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Dreimal sind sich Oliver und Emil begegnet. Genauso oft ist Emil wieder aus Olivers Leben verschwunden. Trotzdem ist Oliver in Emil verliebt und dieses Gefühl hält sich hartnäckig. Als Olivers Chefin ihn bittet, in der Kinderbibliothek eine Veranstaltung zu leiten, ahnt er nicht, dass ausgerechnet Emil die Zweitklässler als Lehrer begleitet. Es ist auch nicht irgendein Buch, aus dem Oliver vorlesen soll, sondern das, was sie damals in der Grundschule zusammen gelesen haben, als Emil Olivers Lesepate war. Oliver ist wildentschlossen, die Chance zu nutzen, die Gefühle für Emil endlich loszuwerden. Deshalb lädt er Emil auf einen Kaffee ein. Emil stimmt nicht nur zu, sondern scheint mit ihm zu flirten. Oliver weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Er wollte sich entlieben und nicht sein Herz mit wilder Hoffnung darauf füllen, dass beim vierten Zusammentreffen das Timing stimmen könnte.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Bücher, Küsse und Lakritz
Von Karo Stein
Buchbeschreibung:
Dreimal sind sich Oliver und Emil begegnet. Genauso oft ist Emil wieder aus Olivers Leben verschwunden. Trotzdem ist Oliver in Emil verliebt und dieses Gefühl hält sich hartnäckig.
Als Olivers Chefin ihn bittet, in der Kinderbibliothek eine Veranstaltung zu leiten, ahnt er nicht, dass ausgerechnet Emil die Zweitklässler als Lehrer begleitet. Es ist auch nicht irgendein Buch, aus dem Oliver vorlesen soll, sondern das, was sie damals in der Grundschule zusammen gelesen haben, als Emil Olivers Lesepate war.
Oliver ist entschlossen, die Chance zu nutzen, die Gefühle für Emil endlich loszuwerden. Deshalb lädt er Emil auf einen Kaffee ein. Emil stimmt nicht nur zu, sondern scheint mit ihm zu flirten.
Oliver weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Er wollte sich entlieben und nicht sein Herz mit wilder Hoffnung darauf füllen, dass beim vierten Zusammentreffen das Timing stimmen könnte.
Bücher, Küsse und Lakritz
Karo Stein
Johann Sebastian Bach Straße 38
06484 Quedlinburg
Korrektur: Sissi Kaipurgay
Zweitkorrektur: Jessica Martin
Cover: K. Funke via Bookbrush
Happy young man holding book
@ gstockstudio
Telefon: 01728779111
www.karostein.de
Sämtliche Personen dieser Geschichten sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.
Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodells aus.
Im wahren Leben gilt: Safer Sex.
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1. Auflage, 2024
© 2024 Karo Stein – Alle Rechte vorbehalten.
Karo Stein
Johann Sebastian Bach Straße 38
06484 Quedlinburg
www.karostein.de
Manchmal wartet die Chance des Lebens gleich um die Ecke,
manchmal muss man etwas länger suchen.
Paul Potts
Für alle Fans von Lakritz!
»Wir haben ein Problem.«
Frau Becker stürmt, nach einem kaum vernehmbaren Anklopfen, in mein Büro. Erschrocken reiße ich mich von den Zahlen auf dem Bildschirm los und starre stattdessen meine Chefin an.
»Was ist passiert?«
Mein Gehirn legt sofort los und durchforstet sämtliche Probleme, die im Zusammenhang mit mir stehen könnten. Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Habe ich einen wichtigen Termin vergessen? Nein, ich habe heute Morgen meinen Kalender gewissenhaft geprüft. Daten falsch eingepflegt? Eventuell ein peinlicher Zahlendreher oder ein falsch gesetztes Komma? Dabei überprüfe ich alles stets gründlich.
Frau Becker zieht einen der Stühle, die links an der Wand stehen, zu meinem Schreibtisch. Die Stuhlbeine kratzen über den alten Holzboden und verursachen dasselbe abscheuliche Gefühl wie Kreide, die quietschend über eine Tafel gezogen wird. Ich schüttle mich unmerklich und verziehe das Gesicht. Eine unangenehme Gänsehaut rinnt über meinen Rücken und die Haare auf den Armen stellen sich auf. Unauffällig wische ich darüber.
