Bücher für die einsame Insel - François Armanet - E-Book

Bücher für die einsame Insel E-Book

François Armanet

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Beschreibung

»Welche drei Bücher würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?« Diese Frage stellte François Armanet zweihundert Schriftstellern auf der ganzen Welt. Seine vergnügliche Umfrage ist eine Anleitung zum Überleben in der Einsamkeit, eine Einladung, unbekannte Bücher zu entdecken, und gleichzeitig die ideale Bibliothek, zusammengestellt von denen, deren Leben das Schreiben ist. Nur Shakespeare und die Bibel wurden von vornherein ausgeschlossen. Einige Schriftsteller würden ein unbeschriebenes Heft mitnehmen, um mit ihrem nächsten Werk zu beginnen, andere versichern, dass ein Wörterbuch – oder selbst ein Telefonbuch (Umberto Eco) – sie am besten träumen ließe. Nur einer hat den Mut zuzugeben, dass ihm »der größte Porno, den ich finden kann« unerlässlich erscheint.

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Seitenzahl: 163

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François Armanet

Bücher für die einsame Insel

Aus dem Französischen, Englischen und Spanischen von Claudia Steinitz und Angela Volknant

Atlantik

Im Oktober 2003 lernte ich Jay McInerney kennen, der in Paris seinen kürzlich erschienenen Erzählungsband La Fin de tout (How it ended) vorstellte. Er sprach von der verlorenen Sorglosigkeit Amerikas nach dem 11. September, erzählte von dem geringen Raum, den vor seiner Generation das urbane Leben in der amerikanischen Literatur eingenommen hatte, und von Schriftstellern, die ihn besonders inspiriert hatten. Ehe wir uns verabschiedeten, war eine Frage unumgänglich: »Welche drei Bücher würden Sie mit auf eine einsame Insel nehmen?« Als er Tante Lisbeth von Balzac nannte, wusste er natürlich nicht, dass André Gide einst die gleiche Antwort gegeben hatte. Solche Gemeinsamkeiten bei der Auswahl, die der Erinnerung oder dem Vergessen trotzen, setzten mir den Floh ins Ohr. Talisman, Passwort, geheime Übereinstimmung über ein Jahrhundert hinweg? Die Schnitzeljagd hatte begonnen.

Erster Hinweis: Gide. In der Aprilausgabe der Nouvelle Revue Française (NRF) schrieb er 1913: »Die zehn französischen Romane, die …«1 In dem nur wenige Seiten langen Artikel erfand er das »Spiel der einsamen Insel« insofern, als sich diese Frage »ausgehend von seinem Artikel und unter Bezug darauf dauerhaft im literarischen Leben festgesetzt hat«, wie Christophe Pradeau, Autor von La Grande Sauvagerie und Dozent an der Sorbonne, richtig analysiert hat.2 Mehr noch, Gide wird zum Vorreiter, indem er auf ein imaginäres Interview antwortet (der Anteil des Betrügers, ohne den jede literarische Suche todlangweilig wäre). Sein Text beginnt so: »Man hat mich im Auftrag einer großen Tageszeitung gebeten, die zehn Romane zu nennen, die ich am liebsten habe«, dann erwähnt er mit einem Hauch von Nostalgie das kleine Spiel, mit dem er sich als Zwanzigjähriger im Rhetorikkurs mit Pierre Louÿs amüsierte. Die Freunde machten zu Beginn jedes Semesters eine Liste von zwanzig Büchern, die sie auf eine einsame Insel mitnehmen würden. Bewusstseinsprüfung, eine schwierige Übung für jemanden, der später in Uns nährt die Erde (Les Nourritures terrestres) schreiben sollte: »… seine Wahl treffen, das hieß in Ewigkeit allem Übrigen entsagen – und dieses Übrige war so zahlreich und vielfältig, dass es jeglichem Einzelnen gegenüber immer wieder den Vorzug verdiente.«3 Bei diesem Zeitvertreib schummelten Pierre und André, indem sie zum Beispiel Namen von Autoren statt von Werken aufschrieben und so ihre Bibliothek beträchtlich vergrößern konnten (auf bis zu vierhundert Bände). Keine Freude ohne Zwang. In seinem Artikel in der NRF beugte sich Gide weitgehend der Regel, die er sich auferlegte. Er beschränkte seine Auswahl auf Romane, obendrein nur französische, obwohl sich Frankreich in diesem Genre nicht gerade auszeichnet.

