die Unterstützung der Interviewpartner wäre diese Forschungsarbeit nicht vollständig gewesen. Für die genommene Zeit, Bemühungen und die Möglichkeit einen Blick hinter die Kulissen des politischen Geschehens zu werfen, danke ich recht herzlich allen zehn Experten aus Deutschland und der Ukraine, die ich für meine Studie interviewen durfte.

Darüber hinaus möchte ich mich bei Dr. Martin Rohde, Sabine Glöckner, Ulrich Kellner und Matthias Naczynski für das akribische Lektorat meines Textes bedanken. Die kritischen Kommentare und nützlichen Anmerkungen von Dr. Rohde haben die Endfassung meines Textes entscheidend beeinflusst. Ebenfalls möchte ich mich bei Herrn Till Mayer, der als (Foto-)Journalist seit 2017 regelmäßig das Kampfgebiet im Donbas besucht, für die freundliche Bereitstellung des Fotos für das Cover meines Buches bedanken.

Last but foremost, bin ich meiner Familie für den Rückhalt und die Ermöglichung meines akademischen und beruflichen Weges über die Grenzen der Ukraine hinaus sehr zu Dank verpflichtet. Die engsten Freunde, insbesondere Daria Kozlova und Julia George, konnten immer die richtigen inspirierenden Worte für mich finden. Der größte Dank gebührt jedoch meinem Partner, Maximilian Glöckner. Seine endlose Geduld in Höhen und Tiefen, der unerschütterliche Glauben an mich und an einen erfolgreichen Abschluss meiner Promotion haben mich stets aufgebaut und mein Selbstvertrauen gestärkt.

Diese Studie ist ihnen allen gewidmet.

 

 

München, am 14. Januar 2021

Iuliia Barshadska

 

 

Abkürzungsverzeichnis

AEUV: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

ATO: Anti-terroristische Operation

COREPER: Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten

DROI: Subkomitees für Menschenrechte im Europäischen Parlament

D-UA: Delegation im Ausschuss für die Parlamentarische Zusammenarbeit EU-Ukraine

DVR: Donezker Volksrepublik

EAD: Europäischer Auswärtiger Dienst

ECHO: European Civil Protection and Humanitarian Aid Operations

EEAS: European External Action Service

ENP: Europäische Nachbarschaftspolitik

EU: Europäische Union

EUAM: European Union Advisory Mission

EUV: Vertrag über die Europäische Union

FPI: European Commission’s Service for Foreign Policy Instruments

FSB: Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation

GASP: Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

GRU: Hauptverwaltung für Aufklärung des russischen Militärs

GSVP: Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik

IWF: Internationaler Währungsfonds

LVR: Luhansker Volksrepublik

MFA: Macro-Financial Assistance

NATO: North Atlantic Treaty Organization

OHCHR: Office of the High Commissioner for Human Rights

OECD: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

OSZE: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

PAC: EU-Ukraine Parliamentary Association Committee

PACE: Parlamentarische Versammlung des Europarates

RELEX: Gruppe der Referenten für Außenbeziehungen

SGUA: European Commission’s Support Group for Ukraine

SMM OSCE: Special Monitoring Mission to Ukraine

TKG: Trilaterale Kontaktgruppe

UN: United Nations

 

1 Einleitung

Seit dem Ende des Kalten Krieges befindet sich das Konzept der internationalen Sicherheit in dynamischem Wandel. In der anschließenden Periode trafen neue politische Herausforderungen in den internationalen Beziehungen auf einen neuen politischen Kontext. Dies hatte zur Folge, dass sich das Engagement der internationalen Organisationen, darunter insbesondere der EU, bei der Stabilisierung von Krisensituationen deutlich erhöhte1. Eine Phase der Unsicherheit, die durch Konflikte und mögliche, nur schwer prognostizierbare Risiken gekennzeichnet war, löste die vorherige Bipolarität der internationalen Ordnung ab2. In dieser Hinsicht ist das klassische Konzept von Sicherheit, welches vor allem auf militärische Bedrohung fixiert ist3, in der heutigen turbulenten Welt weniger relevant geworden, während ein neues Sicherheitsparadigma an Bedeutung gewann. Außer des in den letzten zwei Jahrzehnten vorherrschenden Konflikttyps low intensity conflict, der sich wesentlich von konventioneller Kriegführung durch asymmetrische Kriegsformen unterscheidet4, trat darüber hinaus immer häufiger ein hybrider Konflikttyp in Erscheinung. Hauptmerkmal dieses Konflikttyps ist, dass die Handlungen der Gegner durch eine gleichzeitige Verwendung von traditionellen und nicht-traditionellen Mitteln der Kriegführung geprägt sind5. Eine große Gefahr für das internationale Sicherheitssystem besteht heute darin, dass Staaten sich zunehmend als Akteure in einer hybriden Kriegführung verstehen. Solche Absichten und Methoden können in Kombination mit hohen geopolitischen Ambitionen umfangreiche und schwer einschätzbare Folgen auch für nicht direkt beteiligte Akteure haben.

Die russische Annexion der Krim und der im Frühjahr 2014 ausgebrochene ukrainisch-russische Konflikt in der Ostukraine6 wurde zum Wendepunkt, der das Ende einer Ära nach dem Kalten Krieg darstellte7. Denn mit der Krim-Annexion wurden zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Grenzen eines europäischen Landes gewaltsam verändert und normenbasierte Zusammenarbeit untergraben8. Darüber hinaus veränderten die Ereignisse, die sich Ende 2013–Anfang 2014 in der Ukraine abgespielt haben, die Deutung der ukrainischen Unabhängigkeitsgeschichte in der Periode 1991–2013. Zudem avancierten die militärischen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine zu einem besonders aktuellen Beispiel hybrider Kriegführung und sind charakterisiert von Ruhe- und Eskalationsphasen sowie von einer Verwendung nicht-traditioneller Kriegführungsmittel, um eine Destabilisierung der betroffenen Region und der gesamten Ukraine zu erreichen. Ob man all diese Ereignisse prognostizieren konnte, darüber lässt sich nur spekulieren. Es wurde jedoch deutlich, dass der Euromaidan, die Annexion der Krim und die anschließende Eskalation im Donbas Ergebnisse einer komplexen Katalysatorenkette sind. Diese erstreckt sich von Problemen zwischen der ukrainischen Regierung und der Gesellschaft bis hin zu den geopolitischen Ambitionen des Kremls9.

Eine erhebliche Herausforderung stellte und stellt der ukrainisch-russische Konflikt auch für die Europäische Union als eine selbsterklärte Friedensmacht auf dem europäischen Kontinent dar. Der Konflikt gefährdete nicht nur die regionale Sicherheit sowie Sicherheit einzelner Mitgliedstaaten, sondern bedeutete auch eine Bewährungsprobe für die EU in puncto Gewährleistung internationaler Sicherheit. Dies wurde durch den zum Abschluss der Untersuchung noch immer misslungenen Versuch der Konfliktbeilegung seitens der EU deutlich, was wiederum im Wesentlichen durch die inkompatible Logik und Interessenslage der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihres gemeinsamen Vorgehens sowie die daraus resultierende, mangelnde Kohärenz im auswärtigen Handeln der EU bestimmt worden war. Die Tatsache, dass sich der Konflikt zu einem längeren, teils eingefrorenen Konflikt (eng. frozen conflict) entwickelte, verwies auf gravierende Mängel in den Mechanismen der EU zur Bewältigung solcher Herausforderungen, die die gesamte europäische Sicherheit bedrohen.

1.1 Wissenschaftliche Problemstellung

Die Eskalation in der Ukraine seit Februar 2014 war ein externer Schock für die Europäische Union, der dazu führte, dass eine gemeinsame Linie in der Außenpolitik der EU-Mitgliedstaaten gefunden werden musste. Das aggressive Verhalten Russlands und der Verstoß gegen Grundnormen europäischer Sicherheit indizierte eine Veränderung in der normenbasierten internationalen Kooperation sowie Asymmetrie der Interdependenz zwischen EU und Russland10. Der ukrainisch-russische Konflikt ist ein Symptom laufender systemischer Veränderungen des internationalen Systems, das durch eine Erschütterung der liberalen Weltordnung charakterisiert ist11. Die wachsende Terrorgefahr, der Syrien-Krieg, die Flüchtlings- und Migrationskrise, Desintegrationstendenzen in der EU, der Zulauf zu populistischen Parteien innerhalb der europäischen Mitgliedstaaten etc., können als weitere Bestätigung dieses Wandels gesehen werden. Die Kooperationsprobleme zwischen EU-Mitgliedstaaten haben aufgrund der fehlenden Einigung auf gemeinsame Ziele zugenommen, wodurch das kollektive Handeln der EU im Ganzen erschwert wurde.