Frau Becker scheint das Geräusch nicht zu stören. Sie setzt sich, legt ein Bein über das andere und schaut mich an, als müsste mir bereits von ihrem forschenden Blick klar werden, was ich verbrochen habe. Schuldbewusst ziehe ich die Schultern hoch, denn allein die Erscheinung meiner Chefin hat etwas Furchteinflößendes.
Ihre tiefschwarzen, langen Haare hat sie zu einem festen Pferdeschwanz gebunden. Er sitzt so straff, dass sie damit vermutlich gleich einige Falten aus der Stirn zieht. Das hellgraue Strickkleid schmiegt sich elegant an ihren schlanken Körper und die schwarzen knielangen Stiefel vollenden diesen überaus strengen Dominalook. Ich würde sogar spekulieren, dass sie eine Peitsche in Sekundenschnelle hervorzaubern und auf meinem Tisch knallen lassen kann. Ihr schweres Parfüm erfüllt den Raum mit dem Duft von Vanille und Orchideen. Der Geruch sorgt dafür, dass mir ein bisschen schwindelig wird. Ich habe das Bedürfnis, das Fenster zu öffnen, um frische Luft hereinzulassen, aber das wäre wohl unhöflich.
»Was habe ich vergessen?«, frage ich, denn ich halte weder die Spannung noch ihren merkwürdig intensiven Blick länger aus.
»Vergessen?« Sie zieht die Augenbrauen zusammen. Erstaunlich, dass das bei der strengen Frisur überhaupt funktioniert.
»Hm, vielleicht erzählen Sie mir einfach, worin das Problem besteht.« Ich versuche, möglichst lässig zu wirken, obwohl ich innerlich vor Nervosität bebe. Mein Herz klopft schnell und alte Ängste drängen an die Oberfläche. Ich hasse es, Fehler zu machen, und gebe mir Mühe, alle Aufgaben korrekt und pünktlich zu erledigen. Immer unter dem Radar bleiben, nur keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Meine Chefin sitzt jedoch bestimmt nicht ohne Grund vor mir.
»Okay, ja ... also, Herr Jahnke. Zuerst einmal: Sie haben keinen Fehler gemacht. Es geht nicht um Ihre Arbeit, mit der ich wirklich ausgesprochen zufrieden bin.«
»Das ist gut«, nuschle ich erleichtert und reibe über meinen Bauch, damit er aufhört, zu grummeln.
»Wir haben ein Problem in der Bibliothek.«
»Wie kann ich dabei helfen?«, erkundige ich mich.
»Gut, dass Sie fragen.« Das Lächeln, das sich auf Frau Beckers Gesicht ausbreitet, behagt mir nicht. »Ich weiß, dass die Bibliothek nicht Ihr Aufgabengebiet ist, aber ... na ja, ich versuche es einfach mal. Sie können natürlich nein sagen, denn das haben die meisten Ihrer Kollegen bereits getan. Und heute ist auch noch Valentinstag. Was für ein Schlamassel.«
»Valentinstag?« Ich bin vollends verwirrt, denn bisher kann ich keinen Zusammenhang erkennen, der ihr Erscheinen in meinem Büro erklärt.
Ich habe zwar durchaus die vielen Herzen und schokoladigen Liebeserklärungen bemerkt, mit denen seit einigen Wochen die Schaufenster in der Innenstadt dekoriert sind, aber dass heute dieser Tag ist, habe ich verdrängt. Er spielt keine Rolle in meinem Leben. Ich habe weder einen Freund, nicht mal einen Crush, nur die Erinnerung an etwas, das schon so lange zurückliegt und quasi nur in meiner Fantasie stattgefunden hat. Ich atme tief durch und verbiete es mir, zurückzublicken.
