Auffallend Verliebt - Karo Stein - E-Book

Auffallend Verliebt E-Book

Karo Stein

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Beschreibung

Nachdem sich Max eingestanden hat, dass seine Beziehung gescheitert ist, flüchtet er in ein kleines Dorf, in dem sein Freund Moritz als Pfarrer arbeitet. Max hofft auf seine Unterstützung, auch wenn er im Moment keinerlei Vorstellung davon hat, wie es für ihn weitergehen soll. Dann begegnet ihm Paul, ein Mann, der mit knapp 1,40 Meter Max´Leben mächtig durcheinanderwirbelt. Er kann sich Pauls Unbeschwertheit nicht entziehen, auch wenn er gleichzeitig von der Chance träumt, dass Moritz doch noch mehr als nur freundschaftliche Gefühle für ihn entwickelt. Dabei übersieht er beinahe, dass sein Herz längst einem anderen Mann zugeflogen ist. Es stellt sich bloß noch die Frage, ob Liebe etwas mit der Körpergröße zu tun hat oder nicht.

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Ein Dorf im Nirgendwo
Erinnerungen
ER, du und ich
Bett ist nicht gleich Bett
Ein neues Zuhause
Im Wein liegt die Wahrheit
Klettern für Anfänger
Rabenklippen
Unerwarteter Besuch
Bettgeflüster
Streuselschnecken
Friedas Küche
Vom Klettern und Fliegen
Dunkle Geheimnisse
Lady de Winter
Verführ mich
Nenn mich nicht Schneewittchen
Schmerzhafte Erinnerungen
Noch mehr Wein und Wahrheit
Vergangenheit und Gegenwart
Ein wundervoller Morgen
Epilog

 

 

Auffallend Verliebt

 

Von Karo Stein

 

 

 

 

 

Buchbeschreibung:

Nachdem sich Max eingestanden hat, dass seine Beziehung gescheitert ist, flüchtet er in ein kleines Dorf, in dem sein Freund Moritz als Pfarrer arbeitet. Max hofft auf seine Unterstützung, auch wenn er im Moment keinerlei Vorstellung davon hat, wie es für ihn weitergehen soll. Dann begegnet ihm Paul, ein Mann, der mit knapp 1,40 Meter Max´Leben mächtig durcheinanderwirbelt. Er kann sich Pauls Unbeschwertheit nicht entziehen, auch wenn er gleichzeitig von der Chance träumt, dass Moritz doch noch mehr als nur freundschaftliche Gefühle für ihn entwickelt. Dabei übersieht er beinahe, dass sein Herz längst einem anderen Mann zugeflogen ist. Es stellt sich bloß noch die Frage, ob Liebe etwas mit der Körpergröße zu tun hat oder nicht.

 

 

 

 

 

 

 

Auffallend Verliebt

Von Karo Stein

 

Karo Stein

Johann Sebastian Bach Straße 38

06484 Quedlinburg

 

Cover:

Motiv: 123rf :12154031, 51718625

Bearbeitung: Caro Sodar

 

Korrektur:

Sissi kaipurgay

 

Telefon: 01728779111

[email protected]

www.karostein.de

 

Sämtliche Personen dieser Geschichten sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.

Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodells aus.

Im wahren Leben gilt: Safer Sex.

E-Books sind nicht übertragbar und dürfen auch nicht kopiert oder weiterverkauft werden.

In jedem Buch steckt eine Menge Arbeit, bitte respektieren Sie diese Arbeit und erwerben Sie eine legale Kopie.

Ich freue mich über Rückmeldungen, z.B. auf facebook, per E-Mail oder als Rezension

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Auflage, 2023

© 2018 Karo Stein – alle Rechte vorbehalten.

Karo Stein

Johann Sebastian Bach Straße 38

06484 Quedlinburg

 

[email protected]

www.karostein.de

 

 

Alle Charaktere sind aus denselben Elementen zusammengesetzt; nur die Proportionen machen den Unterschied aus.

 

Théodore Simon Jouffroy

 

Ein Dorf im Nirgendwo

Langsam nähert sich der Bus der Haltestelle, die sich offenbar mitten in dem kleinen Ort befindet. Durch die Scheibe kann ich einen Platz erkennen, auf dem Stände von fliegenden Händlern stehen. Ein paar ältere Frauen kaufen dort ein. Das ist es wohl, was man als Dorfidylle bezeichnet. Mein Magen beginnt unangenehm zu grummeln. Es ist nicht allein ein heftiges Bedürfnis nach etwas Essbarem, sondern vor allem die Sorge vor dem, was mich erwartet. Im schlimmsten Fall sitze ich in Kürze erneut in einem Bus wie diesem, im besten … Ich habe keine Ahnung, auf was ich mich einstellen muss. Immerhin habe ich meinen Besuch nicht einmal angekündigt.

Ich stehe bereits an der Tür, halte mich mit einer Hand an einer der Stangen fest und umklammere mit der anderen die Henkel meiner Reisetasche, als der Bus zum Stehen kommt. Auf dem Rücken spüre ich das Gewicht des prall gefüllten Rucksacks. Mein Herz hüpft nervös in der Brust. Hinter meiner Stirn beginnt es unangenehm zu pochen. Vermutlich liegt es an der schlechten Luft hier drinnen. Diese Mischung aus Schweiß und Diesel ist einfach nur grauenhaft. Dazu das beständige Schaukeln und Rumpeln. Es ist unglaublich, dass solche alten Busse noch in Betrieb sind. Dieser hat mindestens zwanzig Jahre auf dem Buckel, vielleicht sogar noch mehr. Dass wir hier überhaupt angekommen sind, grenzt beinahe an ein Wunder. Genau das brauche ich: ein kleines Wunder. Ich hoffe, dass es sich nicht bereits mit der Busfahrt erfüllt hat. Ein bisschen mehr könnte ich durchaus gebrauchen.