Das Grundproblem hinsichtlich der Involvierung der EU in die Konfliktresolution in der Ukraine bestand darin, dass der Angriff Russlands auf Grundnormen der europäischen Sicherheit unterschiedliche Reaktionen innerhalb der EU provozierte. Zwar bestand das Bedürfnis einer kollektiven Verteidigung der europäischen Grundnormen, doch wurde bei vielen Mitgliedstaaten offensichtlich, dass nationale Interessen weiterhin prioritär sind. Vor diesem Hintergrund deckte der Konflikt etliche interne Probleme der EU auf. Dazu zählen auch solche Probleme, die zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten und populistischen Tendenzen in einzelnen Mitgliedstaaten beigetragen haben und die mit der Finanzkrise 2008 bereits in Erscheinung getreten waren. Dies führte dazu, dass multinationale und minilaterale Koalitionen von Mitgliedstaaten, wie das Weimarer Dreieck oder das Normandie-Format, eine zentrale Rolle in den Verhandlungen hinsichtlich der Konfliktlösung eingenommen haben, womit die institutionellen Akteure in den Hintergrund der Konfliktmediation geschoben wurden. Darüber hinaus resultierte eine heterogene Perzeption der von Russland ausgehenden Gefahr, welche die Rhetorik der Mitgliedstaaten bezüglich europäischer Sicherheit und Vorgehensweise prägte, oft aus der geographischen Nähe zum Konflikt, so dass der Konflikt trotz eines ersten initialen Schockmoments für alle Staaten, am Ende offenbar nicht als gemeinsame Bedrohung der EU verstanden wurde. Diese Faktoren und die Tatsache, dass es sich immer noch um einen ergebnisoffenen Vorgang in diesem Politikfeld der EU handelt, verleihen dem ukrainischen Fall eine große Bedeutung nicht nur für die politikwissenschaftliche beziehungsweise die EU-Forschung, sondern auch für Überlegungen zur zukünftigen Gewährleistung von Stabilität im östlichen Europa.

Unter diesem Blickwinkel stellt diese Untersuchung die Frage: Inwiefern haben die Entwicklungen des ukrainisch-russischen Konfliktes die Involvierung von EU-Akteuren und somit das auswärtige Handeln der EU während der Konfliktresolution in der Ukraine beeinflusst? Diese Studie stellt den Anspruch, die genannte empirische Fragestellung anhand einer detaillierten chronologischen Untersuchung der Entwicklungen des ukrainisch-russischen Konfliktes zu beantworten und die Reaktionen der EU auf die krisenhaften Ereignisse in der Ukraine analytisch zu erklären.

Um dieses Ziel der Untersuchung zu erreichen, wurden folgende Unteraufgaben formuliert:

1. Die Ereignisse in der Ukraine vom Euromaidan bis zum Krieg im Donbas (2014–2019) zu rekapitulieren, um die Hintergründe und besonderen Merkmale des ukrainisch-russischen Konfliktes sowie die Art der russischen Herausforderung für die europäische Sicherheit zu identifizieren und zu definieren.

2. Wesentliche Bestandteile und Charakteristiken der EU-Reaktion auf Entwicklungen des Konfliktes zu analysieren, um festzustellen, welche Rolle die EU in der Deeskalation des Konfliktes gespielt hat.

3. Die Involvierung der EU-Institutionen und Mitgliedstaaten in die Resolution des ukrainisch-russischen Konfliktes mit einem Fokus auf Delegation von Befugnissen zu untersuchen, um intern sowie extern bedingten Probleme der Handlungsfähigkeit der EU zu identifizieren.

4. Anhand der gewonnenen Erkenntnisse zu analysieren, wodurch sich die Qualität der EU als außenpolitischer Akteur im Kontext der Resolution des ukrainisch-russischen Konfliktes als ein globaler Akteur auszeichnete beziehungsweise wodurch diese beeinträchtigt wurde.

Im Vordergrund der Analyse steht somit das auswärtige Handeln der Europäischen Union in Hinsicht auf die Resolution des ukrainisch-russischen Konfliktes. Die EU-Außenpolitik strebt in der Regel an, wirtschaftliche und politische Interessen mit einem als europäisch definierten Wertesystem zu verbinden12. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konfliktes ist er als komplexes Politikfeld zu betrachten, bei dem sich in der Konfliktlösung mehrere Politikfelder/Dimensionen der EU-Außenpolitik überlappen, nämlich: Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Zusammenarbeit mit Drittländern beziehungsweise die Europäische Nachbarschaftspolitik als Wendepunkt in der Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine, sowie der EU und Russland und schließlich die restriktiven Maßnahmen der Europäischen Union.

Die Rolle der EU bei der Lösung des russisch-ukrainischen Konfliktes ist seit Beginn des Konfliktes Objekt kontroverser Debatten unter Politikern und Wissenschaftlern. Da der ukrainisch-russische Konflikt von hoher Dynamik geprägt war und sich relativ schnell zu einem köchelnden beziehungsweise eingefrorenen Konflikt entwickelte sowie mit anderen krisenhaften weltpolitischen Ereignissen, wie der Flüchtlings- und Migrationskrise konkurrierte, gab es bis 2017 kaum Studien, die das EU-Verhalten im Laufe des ukrainisch-russischen Konflikts tiefgründig analysiert haben. Nichtsdestotrotz stellten einige Publikationen, die sich mit diesem Thema beschäftigten, wertvolle Ergebnisse empirischer Untersuchung des Konfliktes vor. Die meisten Werke waren der Untersuchung der Hintergründe des Konfliktes und den Machtkonstellationen sowie der Chronologie der Ereignisse gewidmet und präsentierten mögliche Szenarien der weiteren Konfliktentwicklung13. Aufgrund neuer Erkenntnisse über den Einfluss des EU-Handelns auf die Beilegung des Konfliktes in der Ukraine und einer erheblichen Reduktion der Konfliktdynamik, erschienen ab 2017 immer mehr internationale Studien, welche sich mit einzelnen Aspekten der EU-Reaktion auf die russische Aggression in der Ukraine beschäftigten. Eine beträchtliche Zahl an Studien fokussierte sich hierbei auf die EU-Rolle im ukrainisch-russischen Konflikt isoliert von anderen Akteuren, wobei der Schwerpunkt überwiegend auf den Krieg im Donbas gelegt wurde und die Ereignisse, die zu ihm führten, in den Hintergrund gestellt wurden14. Themen, welche im Zeitraum 2014–2019 überdurchschnittlich oft sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in den Medien behandelt wurden, waren die EU-Sanktionen gegen Russland und die Transformation der EU-Russland Beziehung im Zuge des Konfliktes15. Was die Erforschung verschiedener Dimensionen der EU-Außenpolitik anbelangt, ist hier besonders auf eine Sonderausgabe des Journal of Common Market Studies vom Jahr 2017 hinzuweisen. Sie befasst sich mit der hybriden Außenpolitik der EU im ukrainisch-russischen Konflikt, wobei sich die Autoren mit verschiedenen Aspekten der Macht der Europäischen Union bezüglich der Resolution des Konfliktes in der Ukraine auseinandergesetzt haben16. In Hinsicht auf die komplexen Interaktionen der EU mit anderen globalen Akteuren, wie beispielsweise der USA und deren Einfluss auf das Konfliktmanagement sowie die Beziehung zu Russland und der Ukraine liefert das Buch „Triangular Diplomacy among the United States, the European Union, and the Russian Federation“ von Birchfield und Young wertvolle Erkenntnisse.

Was verschiedene Besonderheiten der EU-Außenpolitik im Ganzen anbelangt, wurden bereits zahlreiche Untersuchungen zu unterschiedlichen Aspekten dieses Themas durchgeführt. In den letzten Jahren haben Keukeleire und Delreux dazu einen bedeutenden Beitrag geleistet. Die Autoren vermeiden in ihren Arbeiten die sonst typische Fokussierung auf die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und präsentieren eine umfassende Analyse, fokussiert auf die Diversität der EU-Außenpolitik und der Beziehung zu den wichtigsten Partnern wie USA, China und Russland17. Auch existiert eine Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten, welche die Außenpolitik der Europäischen Union und deren Krisenmanagement aus theoretischer oder juristischer Sicht des Funktionierens der GASP zum Gegenstand haben18. Die Studien der vergangenen Jahre beruhen vor allem auf der Untersuchung der Instrumente, die die EU zur Konfliktprävention und Lösung von Zivilkonflikten einsetzt, und geschahen meist im Rahmen vergleichender Fallanalysen19. Außerdem gibt es Forschung aus konstruktivistischer Perspektive zum Einfluss staatlicher Identitäten auf die Außenpolitik beziehungsweise Diskursformationen zur EU und deren Einwirkung auf gemeinsame Entscheidungsfindung20, die eine neue Sicht auf die EU-Handlungsfähigkeit ermöglicht21. Darüber hinaus haben sich in den letzten Jahren Wissenschaftler mit der Konzeptualisierung von EU-Handlungsfähigkeit auseinandergesetzt. In seiner Untersuchung weist zum Beispiel Peters nach, dass die EU eine fragmentierte Handlungsfähigkeit besitzt, die sich insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich durch mangelnde vertikale und horizontale Kohärenz manifestiert22. Bretherton und Vogler vertreten die Meinung, dass die EU eine hybride Identität hat, und betonen die Widersprüchlichkeit ihrer Rolle und ihres Verhaltens23. In diesem Zusammenhang wird seit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon innerhalb der wissenschaftlichen Forschung kontrovers diskutiert, ob die EU als ein autonomer Sicherheitsakteur handeln kann. Viele Wissenschaftler sind der Meinung, dass die EU eine Zivilmacht sei, was das Außenverhalten der EU auf eine bestimme Art und Weise determiniert. Sie stellen eine souveräne Militärfähigkeit der EU (im Vergleich zu den USA) aus politischer und juristischer Sicht in Frage24.