»Entschuldigen Sie, Frau Becker, aber ich verstehe kein Wort.«
Ich habe noch nie erlebt, dass meine Chefin dermaßen um den heißen Brei herumgeredet hat. Bisher kam sie mir eher wie eine knallharte Geschäftsfrau vor, genau der Typ, den ihre Klamotten widerspiegeln. Hart, aber gerecht, jemand, der stets den Überblick behält und nie die Nerven verliert. Sie trägt große Verantwortung und muss sich oft gegen Menschen, die nicht begreifen, wie wichtig Bibliotheken und Volkshochschulen auch in der heutigen Zeit sind, durchsetzen. Wenn es um Einsparungen im Haushalt geht, dann steht vor allem die Bibliothek stets weit oben auf dem Plan. Dabei haben wir viele Mitglieder, die regelmäßig Bücher und andere Medien ausleihen. Die angebotenen Lesungen sind überwiegend gut besucht und die meisten Kurse ausgebucht. Das Verhalten meiner Chefin erscheint mir äußerst seltsam. Vor allem in Bezug auf mich.
»Tja, nun ...« Sie starrt mich durch ihre dunkelumrahmte Brille an, als wollte sie die Nachricht telepathisch übermitteln. Schließlich lacht sie bellend auf und schüttelt den Kopf.
Ich rutsche unbehaglich auf meinem Stuhl herum. Womöglich wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um das Fenster zu öffnen. Frischer Sauerstoff für uns beide ...
»Heute ist wieder Vorlese- und Einführungsstunde für Erstleser in der Bibliothek. Die Kinder der ersten und zweiten Klassen der freien Ganztagsschule am Westring werden in knapp zwei Stunden erscheinen und Frau Fuchs, die normalerweise die Lesung gestaltet, hat kurzfristig abgesagt. Schwangerschaftsübelkeit. Unsere Frau Rother, die den Kindern erklärt, wie es in einer Bibliothek zugeht und die Ausweise ausstellt, ist seit gestern krank, sodass ich diese Aufgabe selbst übernehme, aber Lesen ... also, den Vorlesepart kann ich nicht übernehmen. Ich bin schon durch das ganze Haus gelaufen und habe sogar versucht, einige Dozenten der VHS telefonisch zu erreichen. Bisher hatte ich kein Glück und nun ... ja, nun sind Sie gewissermaßen meine letzte Hoffnung.«
»Nein!«, rufe ich entsetzt. Ich gehöre nicht zu den Mitarbeitern mit Kundenkontakt und das soll so bleiben.
»Hm.« Sie zuckt mit den Schultern und lächelt entschuldigend. »Ich habe mich daran erinnert, dass Sie als Schüler mal an einem Vorlesewettbewerb teilgenommen haben. Ihr Bild hängt unten. Außerdem haben Sie eine Zeit lang selbst unterrichtet.«
»Das mit dem Vorlesewettbewerb ist doch schon Ewigkeiten her. Ich glaube, ich bin damals auch nur Dritter geworden. Da hängt tatsächlich ein Bild von mir?« Ich reibe mir verlegen den Nacken. Auf die Anspielung meiner missglückten Lehrerlaufbahn gehe ich nicht ein. Ich will nicht, dass die düsteren Erinnerungen aufploppen.
»Wir haben zum dreißigjährigen Bestehen des Vorlesewettbewerbs im vergangenen Jahr eine Fotocollage gebastelt.«
»Das habe ich gar nicht mitbekommen«, stelle ich fest. »Und Sie haben mich darauf erkannt?«
»Die Kinder- und Jugendbibliothek hat es auch nicht sehr groß gefeiert. Um ehrlich zu sein, hätten wir gar nicht an dieses Jubiläum gedacht, wenn die Praktikantin es nicht herausgefunden hätte. Davon abgesehen stehen natürlich die Namen der Schülerinnen und Schüler unter den Bildern.«
»Was muss ich denn machen und wie lange dauert die Sache?« Ich kann nicht glauben, dass ich diese Fragen stelle. Ziehe ich ernsthaft in Betracht, vor Kindern zu lesen? Offenbar ist meine Chefin ebenso erstaunt und zugleich erleichtert. Sie hält mein Interesse wohl für eine Zusage.