Die Bremsen quietschen, ein letzter Ruck, der mich beinahe umhaut und die Tür beginnt sich zu öffnen. Ich schlüpfe eilig hindurch, atme tief die frische Luft ein und lasse meine Tasche auf den Fußweg fallen. Eine ältere Frau und ein ziemlich kleiner Mann steigen ebenfalls aus. Mir sind die beiden vorher gar nicht aufgefallen, was allerdings nicht weiter erstaunlich ist. Zum einen saß ich hinten allein und habe die meiste Zeit lesend verbracht. Selbst von der Landschaft habe ich kaum etwas mitbekommen, außer, wenn der Bus diese furchtbar engen Kurven gefahren ist und man das Gefühl hatte, direkt über dem Abhang zu schweben. Dabei mag ich Gebirge, die Schroffheit der Felsen und der Duft der Wälder und Wiesen. Deshalb bin ich meiner ersten Eingebung gefolgt. Jetzt bin ich mir allerdings nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war.

Der Mann und die Frau unterhalten sich angeregt miteinander. Ich starre ihnen hinterher. Er ist wirklich klein. Vermutlich reicht er mir kaum bis zur Brust. Sie muss ständig nach unten schauen, während er dauernd den Kopf in den Nacken legt. Er lacht herzhaft über irgendetwas, dass sie zu ihm gesagt hat. Seine Stimme klingt angenehm tief. Ich gucke den beiden nach, bis sie hinter einer Kurve verschwinden.

Der Bus fährt an und lässt mich in einer furchtbar stinkenden Wolke zurück. Verloren sehe ich mich um. Eine schwarz-weiß gefleckte Katze läuft einige Meter entfernt auf dem Fußweg. Ich höre einen Hund bellen. Vögel zwitschern, irgendwo in der Ferne dröhnt ein Rasenmäher. Vielleicht ist es auch ein anderes Gerät.

Der Wind rauscht in den Bäumen und der Duft von Gras und Blumen dringt mir in die Nase. Dazu die Silhouette der Berge, die diesen Ort umschließen. Eine spießige Idylle, perfekt für einen kitschigen Liebesfilm. Bei mir motiviert die Umgebung allerdings meinen Fluchtinstinkt. Auch wenn ich hoffe, dass es nicht nötig sein wird, schaue ich auf den Fahrplan. In knapp drei Stunden würde mich der letzte und einzige Bus für heute von hier wegbringen. Ich schüttle energisch den Kopf. Nicht nachdenken ... Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um die Fahrt hierher als Fehlentscheidung anzuprangern. Ich habe in den vergangenen Jahren viel riskiert und verloren, war zu bockig, um es einzusehen, vielleicht auch zu verletzt. Meine Freunde habe ich kommentarlos zurückgelassen und jetzt traue ich mich nicht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Aber ich bin hier und das ist so etwas wie ein erster Schritt.

Entschlossen schnappe ich mir die Reisetasche, die zum Glück mit Rollen versehen ist, sodass ich sie nicht tragen brauche. Ich straffe die Schultern und bewege mich vorwärts, auch wenn ich keine Ahnung habe, wohin ich genau muss. Es dürfte allerdings in einem Dorf wie diesem nicht so schwer sein, die Kirche zu finden. Ich wende mich nach rechts und gehe die Straße entlang. Die Rollen klacken auf den unebenen Pflastersteinen und sorgen dafür, dass mein Kopfschmerz an Intensität zunimmt. Instinktiv reibe ich mir über die Stirn. Mein Hals ist trocken, dafür sind die Hände schwitzig. Obendrein habe ich den Eindruck, dass ich unangenehm rieche. In Anbetracht dessen, dass ich bereits fast zwölf Stunden mit Bahn und Bus unterwegs bin, davor meine Sachen packen musste und ziemlich eilig die Wohnung verlassen habe, ist es nicht erstaunlich. Es macht jedoch die Mission nicht einfacher. Ich wünschte, ich könnte vorher duschen und frische Klamotten anziehen.

An der nächsten Kreuzung schaue ich nach rechts und links und kann mich nicht entscheiden. Genervt stoße ich Luft aus und frage mich, ob ich eine Münze werfen soll. Ich bin zu müde und erschöpft, um durch die Gegend zu irren.

„Kann ich Ihnen helfen“, höre ich jemand hinter mir fragen. Erschrocken springe ich zuerst einen Schritt nach vorn, dann drehe ich mich um und starre gewissermaßen ins Leere.

„Hier unten“, sagt die Stimme amüsiert, die ich augenblicklich wiedererkenne. Der kleine Mann! Verschämt schießt mir Blut ins Gesicht.

„Entschuldigung“, nuschle ich wenig eloquent und senke den Blick. Ohne Zweifel ist das der Mann aus dem Bus. Er lächelt mich an, während ich mich verlegen winde und feststelle, dass ich mit meiner Vermutung recht hatte. Er reicht mir maximal bis zur Brust.