Bereits in den neunziger Jahren sind Versuche unternommen worden, Forschungsansätze und Theorien aus anderen wissenschaftlichen Bereichen für die Untersuchung des Funktionierens der Europäischen Union, damals noch bekannt als Europäische Gemeinschaft, zu adaptieren und anzuwenden, um das EU-Phänomen besser verstehen zu können. Einer der erfolgreichsten Versuche war hierbei, die Delegation innerhalb der EU sowie Europäische Integration und die komplexen Verhältnisse zwischen den Mitgliedstaaten sowie den Institutionen mithilfe der wirtschaftswissenschaftlichen Prinzipal-Agenten-Theorie zu erklären. Nach wie vor sind in diesem Themengebiet die Monografien von Mark A. Pollack grundlegend. Darin beschäftigt er sich mit Delegationsproblemen innerhalb der EU beziehungsweise mit der Frage, was die Mitgliedstaaten als Prinzipal antreibt, Macht an eine supranationale Organisation als Agenten zu delegieren25. Pollack kommt in seinen Arbeiten zum Schluss, dass die Steuerung einer supranationalen Organisation durch multiple Prinzipale problematisch sei, wenn deren Präferenzen nicht übereinstimmen26. Angesichts eines instabilen politischen Umfeldes erfordert die Anwendung des Prinzipal-Agenten-Modells im Bereich Internationale Politik Flexibilität. So heben Adriaensen und Delreux hervor, dass die Involvierung zahlreicher Akteure im Entscheidungsfindungsprozess und die Existenz politischer Netzwerke innerhalb der EU die Anwendung des Prinzipal-Agenten-Modells bei der Untersuchung der EU-Politik verkompliziert27. Dies führte zur Einführung neuer Konzepte und Begriffe innerhalb des adaptierten Prinzipal-Agenten-Modells wie zum Beispiel, die sogenannte non-exclusive delegation28in der EU, die ein besonderes Phänomen in der Beziehung zwischen Mitgliedstaaten und EU-Institutionen erläutert. Bisher wurde das Prinzipal-Agenten-Modell zur Untersuchung des EU-Außenverhaltens überwiegend im Bereich der Handelspolitik29 angewendet. Die Zahl der Studien, die dieses Konzept zur Analyse von Konfliktresolution oder Konfliktbearbeitung, einem der signifikantesten Bereiche der EU-Außenpolitik, verwendet, ist relativ überschaubar.

Aus dieser Forschungslücke leitet sich die wissenschaftliche Relevanz der vorliegenden Studie ab. Zwar wurden zahlreiche Untersuchungen zum Thema der EU-Tätigkeit im Rahmen der internationalen Friedenssicherung vor allem im Hinblick auf Krisenmanagement im Rahmen der GASP durchgeführt. Es herrscht jedoch ein Mangel an Studien, die den Einfluss von Krisendynamiken auf komplexe Zusammenhänge zwischen den Mitgliedstaaten und supranationalen Institutionen im auswärtigen Handeln der EU diskutieren. Hierfür stellt der ukrainisch-russische Konflikt, charakterisiert durch seine wechselhafte Dynamik, einen facettenreichen Fall für die Erforschung des außenpolitischen Verhaltens der EU und ihrer Handlungsfähigkeit im Bereich Konfliktresolution dar. Seit Beginn des Konfliktes werden zwar kontinuierlich empirische Untersuchungen zu den verschiedenen Aspekten dieses Falles durchgeführt30. Doch werden diese Ereignisse zum einen im medialen, öffentlich-politischen und wissenschaftlichen Diskurs auf unterschiedliche Art und Weise definiert. Weiterhin sind kausale Zusammenhänge zwischen der Entwicklung des Konfliktes – einschließlich dessen tiefverwurzelten Hintergründe – und der Reaktionsstärke der EU beziehungsweise ihrer Qualität als autonomer außenpolitischer Akteur untererforscht. Aus diesem Grund soll hier die Veränderung des EU-Außenverhaltens unter dem Einfluss externer Faktoren beziehungsweise Umstände und Entwicklungen des Konfliktes in den Blick genommen werden. Exogene Einflussfaktoren, wie beispielsweise der Kontext einer krisenhaften Situation, der Einfluss von Drittparteien auf die Dynamik des Konfliktes und die Konfliktresolution, welche die EU-Handlungsfähigkeit bei ihrer Reaktion auf die Entwicklungen direkt oder indirekt prägen, wurden bislang selten in Erwägung gezogen. Dabei ist es wichtig, mögliche Zusammenhänge zwischen den internen und externen Einflussfaktoren der EU-Handlungsfähigkeit und ihrer Reaktionsstärke in Betracht zu ziehen.

Aus den oben genannten Gründen geht es in der vorliegenden Studie darum, den aktuellen Forschungstand und die offizielle Dokumentation zum Konfliktmanagement der EU im ukrainisch-russischen Konflikt, zu komplexen Zusammenhängen zwischen den Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen im Kontext der Konfliktresolution in der Ukraine sowie Erkenntnisse im Hinblick auf die Konfliktentwicklung zu kombinieren, um die komplexe Wechselwirkung zwischen dem Konflikt und Transformationen im auswärtigen Handeln der EU im Konfliktverlauf zu identifizieren und nachvollziehen zu können. Die vorliegende Arbeit stärkt und vertieft damit bestimmte Aspekte der bereits existierenden wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema der Rolle der Union und ihres Verhaltens im ukrainisch-russischen Konflikt. Der Fokus wird dabei auf eine ganzheitliche Betrachtung des integrativen EU-Ansatzes zur Resolution dieses Konfliktes gelegt. Zusätzlich leisten die Ergebnisse dieser Arbeit einen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte nicht nur über die Qualitäten der EU als autonomer außenpolitischer Akteur hinsichtlich der Bearbeitung und Beilegung internationaler Konflikte, sondern auch über Formen ihrer Beteiligung. Handelt die Europäische Union autonom oder treten multinationale Koalitionen der Mitgliedstaaten bei der Konfliktlösung in den Vordergrund? Über die genannten Punkte hinaus liefert diese Arbeit Erkenntnisse hinsichtlich der Chronologie und Nuancen der Konfliktentwicklung aufgrund einer ausführlichen Auswertung ukrainischer und internationaler Quellen, welche die Ereignisse in der Ukraine beleuchten. Dies ermöglicht ein besseres Verständnis für die komplexen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge im osteuropäischen Raum und für die Hintergründe sowie den Charakter des untersuchten Konfliktes.

Der Kernuntersuchungszeitraum beginnt mit der im März 2014 stattgefundenen Krim-Annexion. Die Ereignisse in Kyjiw ab November 2013, der sogenannte Euromaidan, werden als Trigger für die darauffolgende Krise und den Konflikt mit Russland mitberücksichtigt und erläutert. Da es sich bei dem Konflikt, trotz seines Status als frozen conflict, um einen ergebnisoffenen Vorgang handelt, kann nur der Ist-Zustand analysiert werden, ohne Rücksicht auf mögliche weitere Entwicklungen zu nehmen. Aufgrund der Tatsache, dass die vorliegende Untersuchung das auswärtige Handeln der EU zum Gegenstand hat und dass die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 in der Ukraine einen Wandel in der Konfliktentwicklung und -resolution herbeigeführt haben, endet der Kernuntersuchungszeitraum mit dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Normandie Vier am 9. Dezember 2019 in Paris. Dies entspricht zudem dem Amtszeitende von Donald Tusk, Jean-Claude Juncker und Federica Mogherini an der Spitze der EU-Institutionen, deren Amtsperioden der Großteil des Untersuchungszeitraums erfasst.

1.2 Methodische Vorgehensweise und Aufbau der Untersuchung

Als Kernansatz zur Untersuchung des auswärtigen Handelns der EU wurde der Prinzipal-Agenten-Ansatz ausgewählt. Die Untersuchung im Einklang mit dem oben genannten Ansatz ermöglicht es zum einen komplexe Zusammenhänge zwischen den Mitgliedstaaten und der EU, Präferenzen der Mitgliedstaaten in diesem Kontext sowie Delegationsmuster zu verstehen. Zum anderen wird die EU-Handlungsfähigkeit in einer Prinzipal-Agenten-Beziehung sowie der Einfluss und die Kontrolle der Mitgliedstaaten auf das auswärtige Handeln während der Konfliktbearbeitung betrachtet. Außerdem werden die Prinzipal-Agenten-Probleme innerhalb der EU, wie zum Beispiel die Informationsasymmetrie oder von Mitgliedstaaten unerwünschte Handlungen der EU-Agenten, diskutiert.

