Buch-Aisthesis -  - kostenlos E-Book

Buch-Aisthesis E-Book

0,0
0,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Literatur kann auch als Verbund von Medien betrachtet werden, die in Kooperations- und Konkurrenzverhältnissen auftreten. Dies wird umso deutlicher, wenn aus literatur- und designwissenschaftlicher Perspektive auf die Beobachtung der Differenz von typographischen und anderen, grundsätzlich nonverbalen visuellen Daten abgestellt wird. Die Beiträger*innen des Bandes leiten daraus ein Verhältnis von Literatur- und Kunstwissenschaft zu ihren Gegenständen ab, das nicht zuletzt zu einer neuen Aufmerksamkeit für die skripturale und typographische Materialität und Medialität der Literatur führt. Dabei geht es um die Theorie der Reflexion und die Praxis der Erzeugung einer je spezifischen Buch-Ästhetik.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 378

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie mit Mitteln der Open Library Community Medienwissenschaft 2022 im Open Access bereitgestellt.

Die Open Library Community Medienwissenschaft 2022 ist ein Netzwerk wissenschaftlicher Bibliotheken zur Förderung von Open Access in den Sozial- und Geisteswissenschaften:

Vollsponsoren: Humboldt-Universität zu Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz | Technische Universität Berlin / Universitätsbibliothek | Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum | Universitäts- und Landesbibliothek Bonn | Staats- und Universitätsbibliothek Bremen | Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt | Sächsische Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB Dresden) | Universitätsbibliothek Duisburg-Essen | Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf | Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main | Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Universitätsbibliothek | Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen | Universitätsbibliothek der FernUniversität in Hagen | Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek | Karlsruher Institut für Technologie (KIT) – KIT-Bibliothek | Universitätsbibliothek Kassel | Universitätsbibliothek in Landau | Universität zu Köln, Universitäts- und Stadtbibliothek | Universitätsbibliothek Leipzig | Universitätsbibliothek Mannheim | Universitätsbibliothek Marburg | Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München | Fachhochschule Münster | Universitäts- und Landesbibliothek Münster | Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg | Universitätsbibliothek Siegen | Universitätsbibliothek Vechta | Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar | Jade Hochschule Wilhelmshaven/Oldenburg/Elsfleth | Zürcher Hochschule der Künste | Zentralbibliothek Zürich

Sponsoring Light: Universität der Künste – Universitätsbibliothek | Freie Universität Berlin | Fachhochschule Bielefeld, Hochschulbibliothek | Hochschule für Bildende Künste Braunschweig | Fachhochschule Dortmund, Hochschulbibliothek | Technische Universität Dortmund / Universitätsbibliothek | Bibliothek der Pädagogischen Hochschule Freiburg | Hochschule Hannover – Bibliothek | Landesbibliothek Oldenburg | Akademie der bildenden Künste Wien, Universitätsbibliothek | ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte

Wissenschaften, Hochschulbibliothek

Mikrosponsoring: Filmmuseum Düsseldorf | Bibliothek der Theologischen Hochschule Friedensau | Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater Hamburg | Hochschule Hamm-Lippstadt | Bibliothek der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover | ZKM Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe Bibliothek | Hochschule Fresenius | Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF – Universitätsbibliothek | Bibliothek der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt (FHWS)

Mediale Produktionen und gestalterische Diskurse bilden ein vehement zu beforschendes ästhetisches Dispositiv: Medien nehmen nicht nur wahr, sondern werden selbst wahrgenommen und wahrnehmbar(er) – insbesondere durch die Grundkonstellationen ihrer oft technischen Artefakte und der diesen voran gehenden Entwürfe, mithin vor der Folie des dabei entstehenden Designs. Die Reihe MEDIEN- UND GESTALTUNGSÄSTHETIK versammelt dazu sowohl theoretische Arbeiten als auch historische Rekapitulationen und prognostizierende Essays.

Die Reihe wird herausgegeben von Oliver Ruf.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird.

(Lizenz-Text: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld

© Christopher Busch, Oliver Ruf (Hg.)

Umschlagkonzept: Natalie Herrmann, Theresa Annika Kiefer, Lena Sauerborn, Elisa Siedler, Meyrem Yücel

Designkonzeption & Umschlagabbildung: Andreas Sieß

Gestaltung & Satz: Andreas Sieß

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

ISBN Print: 978-3-8376-6108-8

ISBN PDF: 978-3-8394-6108-2

ISBN EPUB: 978-3-7328-6108-8

Buchreihen-ISSN: 2569-1767

Buchreihen-eISSN: 2703-0849

DOI: https://doi.org/10.14361/9783839461082

Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

 

VorwortPhilologie und Design: Aspekte gegenwärtiger Buch-Aisthesis

Oliver RufBuch-DiskurseFür eine ästhetische Praxeologie

Johanna DruckerMeta-BibliographyThinking in the Book Format

Daniel FleusterBuch-Text-Relationen und sekundäre SemantisierungMediensemiotische Überlegungen zu Buchästhetik

Charlotte CochTraduttore traditoreZur komparativen ›Verbuchung‹ der Vorlesung

Tímea MészárosThe book as framing device in exploration gamesMyst (1993) and What Remains of Edith Finch (2017)

Aleksandra VujadinovicKanonisierende ÄsthetikTheorie im Taschenbuchformat

Moritz Ahrens / Leonard KeidelBuch-Ästhetik als VermittlungsleistungÜber Kollaboration in der Editionstypographie

Gabriele WixMixing Oil and Water – Paratext und TextZur Inkorporation selbständiger Publikationen in eine Werkausgabe, hier: Thomas Kling, Werke in vier Bänden

Vanessa BrieseHandliche MusikZur Ästhetik der Sonderformatreihe KiWi Musikbibliothek

Boris Kochan / Ulrich Müller / Gabriele WernerGedanke wird KörperÜber Büchermachen und Büchermacher, über Typographie, Prozesse und Aufschlagverhalten

Ulrike StoltzboundlessNavigieren in der Unsicherheit

Christopher Busch / Oliver RufHerr Forssman, wie machen Sie Bücher?Ein Praxisgespräch

Beiträger·innen

Vorwort

Philologie und Design: Aspekte gegenwärtiger Buch-Aisthesis

»Das Leben ahmt immer nur das Buch nach […].«

Roland Barthes: La mort de l’auteur (1967)

Die vorliegenden Studien und Essays widmen sich einem Phänomen, das Jacques Derrida in einem Vortrag aus dem Jahr 1997, 30 Jahre nachdem er unter dem Namen der Grammatologie den »Untergang«1 des Buchmediums heraufdämmern sah, als livre à venir, als das ›kommende Buch‹ bezeichnet hat.2 Den Problemkern von Derridas Ausführungen bilden die Herausforderungen des so genannten digitalen Zeitalters, das vordergründig die Epoche des Buches zu beenden scheint. Das Buch wird dabei als materiale Form unterschieden von der Schrift, den Mechanismen der Reproduktion, dem literarischen oder wissenschaftlichen Werk und den Trägermedien Rolle, Kodex und Digitalisat. Vor allem mit Blick auf letztere konturiert Derrida das Buch als komplexe und vielgestaltige Form, in dessen Zentrum er eine Doppelbewegung von Zerstreuung und Versammlung realisiert sieht. Als Modell dient ihm Stéphane Mallarmés Gedichtbuch und locus classicus der visuellen Poesie, Un coup de dés, und dessen Kommentierung durch Maurice Blanchot, der die Auffassung vertritt, dass Mallarmés Text-Typographie die für die Form ›Buch‹ typische Dialektik von Zerstreuung und Versammlung hervortreibt. Mit Blick auf die Möglichkeiten der neuen Medien schreibt Derrida: »Es ist nicht sicher, daß die Einheit und die Identität des ›Buch‹ genannten Dings mit diesen neuen Teletechnologien inkompatibel sind. Dies ist sogar genau das, worüber wir debattieren müssen.«3 Dabei hilft ihm eine genauere Bestimmung der Bedeutungsdimensionen des Partizip Präsens ›kommend‹:

[W]omit wir es hier immer zu tun haben werden, sind nicht Ersetzungen (remplacements), die dem, an dessen Stelle sie sich setzen, ein Ende setzen, sondern […] Restrukturierungen, bei denen die älteste Form überlebt, ja sogar endlos überlebt, mit der neuen Form koexistiert und mit einer neuen Ökonomie Kompromisse schließt – die auch ein Kalkül des Marktes sowie ein Kalkül der Lagerung, des Kapitals und des Vorrats oder der Reserve ist.4

Betrachtet man demnach das Buch grundsätzlich als ›restrukturierten‹ Medienverbund, dann mag auffallen, dass die hier enggeführten Medien sowohl in Kooperations- als auch in Konkurrenzverhältnisse treten können. Dies wird umso deutlicher, wenn man aus literatur- und designwissenschaftlicher Perspektive auf die Beobachtung der Differenz von typographischen und anderen, grundsätzlich nonverbalen visuellen Daten abstellt. Ein Gründungsdokument der (hier: komparatistischen) Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg von 1948 lässt daran wenig Zweifel:

Mit der Literatur aller Zeiten und Völker kann ich eine unmittelbare, intime, ausfüllende Liebesbeziehung haben, mit der Kunst nicht. Kunstwerke muß ich in Museen aufsuchen. Das Buch ist um vieles realer als das Bild. Hier liegt ein Seinsverhältnis vor und die reale Teilhabe an einem geistigen Sein. Eine ontologische Philosophie würde das vertiefen können. Ein Buch ist, abgesehen von allem anderen, ein ›Text‹. Man versteht ihn oder versteht ihn nicht. Er enthält vielleicht ›schwierige‹ Stellen. Man braucht eine Technik, um sie aufzuschließen. Sie heißt Philologie. Da die Literaturwissenschaft es mit Texten zu tun hat, ist sie ohne Philologie hilflos. Keine Intuition und keine Wesensschau kann diesen Mangel ersetzen. Die ›Kunstwissenschaft‹ hat es leichter. Sie arbeitet mit Bildern – und Lichtbildern. Da gibt es nichts Unverständliches. Pindars Gedichte zu verstehen, kostet Kopfzerbrechen; der Parthenonfries nicht. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen Dante und den Kathedralen usw. Die Bilderwissenschaft ist mühelos, verglichen mit der Bücherwissenschaft.5

Für diese, einigen Konkurrenzdruck ausagierende und in weiten Teilen schon um die Mitte des Jahrhunderts unzutreffende Beschreibung des Verhältnisses von Literatur- und Kunstwissenschaft zu ihren Gegenständen (man denke etwa an die Arbeiten Aby Warburgs), ist Ernst Robert Curtius häufig gescholten worden.6 Und das nicht nur von Kunstwissenschaftler·innen; auch die Literaturwissenschaften mögen mittlerweile erkannt haben, dass von allem anderen abzusehen mitunter den Ertrag philologischer Forschung schmälern dürfte: So ließen sich zumindest in aller Kürze die Ergebnisse einer längst ins Stadium differenzierter Unübersichtlichkeit eingetretenen Forschung zusammenfassen, die erfolgreich mit Gérard Genettes Konzept der Paratextualität arbeiten. So lassen sich zudem ferner eine Reihe von Forschungsbeiträgen zusammenfassen, die in den vergangenen Jahren die skripturale und typographische Materialität und Medialität der Literatur ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt und sich dabei gerade auch den vielgestaltigen Formen buchmedialer Visualität gewidmet haben. Aufschlussreich ist Curtius’ Invektive aus heutiger Sicht also vor allem darum, weil sie, gegen den Strich gelesen, Arbeitsfelder einer Kooperation von Literatur-, Kunst- und Designwissenschaft überhaupt erst zu markieren hilft. Hier ginge es dann um die Beschreibung einer Differenzeinheit der ›Seinsverhältnisse‹ von Bild und Lichtbild, von Cover und typographischem Text, von designerischer Entscheidung im Vorfeld und während der Publikation: Es ginge mithin um die Praxis der Erzeugung der remplacements, der ›Restrukturierungen‹ von physischen Büchern, aber auch von e-Books und weiteren digitalen Resultaten. Die hier versammelten Aufsätze und Essays sind demnach als Wiederaufnahme und Weiterführung der Überlegungen Derridas – und Curtius’ – zu verstehen. In Derridas Vortrag über das kommende Buch heißt es: »[W]enn es eine Zukunft (futur) hat, [wird] das zukünftige beziehungsweise kommende (à venir) Buch nicht mehr sein […], was es gewesen ist.«7 Wir, die wir in dem leben, was Derrida noch Zukunft nennen musste, wissen es und sehen es allenthalben: das Buch ist nicht verschwunden. Was aber ist das Buch heute?

Insofern der vorliegende Band Perspektiven auf das Phänomen versammelt und dabei einerseits Literaturwissenschaftler·innen, Kunst-, Design- und Medienwisssenschaftler·innen sowie andererseits Praktiker·innen der Herstellung wie der Gestaltung buchmedialer Artefakte zu Wort kommen lässt, orientiert er sich an der praxistheoretischen Annahme, dass die Erzeugung des buchmedialen Artefakts als ›Grenzobjekt‹ konzipiert werden muss. In einer ›Kooperation ohne Konsens‹ (Susan Leigh Star)8 sind die Akteur·innen an der Erzeugung der Aisthesis des Objekts beteiligt und materialisieren dergestalt die Form der Literatur. Damit billigen sie dem Phänomen des Buches und dessen Aisthesis eine Dimension zu, die sich als rhetorisch beschreiben ließe. Die spezifische mediale Visualität des Buches will überzeugen, indem sie ein Statement abgibt, das immer auch als Gegenwartskommentar aufgefasst werden kann. Zumindest implizit exemplifizieren die vorliegenden Aufsätze und Essays damit eine zentrale gestalterische Prämisse, die Richard Buchanan auf die Formel ›Declaration by Design‹ gebracht hat:

Design ist eine Disziplin des Denkens, die sich die Überzeugungskraft von Objekten zu Nutzen macht, um praktisches Handeln zu beeinflussen. Deshalb geht es im Design stets auch um den lebendigen Ausdruck konkurrierender Vorstellungen über das soziale Leben.9

Das Buch der Gegenwart, das für Derrida ein Buch der Zukunft war und für Curtius bereits vermutlich weniger bilder- und sicher weniger gestaltungsfern war, als er das wahrhaben wollte, ist demnach nur im Modus der Arbeitsteilung zwischen Literaturwissenschaftler·innen, Theoretiker·innen und Praktiker·innen des Designs rekonstruierbar. Ihre Kooperation ohne Konsens macht die Konkurrenz der Imaginationen des sozialen Lebens allererst lesbar.

Dieser Band verdankt sich, das ist bereits mehrfach angeklungen, einer fruchtbaren Kooperation von Wissenschaft und Praxis, in dessen Spannungsfeld sich die hiermit präsentierten Überlegungen insgesamt situieren. Allen Beiträger·innen sei für die Bereitschaft gedankt, sich diesem Verhältnis zu widmen, es mithin weder abzulehnen noch zu verabsolutieren, sondern als offene Frage gegenwärtig zu halten. Besonders bedanken möchten wir uns bei Friedrich Forssman für seine Bereitschaft, uns in einem Interview zu Fragen des Buchdesigns Rede und Antwort zu stehen. Für Lektorat, Redaktion und Buchrealisierung danken wir überdies Sophia Ben Brahim, Aleksandra Vujadinovic und Andreas Sieß. Der hiermit vorgelegte Sammelband ist dabei aus einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen der Juniorprofessur Gegenwartsliteraturforschung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie der Forschungsprofessur Ästhetik der Kommunikation im Rahmen des von der VolkwagenStiftung geförderten Rhine Ruhr Centers for Science Communication Research (RRC) an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg hervorgegangen.