»Frau Fuchs wollte einige Stellen aus Das Dschungelbuch lesen.«
»Das Dschungelbuch?«, wiederhole ich.
Nun ploppen die Erinnerungsfetzen wie bunte Luftballons in meinem Kopf auf. Das Buch habe ich als Kind geliebt. Nicht nur wegen der Geschichte, sondern wegen Emil. Unser allererstes Zusammentreffen in der Grundschule. Er war in der Vierten und sollte mich beim Lesenlernen unterstützen. Lesepatenschaften ... Ich war damals acht und furchtbar beeindruckt von dem Jungen, der perfekt vorlesen konnte, während ich es kaum geschafft habe, Worte aus Buchstaben zu formulieren. Ich hätte Emil ewig zuhören können und wollte ihm unbedingt nacheifern. Deshalb habe ich ein Jahr später am Vorlesewettbewerb teilgenommen. Da war er längst am Gymnasium und wir hatten keinen Kontakt mehr. Wir waren keine Freunde. Emil hat nur mit mir lesen geübt.
Damals habe ich nicht begriffen, woher diese Faszination für ihn kam. Ein paar Jahre später wechselte er an meine Schule, eine freie Ganztagsschule. Ich war vierzehn, er sechzehn, zwei Klassen über mir. Ich habe mich so verknallt, wie nie wieder in meinem Leben. Diese intensiven Gefühle haben mich durcheinandergebracht und aggressiv gemacht. Die Möglichkeit, schwul zu sein, hat mich schockiert und verängstigt. Emil war nur ein Jahr da und hat mich kaum beachtet. Seine dunklen Augen, die wilden Locken und seine Stimme verfolgen mich immer noch in meinen Träumen.
»Das Dschungelbuch«, flüstere ich und schüttle den Kopf, um die Erinnerungen loszuwerden.
»Sicherlich wäre auch eine andere Lektüre möglich, aber Frau Fuchs hat hier im Buch einige Stellen bereits markiert, was es für Sie sicherlich leichter machen würde. Ansonsten müssten Sie mal schauen, was ...«
»Nein, nein«, unterbreche ich sie. »Das ist eine großartige Geschichte. Ich habe sie als Kind sehr gemocht, nur schon lange nicht mehr daran gedacht. Ich weiß nicht, wie gut ich als Vorleser bin, aber ich glaube, ich würde es probieren.«
Sind die Worte tatsächlich aus meinem Mund gekommen? Wieso hat sie niemand aufgehalten? Ich ziehe es ernsthaft in Betracht, vor Kindern zu lesen? Wie ein ... ein Lehrer? Ich fühle mich wie von einem Dämon besessen, der mich willenlos herumkommandiert. Hat mir jemand heimlich etwas in den Kaffee gekippt? Es ist noch nicht zu spät für einen Rückzieher. Plötzlich auftretende Halsschmerzen wären eine akzeptable Ausrede, oder?
»Ernsthaft?«, unterbricht Frau Becker meine wirren Gedanken. »Das würden Sie tun, Herr Jahnke? Ich bin begeistert und erstaunt zugleich.« Sie mustert mich eindringlich, als würde sie einen Rückzieher erwarten.
Ich öffne den Mund, schließe ihn wieder und räuspere mich. Da entsteht tatsächlich ein winziger Schmerz im Rachenraum ...
Frau Becker kennt meine Geschichte und weiß, wie hart ich gekämpft habe, um mich von den seelischen Schikanen und Demütigungen zu erholen. Deshalb bin ich beeindruckt, dass sie diese Bitte ausgerechnet an mich heranträgt. Es macht mir ihre verzweifelte Lage bewusst. Mit Schülern und Schülerinnen hatte ich nie ein Problem. Im Gegenteil, ich habe es geliebt, zu unterrichten, Vielleicht ist heute ein guter Tag für einen Mutausbruch. Ich nicke bestätigend und spüre ein seltsam euphorisches Kribbeln in meinem Bauch.