„Ein Meter siebenunddreißig“, sagt er mit einem breiten Grinsen, was meiner Gesichtsfarbe noch einen deutlichen Schub ins Dunkelrote gibt. „Da wir den Größenunterschied nun geklärt haben: Kann ich Ihnen behilflich sein? Ich kenne mich hier gut aus.“

„Ich suche die Kirche“, antworte ich stotternd. Es fällt mir schwer, den Mann nicht anzustarren. Obwohl ich andere Sorgen und von Männern genug habe, kann ich nichts dagegen tun, dass ich den Kerl vor mir abchecke. Einmal abgesehen von der Größe ist er durchaus attraktiv. Seine Haare sind dunkelblond. Er trägt einen definierten Seitenscheitel, dazu einen Drei-Tage-Bart. Braune Augen, die mich an eine Mischung aus Karamell und Schokolade erinnern. Mein Hals wird trocken, bei dem Lächeln, das er mir nun schenkt. Kleine Grübchen bilden sich auf seinen Wangen. Scheiße, ich bin eindeutig übermüdet und brauche dringend ein Bett und ein paar Stunden Schlaf. Und eine Dusche!

„Das ist einfach“, sagt er nun, ohne allerdings in eine Richtung zu weisen.

„Bitte, es ist dringend“, bettle ich und hoffe, dass mein flehender Blick wirkt.

„Da muss wohl jemand seine Sünden beichten?“, fragt er lachend. Erneut fällt mir die dunkle, beinahe samtige Stimme auf. Sie sorgt für ein unangebrachtes Kribbeln in meinem Bauch.

„Nur einen Freund besuchen“, antworte ich ausweichend. Eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob wir noch immer Freunde sind. Waren wir es überhaupt jemals? Vielleicht bin ich auch nur eine Art Bedrohung aus seiner Vergangenheit, oder jemand, den er längst vergessen hat. Ich war es schließlich, der jeglichen Kontakt abgebrochen und sich in diese zerstörerische Beziehung gestürzt hat. Darf er mich als Pfarrer überhaupt abweisen? Gibt es nicht so einen Grundsatz, dass die Kirche jedem, der darum bittet, Unterschlupf gewähren muss? Vermutlich gilt das jedoch nicht für Homosexuelle.

„Es sind nur wenige Meter“, unterbricht der Mann meine wilden, inneren Spekulationen. „Dort hinten kann man schon das Kreuz auf dem Dach sehen.“

„Kein Kirchturm?“, frage ich erstaunt.

„Nein, es ist ein, wie ich finde, nicht besonders attraktiver Neubau.“

„Okay“, erwidere ich gedankenlos und gehe einfach los. „Und danke“, rufe ich nach wenigen Metern, dabei drehe ich mich noch einmal um.

„Jederzeit wieder. Vielleicht läuft man sich noch mal über den Weg. Musst nur ab und zu mal nach unten gucken.“

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, also nicke ich lediglich, was ihn erneut zum Lachen bringt. Offenbar gehört er zu den überaus fröhlichen Menschen. Davon bin ich im Moment weit entfernt. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich nicht einmal eine Ahnung, ob sich das jemals wieder ändern wird. Irgendwie erscheint mir alles einfach nur grau in grau. Ich habe keinen Plan, wie es mit meinem Leben weitergehen soll und das fühlt sich echt beschissen an. Ich weiß nicht einmal, ob das hier wirklich Sinn macht. Vielleicht sollte ich doch lieber mit dem Bus zurückfahren.

Ich drehe jedoch nicht um, sondern gehe weiter. Meine Reise war viel zu lang, um sie jetzt, kurz vor dem Ziel, aufzugeben.

„Was soll schon passieren?“, murmele ich leise vor mich hin und versuche mir selbst Mut zuzusprechen.

Tatsächlich sind es nur wenige hundert Meter, bis ich das Gebäude entdecke, das offensichtlich die Kirche des Ortes ist. Ein moderner Flachbau, dessen Dach seltsam konisch zu einer Spitze verläuft, auf der sich ein gut sichtbares Kreuz befindet. Viel mehr erinnert nicht daran, dass es sich um ein Gotteshaus handelt. Ich habe nur wenig Bezug zur Kirche und ihren Bauten, schaue sie mir lediglich im Rahmen einer Sightseeingtour an. Dann ist es allerdings mehr wie der Besuch in einem Museum und nicht, um Spiritualität zu erfahren. Auf den ersten Blick finde ich das Gebäude eher verstörend, eher passend für eine dieser grusligen Sekten. Eine breite, gepflasterte Einfahrt führt zum Eingang. Das Gelände ist von einer niedrigen Bruchsteinmauer umgeben, an der in den Zwischenräumen einige Pflanzen wachsen. Das schmiedeeiserne Tor ist weit geöffnet. Es wirkt ein wenig absurd, denn die Mauer stellt eindeutig kein Hinderungsgrund dar, um auf das Gelände zu gelangen. Da ist es egal, ob das Tor offen oder geschlossen ist.

Mein Herz beginnt erneut schneller zu schlagen, als ich hindurchgehe. Das flaue Gefühl im Magen verstärkt sich und auch der Kopfschmerz legt noch ein wenig zu. Ich bin ein Wrack. Mit zitternden Fingern drücke ich die Klinke herunter, erwarte beinahe, dass die Tür verschlossen ist. Sie gibt jedoch nach und schwingt auf. Erleichtert entlasse ich die Luft aus meinen Lungen und gehe hinein. Es erwartet mich eine weitere Tür, komplett aus Glas. Auch diese lässt sich problemlos öffnen. Unschlüssig bleibe ich stehen. Den Rucksack streife ich von den Schultern und stelle ihn neben die Reisetasche.