Er schwankte lange zwischen Rot und Schwarz und der Kartause von Parma, ehe er sich für Letztere entschied. Er wählte Gefährliche Liebschaften, die er sehr geliebt hat, Die Prinzessin von Clèves, Manon Lescaut, Dominique. Grübelte über Balzac, die Qual der Wahl: »Wie kann man nur einen Roman von Balzac den anderen vorziehen? Die Menschliche Komödie ist ein Ganzes. Nur einen Teil zu bewundern heißt, sie schlecht zu bewundern.« Kapitulierte schließlich: »Ich glaube, mit Tante Lisbeth werde ich den größte Gewinn beim Wiederlesen haben.« Er hob Madame Bovary von Flaubert hervor, den er »lange wie einen Meister, einen Freund, einen Bruder geliebt« hatte, Zolas Germinal, »von unglaublicher Kraft«. Geriet in gespielte Wut: »Man hat mich nicht gebeten, hier zehn Vorbilder zu nennen. Und ich beuge mich auch nicht bevorzugt über diese Bücher, weil ich versuche, mich darin wiederzufinden, um mein Spiegelbild anzubeten.« Und zum Abschluss offenbarte er seine letzte Wahl, Marianne von Marivaux, »ich erröte, weil ich es noch nicht kenne.«

Aber er hatte sich verzählt! Gide hatte nur neun Bücher gewählt. Als patentierter Falschmünzer überließ er es dem aufmerksamen Leser, das Bild zu vollenden. Diese Auslassung offenbart viel über die ständige Veränderung der Literatur und den inzestuösen Kannibalismus, mit dem sich jedes künftige Buch von den Kunstwerken ernährt, die ihm vorangegangen sind.

 

In diesem Insel-Mahlstrom tauchen ein paar Rettungsbojen für verirrte Schriftsteller oder Leser auf. Die einsame Insel ist ein Gesellschaftsspiel im Wandel der Zeit, das in den tiefsten Schichten unserer Phantasie an das Echo seines Gründungsmythos vom ultimativen Einsiedler rührt. Die Schatzinsel oder Die schwarze Insel4? Geheimnisvolle Insel zwischen verlorenem Paradies und höllengleichem Exil, Befreiung und Gefangenschaft, Erholung und Verzweiflung, Neuschöpfung und Regression. Prospero oder Nemo? Ein Phantasieort, von der Insel der Nymphe Calypso, die Odysseus sieben Jahre lang gefangen hielt, bis zu der von Robinson Crusoe, der viermal so lange, also achtundzwanzig Jahre, an der utopischen Küste Amerikas blieb, nicht weit von der Mündung des großen Flusses Orinoko in den Atlantik, der sich in Michel Tourniers Freitag durch eine boshafte Umkehrung in den Pazifik verwandelt. Auf seiner »Insel der Verzweiflung« liest Defoes Held die Bibel, und ihm fehlt nichts außer menschlicher Gesellschaft. Edmond Dantès wiederum bleibt vierzehn Jahre (zwischen Odysseus und Robinson) in der Einsamkeit eines Kerkers im Château d’If, vor Marseille, und erlebt seine Auferstehung dank der erlesenen Bildung von Abbé Faria, der in seiner Zelle heimlich ein einziges Buch verfasst hat, das die fünftausend Bände zusammenfasst, die einst in seiner Bibliothek standen.5