»Ich bin ebenso erstaunt«, gebe ich ehrlich zu. »Aber es wäre schade, wenn die Veranstaltung ausfallen muss. Ich hoffe, den Kindern fällt es nicht auf, dass sie keinen Vorleseprofi vor sich haben. Ich werde mir auf jeden Fall Mühe geben. Vielleicht steckt ja noch etwas von damals in mir.« Ich zwinkere ihr zu und versuche, mir mit den Worten selbst Mut zuzusprechen.
»Ich bin tief beeindruckt«, sagt sie und erhebt sich langsam. »Als ich in Ihr Büro gestürmt bin, hatte ich mit einer Abfuhr gerechnet. Ich hätte es absolut verstanden. Sie sind ein großartiger Mitarbeiter, leisten hervorragende Arbeit und sind immer sehr diszipliniert, aber eben doch auch sehr zurückhaltend. Ich wollte Sie mit der Erinnerung an den Vorlesewettbewerb und an Ihre Zeit als Lehrer nicht in Verlegenheit bringen. Vermutlich sollte ich Sie mit solchen Projekten mehr aus der Reserve locken, damit Sie ihr volles Potential wieder ausschöpfen.«
»Vielleicht sollten wir erst mal abwarten, wie es läuft«, antworte ich mit einem Anflug von Panik. Ich bin inzwischen eher introvertiert und liebe den Schutz meines kleinen Büros und die vorhersehbare, beinahe stupide Arbeit. Es gab eine Zeit, da war ich anders, aber die liegt weit zurück.
»Sie haben recht, aber ich habe den Eindruck, dass Sie uns alle überraschen werden. Hier ist das Buch. Nutzen Sie die verbleibende Zeit, bis die Kinder ankommen, und schauen Sie sich die Textstellen an. Wie gesagt, sie sind kein Muss, falls Ihnen eine andere Stelle besser gefällt. Es liegt in Ihrem Ermessen.«
»Danke«, murmle ich und begreife langsam, wozu ich zugestimmt habe. Mit zittrigen Fingern ergreife das Buch. Ein schwarzer Panther schaut mich vom Cover an, die Umrisse eines kleinen Jungen und eines Bären sind im Hintergrund. Ich verliere mich einen Moment in dem Bild. Erneut steigen Erinnerungen aus der Tiefe hervor.
Es liegt lange zurück und doch bleibt unser erstes Zusammentreffen deutlich in meinen Gedanken. Ich habe sogar noch den Geruch des Klassenzimmers in der Nase. Emil, der den Raum betritt, Das Dschungelbuch unter dem Arm. Lässig, wie es nur Viertklässler sein können, und zugleich genervt, weil er, anstatt draußen zu spielen, mit mir üben muss.
Der Zufall hat uns ein drittes Aufeinandertreffen beschert. Er ist Lehrer an der gleichen Schule gewesen, an der ich mein Referendariat absolviert habe. Ich habe ihn sofort erkannt und er mich. Zum ersten Mal hatte ich die Hoffnung, ihn besser kennenzulernen und dass er sich vielleicht sogar in mich verliebt.
Ich seufze traurig, denn ich spüre, wie nah mir diese Sache immer noch geht. Wir haben uns gut verstanden. Er hat mich unterstützt, mir gezeigt, worauf es beim Unterrichten ankommt, all das, was wir an der Uni nicht gelernt haben. Leider ist er mit einer Frau verheiratet. Er hat mich auf Abstand gehalten, bis er aus heiterem Himmel weg gewesen ist. Wir haben uns nie wiedergesehen und doch ist ein Teil meines Herzens immer noch von ihm besetzt. Es ist albern und seltsam schmerzhaft.
Um meine Nerven etwas zu beruhigen, ziehe ich die untere Schublade meines Schreibtischs auf und hole eine Tüte Lakritzkatzen heraus. Behände reiße ich sie auf und stopfe mir gleich drei von den weichen Kätzchen in den Mund. Mit einem genussvollen Stöhnen begrüße ich ihren würzigen Geschmack von Süßholz auf der Zunge. Sie verfehlen ihre tröstende Wirkung nicht. Ich nasche beinahe die halbe Tüte leer, während ich mich mit dem Text auseinandersetze.