Der Raum ist schlicht, mit einfachen Stühlen, die mich an ein Klassenzimmer oder eine Aula erinnern. Ein riesiges Kreuz mit einer Jesusfigur dominiert den Raum. Blumen, Kerzen … Die Wände sind mit Holz verkleidet, die Fenster in Form von Kreuzen angelegt. Moderne, schlichte Lichtelemente hängen von der Decke. Das alles wirkt seltsam fremd und weit entfernt von dem, was man sich unter einer Kirche vorstellt.

Ich schaue mich suchend um, gehe ein paar Schritte und lausche in die Stille. Wahrscheinlich ist niemand hier. In der Mitte des Raums bleibe ich stehen. Seufzend drehe ich mich einmal im Kreis und will schon den Rückweg antreten, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme. Eine Seitentür wird geöffnet. Ein schwarzer Talar, in dem ein Mann steckt, den ich auf den ersten Blick gar nicht wiedererkenne, erscheint in meinem Blickfeld. Auch er stockt, als er mich sieht. Vermutlich kneifen wir beide gleichzeitig die Augen zusammen, aber es ist Moritz, der sich schneller im Griff hat und mit eiligen Schritten auf mich zukommt.

„Bist du es wirklich?“, fragt er und zieht mich in eine innige Umarmung.

„Falls du mich für Max hältst, dann ja“, antworte ich atemlos. Er schiebt mich ein Stück von sich und mustert mich eindringlich.

„Max“, sagt er mit einem breiten Lächeln. „Wie kommst du hierher?“

„Hallo Moritz“, erwidere ich unsicher. „Darf ich dich überhaupt so ansprechen? Es ist doch bestimmt ….“

„Einfach nur Moritz“, unterbricht er mein Stottern. „Ich kann gar nicht glauben, dass du hier bist.“

„Na, wer zweifelt denn da an seinem Glauben?“, frage ich grinsend. „Soll ich dich kneifen?“

Er schüttelt lachend den Kopf, entfernt sich einige Schritte und lässt sich auf einen der Stühle fallen.

„Setz dich doch und erzähl mir, wie es dir in den letzten Jahren ergangen ist. Du warst ja komplett von der Bildfläche verschwunden.“ Moritz drängt mich zu einer der Stuhlreihen. Ich lasse mich erschöpft auf den Sitz fallen.

„Puh, so ein Bericht ist vermutlich nicht für dieses Haus geeignet“, erwidere ich ausweichend. Der Vorwurf in seiner Stimme entgeht mir nicht. Ich habe ihn verdient, denn es hat verdammt lange gedauert, um meinen Fehler zu erkennen. Das Gefühl von Scham, das meinen Körper schlagartig flutet, jagt mir unangenehme Schauer über den Rücken. Schnell versuche ich, die Erinnerungen zu unterdrücken und mich auf das Hier und jetzt zu konzentrieren.

Ich mustere den Mann, der neben mir sitzt. Es ist eindeutig Moritz und doch irgendwie auch nicht. Seine Kleidung setzt eine deutliche Grenze zu dem Mann, den ich damals kennengelernt habe und in den ich ein bisschen verknallt war. Er ist immer noch sexy, ganz sein Bruder, aber gleichzeitig wirkt er unnahbar und fremd.

„Bist du mit deinem Freund hier? Urlaub? Wollt ihr euch die schöne Gegend anschauen?“

Ich schüttle den Kopf, der auf einmal seltsam leer ist. Die ganze Fahrt habe ich darüber nachgedacht, was ich Moritz erzähle und jetzt fällt mir nichts davon mehr ein.

„Es ist kein Zufall, dass du ausgerechnet in dieser Kirche auftauchst, oder?“, fragt er weiter.

„Nein. Ich habe nach dir gesucht.“

„Und du hast mich gefunden“, sagt er lachend und drückt mich an sich.

„Ja.“ Am liebsten möchte ich gegen seine Schulter gelehnt bleiben. Einfach nur ein paar Minuten Nähe genießen und nicht nachdenken.

„Was hältst du davon, wenn wir nach nebenan in meine Wohnung gehen? Ich koche uns einen Kaffee und dann können wir reden oder nur ein bisschen in Erinnerungen schwelgen.“

„Das wäre toll“, entgegne ich. Moritz erhebt sich und geht voran. Sein schwarzer Talar schwebt über den Boden. Es kommt mir surreal vor und erneut frage ich mich, welcher merkwürdigen Eingebung ich gefolgt bin, um hier zu landen.

„Ist das dein Gepäck?“, erkundigt er sich.

„Ja.“

„Das sieht nicht nach einem kleinen Urlaub aus“, stellt Moritz fest. Abermals spüre ich seinen eindringlichen Blick und weiche ihm unsicher aus. Ich schüttle den Kopf und komme mir auf einmal furchtbar verloren vor. Am liebsten würde ich an ihm vorbei aus dem Gebäude stürmen. Es war eine Scheißidee, ausgerechnet hier Zuflucht zu suchen.

„Bringen wir es erst mal zu mir“, entscheidet Moritz und schnappt sich den Rucksack.