Das schicksalhafte Wissen, das ihm sein Lehrer Faria vermittelt, verwandelt Dantès. Verzweiflung, Kreuzweg, Trost, Flucht, Rache, Aufstieg. Der vom Unglück zerstörte Mensch wird als maskierter Rächer neu geboren, der macht dann dem befriedeten Dandy Platz. Als Dumas 1842 im Toskanischen Archipel die kleine Insel Montecristo entdeckte, ein christlicher Zuckerhut, auf dem nur ein paar wilde Ziegen lebten, hatte er den Namen seines nächsten Romans gefunden. Da reiste er gerade auf einem großen Schiff mit Napoleon Bonaparte, nicht dem Kaiser, sondern dem Sohn von dessen Bruder Jérôme. Der damals neunzehnjährige Prinz war Dumas für eine Initiationsreise anvertraut. Nach einem Pilgerbesuch auf der Insel Elba wagten sie sich auf das bewegte Meer, fuhren um Montecristo herum, gingen jedoch nicht an Land, um die Quarantäne nach ihrer Rückkehr zu vermeiden. Verbotenes Land, Ziel eines Meisterwerks. »Warten und hoffen«, die Devise von Dantès. Ganz am Ende meiner Suche, als ich schon die Hoffnung aufgab, Dumas auftauchen zu sehen, kam in letzter Minute die Antwort von Ellroy: Monte Christo!6

Doch warum diese Dreierregel wie bei den drei Musketieren – mit einem Vierten im Hinterhalt? Warum diese heilige Dreifaltigkeit, diese taoistische Triade, dieses olympische Podium, Kaspar, Melchior, Balthasar paginiert, Heilige Drei Könige als Bücher, als Marschgepäck des Schiffbrüchigen?

Borges war wohl der Erste, der es erwähnte. Am 3. Dezember 2001 versetzte eine Auktion Bücherliebhaber auf der ganzen Welt in Aufregung. Versteigert wurde ein handgeschriebenes Manuskript, das Borges zwischen 1930 und 1935 für eine Zeitschrift verfasst hatte und das unveröffentlicht geblieben war. Borges war seit 1938 weitgehend, ab 1955 vollständig blind, er hat drei Viertel seines Werks diktiert; von seiner Hand geschriebene Texte sind höchst selten. Und nun tauchten aus dem Nichts drei mit einer engen Handschrift bedeckte Seiten auf, seine Auswahl von drei Büchern für eine einsame Insel!

Das ist nicht überraschend für den späteren Autor der Bibliothek von Babel, jener kabbalistischen Erzählung, die eine nahezu unendliche Bibliothek beschreibt, in der alle denkbaren schon geschriebenen und künftigen Bücher von vierhundertzehn Seiten (jede Seite mit vierzig Zeilen und ungefähr achtzig Zeichen) stehen, die wunderbarste Metapher für die Literatur als Universum. Jedes Werk dieser Arche Noah ist einzigartig, und die Suche nach dem Buch der Bücher7 gleicht der nach dem Heiligen Gral. Borges, ein fanatischer Enzyklopädist, der gelegentlich dachte, er sei in der Bibliothek seines Vaters geboren und habe sie nie verlassen, war in den dreißiger Jahren ein bescheidener Bibliothekar. Ab 1955 leitete er die Nationalbibliothek von Buenos Aires. Der blinde Konservator, der von seinem Posten zurücktrat, um gegen die Rückkehr des Diktators Perón zu protestieren, kannte zahlreiche Werke auswendig; besonders Robinson Crusoe, den er seit seiner Jugend in der Schweiz besonders liebte, als er während des Ersten Weltkriegs das Land wegen fehlender Visa nicht verlassen konnte. Nach der Rückkehr des Friedens erfand er auf der Insel Mallorca 1919–20 den Neologismus robinsonizarse (sich robinsonisieren). Zehn Jahre später formulierte er in einem Artikel die Regeln seines Spiels: Die einzelnen Bände müssen nicht »die drei bedeutendsten Bücher des Universums oder auch nur die denkwürdigsten unserer persönlichen Erfahrung sein«. Er schlug ein überraschendes Trio vor: Die Einführung in die mathematische Philosophie von Bertrand Russell oder ein ordentliches Handbuch der Algebra, ein metaphysisches Buch, »zum Beispiel Die Welt als Wille und Vorstellung von Schopenhauer«, und ein Geschichtsbuch von Plutarch, Gibbon oder Tacitus.8 Borges’ Antwort bietet viel Raum für Interpretation. Drei Themen, drei Felder, die uns auf die Versuchung einer idealen Bibliothek verweisen.