Manche Wissenschaftler betonen, dass sich Akteure bei der Auswahl von Handlungsalternativen stark an ihren rationalen Interessen und der Position internationaler Institutionen orientieren, was allerdings nicht unbedingt bedeutet, dass die Akteure die optimalste aller Handlungsoptionen wählen31. Die Herausforderungen, die aus den globalen Entwicklungen resultieren, sind in gewissem Maße mit kaum kalkulierbarem Risiko und Ungewissheit verbunden. Die Mehrheit der politischen Entscheidungen muss mit einem ungewissen Ausgang getroffen werden. Das bedeutet, dass Informationen über künftige Ereignisse entweder unvollständig oder überhaupt nicht vorhanden sind32, was eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Entscheidungsträger darstellt. Die nicht oder nur sehr schwer prognostizierbaren Eskalations- und Ruhephasen des ukrainisch-russischen Konflikts sind ein Beispiel dafür. Folglich kann man feststellen, dass tradierte Reaktionsmuster auf die neuen Herausforderungen und Auseinandersetzungen – wie Krisenprävention und Friedensförderung, traditionelle Mediation und Krisenmanagement – nicht mehr funktionieren. Dies erfordert Flexibilität und starke Kohärenz im auswärtigen Handeln, wobei der Charakter und die Kooperation einer Delegationsbeziehung zwischen den institutionellen Akteuren einerseits und EU-Mitgliedstaaten andererseits entscheidend sind. Aus dieser Sicht stellt der Prinzipal-Agenten-Ansatz ein wertvolles Instrument zur Untersuchung des auswärtigen Handelns der EU im ukrainisch-russischen Konflikt dar. Das komplexe politische Umfeld, in dem Konfliktlösungen seitens der EU gefunden werden müssen, war und ist durch Unsicherheit und Zeitdruck charakterisiert, was ihren Einfluss auf die Kooperation und Konkurrenz im Kontext einer Delegationsbeziehung innerhalb der EU bestimmt.

Um einen umfassenden Blick auf die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union im ukrainisch-russischen Konflikt zu ermöglichen, wird außerdem der actorness-Ansatz (Dt. – Akteurschaft, Akteursqualität, Handlungsfähigkeit33), der ursprünglich von Sjöstedt 1977 entwickelt und später von Jupille und Caporaso, Bretherton und Vogler, Rhinard u.a. erweitert wurde, verfolgt. Anhand der speziellen Kriterien des actorness-Ansatzes, wie Anerkennung, Kohäsion, Autonomie, Fähigkeit34,ist es möglich, zu bestimmen, inwiefern die EU als sui generis Entitätwährend der Konfliktbearbeitung und -resolution in der Ukraine über Qualitäten eines autonomen internationalen Akteurs verfügte. Eine kontinuierliche Verfolgung aktueller theoretischer Entwicklungen ist von großer Bedeutung, weil dynamische Entwicklungen internationaler Politik ein Umdenken in puncto Kriterien von Akteursqualität erfordern. So wurde 2019 ein weiteres actorness-Kriterium von Rhinard und Sjöstedt präsentiert, dessen Anwendung im Rahmen der vorliegenden Arbeit wertvolle Erkenntnisse zur EU-Akteursqualität und -Handlungsfähigkeit im Kontext der Konfliktresolution in der Ukraine lieferte.

Anhand der beiden genannten Theorien lässt sich erklären, wie sich der ukrainisch-russische Konflikt auf das EU-Außenverhalten ausgewirkt hat. Der Fokus liegt hierbei darauf, inwiefern die Entwicklungen und Umstände des Konfliktes das gewöhnliche Delegationsmuster für die Konfliktresolution in der EU veränderten, was wiederum die entstandene Reaktion und somit die EU-Handlungsfähigkeit prägte. Die Komplexität der zuvor genannten Fragestellung erfordert eine Kombination aus theoretischen Grundlagen und empirischen Untersuchungen, die dem geschilderten Vorhaben zu Grunde liegen sollen. Um die Forschungsfrage zu beantworten und eine tiefergehende Analyse durchführen zu können, wurde zuerst eine zielorientierte Erhebung von Daten und Informationen sowie eine kritische Auswertung entsprechender Literatur und Quellen vorgenommen.

Der Untersuchung liegt eine Triangulation-Forschungsmethodik zu Grunde, die eine Kombination verschiedener Methoden (qualitativ oder quantitativ, Beobachtung oder Interview), methodischer Perspektiven (zum Beispiel, gegenwärtiges und historisches) sowie unterschiedlicher Datensorten für eine ausführliche Analyse eines Untersuchungsgegenstandes darstellt35. Im Einklang mit dieser Methodik wurden die wichtigsten Materialien und Informationen für diese Arbeit analysiert. Diese sind:

1. Primärquellen beziehungsweise Rechtstexte und offizielle Dokumente, wie beispielsweise Beschlüsse oder Stellungsnahmen der EU-Organe.

2. Sekundärliteratur beziehungsweise Berichte unabhängiger Think Tanks sowie EU-Forschungsdienste, Studien, Monografien, Sammelbände und wissenschaftliche Artikel in relevanten Zeitschriften und Journals.

3. Pressemitteilungen von Institutionen, relevante Berichterstattung in gedruckter und digitaler Form aus Zeitschriften und Zeitungen, sowie auf offiziellen Portalen von Nachrichten- und Presseagenturen.

Um die Vielseitigkeit und Vollständigkeit der empirischen Untersuchung zu gewährleisten, wurden die Analyseergebnisse mit Experteninterviews abgeglichen. Dabei handelt es sich um selbstständig durchgeführte, halbstrukturierte qualitative Leitfadeninterviews mit Experten aus Politik und Wissenschaft, die mit dem ukrainisch-russischen Konflikt und der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik im Allgemeinen vertraut sind. Insgesamt stützt sich die Studie auf zehn solcher Experteninterviews, die zwischen November 2018 und Mai 2019 in Deutschland und in der Ukraine durchgeführt wurden.

Die qualitativen halbstrukturierten Experteninterviews36 mit den Experten aus Wissenschaft und Politik sind ein integraler Bestandteil der Analyse. Sie ermöglichten es, im persönlichen Gespräch Informationen zu gewinnen, welche aufgrund der Erfahrungen und Machtpositionen der Experten für die Verdeutlichung vieler Aspekte und Besonderheiten des außenpolitischen Handelns der EU sowie einzelner Mitgliedstaaten im zu untersuchenden Konflikt von Bedeutung sind. Die anonymisierten Interviews mit Diplomaten und EU-Beamten erlaubten es unter anderem, einen „Blick hinter die Kulissen“ des politischen Geschehens zu werfen, um die Abläufe und Logik der EU-Entscheidungsfindung besser nachvollziehen zu können. Wie die Ergebnisse der durchgeführten Interviews zeigen, ist es besonders wichtig, die wissenschaftliche Perspektive und die realpolitische Herangehensweise von Vertretern der politischen Elite zu analysieren, da sie sich nicht selten deutlich unterscheiden. Die Wissenschaftsexperten wurden aufgrund ihres Fach- oder Praxiswissens in Bezug auf das Thema und dessen Einzelaspekte ausgewählt. Bei der Auswahl von Vertretern der Politik für das Interview (EU-Beamte, ehemalige und aktiv tätige nationale Abgeordnete und Diplomaten) wurde gezielt auf deren konkreten Bezug zum ukrainisch-russischen Konflikt und ihren Verantwortungsbereich geachtet. Die Interviews, zum Beispiel mit Diplomaten, die aufgrund ihrer Position über ein spezielles Fachwissen im untersuchten Bereich verfügen, werden als Eliten-Interview bezeichnet und erfordern eine spezifische Vorgehensweise37. Um die durchgeführten Interviews gründlich herauszuarbeiten und zu analysieren, wurde die Durchführung der Analyse mithilfe einer qualitativen Daten- und Textanalysesoftware, der sogenannten QDA-Software, unterstützt. Die vorhandenen Interviews wurden vereinfacht wörtlich transkribiert und im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet38. Das Ziel der Experteninterviewauswertung bestand darin, „Wissen der Experten als eine Ansammlung von Informationen zu konzeptualisieren“39.

Die Auswertung der Experteninterviews wurde in Anlehnung an das Auswertungskonzept von Bogner, Littig und Menz durchgeführt, das seine Wurzeln im ursprünglichen Konzept von Mayring (2000) hat40. Das Ziel der Interviewauswertung besteht hierbei darin, aus dem Interviewmaterial eine Informationsbasis zur Beantwortung der Forschungsfrage zu erstellen, bestimmte Sachverhalte zu rekonstruieren und mithilfe einer systematischen Analyse Kausalabhängigkeiten aufzuklären41. Das fünfstufige Auswertungsverfahren umfasst folgende Schritte:

1. Fragestellung und Materialauswahl: Fokus auf den Inhalt des Interviews; Definition von relevanten inhaltlichen Aspekten, welche aus der Forschungsfrage abgeleitet werden, sowie vom Textkorpus beziehungsweise Teilen der Interviews, welche stichhaltige Informationen beinhalten42.

2. Aufbau eines Kategoriensystems: Sichtung der Interviews auf relevante Informationen anhand der Kategorien und Unterkategorien und ihrer Beziehung zueinander43.

Bogner u.a. stützen sich zwar auf das deduktive Modell, schließen jedoch die Anwendung eines induktiven Modells bei der Kategorienbildung nicht aus, weshalb in dieser Arbeit eine Kombination von deduktiver (anhand des festes Kategoriensystems) und induktiver Kategorienbildung (aus dem Interviewmaterial heraus, nur inhaltstragende Textelemente)44 angewendet wird.

3. Extraktion: Herausfiltern von Informationen; Interpretation; Zuordnung von Rohdaten der Kategorien; Schaffung einer thematischen Informationsbasis, welche ausgewertet werden muss45. Hierbei wird das Paraphrasieren als zentraler Auswertungsschritt ausgeklammert, denn die Relevanz eines Textelementes stellt sich bei dessen Interpretation heraus, weshalb es wichtig ist, die vollständige Transkription zu behalten46.