„Herr Pfarrer“, ruft eine weibliche Stimme, kaum, dass wir das Gotteshaus verlassen haben. „Wie schön, dass ich Sie antreffe.“

„Natürlich, Frau Müller, wo sollte ich denn sonst sein?“ Moritz‘ Stimme klingt überaus freundlich, aber ich bin mir dennoch sicher, einen genervten Unterton zu hören.

„Wollen Sie verreisen?“, erkundigt sich die Frau und schaut neugierig zwischen uns hin und her.

„Nein, Frau Müller, das habe ich nicht vor. Ich habe spontan Besuch von einem alten Freund bekommen. Er braucht nach der langen Fahrt jetzt dringend einen Kaffee.“

„Oh, verstehe“, sagt sie und scannt mich von oben bis unten. „Und eine Dusche“, murmelt sie, allerdings nicht leise genug, um es nicht zu hören. „Wo wohnt denn Ihr Besuch?“

„Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen, Frau Müller. Er ist eben erst angekommen, aber ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung finden.“

„Fremde Leute sorgen immer für so viel Aufregung. Als neulich die Nichte von Bauer Hartmann zu Besuch war … Ein einziges Chaos hat die junge Frau hinterlassen.“

„Nun, ich denke, es waren eher die beiden jungen Männer, die sich chaotisch benommen haben.“

„Ich weiß nicht, ob man ihnen wirklich einen Vorwurf machen kann. Das Mädel hatte es doch faustdick hinter den Ohren.“

„Frau Müller“, unterbricht Moritz sie streng. Obwohl er immer noch zuvorkommend klingt, gibt es keine Zweifel daran, dass er die angedeuteten Anschuldigungen nicht akzeptiert. „Ich würde mich jetzt gern um meinen Gast kümmern. Ich habe ihn schon viele Jahre nicht gesehen. Wollten Sie etwas Bestimmtes von mir?“

„Nein, kümmern Sie sich nur um ihren Besuch. Ich bin auf dem Weg zum Friedhof, meinen Rüdiger besuchen. Gott hab ihn selig.“ Sie bekreuzigt sich und Moritz macht es auch. „Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.“

Abermals wirft sie mir einen prüfenden Blick zu, auf den ich mit einem halbherzigen Lächeln reagiere, dann dreht sie sich um und geht weiter.

Mit schnellen Schritten läuft Moritz auf ein kleines Fachwerkhaus zu, das sich schräg hinter der Kirche befindet. Ich folge ihm. Er öffnet die Tür und macht eine einladende Armbewegung. Kurz darauf stehe ich in einem winzigen Flur.

„Diese Frau ist die Pest“, knurrt Moritz leise und bekreuzigt sich augenblicklich. Ich habe Mühe nicht zu lachen.

„Lass alles hier stehen und komm mit in die Küche.“ Moritz deutet auf eine weitere Tür.

Wir betreten gemeinsam den Raum. Eine funktionale Küchenzeile mit einer modernen Kaffeemaschine und eine gemütliche Sitzecke. Auf dem Tisch steht eine große Kerze und in einer Ecke stapeln sich Zeitungen. Das obligatorische Kreuz an der Wand darf natürlich auch nicht fehlen.

„Also, Kaffee?“, fragt er und fängt an, ohne eine Antwort von mir abzuwarten, die Maschine mit Wasser zu befüllen. Dann setzt sich das Mahlwerk in Bewegung. Die Bohnen verbreiten einen himmlischen Duft, der dafür sorgt, dass mein Magen zu knurren beginnt.

„Hunger?“, erkundigt sich Moritz und öffnet den Kühlschrank. „Ich habe hier zufällig noch ein paar Stücke von einer göttlichen Schokotorte. Am Wochenende haben wir eine Taufe gefeiert und der Herr Pfarrer bekommt stets die Reste eingepackt, damit er ja nicht verhungert.“ Moritz lacht und reibt sich über den nicht vorhandenen Bauch.

„Hast du keine Haushälterin, die für dich sorgt?“, frage ich grinsend. „Besser noch ein Haushälter?“

Moritz holt Tassen aus dem Schrank und stellt sie auf den Tisch.

„Tatsächlich kommt einmal pro Woche eine Frau, um zu putzen. Eigentlich würde ich es allein schaffen, aber sie hat bereits für meinen Vorgänger gearbeitet. Der Gemeinderat war sich darüber einig, dass es auch weiterhin Bestand haben soll. Allerdings koche ich gern, wie du dich vielleicht noch erinnerst. Und meine Wäsche werfe ich auch lieber selbst in die Maschine.“

„Eine Frau? Wie langweilig.“

„Vermutlich hätte ich sie nicht davon überzeugen können, dass ich lieber einen ansehnlichen jungen Mann im Haus haben würde.“

„Hättest du so jemanden denn gern?“, frage ich verschmitzt.

„Nein.“ Moritz klingt überzeugend. Im Grunde hatte ich bereits damals keinen Zweifel an seiner Entscheidung, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, mein Leben auf diese Weise zu verbringen. Kein Sex, keine menschliche Nähe, keinen Partner zum Altwerden … Okay, zurzeit bin ich auch allein und daran wird sich in nächster Zeit nichts ändern. Dank Conrad bin ich weit weg von all diesen Dingen und möchte einfach nur einen Ort, um zur Ruhe zu kommen.