 

Zurückhaltung oder Ausweitung? Wie löst man das Dilemma? 1956 schlug Raymond Queneau seine Variante des Spiels von der einsamen Insel vor, als er die literarische Umfrage Pour une bibliothèque idéale veröffentlichte. »Wir haben zweihundert Schriftstellern oder anderen Persönlichkeiten einen Fragebogen und dazu eine Art Memorandum geschickt, dass die Antworten vereinfachen soll. Wir wollten versuchen, gemeinsam eine Art ›ideale Bibliothek‹ zusammenzustellen, das heißt eine Liste der hundert Werke, die jeder ›anständige Mensch gelesen haben sollte‹.«9 Einige waren bereit zu antworten, andere lehnten es ab, zuweilen mit langen Erklärungen. Zu den vierzig, die das Spiel mitmachten und ihm die Liste der hundert wesentlichen Bücher lieferten, gehören Paul Claudel und Georges Simenon, Paul Éluard, Henry Miller und André Maurois. Ganz oben auf der Liste stehen Shakespeare, die Bibel, Proust, Montaigne und Rabelais, und wir werden sehen, dass man sie auch sechzig Jahre später noch unter den Antworten auf unsere Umfrage findet.

Wie ist sie entstanden? Es gibt viele denkwürdige literarische Umfragen, von der der Surrealisten, die 1919 ihren Zeitgenossen die Frage »Warum schreiben Sie?«10 stellten, bis zu der, die ich mit meinem Bruder Max 1994 für den Nouvel Observateur durchgeführt habe: »Ein Tag der Welt«, in der zweihundertvierzig Schriftsteller aus allen Ecken der Welt von demselben Tag in ihrem Leben, dem 29. April 1994, erzählten.11 Ihre Begeisterung bewies mir, dass sich Menschen, deren Leben das Schreiben ist, über die Grenzen hinweg mobilisieren lassen, wenn es darum geht, etwas zu vermitteln. Sie bilden eine Bruderschaft, eine eingeschworene Gemeinschaft, in der sich ihre Leser wiederfinden. Jedes Buch ist ein Wiedererkennungszeichen. Jeder Autor nährt sich von den Büchern, die andere geschrieben haben, hegt einen geheimen Garten, in dem großartige Titel zu Hause sind. Seit den Anfängen des Romans offenbaren uns die Schriftsteller in Memoiren, Tagebüchern und Briefwechseln ihre Liebe zu Büchern: ursprüngliche Erleuchtung, prägendes Vergnügen, Initiationshelden, unerschütterliche Leidenschaften, Staub der Vorfahren12, zufällige Begegnungen13, Frontalkollisionen. Treibriemen. Im Archipel der Empfehlungen machen die Meister füreinander Räuberleiter: von Shakespeare zu Stendhal, von Cervantes zu Flaubert, von Stendhal zu Nietzsche oder Sartre14 … Was gibt es Kostbareres als ein Buch, das einem der Lieblingsautor empfiehlt? Vertraulicher Dialog, Verführung zur Entdeckung ignorierter Bücher, Einladung zur Reise, unverzichtbarer Trost für die Einsiedelei und das Leid des Insellebens.