4. Aufbereitung der Daten: Zusammenfassung der breit gefächerten, aber zusammenhängenden Informationen, Reduktion überflüssiger Informationen, Verbesserung der Qualität der Informationsbasis47.

5. Auswertung computergestützt durch MAXQDA: Beantwortung der Forschungsfrage auf Basis der aufbereiteten Daten48.

Zunächst wird die theoretische Grundlage zur Erforschung des auswärtigen Handelns der EU analysiert. In diesem Teil wird der Begriff der Akteursqualität, auch actorness, der Europäischen Union definiert und zur Erforschung des auswärtigen Handelns der EU erläutert. Als nächstes werden die folgenden Hauptmerkmale des Prinzipal-Agenten-Modells thematisiert: Besonderheiten des Prinzipal-Agenten-Modells im Kontext der EU-Forschung; Charakter der Prinzipal-Agenten-Beziehung im auswärtigen Handeln der EU und in der Konfliktresolution; Merkmale der Delegation und Diskretion in der Konfliktresolution der EU; charakteristische Prinzipal-Agenten-Probleme der EU.

Im dritten Kapitel werden die Geschehnisse in der Ukraine im Zusammenhang mit dem Euromaidan, der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbas rekapituliert, beziehungsweise es werden die Schlüsselereignisse, welche für die Untersuchung besonders signifikant sind, hervorgehoben. Um Klarheit hinsichtlich der Begrifflichkeiten der Ereignisse auf der Krim und im Donbas 2013–2014 sowie der Rolle Russlands zu schaffen, wird zusätzlich auf Definitionsbesonderheiten u.a. aus juristischer Sicht eingegangen.

Das Folgekapitel beschäftigt sich mit dem Verhalten der EU im ukrainisch-russischen Konflikt mit Fokus auf ihre konkreten Reaktionsschritte. Auf zwei signifikante Elemente des EU-Resolutionsansatzes wird besonders eingegangen. Zum einen werden die restriktiven Maßnahmen gegen Russland und deren Effekt auf die Deeskalation des ukrainisch-russischen Konfliktes analysiert. Zum anderen wird das Phänomen des Normandie-Formates im Kontext europäischer Mediationsbemühungen und dessen Auswirkung auf die Konfliktbeilegung im Donbas untersucht. Im Anschluss daran wird die wichtige Frage nach der Rolle der Europäischen Union in der Deeskalation des Konfliktes gestellt.

Der fünfte Teil umfasst eine ausführliche Analyse der Involvierung von EU-Institutionen und Mitgliedstaaten durch das Prisma der Delegationsbeziehung im Laufe des ukrainisch-russischen Konfliktes. Das Engagement einzelner EU-Institutionen und die Interaktionen zwischen diesen Entscheidungsträgern während der Konfliktresolution werden genau analysiert. An dieser Stelle werden außerdem die internen Probleme der EU mit dem Blick auf die Delegation aufgedeckt und erläutert. Hier wird außerdem auf das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Union geschaut, da die Mitgliedstaaten eine formale Kontrolle über die GASP besitzen. Es wird zudem erörtert, inwiefern die Besonderheiten der Involvierung von institutionellen und nicht-institutionellen EU-Akteuren die Handlungsfähigkeit der Union beeinflusst haben. Abschließend wird die Akteursqualität der EU im Laufe des Konfliktes anhand der im theoretischen Teil eingeführten Kriterien auf Basis der vorher gewonnenen Informationen und Erkenntnisse untersucht.

Die Arbeit endet mit dem sechsten und letzten Teil, in welchem die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst werden. Außerdem wird an Anknüpfungspunkte zu weiteren, möglichen zukünftigen Themen für die Erforschung der Handlungen der Europäischen Union im Allgemeinen wie auch im Kontext des ukrainisch-russischen Konfliktes verwiesen.

 

1 Vgl. Galantino, Maria Grazia/Freire, Maria Raquel, Managing Crises, Making Peace. Towards a Strategic EU Vision for Security and Defense: Rethinking Peace and Conflict Studies, Basingstoke 2015, S. 1.

2 Vgl. Ehrhart, Hans-Georg, Die Europäische Union, die ESVP und das neue Sicherheitsdilemma, in: WeltTrends (2003), H. 38, S. 135–144, hier S. 136.

3 Vgl. Daase, Christopher, Der erweiterte Sicherheitsbegriff. Arbeitspapiere „Sicherheitskultur im Wandel“, H. 1, 2010, S. 3.

4 Als low intersity conflict werden die Kriege bezeichnet, die nicht zwischen den regulären Streitkräften zweier Staaten, sondern zwischen der regulären Armee eines Staates und nichtstaatlichen Akteuren ausgetragen werden. Vgl. Hoch, Martin, Krieg und Politik im 21. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51 (2001), H. 20, S. 17–25.

5 Vgl. Fiott, Daniel/Parkes, Roderick, Protecting Europe. The EU’s response to hybrid threats. Chaillot Paper, H. 151, 2019, S. 4.

6 Aus den zahlreichen Begriffen zur Beschreibung von Ereignissen in der Ukraine 2014–2019 wird in der vorliegenden Arbeit ‚ukrainisch-russischer Konflikt‘ genutzt, um den Zusammenprall von Interessen sowie den Zusammenhang zwischen der Krim-Annexion und dem Krieg im Donbas als Elemente eines russischen hybriden Krieges gegen die Ukraine hervorzuheben.

7 Vgl. Raik, Kristi/Saari, Sinikukka (Hrsg.), Key Actors in the EU’s Eastern Neighbourhood. Competing perspectives on geostrategic tensions, Helsinki 2016, S. 16.

8 Vgl. ebd.

9 Vgl. Solkina, Mariia, Євромайдан: передумови масового протесту. Euromaidan: Die Voraussetzungen des Massenprotestes, in: Hromadska Dumka 21 (2014), H. 1, S. 3–14, hier S. 12.

10 Vgl. Raik/Saari, Key Actors in the EU’s Eastern Neighbourhood, S. 17.

11 Vgl. ebd.

12 Vgl. Beck, Thomas (Hrsg.), Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU nach Lissabon, Frankfurt am Main 2012, S. 89.

13 S. Blockmans, K. Böttger, L. Freedman, R. Hansen, A. Lanoszka, J. Mackow, R. Raik, R. Sakwa, u.a.

14 O. Elgström, S. Fischer, H. Kostanyan/S. Meister, T. Mylovanov u.a.

15 M. Emerson, S. Fischer, S. de Gabert, K.Liik, R. Menon/E. Rumer, K. Kholodilin/A. Netšunajev, S. Pézard u.a., H. Sjursen/G. Rosén.

16 Vgl. Davis Cross, Mai’a K./Karolewski, Ireneusz Pawel, What Type of Power has the EU Exercised in the Ukraine-Russia Crisis? A Framework of Analysis, in: Journal of Common Market Studies (JCMS) 55 (2017), H. 1, S. 3–19.

17 Vgl. Keukeleire, Stephan/Delreux, Tom, The foreign policy of the European Union: The European Union series, Basingstoke u.a. 22014.

18 T. Beck, C. Berger, U. Dietrichs, S. Elgström, S. Fröhlich, J. Howorth, S. Keukeleire, N. Klein, I. Peters, F. W. Scharpf, M.E. Smith u.a.

19 J. Dempsey, M. Freire, E. Gross, C. Hagman, J. Kim, C. Major, A. Menon, M. Oproiu, B. Pohl, U. Sedelmeier, R. Rotte u.a.

20 R. Abdelal, C. Bretherton, S. Harnisch, B. Stahl, J. Vogler u.a.

21 J. Caporaso, J. Jupille, P. Kratochvil, I. Peters u.a.

22 Vgl. Peters, Ingo (Hrsg.), The European Union’s Foreign Policy in Comparative Perspective. Beyond the „Actorness and Power“ Debate, London/New York 2016, S. 274.

23 Vgl. Bretherton, Charlotte/Vogler, John, The European Union as a Global Actor, London 22006, S. 58f.

24 H.-G. Ehrhart, J. Frank, C. Hill, S. Keukeleire, D. Simon, F. Söderbaum u.a.

25 Studien von Mark A. Pollack aus dem Jahr 1997, 2003, 2006.

26 Vgl. Pollack, Mark A., The engines of European integration. Delegation, agency, and agenda setting in the EU, Oxford u.a. 2003, S. 43.

27 Vgl. Delreux, Tom/Adriaensen, Johan (Hrsg.), The Principal Agent Model and the European Union, Cham 2017, S. 13.

28 Vgl. Dijkstra, Hylke, Non-exclusive delegation to the European External Action Service, in: Delreux, Tom/Adriaensen, Johan (Hrsg.), The Principal Agent Model and the European Union, Cham 2017, S. 55–81, hier S. 56.

29 Unter anderem wurde das Prinzipal-Agenten-Modell für die Analyse der EU-Außenpolitik von folgenden Autoren angewendet: A. Dür 2011, E. Conceição-Heldt 2011, M. Elsig 2011, D. Hawkins/N. Helwig/A. Niemann 2017, F. Plank 2017 u.a.