Die Zeit bis zu meinem Auftritt vergeht schneller als gehofft. Am schlimmsten ist, dass ich mir nicht bei meiner liebsten Kollegin Mira Trost und Unterstützung holen kann. Sie ist inzwischen auch eine liebe Freundin, die es immer wieder schafft, mich aus meinem Schneckenhaus zu locken. Ich mag ihre witzige und offene Art, die nicht aufgesetzt oder künstlich wirkt. Manchmal bin ich darüber verwundert, wie perfekt wir uns verstehen.
Am Anfang habe ich befürchtet, dass sie nur auf der Suche nach einem schwulen besten Freund ist, um ihn wie ein modisches Accessoire zu präsentieren, weil Diversität in allen Lebenslagen gefordert wird. Sie hat mich schnell eines Besseren belehrt und gezeigt, dass ich ihr vertrauen kann. Es ist eben doch so, dass wir im Leben manchmal Menschen begegnen, die auf irgendeine Weise für uns bestimmt sind, selbst wenn es auf dem ersten Blick nicht so scheint.
Mira ist zurzeit jedoch auf einer Weiterbildung und kommt erst morgen wieder. Da ich ihren Stundenplan nicht kenne, traue ich mich nicht, sie anzurufen. Ich will nicht stören, obwohl ich ein paar aufmunternde Worte von ihr gebrauchen könnte.
Jetzt ist es ohnehin zu spät, denn Frau Becker steht in der Tür, um mich persönlich abzuholen.
»Bereit?«, fragt sie mit einem breiten Lächeln aus strahlend weißen Zähnen und knallroten Lippen.
Ich nicke, schüttle den Kopf, erhebe mich von meinem Stuhl und seufze tief gegen die Anspannung an.
»Ich habe volles Vertrauen«, sagt sie, was sich nicht beruhigend auf meine Nervosität auswirkt.
»Hoffentlich enttäusche ich Sie nicht«, murmle ich und stopfe mir eine Handvoll Lakritz in die Hosentasche. Ich nehme das Buch in die Hand und komme hinter meinem Schreibtisch hervor.
Meine Knie zittern und meine Handflächen sind feucht, als wir uns auf den Weg nach unten in die Kinderbibliothek begeben. Ich habe Mühe, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern, und kämpfe gegen das fiese Grummeln im Bauch.
Frau Becker öffnet die Tür und hält sie für mich auf. Zögernd betrete ich den Raum, in dem eine beachtliche Anzahl an Kindern herumwuselt. Unvorstellbar, dass ich gleich vor ihnen lesen werde. Zugleich spüre ich dieselbe kribblige Vorfreude wie früher. Dumpf unter der Oberfläche, nicht mutig genug, um sich hervorzuwagen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?
Aufgeregtes Stimmengewirr und fröhliches Lachen umgeben mich. Der typische Geruch von Büchern hängt in der Luft, gemixt mit einer dezenten Note verbrauchter Luft, Schweiß und einem Hauch alter Schulbrote. Erneut habe ich das Gefühl, auf einer Zeitreise zu sein. Früher war die Bibliothek in einem anderen Haus untergebracht, aber es sah im Inneren ähnlich aus. Lange Reihen von Büchergestellen, vollgestopft mit Träumen, Fantasie, Abenteuer und faszinierenden, fremden Welten. Ich beneide die Kinder für diesen ersten, überwältigenden Moment, ein Buch aus dem Regal zu ziehen, um diese Vielfalt zu entdecken.
Ich betrachte die Bilder an der Wand und suche möglichst unauffällig nach dem Vorlesewettbewerb, an dem ich teilgenommen habe. Als ich mein Foto erblicke, kann ich mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Ich habe seit Jahren nicht mehr an den Wettbewerb gedacht und niemals damit gerechnet, dass ich wieder hier stehen würde. Das Dschungelbuch in der Hand und mit diesem wahnsinnigen Flattern im Bauch. Der grüne Pullover mit Baghira auf der Brust passt mir heute nicht mehr. Meine Mutter hatte ihn extra für den Wettbewerb gekauft.