»Welche drei Bücher würden Sie mit auf eine einsame Insel nehmen?« Diese klassische Frage war nie Gegenstand einer großen Umfrage. Am Anfang also die Antwort von McInerney. Dann, im Laufe der Jahre, die von achtzig Schriftstellern, die wir für den Nouvel Observateur interviewt haben. Über zehn Jahre bin ich mit meinem Freund Gilles Anquetil in bester Gemeinsamkeit dieser Sitte treu geblieben. Mit ihm habe ich die rituelle Frage zum Abschluss denkwürdiger Interviews in Paris oder anderenorts gestellt. Einige der Befragten sind inzwischen tot, darunter Updike, Havel, Ballard, Fuentes, Grass, Tabucchi, Stone, Wolf und Brink, aber ihre Stimmen begleiten uns weiter. So entstand eine lange literarische Reise durch Epochen und Kontinente als Versuch einer idealen Bibliothek des anständigen Menschen im 21. Jahrhunderts, ein Überlebenshandbuch für Schiffbrüchige.

2014 traf die Idee, die gesammelten Ergebnisse zu veröffentlichen, mit dem Vorschlag robinsonistischer Leser zusammen, die die Buchhaltung dieser Buchhandlung der »Säulenheiligen« immer auf dem Laufenden halten. Vorschlag angenommen. Um ein gutes Maß, eine angemessene Anzahl zu präsentieren, beschloss ich, weitere hundert Schriftsteller zu fragen. Ich griff nach der Feder und warf hundert Flaschen ins Meer. Das Ergebnis halten Sie in der Hand.

Was war die Vorgabe? In dem Brief stand: »Wenn Sie bereit sind, sich zu beteiligen, können Sie die Frage mit aller denkbaren Freiheit beantworten. Entweder kurz oder indem Sie Ihre Auswahl erklären.« Keine empfohlene Länge. Ein Postskriptum: »Die rituelle Frage versteht sich unter Ausschluss der Bibel und Shakespeares, falls Sie es nicht für unverzichtbar halten, sie in Ihre drei Bücher aufzunehmen.« Die Antwort sollte datiert werden, da sich die Auswahl von einem Tag auf den anderen ändern kann (im Abstand von ein paar Jahren änderte Jim Harrison seine Wahl radikal15). Weiterhin war nicht von einem Honorar die Rede, es hätte dem Projekt widersprochen, in dem es keinerlei Hierarchie bei den befragten Schriftstellern geben sollte – und es ist bemerkenswert, dass niemand ein Honorar erwähnt hat.

 

Im Ergebnis mischt die Sammlung Meisterwerke der Weltliteratur, heilige Bücher der großen Religionen und geheime Madeleines. Ein vergängliches Selbstporträt des Schriftstellers – »Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist«. Es ist auch ein Lektüreplan der zeitgenössischen Literatur und ihrer Inspirationen – Schatten, Licht und Gegenlicht – auf der Suche nach dem fehlenden Kettenglied. Ein kämpferisches Buch in diesen harten Zeiten, wo die größten Pessimisten vorhersagen, dem Roman sei das gleiche Schicksal bestimmt wie der Poesie und der Kreis seiner Leser werde auf ein paar kleine Widerstandsnester zusammenschrumpfen. Lapidare Antworten (Joyce Carol Oates: »Nur ein einziges: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«; Eduard Limonow: »Ich bin ungebildet, ich würde kein Buch mitnehmen, sondern ein Heft, um zu schreiben«; oder Nguyễn Huy Thiêp: »Bücher? Auf eine einsame Insel? Wozu?«) folgen auf Standardwerke (Proust, Tolstoi und Cervantes, Homer und Ulysses von Joyce, die Essais von Montaigne und Tausendundeine Nacht, Shakespeare und die Bibel außer Konkurrenz). Eine Frage der Distanz: Die Klassiker überwiegen gegenüber den Lebenden. Die Nennung von Zeitgenossen ist eher selten: Bret Easton Ellis schwört auf Joan Didion, Margaret Atwood schlägt Alice Munro vor, Jeffrey Eugenides und Roddy Doyle nennen Karl Ove Knausgård, Robert Littell wählt David Grossman, Don Winslow nimmt Jim Harrison, Henning Mankell wählt Zadie Smith, Yoko Ogawa bevorzugt Antonio Tabucchi, Michael Connelly verbringt die Zeit mit Robert Coover, Paolo Giordano hat David Foster Wallace auf dem Nachttisch, Ian McEwan verlangt John Updike, Richard Ford und Monica Ali halten V.S. Naipaul fest, Régis Jauffret und Sonallah Ibrahim entscheiden sich für Salman Rushdie … und Kamel Daoud greift nach Freitag oder im Schoß des Pazifik von Michel Tournier. Wunderbare Collagen. Keine einzige Wahl aus Gefälligkeit.