30 V. Birchfield/A. Young 2018, S. Fischer 2019, T. Gehring/K. Urbanski/S. Oberthür 2017, H. Haukkala 2018, M. Natorski/K. Pomorska 2017, K.Raik 2016 u. 2017, M. A. Šimáková 2016, H. Sjursen/G. Rosén 2017 u.a.

31 Vgl. Marx, Johannes, Vielfalt oder Einheit in den Theorien der internationalen Beziehungen. Eine systematische Rekonstruktion, Integration und Bewertung: Reihe Internationale Beziehungen, Baden-Baden 2006, S. 178; Hellmann, Gunther/Wolf, Reinhard, Neorealism, Neoliberal Institutionalism, and the Future of NATO, in: Security Studies 3 (1993), H. 1, S. 3–43, hier S. 9.

32 Vgl. Mildner, Stormy-Annika/Boeckelmann, Lukas, Unsicherheit. Ungewissheit. Risiko. Die aktuelle wissenschaftliche Diskussion über die Bestimmung von Risiken. SWP-Zeitschriftenschau, H. 2, S. 1f.

33 Vgl. Stahl, Bernhard/Harnisch, Sebastian (Hrsg.), Vergleichende Außenpolitikforschung und nationale Identitäten. Die Europäische Union im Kosovo-Konflikt 1996–2008, Baden-Baden 2009.

34 Vgl. Bretherton/Vogler, The European Union as a Global Actor; Jupille, Joseph/Caporaso, James, States, Agency, and Rules: The European Union in Global Environmental Politics, in: Rhodes, Carolyn (Hrsg.), The European Union in the world community, Boulder Colo. u.a. 1998, S. 213–230.

35 Vgl. Flick, Uwe, Triangulation. Eine Einführung: Qualitiative Sozialforschung. Bd. 12, Wiesbaden 32011, S. 8, 12.

36 Vgl. Döring, Nicola/Bortz, Jürgen, Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften, Berlin/Heidelberg 52016, S. 375.

37 Vgl. ebd.

38 Vgl. Bogner, Alexander/Littig, Beate/Menz, Wolfgang, Interviews mit Experten, Wiesbaden 2014, S. 72.

39 Ebd.

40 Vgl. ebd., S. 73.

41 Vgl. ebd.

42 Vgl. ebd.

43 Vgl. ebd., S. 74.

44 Vgl. Mayring, Philipp, Qualitative Content Analysis. Theoretical Foundation, Basic Procedures and Software Solution, Klagenfurt 2014, S. 65f.

45 Vgl. Bogner/Littig/Menz, Interviews mit Experten, S. 74.

46 Vgl. ebd., S. 80.

47 Vgl. ebd., S. 74.

48 Vgl. ebd.

2 Theoretische Grundlagen zur Erforschung des Auswärtigen Handelns der EU

2.1 Zum Begriff der Außenpolitik und des auswärtigen Handelns der EU

Außenpolitik war immer einer der wichtigsten politischen Bereiche und raison d’être eines souveränen Staates. Laufende systemische Veränderungen in der internationalen Ordnung beziehungsweise ein Wandel im globalen Gleichgewicht in den letzten Jahrzenten haben dazu geführt, dass das Verständnis von Außenpolitik nicht mehr von einem konventionellen Staat und einem machtzentrierten Konzept der Außenpolitik ausgehen kann1. Wachsende Multipolarität der Akteure, asymmetrische Bedrohungen, „Ökonomisierung“ der Sicherheitspolitik und politische Instabilität prägen das Bild heutiger Außen- sowie Sicherheitspolitik2. Darüber hinaus erfordert der Charakter der Europäischen Union als politisches Konstrukt sui generis beziehungsweise die Tatsache, dass sie weder ein Nationalstaat noch eine internationale Organisation ist3, eine Betrachtung der Außenpolitik der EU als facettenreich und mehrdimensional.

Die Grenze zwischen den Begriffen „Außenpolitik“ und „auswärtiges Handeln“ ist fließend und deshalb ein Definitionsproblem, das an dieser Stelle erläutert werden muss. Erstens existiert eine Fülle an Definitionen und Interpretationen von Außenpolitik. Im Großen und Ganzen kann es als Komplex aller nach außen gerichteten Handlungen beziehungsweise Aktionen eines Staates4 verstanden werden. Dabei verfolgen die Staaten eigene Strategien und Ansätze, die ihre Interessen und Werte widerspiegeln. In Form von Richtlinien und Verpflichtungen versuchen sie die Außenumgebung und die Akteure so zu beeinflussen, dass ihre eigene Zielsetzung erreicht werden kann5. Solche Handlungen werden nicht nur von externen Zielen, sondern häufig auch von internen Faktoren, wie Integration, Identität oder politische Erwartungen der Regierungschefs, mitbestimmt6. Somit verweisen Keukeleire und McNaughtan sowie Harnisch und Stahl generell darauf, dass Identität und Werte eine zentrale Rolle bei der Formation der Selbstwahrnehmung des Akteurs, dessen Prärogativen und Verhalten in der internationalen Arena spielen7.

Die Analyse der EU-Außenpolitik stützt sich auf zwei Konzeptionen, relational foreign policy und structural foreign policy, die die unterschiedlichen Ziele und Objekte der Außenpolitik in Betracht ziehen und deren Einfluss auf die Außenumgebung erläutern. Da es sich bei Außenpolitik an der ersten Stelle um Gestaltung und Steuerung der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Akteuren aus verschiedenen Ländern handelt, ist das Ziel der relationalen Außenpolitik, Handeln und Verhalten anderer Akteure durch eine kontextbezogene Anwendung von speziellen Instrumenten und Handlungsstrategien zu beeinflussen8. Im Gegensatz dazu legt die strukturelle Außenpolitik den Fokus auf langfristige Ziele, um einen nachhaltigen Einfluss auf politische, sozioökonomische, Sicherheits- oder Rechtsstrukturen in einem bestimmten Rahmen zu nehmen9. Diese Strukturen sind nicht auf staatliche und zwischenstaatliche Beziehungen begrenzt, sondern spiegeln auch die Relation zwischen Staaten und Gesellschaften sowie die Einstellung in der Gesellschaft bezüglich wichtiger Fragen der internationalen Politik wider10. Die von der EU geförderten Werte, Normen und Ideen wie Demokratie, Frieden und Sicherheit, Wohlstand und eine globale regelbasierte Ordnung sind zwar spezifisch für die EU, haben allerdings einen universellen Charakter angenommen. Laut der Globalen Strategie der EU 2016, sind diese Kernwerte in den Interessen der Union verankert und prägen das auswärtige Handeln der EU11. In Hinsicht auf die komplexen Zusammenhänge zwischen Werten und Normen muss man die Existenz einer weiteren Klassifizierung der Außenpolitik, der eine Auffassung über die „normative“ Rolle der EU zugrunde liegt, berücksichtigen. Es geht um eine werte- und eine regelbasierte Konzeption von Außenpolitik. Die wertebasierte (auch als identitätsbasierte bezeichnet) Konzeption beruht darauf, dass sich die Außen- und Sicherheitspolitik auf die Gewährleistung der nachhaltigen Entwicklung einer Identitätsgemeinschaft fokussiert12. Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft, deren Werte in den EU-Verträgen verankert sind: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam […]13“. Die Solidarität ist dabei der wichtigste Legitimationsgrund für die Außenpolitik14. Im Unterschied dazu verweist die regelbasierte Konzeption darauf, dass die Außenpolitik die Förderung der jeweiligen Normen und Prinzipien sowohl innerhalb der EU als auch in der internationalen Arena zum Ziel haben muss15. Dabei wird eine Vielfalt an Interessen und Perspektiven zum Streitpunkt in den außenpolitischen Debatten auf supranationaler wie nationaler Ebene16. Die EU-Erweiterung kann als Beispiel der wertebasierten Konzeption gelten. Schon vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon haben Wissenschaftler wie Sjursen und Elgström die Auffassung vertreten, dass die oben genannten Konzeptionen aufgrund der zunehmenden Rolle einer intergouvernementalen Perspektive nicht mehr empirisch relevant genug sind17. Der Vertrag von Lissabon machte also deutlich, dass der Intergouvernementalismus tief in der EU-Außenpolitik verwurzelt ist.

Zweitens ist es wichtig, einen Blick auf die Definition der Außenpolitik sowie des auswärtigen Handelns in den EU-Verträgen, die die Rahmenbedingungen für das Funktionieren der Europäischen Union und deren einzelnen politischen Bereichen schaffen, zu werfen. Im Einklang mit Artikel 21 EUV ist festzuhalten, dass im Rahmen der Außenpolitik die EU „die gemeinsame Politik sowie Maßnahmen fest[legt], diese durch[führt] und sich für ein hohes Maß an Zusammenarbeit auf allen Gebieten der internationalen Beziehungen ein[setzt]18“ sowie „auf die Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen ihres auswärtigen Handelns19“ achtet. Der Europäische Rat spielt dabei eine der Schüsselrollen durch seine Festlegung der Prioritäten und der strategischen Ziele der EU; seine Beschlüsse gelten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie für „andere Bereiche des auswärtigen Handelns der Union20“. Daraus kann man ableiten, dass der Begriff „auswärtiges Handeln“ im Vertrag über die Europäische Union in einem breiten Sinne, wie etwa das Verständnis der Außenpolitik, angewendet wird und somit die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik beinhaltet21. Im Gegensatz hierzu wurde die GASP/GSVP nicht in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union aufgenommen. Kapitel V des AEUV, „Das auswärtige Handeln der Union“, deutet darauf hin, dass der oben genannte Politikbereich abgesondert von den anderen „außenpolitisch relevanten Bereichen“22 wie Erweiterung, gemeinsame Handelspolitik, Zusammenarbeit mit Drittländern und humanitäre Hilfe, restriktive Maßnahmen, Beziehungen der Union zu den internationalen Organisationen und Drittländern betrachtet werden muss23. In dieser Hinsicht vertritt Keukeleire die Auffassung, dass das auswärtige Handeln nur die Aktionen und Politikbereiche umfasst, die auf die Aufrechthaltung der Beziehung zwischen der EU und den externen Akteuren ausgerichtet sind24. Im Gegensatz hierzu vertritt Lopez-Escudero die Meinung, dass unter dem auswärtigen Handeln die gesamte Menge von Politiken, die auf die Außenwelt ausgerichtet sind, verstanden werden soll, die GASP/GSVP inklusive25.