„Kann ich eine Weile hierbleiben?“, bitte ich spontan. Moritz hält in der Bewegung inne, dreht sich um und schaut mich erstaunt an. „Ich könnte dein neuer Haushälter sein.“

„Wie sind deine Qualifikationen?“, erkundigt sich Moritz grinsend und gießt Kaffee ein. Er drängt mich dazu, mich auf das alte, aber gemütlich aussehende Sofa zu setzen. Dann holt er den Kuchen und verteilt die Stücke auf zwei Teller.

„Was ist los?“, fragt er schließlich und sieht mich neugierig an. „Seit Jahren hast du dich bei niemandem mehr gemeldet und damit vor allem Lukas ziemlich unglücklich gemacht. Jetzt tauchst du ausgerechnet bei mir auf und machst den Eindruck, als wenn du jeden Moment umfallen wirst. Rede mit mir, Max.“

„Wir haben uns getrennt“, erkläre ich leise. „Genau genommen bin ich heimlich abgehauen, weil ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe. Ich wusste nicht, ob mich jemand von meinen alten Freunden aufnimmt, aber du … na ja, du bist doch schließlich ein Gottesmann und ...“

„Niemand, vor allem nicht Lukas, hätte dir die Tür vor der Nase zugeschlagen“, behauptet Moritz voller Inbrunst und ergreift meine Hand. „Du bist hier sehr willkommen!“

 

Erinnerungen

Das schlechte Gewissen darüber, wie ich meine Freunde behandelt habe, bringt mich zum Schweigen. Ich war ein Arschloch. Eigentlich habe ich nur zugelassen, dass Conrad mich für sich allein wollte, aber unter dem Strich macht es das auch nicht besser.

Moritz sagt ebenfalls nichts. Wir halten die Kaffeetassen umklammert. Ich betrachte den Mann, der mir mehr als ein paar schlaflose Nächte beschert hat. Nicht, dass er persönlich daran beteiligt gewesen wäre … Moritz war immer ehrlich, hat mich nie hingehalten oder irgendwelche Versprechungen gemacht. Trotzdem hatte ich mich damals verknallt. Ich wusste, dass ich kaum mehr als ein Experiment für ihn war, ein Test auf dem Weg zu sich selbst und zu seinem Gott, und doch wagte ich mir Hoffnungen zu machen.

Seufzend trinke ich einen Schluck und schüttle unbewusst den Kopf. Zurückschauend war es eine beschissene Zeit. Zuerst hatte ich mich in Jakob verliebt. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass er mehr in mir sieht und war verdammt eifersüchtig auf Fabian, für den er sich schon eine Weile interessiert hat. Ich dachte, dass Fabian so einen tollen Mann gar nicht verdient. Immerhin hat sich mit HIV angesteckt. Auch wenn ich es furchtbar fand, wie sich viele in der Szene benommen haben, als Jakob sein Interesse so deutlich zeigte, wurde ich insgeheim einer von denen. Dabei mochte ich Fabian schon immer und es tat mir leid, was ihm widerfahren war. Nicht nur die Ansteckung, auch die Ablehnung der Leute.

Ein Blowjob war alles, was zwischen Jakob und mir je stattgefunden hat und trotzdem habe ich mir Hoffnungen gemacht. Eine Zeitlang sah es so aus, als wenn es mit den beiden nicht funktioniert. Ich dachte, das wäre meine Chance, aber ich war ein Idiot. Jakob wollte immer nur Fabian und als der auf dem Klo der Bar, in der ich damals gearbeitet habe, zusammengebrochen ist, bekam er ihn auch. Als die beiden zusammen nach Hause gefahren sind, wusste ich, dass ich verloren habe. Es tat furchtbar weh. Das ist schon lang her … Sie sind immer noch glücklich, haben sogar einen Adoptivsohn und leben ein Leben, von dem ich kaum zu träumen wage.

Selbst Lukas, mein ehemals bester Freund, hatte mehr Glück als ich. Es gab tatsächlich einen winzigen Moment, in dem ich dachte, wir würden für immer befreundet bleiben. Er und Daniel, ich und Moritz. Beste Freunde, die sich in Zwillinge verlieben. Schon seltsam, denn obwohl sich Daniel und Moritz äußerlich verdammt ähnlich sehen, für Daniel hatte ich nie irgendwelche Gefühle. Einmal abgesehen davon, dass ich meistens wütend auf ihn war. Er hat mit meinem besten Freund lange Zeit gespielt. Während Lukas bis über beide Ohren in Daniel verliebt war, hat dieser ihn kaum mehr als ein paar Brocken hingeworfen. Natürlich hat sich Lukas stets bei mir ausgekotzt. Ich habe ihm tausendmal gesagt, dass er sich trennen soll, aber er wollte oder konnte es nicht. Letztendlich hat sich seine Hartnäckigkeit gelohnt. Daniel hat erkannt, wie sehr er Lukas liebt. Noch ein Paar und ich … ich hatte lediglich einen Scherbenhaufen und fühlte mich obendrein wie das fünfte Rad am Wagen. Liebe im Doppelpack und ich als Single. Das hat echt keinen Spaß gemacht.