Einige Namen fehlen. Immer werden welche fehlen. Vom Befrager verschuldetes Vergessen, ein von romanesker Dringlichkeit gefüllter Arbeitsplan, der keine Ablenkung duldete, oder eine weite Reise … In diesem geordneten Chaos ist es dem Leser überlassen, die Löcher zu stopfen und seine eigene Wahl zu treffen. Ehre dem teuren Abwesenden, dem unerwähnten Buch, dessen Fehlen die Anwesenden rechtfertigt.

PS: Am Ende, und um wie Gide und Louÿs das Ergebnis aufzublähen, also ein bisschen zu schummeln, habe ich drei Bücher von jedem Mitspieler genannt: einen Vorschlag, eine Einführung, eine Hommage.

Chimamanda Ngozi Adichie

April 2015

 

Ich gehe davon aus, dass ich die Bedingungen für meinen Inselaufenthalt selbst festlegen dürfte – sonst hätte ich Mühe, die Hypothese aufzugreifen. Ich würde Der Pfeil Gottes von Chinua Achebe mitnehmen, das ich seit meiner Kindheit mehrfach wiedergelesen habe, und jedes Mal habe ich neue Freude und neue Schätze entdeckt. Für mich ist es nicht nur Literatur. Es ist auch die Erzählung einer persönlichen Geschichte und eine Geste der wiedergefundenen Würde.

Auf meinem Nachttisch liegt ein ganzer Stapel von Büchern, die ich schon lange lesen will, eins davon würde ich mitnehmen, das dickste. Ein Essay oder ein historisches Werk, wie CIA. Die ganze Geschichte von Tim Weiner.

Als Drittes würde ich das ganze poetische Werk von Derek Walcott mitnehmen, denn Gedichte sind das, was der Perfektion am nächsten kommt. Ich tauche seit Jahren immer wieder darin ein, und jedes Eintauchen ist Glück, eine Bestätigung des Lebens.

Geboren 1977 in Enugu (Nigeria)

Blauer Hibiskus • Die Hälfte der Sonne • Americanah

Adonis

April 2015

 

Mich interessiert es, die Welt auf immer neue Weise zu betrachten, um sie besser zu verstehen. In diesem dunklen Moment unserer Geschichte treffe ich deshalb folgende Wahl:

Al-Niffari (Bagdad, 10. Jahrhundert), um sich vom Monotheismus zu befreien und das Unsichtbare besser zu sehen.

Tausendundeine Nacht, um die arabische Vorstellungswelt besser zu verstehen.

Rimbaud, um besser zu schreiben, Grenzen zu übertreten und etwas zu verändern.

Geboren 1930 in Qassabin (Syrien)

Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners • Der Baum des Orients • Gebet und Schwert

Jussi Adler-Olsen

Februar 2015

 

Martin Andersen Nexø, Pelle der Eroberer

John Steinbeck, Geld bringt Geld

Stendhal, Rot und Schwarz

Außerdem den Roman Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen von Peter Bichsel.