Bonn, im Sommer 2022

Christopher Busch & Oliver Ruf

1Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974 [1967], S. 35.

2Siehe dazu auch den Beitrag von Oliver Ruf im vorliegenden Band.

3Jacques Derrida: »Das kommende Buch «[2001]. In: Ders.: Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten. Übers. v. Markus Sedlaczek. Wien: Passagen, 2006, S. 17–33, hier S. 17f.

4Ebd., S. 22f.

5Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Aufl. Tübingen u. Basel: Francke, 1993 [1948], S. 24.

6Vgl. bündig hierzu Bredekamps Äußerung im Interview mit Jost Philipp Klenner: »Der Marburger Bildersturm. Ein Gespräch mit Horst Bredekamp«. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 6.2 (2012), S. 91–104, hier S. 94.

7Derrida: »Das kommende Buch«, S. 23.

8Siehe dazu Sebastian Gießmann u. Nadine Taha (Hg.): Susan Leigh Star.Grenzobjekte und Medienforschung. Bielefeld: transcript, 2017.

9Richard Buchanan: »Declaration by Design. Rhetorik, Argument und Darstellung in der Designpraxis« [1985]. In: Gesche Joost u. Arne Scheuermann (Hg.): Design als Rhetorik. Grundlagen, Positionen, Fallstudien. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2008, S. 49–79, hier S. 54.

Oliver Ruf

Buch-Diskurse

Für eine ästhetische Praxeologie

»Diesen Leser muß ich erst suchen, (ich muß ihn ›anbaggern‹), ohne daß ich wüßte, wo er ist.«

Roland Barthes, Die Lust am Text (1973)

1Das Ästhetische des Buches

Die ästhetische Erscheinungsweise der Literatur und ihr genuin mediales Wesen kulminieren im Phänomen des Buches, das in der ihm eigenen Materialität und Visualität bestimmte Wahrnehmungen evoziert. Dessen Inhalt, der literarische Text, korrespondiert mithin, so der Ausgangspunkt meiner Beobachtungen,1 mit der eigentlichen Buchgestaltung.2 Man könnte sagen: In spezifischen Fällen beeinflussen und beflügeln sich diese Konstellationen und bringen oftmals auch neue literarische bzw. buchästhetische Formen hervor, die sich gleichsam auf der Schwelle verschiedener Gattungen und Epochen befinden sowie diese unter Umständen stark motivieren. Dies betrifft sowohl Bilderbücher der KJL als auch illustrierte Künstlerbücher und -kataloge, Werke der Vormoderne ebenso wie Comics oder Graphic Novels und dann, so der Fokus, auch theoretische Arbeiten, etwa Jacques Derridas geradezu legendäres Buch Glas (auf das eingehend analytisch zurückgekommen werden wird).3 Die folgenden Überlegungen werden sich vor dem Hintergrund dieses Befundes dem Thema aus einer praxeologischen4 Perspektive annehmen und erkunden, was damit gemeint ist, von einer solchen ›Buchästhetik‹ zu sprechen. Dazu wird neben der Auseinandersetzung mit entsprechenden literatur- bzw. buchwissenschaftlichen Ansätzen zunächst vor allem auch die Betrachtung medien- und designwissenschaftlicher Zuschreibungen im Vordergrund stehen. Im Anschluss soll es dann projektiv und forschungsgerichtet darum gehen, Erkenntnisse gleichsam für die ästhetische Durchdringung der fokussierten Schrift-Medien in ihrer Funktion zu rekonstruieren und kontrastiv zu diskutieren sowie deren Anwendungs- und Umsetzungscharakter zu reflektieren. Abgezielt werden soll somit auf ästhetische Anwendungsfälle, auf deren paratextuelle Rahmung und auf eine Verhandlung, die die Frage aufwirft, was der materiell-visuelle Umgang mit Büchern und ihren Gestaltungen letztendlich auch für weitere Implikationen, Strukturen und Systeme bedeutet.5

Die jüngere grundständige wie angewandte Forschung hat sich dabei mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen bereits eingehender mit dem damit anvisierten Komplex auseinander gesetzt. So ist insbesondere die Reihe Ästhetik des Buches, die im Wallstein-Verlag Göttingen erscheint, zu erwähnen, die wichtige Arbeiten wie etwa diejenige von Carlos Spoerhase zu den drei Dimensionen des Buches ›Linie‹, ›Fläche‹ und ›Raum‹, von Hans Rudolf Bosshard zu dem ebenso zu erwähnenden Wägbarkeiten und Unwägbarkeiten des Buchgestaltens oder jene Bemerkungen von Friedrich Forssman, Uwe Jochum, Roland Reuß (über die Ergonomie des Buches), Hans Andree (über Schrift- und Typografiegeschichte) sowie von Walter Pamminger über Konzeptionelles Buchgestalten und von Klaus Detjen über die Formensprache von Buchumschlägen versammeln.6 Diese buchstäblich auf den Punkt kommenden Beiträge zu einem Forschungsdispositiv der Buchästhetik sind in einem Diskurs situiert, der das ›Buch‹7 als eigenständiges Artefakt privilegiert und, um einen älteren Aufsatztitel von Uwe Jochum zu verwenden, eine Literaturgeschichte des gedruckten Buches schreibt.8 1981 hat Hans Magnus Enzensberger von demBrot und der Schrift gesprochen und damit vehement kritisiert, dass die Kunst des, wie Jost Hochuli es formuliert, ›Büchermachens‹9 einen Bedeutungsverlust erleidet:

Ein Verlust ist zur Kenntnis zu nehmen, zu ermessen, und, wenn möglich, zu verschmerzen: der Verlust einer Kunst. Ich gebrauche dieses Wort in einer Bedeutung, die ihrerseits verlorengegangen ist; so, wie die Aufklärung es in den Mund genommen hat. Diderots und d’Alemberts große Encyclopedie handelte in diesem Sinn von den ›arts et métiers‹, und noch der Brockhaus von 1848 spricht von der ›Buchdruckerkunst‹, von der er sagt, sie nehme ›unter den Erfindungen des menschlichen Geistes, durch den Einfluß, welchen sie auf die Cultur und die Fortschritte der Menschheit ausgeübt hat, eine der höchsten Stellen ein‹. Daß die Schwarze Kunst der Schriftgießer, Setzer und Drucker diesen Rang, den sie in Europa seit dem Spätmittelalter einnahm, heute zu verlieren droht, wenn sie ihn nicht schon eingebüßt hat, ist eine höhnische Konsequenz eben jener Fortschritte, die sie von Anfang an zu befördern suchte. [...] Mit dem sich abzeichnenden Ende der graphischen Künste, so wie wir sie kennen, steht aber mehr auf dem Spiel als die unmittelbaren Interessen eines Berufes. [...] Und ich sehe auf den ersten Blick, daß sich für jeden, der schreibt und liest, ein Desaster abzeichnet: [...] Ihre gemeinsame Logik ist die Zerstörung der Sinnlichkeit. Die Mannigfaltigkeit und Subtilität der überlieferten Formen soll abgeschafft, jede Rücksicht auf die menschliche Wahrnehmung soll vernichtet werden: das ist das heimliche Ideal dieser Rationalisierungsprozesse; und in manchen Produkten ist es bereits fast erreicht worden.10

Im Übrigen hat Martin Enzensberger, der Bruder von Hans Magnus Enzensberger, wie folgt geantwortet:

Gewiß hat die Vorstellung davon, daß da einer in der Werkstatt steht und sorgfältig viele Einzelteile zum sinnreichen Ganzen zusammenfügt, etwas Bestechendes. Aber der Verlust, den Hans Magnus im Jahr 1981 so kummervoll beklagt, ist nicht erst heute eingetreten, der Begriff der Entfremdung stammt bekanntlich aus dem 19. Jahrhundert. Ich respektiere, teile sogar die Trauer über das Entschwundene, kann aber die Behauptung nicht ohne Widerrede hinnehmen, ›der industrielle Fortschritt geht an unsere physische und psychische Substanz‹. Die Menschheit hat derartige Verluste seit Beginn der Aufklärung laufend hingenommen, verkraftet, verarbeitet und sogar zum Besseren für die bis dahin Verdammten dieser Erde gewendet. [...] Ist es wirklich so schwer zu verstehen, daß die maschinelle Herstellung eine Veränderung dessen bewirken muß, was man früher unter ›Qualität‹ verstand? Daß Handarbeit in der Massengesellschaft notwendigerweise zum Luxus wird? Daß Serienproduktion Uniformität mit sich bringt?11

Zwischen den Perspektiven und Polen der beiden Brüder Enzensberger offenbart sich das Dilemma, das die Rede über Erscheinungen der Buchästhetik als Exemplifikationen einer bestimmten Designästhetik12 offenbart: Der Mensch und seine Zeichen, die Adrian Frutiger für die Kunst der Typographie in Anschlag gebracht hat,13 verweisen in der Form ›Buch‹ auf die Problematik zwischen künstlerisch-gestalterischem Anspruch und den Möglichkeitsdimensionen der Umsetzbarkeit. Die Frage, die sich damit stellt, bleibt jedoch zunächst eine Frage der Erschließung; diese lautet: Inwiefern handelt es sich bei derartigen Phänomenen, die diesen Spreizschritt seit jeher wagen (müssen), um ästhetische Erscheinungen,14 und zwar so, dass der ihnen denn auch gerecht werdenden Unsicherheit Genüge getan wird? Zur Annäherung an eine Antwortmöglicheit sind die nachfolgenden Bemerkungen in mehrere Teile gegliedert: Nach dieser Einleitung, in der der Forschungsgegenstand pointiert angesprochen werden sollte, werde ich in einem ersten Schritt versuchen, die theoretischen Diskurse, die das Thema – der Ästhetisierung wie des Ästhetischen – umgeben, zu sondieren und auf zentrale Begriffe zu zentrieren, die es ansatzweise zu erläutern gilt. Dann biete ich Deutungen dieser theoretischen Positionen und Phänomene, die das Thema vertiefen und im besten Fall weiter erhellen, und zwar am Beispiel der kurzen Analyse der Gestaltung jenes theoretischen Buches, von dem bereits die Rede war, und der es umgebenden buchtheoretischen Aussagen. Schließlich möchte ich wenigstens ansprechen, die Praxis immer mit zu berücksichtigen und dazu Hinweise aus einer angewandten Buchgestaltungsforschung punktieren. Insgesamt ist es mein Anliegen, auf diese Weise einer (buch-)ästhetischen Erfahrung Ausdruck zu verleihen, die Produktion und Rezeption im Artefakt des Buches selbst zentriert, wohlwissend, dass sich damit noch immer abgewendet werden kann von einer Betrachtung »ruhender Gegenstände« – »hin zu den Prozessen der Aneignung, Beurteilung Verwendung und Veränderung, die sich auf diese Gegenstände richten«,15 und dies jenseits wie diesseits von Werken ›der Kunst‹.

2Die Ästhetisierung des Buches

Zu konstatieren ist zunächst, dass die oben aufgeworfene Frage, »welcher Stellenwert ästhetischen Praktiken und Prozessen der Ästhetisierung in der westlichen Gegenwartsgesellschaft« – grundsätzlich – »zukommt und zukommen sollte«, »aktuell ein gesteigertes Interesse auf sich« zieht: »Problemstellungen der Ästhetik sind längst kein randständiges Thema mehr, sondern im Zentrum der internationalen Sozial- und Kulturwissenschaften angekommen.«16 In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die Diskussion sich längst nicht allein auf die Materialitäts-Frage bezieht, die das Ästhetische bedingt und umgekehrt, sondern dass auch immaterielle Formen in den Blick geraten und dabei auch jene »Digitalisierung der Medien« – einmal mehr – in den Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses rückt, »die eine tiefgreifende Transformation von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen bewirkt« und ein weiterer Ausweis für die »Expansion des Ästhetischen über das [engere] künstlerische Feld hinaus« darstellt;17 ich komme darauf am Ende noch einmal in aller Kürze zurück. Mit Andreas Reckwitz können auch hier »ästhetische Praktiken allgemein als Aktivitäten« aufgefasst werden, »in denen Sinne, Affekte und Interpretationen selbstreferenziell werden und sich von der Unterordnung unter zweckrationales oder normatives Handeln lösen«.18 Der Diskurs des (auch) Buchästhetischen vibriert mithin regelrecht zwischen den so aufgerufenen Positionen, die auf der einen Seite das »Ästhetische[] in Form von Kunstwerken«19 adressieren und auf der anderen Seite eine Vielzahl »nicht-künstlerischer Gegenstände« lokalisieren, »die mit den an Kunstwerken gemachten [Erfahrungen] hinreichend viel gemeinsam haben«: »Design, Mode, Körpertechniken, Medien […]«.20 Deren ›subjektivierende Schönheit‹ (i.S.v. Gadamer) oder deren ›schönes Denken‹ (i.S.v. Baumgarten)21 können dazu konfrontiert werden mit spezifischen Formen »des Umgangs mit Objekten, Situationen, Personen überhaupt«: »Ästhetische Erfahrung erscheint als eine Weise, sich in der Welt zu orientieren.«22 Dieser Diskurs läuft letztendlich darauf hinaus, den Komplex ›Ästhetik/ästhetisch‹23 nicht allein an subjektive, in einem Subjekt verortete Ereignisse anzubinden, sondern ihn als Beiträge zu einer »Praxis« zu verstehen, »in der Subjekt und Objekt zusammengeschlossen sind.«24

Festzuhalten bliebe, um sich zu versichern, was die Blickrichtung ist, der hier auf ›das Buch‹ als Phänomen geworfen wird: Der Denkweg des Ästhetischen ist so beschaffen, dass ›das Ästhetische‹ »in der Moderne« als ubiquitär anerkannt ist, eine Diagnose, die »gängigerweise unter dem Begriff der ›Ästhetisierung‹ gefasst« wird; »[a]us »dieser Perspektive lässt sich«, wiederholt gesagt, »das Ästhetische nicht auf die Künste oder bestimmte Subkulturen einschränken, es erfährt vielmehr in der Moderne eine radikale Entgrenzung und soziale Diffusion«: »Die Lebensstile, die Ökonomie, ihre Formen der Arbeit und des Konsums, die modernen Medientechnologien, der Städtebau, die persönlichen Beziehungen, die Kultur des Selbst und des Körpers sowie teilweise auch das Politische und die Wissenschaften werden zum Gegenstand von Prozessen der Ästhetisierung.«25 Dessen Praktiken umfassen schließlich »sinnliche Wahrnehmungen« ebenso wie »affektive Gestimmtheit, leibliches Erleben, ein[en] offene[n] Umgang mit Interpretationen und ihren Mehrdeutigkeiten«;26 sie können zwar als ›verunreinige‹ bzw. gesteigert: als ›entästhetisierende‹ Praktiken aufgefasst werden27 und es kann sich darüber mokiert werden, dass dann nicht mehr disziplinär eindeutig verortete Wissenschaftler·innen über damit ausgewiesene »Medienereignisse oder Aufschreibtechniken«28 forschen; es kann aber ebenfalls, wie es hier versucht werden soll, das besondere Potential unterstrichen werden, dass sich hinter diesem Vorgehen, eine Ästhetisierung des Buches praxeologisch voran zu treiben, verbirgt. Exemplarisch hat Florian Coulmas diese diskursive Problematik für die Erforschung eines wesentlichen Elementes ›des Buches‹ – d.h. ›der Schrift‹29 – herausgestellt:

Keine wissenschaftliche Disziplin kommt ohne sie als Instrument aus, und darüber hinaus ist sie ein so selbstverständlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens, so prägend für die gesamte Kultur, daß die Frage, welche Wissenschaft für Schrift als Gegenstand zuständig ist, unerwartete Schwierigkeiten bereitet. Eine Reihe von Disziplinen befassen sich mit Schrift nicht um ihrer selbst willen, sondern im Interesse eines anderen nur über sie zugänglichen Gegenstandes. Für den Historiker [sic!] sind Schriften mit abgebrochenen Traditionen Dokumente, die durch eine spezielle Art der Schriftverarbeitung zugänglich zu machen sind, die Entzifferung. Die Botschaft aus der Vergangenheit zu entschlüsseln, verlangt dabei ähnliche Methoden, wie sie der Nachrichtentechniker [sic!] benutzt, der einen Kode knackt. De- und Enkodierungssysteme und speziell Schriften zu entwickeln, ist eine vielschichtige Aufgabe, die sowohl die Datenverarbeitung betrifft als auch die Typographie, die Ästhetik ebenso wie die Wahrnehmungs- und Kognitionspsychologie, die Ethnologie ebenso wie die Pädagogik oder die Politik. Daß Philologie und Linguistik unmittelbar an Schrift interessiert sind oder sein müßten, liegt auf der Hand. Die Anliegen der einzelnen Disziplinen im Zusammenhang mit Schrift sind verschieden, die Probleme teilweise ähnlich. Sie sind jedoch so vielfältig, daß sie in keiner Disziplin erschöpfend behandelt werden können.30

Wenn hier, d.h. in einer Arbeit zur Bedeutung der ›Schrift‹, die vor über 40 Jahren zum ersten Mal publiziert worden ist, Derrida als Bezugsgröße in Anschlag gebracht wird, dann hat dies einerseits sicherlich zeitgenössische Diskursgründe; andererseits ist damit aber ebenfalls die Diskursbedeutung Derridas auch für diesen Kontext bezeichnet, was vielleicht daran liegt, dass der Sinn seiner Abhandlung dem Thema eine andere Bedeutung verleiht, dass damit das Thema nicht nur anders angeregt, sondern überhaupt erregt wird – dass so ein (kritisches) buchästhetisches Denken anders einsetzt: »Eine Grammatologie gibt es nicht und wird es nicht geben. Der Titel von Derridas bekanntem Buch steht nicht für eine Disziplin, sondern für eine philosophiegeschichtliche Perspektive, die originell ist, weil sie zum ersten Mal der Schrift der ihrer Bedeutung für die abendländische Kultur entsprechende Reverenz erweist.«31 In den Diskussionen, die Derrida über das ›Buch‹ und die ›Schrift‹ vorgelegt hat, tritt eine Operation in Kraft, die jedoch zunächst den ›Text‹ als Begriff der ›Schrift‹ vom Buch als »Schriftenband« abgrenzt; verabschiedet wird dazu die Einheit (Totalität) des ›Buches‹ zu Gunsten einer Nobilitierung der Unendlichkeit des ›Textes‹ schlechthin. »Die gute Schrift ist also immer schon begriffen«, heißt es in Kapitel 1 von De laGrammatologie u.d.T. Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift, »[b]egriffen also innerhalb einer Totalität«:

Die Idee des Buches ist die Idee einer endlichen oder unendlichen Totalität des Signifikanten; diese Totalität kann eine Totalität nur sein, wenn vor ihr eine schon konstituierte Totalität des Signifikats besteht, die deren Einschreibung und deren Zeichen überwacht und die als ideale von ihr unabhängig ist. Die Idee des Buches, die immer auf eine natürliche Totalität verweist, ist dem Sinn der Schrift zutiefst fremd. […] Wenn wir den Text vom Buch abheben, dann wollen wir damit sagen, daß der Untergang des Buches, wie er sich heute in allen Bereichen ankündigt, die Oberfläche des Textes bloßlegt. Diese notwendige Gewalt ist die Antwort auf eine Gewalt, die nicht weniger notwendig war.32

Auf der einen Seite ist das der spezielle derridianische Diskurs, der im weiteren Verlauf dieser Argumentation zur tiefprägenden Formulierung von dem führt, was er »die *Differenz (différance)« nennen wird:

Dieser […] Begriff bezeichnet die Produktion des Differierens im doppelten Sinne dieses Wortes [différer – aufschieben / (von einander) verschieden sein]. […] Die *Differenz (différance) schlechthin wäre zwar ›ursprünglicher‹, doch könnte man sie nicht mehr »Ursprung« und auch nicht »Grund« nennen. […] Der Weg über die gestrichene Bestimmung und die Notwendigkeit dieses schriftlichen Kunstgriffs sind irreduzibel. Auf diesem diskreten und schwierigen Gedanken sollte, durch so viele unbemerkte Vermittlungen hindurch, das ganze Gewicht unserer Frage lasten, einer Frage, die wir vorläufig noch eine historische (historiale) nennen. Mit ihrer Hilfe werden wir später versuchen können, die *Differenz und die Schrift miteinander in Verbindung zu bringen.33

Auf der anderen Seite handelt es sich um den näheren Diskurs der Dekonstruktion,34 die danach strebt, eine Formalisierung herbeizuführen:

Die Bewegungen dieser Dekonstruktion rühren nicht von außen an die Strukturen. Sie sind nur möglich und wirksam, können nur etwas ausrichten, indem sie diese Strukturen bewohnen; sie in bestimmter Weise bewohnen, denn man wohnt beständig und um so sicherer, je weniger Zweifel aufkommen. Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen, sich ihrer strukturell zu bedienen, da[s] heißt, ohne Atome und Elemente von ihr absondern zu können. Die Dekonstruktion wird immer auf bestimmte Weise durch ihre eigene Arbeit vorangetrieben. Einer, der dieselbe Arbeit an einer anderen Stelle derselben Behausung begonnen hat, unterläßt es nicht, mit Nachdruck darauf hinzuweisen. Es müßte also möglich sein, die Regeln dieser heute so verbreiteten Arbeit zu formalisieren.35