Dann habe ich Conrad getroffen und gehofft, dass mein eigenes Märchen wahr wird. Vielleicht hätte ich die ersten Anzeichen erkennen sollen. Er wollte mit meinen Freunden nichts zu tun haben, hat sich nicht einmal Mühe gegeben, sie kennenzulernen. Conrad hat mich regelrecht abgeschottet und ich habe es zugelassen. Nein, es hat mir sogar gefallen. Der Kontakt zu Lukas wurde weniger. Ich saß auf meiner rosaroten Wolke und habe ihn nicht mal vermisst. Dann bekam Conrad ein Jobangebot und ich bin, ohne zu überlegen, mit ihm mitgegangen. Ich dachte, eine andere Stadt wäre ein Neuanfang. Also habe ich alles hinter mir gelassen, in der Hoffnung, dass Conrad und ich uns eine wunderbare, gemeinsame Zukunft aufbauen. Am Ende habe ich jedoch alles verloren.

„Du denkst so laut, dass man es praktisch hören kann“, unterbricht Moritz meine deprimierenden Gedanken.

„Ach ja?“, frage ich mit einem schiefen Grinsen. „Was habe ich denn gedacht?“

Er seufzt leise und legt eine Hand auf meine.

„Was immer es ist, du solltest darüber reden. Du bist nicht ohne Grund ausgerechnet zu mir gekommen.“

„Willst du mir die Beichte abnehmen?“, erkundige ich mich provozierend.

„Nur, wenn du es möchtest. Aber ich kann dir auch ein gutes Abendessen, ein Glas Rotwein und eine gemütliche Couch zum Quatschen anbieten.“

Ich presse meine Lippen fest aufeinander und spüre so etwas wie Scham in mir aufsteigen. Meine Wangen werden warm und ich trau mich nicht, Moritz anzuschauen. Es ist doch genau das, was ich mir von ihm erhofft habe, allerdings hatte ich dabei vergessen, wie gut er immer noch aussieht. Trotz dieser Klamotten …

Es ist eine Verschwendung. Ich wette, ich bin nicht der Einzige, der das denkt. Hier gibt es bestimmt einige Frauen, die meine Ansicht teilen. Möglicherweise sogar ein paar Männer.

„Tut mir leid“, sage ich schließlich und reibe mir über die Augen. „Ich bin müde, geschafft und habe keine Ahnung, was ich in Zukunft machen soll. Eigentlich weiß ich nicht einmal genau, weshalb ich hier bin.“

„Gottes Wege“, entgegnet Moritz mit einem Schmunzeln. „Wir sollten herausfinden, was dich zu mir geführt hat. Doch bevor wir das in Angriff nehmen, habe ich noch eine Besprechung für eine Trauung. Das wird ungefähr eine Stunde dauern. Du kannst, wenn du magst, duschen oder dich hinlegen oder beides. Danach kochen wir zusammen.“

„Kann ich hier eine Weile wohnen?“, erneuere ich meine Bitte und sehe Moritz nun doch an. Diesmal ist er es, der meinem Blick ausweicht und sich, beinahe verlegen, durch die Haare streift.

„Für eine Nacht wird es sicherlich gehen, aber ich … Es ist nicht besonders angebracht, wenn du … ich denke, eine Pension wäre angemessener.“

„Hast du etwa Angst, dass ich mich nachts in dein Bett schleiche?“, erkundige ich mich ironisch und bereue die Worte im gleichen Moment. Ich weiß nicht, woher diese Aggressivität kommt.

„Es ist nicht mein Bett, um das ich mir Sorgen mache“, erwidert Moritz schließlich. „Aber ich bin noch nicht lange der Pfarrer dieser Gemeinde. Es ist nicht leicht, denn mein Vorgänger war sehr beliebt und die meisten Leute mögen keine Veränderungen. Noch dazu durch einen, in ihren Augen, viel zu jungen Pfarrer. Ich ...“

„Schon gut“, unterbreche ich ihn mit schlechtem Gewissen. „Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich sollte vielmehr dankbar sein und mich nicht wie ein Idiot benehmen. Wirst du mir trotzdem helfen?“ Ich schlucke schwer.

„Natürlich“, antwortet er sofort, steht auf und kommt zu mir. Ich lege den Kopf in den Nacken, um ihn ansehen zu können. Moritz umfasst mein Gesicht mit beiden Händen. Augenblicklich beginnt mein Herz aufgeregt zu klopfen und mir wird flau im Magen. Er beugt sich vor. Instinktiv lecke ich mir über die Lippen. Ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Ich halte die Luft an, kann nicht glauben, dass es wirklich passiert, und sehne mich danach. Sein Gesicht kommt näher und dann drückt er einen Kuss auf meine Stirn. Nur mit Mühe vermag ich ein frustriertes Schnaufen zu unterdrücken.

„Ich freue mich, dass du da bist. Was immer es ist, dass dich bisher gequält hat, ich bin mir sicher, dass du hier zur Ruhe kommst und dich erholen kannst.“

Er lässt mich los und der Zauber, der vermutlich gar nicht existiert hat, verschwindet. Ein Schauer läuft mir über den Körper. Unbewusst reibe ich mir über die Arme.