Geboren 1950 in Kopenhagen (Dänemark)

Erbarmen • Schändung • Erwartung

Vassilis Alexakis

April 2015

 

Ich würde als Erstes ein Lehrbuch für Altgriechisch mitnehmen, weil ich die Sprache nie richtig gelernt habe. Platons Sprache ist für einen Griechen heute fast unverständlich, auch wenn das Wort »Dialog« noch häufig verwendet wird. Ich glaube, eine einsame Insel ist ein guter Ort für das Erlernen einer toten Sprache. Ich würde auch eine Anthologie der Werke vorsokratischer Philosophen mitnehmen, zum Üben und weil ich mich mit ihnen sehr gut amüsiere. Sie präsentieren mit höchst charmanter Naivität die größten Selbstverständlichkeiten. Sie sagen zum Beispiel, dass Zorn nie geholfen hat, auch nur das geringste Problem zu lösen, und dass Rinder, wenn sie zeichnen könnten, Götter abbilden würden, die Rindern gleichen. Das dritte Buch wäre wahrscheinlich die Odyssee: Homer behauptet, dass es keine völlig einsamen Inseln gibt, dass sie von Geistern bewohnt werden, und ich mag Geister sehr gern. Den Rest der Zeit würde ich die Schönheit des Ortes betrachten: Ich stelle mir gerne vor, dass Inseln Komplimente sind, die das Land dem Meer macht.

Geboren 1943 in Athen (Griechenland)

Talgo • Warum weinst du denn? • Das Rätsel von Delphi

Monica Ali

September 2010

 

Krieg und Frieden wäre natürlich dabei.

Bleak House von Dickens, auch wenn es ein Buch voller Fehler ist, aber sein sprachlicher und spielerischer Einfallsreichtum ist unglaublich.

Als Drittes würde ich Ein Haus für Mr. Biswas von Naipaul mitnehmen. Aus diesem Buch spricht eine Menschlichkeit, die er in seinen späteren Werken verloren zu haben scheint, aber es ist auch ein Buch von umwerfender Komik.

Geboren 1967 in Dhaka (Bangladesh)

Brick Lane • Alentejo Blue • Die gläserne Frau

Tariq Ali

Februar 2007

 

Ich werde schummeln, indem ich Gesamtwerke auswähle. Also, ohne zu zögern: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, das man unendlich wiederlesen kann; das Gesamtwerk von Stendhal, meinem französischen Lieblingsautor, mit dem ich mich am meisten identifiziere; und schließlich die zwölf Bände von A Dance to the Music of Time von Anthony Powell, einem in Frankreich verkannten britischen Autor. Auf eine Insel sollte man besser Romane mitnehmen. Ich bin nicht sicher, ob die Kritik der dialektischen Vernunft meines Freundes Sartre geeignet wäre.

Geboren 1943 in Lahore (Pakistan)

Der Sultan von Palermo • Das Buch Saladin • Die Nacht des goldenen Schmetterlings

Martin Amis

Mai 2008

 

Wenn ich weder Shakespeare noch die Bibel mitnehmen darf, würde ich mich für das Gesamtwerk von Milton entscheiden. Die beiden anderen Bücher wären sicher Sammlungen von elisabethanischen Gedichten oder Gedichten des 20. Jahrhunderts, bevorzugt Yeats und Auden. Es ist zwar heutzutage nicht mehr modern, Stolz auf sein Land zu äußern, aber wenn ich stolz bin, Brite zu sein, dann wegen unserer Poesie. Wie E.M. Forster sagte, ist der britische Roman nicht herausragend. Der französische oder der deutsche ist es vielleicht, der russische ganz gewiss. Aber die britische Poesie ist einzigartig. Ansonsten würde ich schummeln und das Gesamtwerk von Nabokov oder Saul Bellow mitnehmen.

Geboren 1949 in Swansea (Wales)

Gierig • London Fields • Die Hauptsachen

Christine Angot

April 2015

 

Die Prinzessin von Clèves von Marie-Madeleine de La Fayette.

Mrs Dalloway