Was die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik anbelangt, repräsentiert sie eine Grundlage für die Entwicklung und die Implementierung politischer und diplomatischer Dimensionen der Außenpolitik der EU, fördert aktiv außenpolitisches Interesse der EU an der internationalen Arena und trägt dabei zum Mediationserfolg im Rahmen außenpolitischer Initiativen bei26. Im Artikel 24 (1) des EUV wird die Verteidigungspolitik als von der GASP eingeschlossene Komponente erklärt:

„Die Zuständigkeit der Union in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt sich auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann“27.

Im Einklang mit dem oben erwähnten Artikel 24 (1) EUV gelten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zwar besondere Bestimmungen und Verfahren28, dennoch ist der Inhalt des auswärtigen Handelns der EU selbst in den EU-Verträgen vergleichsweise missverständlich.

Das auswärtige Handeln der EU ist zwischen zwei Rechtsregimen – dem intergouvernementalen (EUV) und dem supranationalen auswärtigen Handeln (AEUV) – gespalten29. Dies verweist auf die Existenz zweier verschiedener Methoden der Politikgestaltung: einer intergouvernementalen Methode, die sich durch die Kontrolle der Mitgliedstaaten der EU-Außenpolitik unter anderem durch das Einstimmigkeitsprinzip in der Entscheidungsfindung charakterisiert, und der Gemeinschaftsmethode, die auf der Machtdelegation an die supranationalen Institutionen beruht30. Dies macht die Außenpolitik zu einem äußerst komplexen politischen Sektor der EU und hat den Dualismus im auswärtigen Handeln zur Folge. Sogar der Vertrag von Lissabon konnte die Kohärenz innerhalb der EU-Außenpolitik aufgrund der immer noch existierenden Trennung in horizontale (GASP vs. supranationales auswärtiges Handeln) und vertikale (EU vs. Mitgliedstaaten) Ebenen nicht herstellen31.

In dieser Hinsicht betont die oben genannte Diskrepanz wie facettenreich (durch die breite Palette von verschiedenen Politikbereichen), mehrdimensional (durch die Kombination von unterschiedlichen Methoden der Politikgestaltung) und mehrstufig (durch die Balance zwischen den nationalen und europäischen Ebenen) die Außenpolitik der EU ist32. Müller-Brandeck-Bocquet bezeichnet dieses Phänomen als „Mehrdimensionalität“. Damit versteht man die EU-Außenpolitik als eine Gesamtheit der zentralen Teilmengen wie GASP, GSVP und weiterer Politikfelder, die unterschiedliche Dimensionen der Außenpolitik umfassen33. Durch den Fokus auf die Exekutive und eine häufig notwendige flexible Politikgestaltung unterscheidet sich die Außenpolitik aus juristischer Sicht drastisch von den restlichen Politikbereichen der EU, die in der Regel auf Implementierung von Gesetzgebungsakten mit einem internen Fokus ausgerichtet sind34.

Die EU-Außenpolitik umfasst unter anderem noch einen weiteren bedeutenden Bestandteil – die sogenannte externe Dimension interner Politikbereiche, die bei der Untersuchung einzelner Bereiche der EU bedeutsam ist. Es geht dabei um innenpolitische Themen wie Energie, Migrations- und Asylpolitik, Klimawandel und Umweltpolitik, Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit sowie Demographie. Diese haben gleichzeitig eine externe Dimension und sind hoch relevant für die Außenpolitik35. Allerdings sei hervorgehoben, dass fast alle internen Politikbereiche der EU in gewissem Maße externe Dimensionen besitzen, so zum Beispiel Fischerei, Technologietransfer, Transport und Logistik36. Unter Berücksichtigung der oben genannten Charakteristika der EU-Außenpolitik und des auswärtigen Handelns ist die Frage, welche Rolle die Außenpolitiken einzelner Mitgliedstaaten dabei spielen, relevant. Zweifelsohne sind die EU-Außenpolitik und die Außenpolitiken der Mitgliedstaaten eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig37. Laut Art. 24 (3) EUV, „[unterstützen] die Mitgliedstaaten die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität und achten das Handeln der Union in diesem Bereich“38.

Gleichzeitig, im Einklang mit der 13. Erklärung zum Vertrag von Lissabon, sollen die Bestimmungen des EUV bezüglich der GASP/GSVP „weder die [derzeit bestehenden] Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Formulierung und Durchführung ihrer Außenpolitik noch ihre nationale Vertretung in Drittländern und internationalen Organisationen“ beeinflussen39. Dies bedeutet, dass die Mitgliedstaaten, was die Gestaltung ihrer Außenpolitik betrifft, sich selbst überlassen sind. Die konstitutionelle Zusammensetzung eines Mitgliedstaates, Verhältnisse zwischen Regierungschef und Außenminister sowie anderen Regierungsstrukturen zeigen, inwiefern der jeweilige Außenminister, die nationale Regierung und das Parlament eine Rolle im Entscheidungsfindungsprozess im Bereich der Außenpolitik spielen40. Mit Blick auf die EU-Verträge ist allerdings festzuhalten, dass nationale und europäische Ebenen nicht eindeutig voneinander getrennt sind, weil die nationalen Akteure EU-Institutionen angehören und die EU-Politiken in der nationalen Politik und Gesetzgebung reflektiert sind41. So verweist Art. 29 des EUV darauf, dass die Mitgliedstaaten selbst die Verantwortung dafür übernehmen, ihre einzelstaatliche Politik in Einklang mit den EU-Standpunkten zu bringen42. Vor diesem Hintergrund vertreten Delreux und Keukeleire die Meinung, dass die Beziehung zwischen den Außenpolitiken der EU und Mitgliedstaaten nicht unbedingt nur ein Nullsummenspiel sein muss, in dem eine starke EU-Außenpolitik zur Schwächung der Außenpolitik der Mitgliedstaaten führt und umgekehrt43. Sie zeigen in ihrer Untersuchung, dass eine solche Beziehung auch als ein Positivsummenspiel betrachtet werden kann, in dem die europäischen und nationalen Außenpolitiken komplementär angelegt sind und sich gegenseitig stärken44. Zusammenfassend kann man konstatieren, dass die EU-Außenpolitik im Großen und Ganzen die mitgliedstaatliche Kooperation im Bereich der Außenpolitik auf europäischer Ebene und die Gesamtheit der Außenpolitiken der Mitgliedstaaten gegenüber der EU umfasst.

Eine der wichtigsten Fragen bei der Untersuchung der EU-Außenpolitik bleibt allerdings noch offen: Die Akteure, die die EU-Außenpolitik gestalten und realisieren. Im Kapitel V des EUV sowie im fünften Teil des AEUV werden die Kompetenzen der Akteure in verschiedenen Bereichen der EU-Außenpolitik aufgelistet und präzisiert. Zu ihnen gehören:

1. Der Europäische Rat spielt eine Schlüsselrolle bei der Festlegung der strategischen Ziele, den Interessen der EU, den allgemeinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und anderen Bereiche des auswärtigen Handelns der Union unter anderem auch „bei Fragen mit verteidigungspolitischen Bezügen“45.

2. Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik vertritt die EU in der internationalen Arena und ist für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik beziehungsweise für die Durchführung der vom Europäischen Rat und vom Rat der Europäischen Union erlassenen Beschlüsse zuständig46. Das ursprüngliche Ziel dieses Postens war es, zu mehr Kohärenz und Konsens zwischen den Mitgliedstaaten in der Entscheidungsfindung beizutragen und die institutionelle Struktur auf diese Weise zu stärken47. Der Hohe Vertreter trägt im Einklang mit Art. 27 (1) EUV eine Doppelfunktion (sogenannter „Doppelhut“) durch die Kombination von zwei Posten als Vizepräsident der Europäischen Kommission und als Vorsitzender im Rat „Auswärtige Angelegenheiten“, um (zumindest wie ursprünglich vorgesehen) die funktionale Diskretion durch die Kontrolle anderer Kommissare mit externer Dimension für eine optimale Arbeitsweise zu erreichen48. Allerdings hat diese Doppelfunktion zu mehr kontroversen Debatten als positiven Ergebnissen geführt, weil eine starke Überlappung der Kompetenzen schnell offensichtlich wurde. Von daher ist es eine der wichtigsten Aufgaben des Hohen Vertreters, zum EU-Krisenmanagement beizutragen, obwohl der Handlungsraum heutzutage durch eine mangelnde Kooperation mit der Kommission relativ eingeschränkt ist49. Bei der Erfüllung der Aufgaben und der Umsetzung der GASP wird der Hohe Vertreter von einem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD), der diplomatische Beziehungen der EU zur Außenwelt pflegt, unterstützt50.

3. Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) gehört auf der administrativen Ebene zu den institutionellen Repräsentanten der EU nach außen. Der 2011 gegründete diplomatische Dienst ist in administrativer Hinsicht eine Dienststelle sui generis, die aus einzelnen Direktionen der Kommission (DG Relex, DG Development) sowie vom Personal des Generalsekretariates des Rates (DG External, Politico-Military Affairs) und den EU-Delegationen (ehemalige Delegationen der Kommission) zusammengesetzt ist51. Der EAD gehört weder zur Kommission noch zum Generalsekretariat des Rates (ist also weder supranational noch intergouvernemental), aber steht in Verbindung zu den Mitgliedstaaten, muss mit der Kommission kooperieren und ist dem Europäischen Parlament teilweise rechenschaftspflichtig52. Darüber hinaus ist der EAD keine unabhängige Institution, sondern eine „funktional eigenständige Einrichtung“, die dem Hohen Vertreter unterstellt ist und ihn bei der Erfüllung seiner Aufgaben unterstützt53. Im Bereich der Außenbeziehungen unterstützt der EAD außerdem den Präsidenten des Europäischen Rates, den Präsidenten der Kommission und die Kommission54.

4. Der Rat der Europäischen Union ist das zentrale Entscheidungsgremium, das die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik durch die Fassung der für die Festlegung und Durchführung der GASP erforderlichen Beschlüsse auf der Grundlage der vom Europäischen Rat festgelegten Leitlinien gestaltet55. Die Hauptkonstellation des Rates bei Fragen mit außen- und verteidigungspolitischem Bezug umfasst EAD, GASP und GSVP, in deren Rahmen alle Außenminister der Mitgliedstaaten und der Hohe Vertreter zusammen kommen56. Diese Konstellation ist insbesondere bei Konfliktmediationen und Verhandlungen mit Drittstaaten von großer Bedeutung.

5. Die Europäische Kommission definiert, fördert und vertritt das gemeinsame Interesse der EU im auswärtigen Handeln sowie in der externen Dimension interner Politikbereiche und ist diesbezüglich in jede Etappe des Entscheidungsfindungsprozesses involviert57. Insbesondere geht es um internationale Übereinkünfte (Assoziierungs- oder Kooperationsabkommen) und weitere Bereiche gemäß Kapitel V des AEUV wie zum Beispiel Entwicklung und Implementierung langfristiger Strategien bezüglich der Nachbarstaaten oder Anwendung von restriktiven Maßnahmen.

6. Die Zuständigkeit des Europäischen Parlaments im Bereich der EU-Außenpolitik wird vor allem auf die Haushaltsbefugnisse und die Adoption internationaler Übereinkünfte reduziert58. In allen Phasen des Verfahrens bezüglich internationaler Abkommen muss das Europäische Parlament unverzüglich und umfassend unterrichtet werden59. Im Bereich GASP/GSVP muss der Hohe Vertreter die Auffassungen des Parlaments diesbezüglich berücksichtigen und „zweimal jährlich über die Fortschritte bei der Durchführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“60 berichten. Darüber hinaus umfasst das Europäische Parlament den ständigen parlamentarischen Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und dessen Subkomitees für Menschenrechte, Sicherheit und Verteidigung, deren Arbeit signifikant zum Engagement des Parlaments in der EU-Außenpolitik beiträgt61.

Die vorliegende Untersuchung setzt sich mit dem Verhalten der Europäischen Union im Laufe des ukrainisch-russischen Konfliktes im Rahmen mehrerer außenpolitischer Bereiche auseinander. Ausgangspunkt dieser Arbeit ist der vielseitige und facettenreiche Charakter des ukrainisch-russischen Konfliktes, bei dessen Lösung sich mehrere Dimensionen der EU-Außenpolitik überlappen. Mit Blick auf diesen Konflikt sind dabei GASP, Zusammenarbeit mit Drittländern beziehungsweise die Europäische Nachbarschaftspolitik sowie restriktive Maßnahmen von weitergehendem Interesse. Die vorliegende Untersuchung wurde bewusst auf „das auswärtige Handeln der EU“ beschränkt, weil die oben genannten Politikbereiche Bausteine der EU-Außenpolitik im Zusammenhang mit der Lösung des ukrainisch-russischen Konfliktes darstellen. Deswegen wird in dieser Arbeit unter dem auswärtigen Handeln der EU die Gesamtheit der außenpolitisch relevanten Bereiche, die im Zusammenhang mit der Resolution des russisch-ukrainischen Konfliktes stehen und für die Untersuchung des Verhaltens der Europäischen Union im Laufe des Konfliktes bedeutsam sind, verstanden.

2.2 Zur Akteursqualität der EU

Bereits seit den neunziger Jahren ist die Frage nach dem Status der EU als globaler Akteur und ihre Handlungsfähigkeit im Bereich der Außenpolitik Gegenstand stark polarisierter Debatten, in denen immer noch kein klarer Konsens erreicht wurde. Darüber hinaus hat das Verhalten der EU im Zuge einzelner Krisen und Konflikte, wie zum Beispiel im Kosovo oder in Libyen, immer wieder Probleme bei der Determinierung der EU-Rolle in den Außenbeziehungen deutlich gemacht. So wurde die Fähigkeit der EU, in Zeiten akuter Krisen effektiv zu handeln und mit einer Stimme zu sprechen sowie einstimmig innerhalb der GASP zu handeln, in Frage gestellt62.

Es ist unbestritten, dass die EU ein Phänomen ist, welches weder einen Staat noch eine internationale Organisation und damit ein sogenanntes sui generis Regime darstellt63.Es ist daher offen, welche Qualitäten die EU als globaler Akteur besitzt, um Handlungsfähigkeit in der internationalen Arena zu demonstrieren. So sind verschiedene Versuche unternommen worden, die Handlungsfähigkeit der EU zu verstehen, wobei Arbeiten von Sjöstedt (1977), Hill (1993), Jupille und Caporaso (1998), Bretherton und Vogler (2006) das actorness-Konzept (Akteursqualität oder Akteurschaft64) in den Vordergrund gestellt haben.

Im Bereich internationaler Beziehungen existieren zahlreiche Definitionen von actorness auf Basis unterschiedlicher theoretischer Prämissen. Bei der Konzeptualisierung von Akteursqualität spielt das Autonomiekonzept eine Schlüsselrolle. In diesem Zusammenhang handelt es sich nicht nur um das Maß an Autonomie von einem externen Umfeld, sondern auch um die interne Autonomie des Akteurs von seinen eigenen Bestandteilen65. Laut Hill weist die Akteursqualität eine theoretische Perspektive aus, die sowohl eine interne Dynamik institutioneller Entwicklung beziehungsweise der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als auch die kontinuierliche Veränderung im internationalen Umfeld in Betracht zieht66.

Ein internationaler Akteur zu sein bedeutet laut Sjöstedt solche Qualitäten zu besitzen, die ihren Ursprung in seiner Autonomie haben und ihm Handlungsfähigkeit in internationalen Angelegenheiten verleihen67. Sjöstedt weist nach, dass sich die Handlungsfähigkeit eines autonomen Akteurs durch ein gewisses Maß an Kapazität, aktiv und bewusst gegenüber anderen Akteuren im internationalen System zu handeln, charakterisiert68.Dabei müssen drei wichtige Voraussetzungen erfüllt werden.Erstens wird die Autonomie eines Akteurs durch ein gewisses Maß an Abgrenzung von der Außenwelt (separateness) definiert69. Mit anderen Worten – inwiefern kann die EU eigene Entscheidungsfindung betreiben und als autonome Einheit im internationalen System handeln, insbesondere unter Bedingungen von Dringlichkeit und Zeitdruck70? Zweitens sollte ein autonomer Akteur die Fähigkeit besitzen, Interessen zu artikulieren und Ressourcen für gemeinsame Ziele mobilisieren zu können71. Drittens ist die Handlungsfähigkeit unvollständig, wenn es an interner Kohäsion beziehungsweise Integration mangelt, oder gewisse strukturelle Voraussetzungen, wie die Rechtspersönlichkeit und die Fähigkeit mit Drittparteien zu verhandeln, nicht erfüllt sind72. In dieser Hinsicht ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Integration und die Handlungsfähigkeit insofern eng miteinander verbunden sind, als jene Prozesse (wie zum Beispiel Stärkung der zentralen EU-Institutionen), die eine interne Integration fördern, gleichzeitig dazu beitragen, dass die Handlungsfähigkeit eines Akteurs wächst73. Darüber hinaus sehen Bretherton und Vogler die Fähigkeit, effektiv mit Drittparteien zu verhandeln, zusätzlich als wesentliche Voraussetzung für Akteursqualität an74.

Einen der wichtigsten Beiträge zur Konzeptualisierung von Akteursqualität haben Jupille und Caporaso insofern geleistet, als ihre actorness