Der formalisierende Diskurs36 leitet schließlich, so der vorliegende Vorschlag, aber doch auch (etwas) weg von einer Philosophie der Schrift (ihrerseits ›als Buch‹),37 wie es Derrida überaus klug und hinreichend einflussreich,38 zugleich nicht weniger strittig, vorgelegt hat, hin zu einer dekonstruktivistisch wenigstens grundierten Ästhetisierung des Buches; bei ihr geht es nicht so sehr darum, »von einem Buchstaben« zu sprechen, nicht von dem »Buchstaben a, von jenem ersten Buchstaben, den hier und da in der Schreibung des Wortes différenceeinzuführen notwendig scheinen konnte«,39 sondern vielmehr zu fragen, ob sich sinnlich-körperliche und technisch-apparative Praktiken mit dem ästhetischen Artefakt ›Buch‹ – durchaus auch im Verständnis als Medium40 – darstellen? Die Beantwortung schlägt noch einmal den Bogen zum Denken Derridas, hier: zu dessen Reflexion über das kommende Buch,41 die er zum ersten Mal am 20. März 1997 mit Roger Chartier und Bernard Stiegler bezeichnender Weise in der Bibliothèque nationale de France diskutiert hat. Die Bestimmung des ›Buches‹ erfolgt dort ex negativo, d.h. in einer Umkreisung dessen, was es (für Derrida) als Erstes nicht ist; und dies findet ebenfalls in dem Bewusstsein statt, dass genau dieser ›Gegenstand‹ bereits begrifflich wie auch als Thema einer Frage, die auf dessen Zukunft zielt (d.h. auf das ›Kommende‹),42 gewissermaßen immer schon problematisch einzugrenzen ist: »Das Wort Buch ist […] genauso schwer abzugrenzen wie auch die Frage des Buches, zumindest wenn man ihr eine zugespitzte Spezifität zuerkennen und sie dort, wo sie so vielen benachbarten, verbundenen, ja untrennbaren Fragen widersteht, in ihrer Irreduzibilität herausschneiden möchte.«43 Nach dem ›Buch‹ zu fragen, heißt nach Derrida denn auch nicht, nach der Schrift, der Schreibweise oder nach Einschreibungstechniken zu fragen (»[d]as Buch ist also nicht an eine Schrift gebunden«); es heißt zudem nicht, nach dessen Status als Werk zu fragen; und es heißt ferner nicht, nach seinem ›Träger‹ zu fragen; es sind dies jedoch immer gleichzeitig auch »Figuren des Buches«, die das Ensemble der genannten Begriffe »in ihren Dienst« nehmen, wiederholt gesagt: »die Schrift, die Art und Weise der Einschreibung, der Produktion und der Reproduktion, das Werk und das Ins-Werk-Setzen, den Träger, die Ökonomie des Marktes oder der Lagerung, das Recht, die Politik, und so weiter.«44

Die Ästhetik des Buches lässt sich in der Fluchtlinie Derridas dabei wie folgt zentrieren: ›Das Buch‹ wird ästhetisch, wird sogar ästhetisiert, wenn es als »Modell« interpretiert wird, als die »Form ›Buch‹«, die ein »Behältnis« verlangt und selbst ein Behältnis als »Ort« ausbildet, also formt.45 Das Ästhetische und die Ästhetisierung des ›Buches‹ verlangt entsprechend eine »Behandlung« – des Legens, Niederlegens, Hinterlegens, Deponierens, des Ruhens, des Einstellens und Lagerns, des Übergebens, des Stillstellens, des Empfangens und Sammelns, des Versammelns, Verzeichnens, Zusammenstellens, Kollektionierens, der Auslese und letztendlich auch des Lesens.46 Das ist, wenn man so will, das ästhetische Außen bzw. das Äußere des ›Buches‹, das oft auf dessen Plural bezogen ist: auf ›Bücher‹. Sein Innenbzw. sein Inneresist »gehüllt, gefaltet, aufgenommen«; es ist ummantelt von einem ›Buchband‹, der eine Falte, eine Faltung, eine Übereinanderfaltung des Papiers in die Formung ›Buch‹ bringt.47 Diesen material-orientierten48 Befund nimmt Derrida wenig später im Verlauf seines Vortrags zum Anlass, um die hier ebenfalls kurz angedeutete Pointe aus De la Grammatologie zu präzisieren (womöglich auch: richtig zu stellen). Darin sei es ihm einerseits nicht darum gegangen, »den Tod des Buches zu wollen und ihm den letzten Stoß zu geben«; nicht das Verschwinden des ›Buches‹, sondern dessen »Marginalisierung« (sein »Sekundär-werden«) stand für ihn zur Diskussion;49 denn andererseits beschwört er am Ende seinen »Habitus der Liebe zum Buch«,50 ohne die sich an jene dann doch anschließenden (Medien-)Produktionen/-Reproduktionen51 und Kulturtechniken/Schreibweisen52 etc. absolut zu verabschieden, die eng mit der ›Buchästhetik‹ korrelieren:

Ich bin in das Buch verliebt, auf meine Art und für immer (was mich bisweilen paradoxerweise zu der Annahme verleitet, daß es zuviel und nicht etwa ›nicht genug‹ davon gebe), ich liebe alle Formen des Buches und sehe keinen Grund, auf diese Liebe zu verzichten. Aber ich liebe auch […] den Computer und das Fernsehen. Und ich liebe es genauso sehr, bisweilen genauso wenig, mit der Feder wie mit der – mechanischen oder elektrischen – Schreibmaschine oder dem Computer zu schreiben. Eine neue Ökonomie tritt auf den Plan. Sie läßt auf bewegliche Weise eine Vielfalt von Modellen oder Modi der Archivierung und der Akkumulation koexistieren. Das ist, schon immer, die Geschichte des Buches. Wenn es gilt, dem Katastrophenpessimismus zu widerstehen, in dem unter anderem die vergebliche Versuchung zum Ausdruck kommt, sich der unvermeidlichen Entwicklung von Techniken entgegenzustellen, deren Vorteile evident sind […], so muß man sich aber auch vor einem […] Fortschrittsoptimismus hüten, der bereit ist, den Mythos des Träger-losen unendlichen Buches, der universalistischen Transparenz, der unmittelbaren, totalisierenden und unkontrollierten Kommunikation (über alle Grenzen hinweg, in einer Art großen demokratischen Dorf) einmal mehr den neuen Kommunikations-Teletechnologien anzuvertrauen. Vor dem Optimismus einer neuen Aufklärung*, die bereit ist, alle alten Bücher und ihre Bibliotheken auf ihrem Altar zu opfern, ja zu verbrennen – was eine Barbarei wäre. Die Wahrheit des Buches […], seine Notwendigkeit jedenfalls, leistet Widerstand – und diktiert uns (es handelt sich auch um die Ernsthaftigkeit eines ›man muß‹), diesen beiden Phantasien zu widerstehen, von denen das eine jeweils die Kehrseite des anderen ist.53

Die so radikal zum Ausdruck gebrachte Manifestation einer Bewahrung des ›Buches‹ als Wahrheit schließt das Äußere/das Außen und das Innere/das Innen des Mediums ›Buch‹ mit ein, gerade auch, wenn es um die damit manifestierte Ästhetik geht. In den beiden Richtungen, über die derart gesprochen werden kann, bezeichnet die Idee des Ästhetischen und der Ästhetisierung das Überborden der Erscheinung ›Buch‹, die infolge ihrer Wesensnotwendigkeit, die sie macht, selbst zum Gegenstand ›Buch‹ und durch dieses Gegenstand-Werden konkret wird: ›ein Buch‹.54 In diesem Sinn ist Buchästhetik immer exemplarisch, realisiert und zum Vorschein kommend am konkreten Buchartefakt. – Mit einem Buch-Exempel Derridas lässt sich auf diese These zum Abschluss des hier Gesagten eigens insistieren.

3Ein ästhetisches Buch

Den Anfang des vorliegenden Plädoyers für eine ästhetische Praxeologie (vor der Folie im weitesten Sinne post-moderner Buch-Diskurse) hat u.a. die Erwähnung der besonderen Gestaltung (und Ästhetik) einer Buchpublikation Derridas gebildet. Glas, 1974 in den Éditions Galilée Paris erschienen, 1986 in englischer Übersetzung bei der University of Nebraska Press Lincoln, NE, und 2006 in deutscher Übersetzung im Wilhelm-Fink Verlag Paderborn in deutscher Übersetzung veröffentlicht,55 ist in vielerlei Hinsicht ein Wagnis, nicht allein in inhaltlicher Hinsicht, sondern gerade auch buchgestalterisch:

Ein quadratisches Format, 25 mal 25 Zentimeter. Die großen quadratischen Seiten weisen zwei Spalten auf, beide gleich breit, aber in der linken Spalte ist die Schrift kleiner und dichter gedruckt, in der rechten dagegen größer und weiter.

Blättert man umher in diesem eigenartigen Buch […], stößt man bald auf eine dritte Schrifttype, kleiner noch als die anderen beiden, in Passagen, die bisweilen in die beiden Hauptstränge des Textes hineinschneiden. Derrida bezeichnet diese Text-Einwürfe als »Judas-Text«, verräterische Einblicke wie aus einem Hinterhalt.

Keine Fußnoten, keine Kapiteleinteilungen, kein Inhaltsverzeichnis. Beide Spalten – vielleicht könnte man sie auch als Abspaltungen von etwas anderem betrachten, das außerhalb des Buches liegt – beide Spalten also scheinen mitten im Satz zu beginnen und hören 289 Seiten später auch ohne Punkt wieder auf.

Und was passiert auf diesen Seiten, die mehr einem Tableau ähneln, eher einem gewaltigen Tafelbild als einem philosophischen Werk? Offensichtlich ist, dass vieles gleichzeitig abläuft, man könnte auch sagen, gleich gültig ist. Zu viel, als dass man mehr als nur kleine Teile beschreiben könnte. »Glas« demonstriert auf jeder Seite das Grenzenlose und Bedingungslose von Texten, ihre Empfänglichkeit für unwahrscheinlichste, für gänzlich unerwartete Fügungen.

Unbarmherzig wird auf der linken Seite Hegels Dialektik des Absoluten Geistes verfolgt. Wäre dieser Absolute Geist ein Spiegel, ließe sich – so zumindest legt es Derrida nahe – als Vexierbild das Werk Jean Genets darin wieder erkennen, das entsprechend liebevoll auf der rechten Seite von »Glas« auseinander genommen wird. Die Kraft des Negativen, welche in der linken Spalte die Dialektik zu immer höherer Synthese treibt, wird ständig geschmälert durch die Verherrlichung des Kriminellen aus der Unterschicht, der ausführlich in der rechten Spalte zu Wort kommt. Es ist diese zweispaltige Bewegung hin und her, auf und ab, nicht der Reihe nach, doch immer zur gleichen Zeit, die Derrida bis in ihre paradoxesten Konsequenzen für die Dialektik der Vernunft verfolgt.56

Von Derrida selbst heißt es zu dieser Doppel-Gliederung, die Glas den Charakter verleiht:

Zunächst einmal: zwei Säulen oder Kolumnen. Verstümmelt, von oben und von unten her, auch an ihren Flanken zugeschnitten: Einschübe, Tätowierungen, Inkrustationen. Ein erstes Lesen kann so tun, als ob zwei – gegeneinander oder ohne einander – aufgerichtete Texte untereinander gar nicht kommunizieren. Und auf eine gewisse wohlüberlegte Weise bleibt dies auch wahr, was den Prä-Text, das Objekt, die Sprache, den Stil, den Rhythmus, das Gesetz betrifft. Eine Dialektik auf der einen Seite, eine Galaktik auf der anderen, heterogen und dennoch nicht zu unterscheiden in ihren, bisweilen bis zur Halluzination gehenden, Effekten. Zwischen den beiden, der Klöppel eines anderen Textes, man könnte sagen einer anderen »Logik«: mit den Beinamen Obsequenz, Beinahe-Penetrier-Sein (pénêtre), Striktur, Einschnürung, Antherektion, Bissen/Stück (mors) usw.

[…] Die Sache, also, erhebt sich, detailliert sich und hebt sich ab entsprechend zwei Türmen (tours) und der unaufhörlichen Beschleunigung einer Wechseltour von Turm zu Turm. In ihrer doppelten Einsamkeit tauschen die Kolosse unendlich viele Zwinker, zum Beispiel des Auges, aus, doublieren, verdoppeln sich um die Wette, penetrieren sich, kleben aneinander und lösen sich, indem sie ineinander übergehen, zwischen dem einen und im anderen. Jede Säule oder Kolumne stellt hier einen Koloß (colossos) dar, ein Name, der dem Double des Toten, dem Substitut seiner Erektion, gegeben wurde. Mehr als einer, vor allem.57

Das doppelte Innen und doppelte Außen des Textes Derrida gewinnen so eine gewagte Gestalt (auch in der von Derrida gewählten sexuellen Konnotierung und Metaphorik); sie werden wahr: als Zergliederung, als ›Double‹ (doppeltes Band bzw. doppelte Bindung). Dasjenige, was eine Darstellung gewinnen soll, manifestiert zwei Seiten, die zwei Textspalten gleichsam gebären, zumindest anstacheln. In Sprachkapriolen, Sprachspielen und jedoch auch Gestaltungsvariationen, die nicht zwingend auf Lesbarkeit angelegt sind, vollzieht sich der Text einschließlich der Schrift dieses Buches; in gleicher Weise kapriziert sich spielend aber auch sein Aussehen, seine ›Gesichter‹, seine Graphik, sein Design, das so auf das diesem Feld eingeschriebene Entwurfsgeschehen permanent zurückverweist: Es handelt sich nicht um einen ›fertigen‹ Text, kein abgeschlossenes Buch und schon gar nicht um ein fertiges Denken. Man hält eher einen Entwurf in Händen, der als Buch Derridas Unternehmen schlechthin verkörpert.

Im Wort ›Glas‹ selbst wird dieses […] sinnfällig. ›Glas‹ bedeutet im Französischen ›Totenglocke‹, aber auch ›Artilleriesalve‹. Die Herkunft des Wortes ist auf das lateinische ›classis‹ zurückzuführen, was ›Abteilung, Klassifizierung‹ bedeutet, auf ›classicum‹ für ›Trompetenstoß‹ und ›classum‹ für ›Lärm‹. […]. Die Totenglocke Derridas kündet nicht nur ein Ende, sondern auch einen Neuanfang an.58

Wie wäre ein solcher Neuanfang buchästhetisch, am Beispiel Derridas, zu deuten? D.h. nicht exklusiv bezogen auf die philosophische Textwelt-Lektüre, die hier bereitgestellt wird? Ein Clou könnte sein: Es beginnt damit das, was Derrida seinerseits als das Kommende versteht: ein Geflecht von Angeboten, die Struktur von mindestens zwei Seiten, zwei Referenzierungen, dann auch: immer mehreren Wegen, die es zu verfolgen gilt. Vielleicht weist, in dieser Auslegung, Glas exemplarisch auf den – vermeintlichen – Antipoden des traditionellen Buchs, d.h. den, wie Derrida sagt, »neue[n] Raum des Schreibens und Lesens der elektronischen Schrift«.59 Indem Derrida ein solches Buch wie Glas vorlegt, machen lässt, gestalten lässt, setzt möglicherweise jene Kommunikation ein, die nicht allein zwischen den nebeneinander gesetzten, verschränkten und verfügten Texten stattfinden kann. Zudem manifestiert sich ein kommunikationsästhetischer Drive, der das ›Buch‹ mit seiner – wiederum vermeintlich –materiellen Auflösung impliziert konfrontiert: dem Digitalen/der Digitalität; Derrida nennt sie eine »Quasi-Immaterialität oder Virtualität elektronischer oder telematischer Operationen, von ›dynamischen Trägern‹ also, mit oder ohne Bildschirm.«60

Kommend bleibt damit das Buch und zwar ebenfalls »in dem Moment, da die elektronische oder virtualisierende Inkorporation, der Bildschirm und die Tastatur, die telematische Übermittlung und die digitale Komposition den codex […] zu verschieben oder zu ersetzen (suppléer) scheinen […].«61 Es bleibt, da das ›Buch‹, ästhetisch gesehen bzw. dann kommunikationsästhetisch gelesen, sein Modell als ›Muster‹ ausstrahlt:

[Man] müßte […] analysieren, wie das Modell des Buches, des liber, der Einheit und Verteilung des Diskurses, seiner Seiteneinteilung auf dem Bildschirm, ja des Körpers, der Hände und der Augen, denen es weiterhin Richtung gibt, des von ihm vorgegebenen Rhythmus’, seiner Beziehung zum Titel, seiner Legitimationsweisen, wie also dieses Modell selbst dort aufrechterhalten wird, wo der Träger verschwunden ist (die neuen elektronischen Zeitschriften an der Universität und überall in der Welt reproduzieren im allgemeinen die Formate, die Editionsnormen, die traditionellen Bewertungs- und Auswahlkriterien, im Guten wie im Schlechten).62

Wenn dem ›Buch‹ (fast) nichts vorrangig, wenn kein Anlass ihm wesentlichen Schaden zufügen kann, wenn es in gewisser Weise sein Wesen ist, das sich festgräbt, ästhetisch, sich festkrallt, dann folgen diese Buch-Diskurse der Fortschreibung robuster Einsichten. Die Zukunft des ›Buches‹, seine Bahn, ist keine zukünftige Transformation, die Zeit des ›Buches‹ ist keine Vergangenheit; sie lässt die Diskurse durch sich hindurch: in Transparenz. Auf das Sterben des ›Buches‹ braucht man nicht zu warten, noch muss seine Totenglocke geläutet werden. Das ›Buch‹ ist da. Ein Abschnitt in Freud und der Schauplatz der Schrift beginnt hierzu passend pointiert und lautet wie folgt: »Eine anscheinend ungeheure Schwierigkeit entsteht aus dieser letzten Kühnheit: wir sind eben einer Durchlässigkeit und einer Bahnung begegnet, die aus keiner Quantität hervorgeht.«63

1Der vorliegende Beitrag fußt auf Gedanken, die ich in Vortragsform ursprünglich im Rahmen einer Gastvorlesung an der Nikolaus-Kopernikus-Universität Torun am 10. Januar 2019 zum ersten Mal geäußert habe. Mein Dank für die freundliche Einladung gilt namentlich Dr. Katarzyna Norkowska.

2Siehe dazu u.a. Hans Peter Willberg: Buchkunst im Wandel. Die Entwicklung der Buchgestaltung in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a.M.: Stiftung Buchkunst, 1984; ders. u. Friedrich Forssman: Lesetypografie. 5. Aufl. Mainz: Hermann Schmidt, 2010.

3Vgl. u.a. Otto Brunken, Bettina Hurrelmann u. Klaus-Ulrich Pech (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1800 bis 1850. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 1998; David Ganz u. Thomas Lentes (Hg.): Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauchin der Vormoderne. Berlin: Reimer, 2004; Oliver Ruf: »Literaturvermittlung, Literaturausstellung, ›ästhetische Erziehung‹. Das Literaturmuseum der Moderne.« In: Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld: transcript, 2013, S. 95-141; Kalina Kupczynska u. Jadwiga Kita-Huber (Hg.): Autobiografie intermedial. Fallstudien zur Literatur und zum Comic. Bielefeld: Aisthesis, 2018; Jacques Derrida. Glas.Totenglocke. Aus dem Franz. v. Hans-Dieter Gondek u. Markus Sedlaczek. Paderborn: Wilhelm Fink, 2006. Siehe zudem auch Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 2001.

4Siehe dazu einmal mehr Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft [1972]. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009, sowie auch Christoph Wulf u. Gunter Gebauer (Hg.): Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992. Dabei soll im vorliegenden Beitrag der Begriff ›praxeologisch‹ jedoch nicht ›eng‹ soziologisch, sondern ›breit‹ kulturwissenschaftlich verstanden werden: als Bezeichnung einer Praxistheorie bzw. als eine ›Wissenschaft von Praktiken‹. Siehe dazu umfassend: Friederike Elias et al. (Hg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin u. Boston: de Gruyter, 2014; Steffen Martus u. Carlos Spoerhase: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften. Berlin: Suhrkamp, 2022.

5Siehe dazu ebenfalls Silvia Werfel (Hg.): Buchgestaltung in Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2021.

6Vgl. Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (Valéry, Benjamin, Moholy-Nagy). Göttingen: Wallstein, 2016; Hans Rudolf Bosshard: Regel und Intuition. Von den Wägbarkeiten und Unwägbarkeiten des Gestaltens. Göttingen: Wallstein, 2015; Friedrich Forssman: Wie ich Bücher gestalte. Göttingen: Wallstein, 2015; Uwe Jochum: Medienkörper. Wandmedien – Handmedien – Digitalia. Göttingen: Wallstein, 2014; Roland Reuß: »Die perfekte Lesemaschine«. Zur Ergonomie des Buches. Göttingen: Wallstein, 2014; Hans Andree: normal regular book roman. Ein Beitrag zur Schrift- und Typografiegeschichte. Göttingen: Wallstein, 2013; Walter Pamminger: Konzeptionelles Buchgestalten. Göttingen: Wallstein, 2018; Klaus Detjen: Außenwelten. Zur Formensprache von Buchumschlägen. Göttingen: Wallstein, 2018; Christopher Busch: Unger-Fraktur und literarische Form. Studien zur buchmedialen Visualität der deutschen Literatur vom späten 18. bis ins 21. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein, 2019. Siehe zudem auch Bernhard Metz: Die Lesbarkeit der Bücher. Typographische Studien zur Literatur. Paderborn: Wilhelm Fink, 2020.

7Vgl. Ursula Rautenberg u. Dirk Wetzel: Buch. Tübingen: Niemeyer, 2001. Siehe ggf. auch Andrew Haslam: Handbuch des Buches. Konzeption, Design, Herstellung. München: Stiebner, 2007.

8Vgl. Uwe Jochum: »Textgestalt und Buchgestalt. Überlegungen zu einer Literaturgeschichte des gedruckten Buches«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 103 (1996), S. 20–34.

9Vgl. Jost Hochuli: Bücher machen. Eine Einführung in die Buchgestaltung, im besonderen in die Buchtypografie. Berlin: Deutscher Kunstverlag, 1990. Siehe auch ders. u. Robin Kinross: Bücher machen. Praxis und Theorie. St. Gallen: VGS, 1996.

10Hans Magnus Enzensberger: »Das Brot und die Schrift«. In: Die Zeit v. 22. Mai 1981.

11Martin Enzensberger: »Das Brot des Schriftsetzers«. In: Die Zeit v. 24. Juli 1981.

12Siehe dazu Oliver Ruf u. Stefan Neuhaus (Hg.): Designästhetik. Theorie und soziale Praxis. Bielefeld: transcript, 2020.

13Vgl. Adrian Frutiger: Der Mensch und seine Zeichen. 3. Aufl. Wiesbaden: Marix, 2013; Paul Renner: Die Kunst der Typographie. Augsburg: Maro, 2003.

14Zur Diskussion je divergierender Auffassungen der Ästhetik und des Ästhetischen (und entsprechender Felder) siehe u.a. Andrea Kern u. Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002; Stefan Rieger: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002; sowie aktuell Georg W. Bertram, Stefan Deines u. Daniel Martin Feige (Hg.): Die Kunst und die Künste. Ein Kompendium zur Kunsttheorie der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp, 2021.

15Joachim Küpper u. Christoph Menke: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 7–15, hier S. 7.

16Andreas Reckwitz, Sophia Prinz u. Hilmar Schäfer: »Vorwort«. In: Dies. (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften. Berlin: Suhrkamp, 2015, S. 9–12, hier S. 9.

17Ebd.

18Andreas Reckwitz: »Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen«. In: Ders./Prinz/Schäfer (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft, S. 13–53, hier S. 13.

19Ebd., S. 14.

20Küpper/Menke: »Einleitung« [in: Dimensionen ästhetischer Erfahrung], S. 9.

21Vgl. ebd., S. 10.

22