„Also, soll ich dir das Bad zeigen oder das Sofa?“

„Nein“, nuschle ich und unterdrücke ein Seufzen. „Ich gehe einfach eine Runde spazieren. Ein bisschen frische Luft wird mir sicherlich guttun.“

„Da ist eine fabelhafte Idee. Schau dich ein wenig im Ort um. Wie gesagt, die Besprechung wird kaum länger als eine Stunde dauern, danach bin ich ganz für dich da.“

„Okay.“ Ich erhebe mich ebenfalls. Wir verlassen gemeinsam die Küche und schließlich auch das Haus. Moritz schlägt den Weg zurück zur Kirche ein, während ich in die andere Richtung gehe. An der Einfahrt bleibe ich stehen, drehe mich um und sehe gerade noch, wie der schwarze Talar im Inneren des Gebäudes verschwindet. Ich betrachte den seltsamen Bau eine Weile. Für Religionen habe ich mich noch nie interessiert, aber bei alten Kirchen hatte ich immer ein ehrfurchtsvolles Gefühl. Dieses Haus bewirkt jedoch gar nichts. Es ist eigentlich sogar ziemlich hässlich und sorgt dafür, dass ich dem Glauben noch skeptischer gegenüberstehe. Kopfschüttelnd wende ich mich ab und gehe los. Da ich mich nicht auskenne, laufe ich die gleiche Strecke, die ich vorhin gekommen bin, bis ich wieder an der Bushaltestelle stehe. Die Verkaufsstände sind verschwunden, also überquere ich den leeren Platz und gehe durch eine schmale Gasse. Weitere Fachwerkhäuschen reihen sich aneinander, wie Perlen an einer Schnur. Sie alle scheinen restauriert zu sein, auch wenn die Balken schief und die Fenster winzig sind. Bei einigen frage ich mich, ob ein erwachsener Mann überhaupt aufrecht darin stehen kann.

Das Kopfsteinpflaster ist holprig. Einen Fußweg gibt es nicht, allerdings fahren hier auch keine Autos. Jedenfalls ist mir bisher noch keins entgegengekommen.

Mein Leben bestand in den letzten Jahren nur aus Stress, obwohl ich eigentlich gar nichts zu tun hatte. Ich war unglücklich in meiner Beziehung und genervt von der Stadt. Einen Job hatte ich nicht, weil Conrad wollte, dass ich Zuhause bleibe. Mehr als einmal habe ich darüber nachgedacht, zurückzugehen und den Gedanken immer wieder verworfen. Es erschien mir falsch. Obendrein habe ich mich dafür verachtet, dass ich offenbar der Einzige war, der sein Leben nicht auf die Reihe bekam. Die anderen hatten das, wovon ich träumte. Dafür durfte ich erleben, wie schnell man sich in einer Art Missbrauchsbeziehung wiederfindet. Ich versuche, die Erinnerung abzuschütteln und das Gefühl von Hilflosigkeit und Panik niederzukämpfen.

Am Ende der Gasse biege ich nach rechts ab, in der Hoffnung, dass ich auf diese Weise zurück zur Kirche gelange. Der Weg führt einen Berg hinauf. Schon nach wenigen Metern wird mir die Luft knapp. Meine Kondition ist erbärmlich. Ich versuche, tief durchzuatmen und die frische Luft zu genießen. Die Bergformationen im Hintergrund vermitteln mir ein Gefühl von Weite und Freiheit. Ich habe so etwas schon eine Ewigkeit nicht mehr gespürt. Schwer atmend komme ich schließlich oben an und habe eine wunderbare Aussicht auf den kleinen Ort. Die Kirche entdecke ich auch, sodass ich eine ungefähre Ahnung davon habe, wie ich wieder zu Moritz gelange.

Es ist noch Zeit, also setze ich den Weg fort, der in so etwas wie einer Parkanlage mündet. Ich setze mich auf eine der Bänke, die rund um einen Springbrunnen stehen. Der Duft von Bäumen, Gras und Blumen dringt mir in die Nase. Windböen wehen immer wieder Wassertropfen in meine Richtung. Einige treffen mein Gesicht und lassen mich zusammenzucken. Ich schließe die Augen und bemühe mich, meine Gedanken abzuschalten. Es ist nicht leicht, die Sorgen und Zweifel zu unterdrücken. Noch nie war ich so ziellos wie jetzt. Der Plan bestand einzig darin, zu Moritz zu fahren. Wie es weitergeht, darüber konnte ich nicht nachdenken. Ich weiß nicht einmal, weshalb Moritz als einzige Möglichkeit zu existieren schien.

„Immer noch auf der Suche nach der Kirche?“, erkundigt sich jemand. Ich öffne meine Augen, blinzle gegen die Sonne und sehe nichts, beziehungsweise niemanden.

„Wie immer: Hier unten“, sagt die Person. Ich richte mich auf und befinde mich Auge in Auge mit dem Mann, der mir vorhin den Weg gezeigt hat.

„Hallo“, gebe ich verwirrt zurück.

„Ebenso“, erwidert er glucksend. Er mustert mich neugierig. Ich winde mich unbehaglich unter seinem Blick. „Also?“

„Was?“

„Kirche gefunden? War der Herr Pfarrer da?“

„Ja, zu beidem“, antworte ich grinsend. Der Mann sieht mich abwartend an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und überhaupt ist mir nicht nach Gesprächen mit fremden Leuten.

„Wissen Sie“, meint er schließlich. „Wir sind hier ein recht neugieriges Volk. Wenn jemand, so wie Sie, mit einem Berg Gepäck ankommt, dann bleibt das natürlich nicht unbemerkt und man fragt sich ...“

„Schon gut“, unterbreche ich ihn und bin unschlüssig, ob ich amüsiert oder genervt sein soll. „Sie kennen nicht zufällig jemand, der eine Pension besitzt oder besser noch, der eine Wohnung vermietet oder einen Untermieter sucht oder ...“

„Sie wollen länger bleiben?“, erkundigt er sich und setzt sich neben mich auf die Bank. Genau genommen hüpft er auf die Sitzfläche. Seine Beine baumeln in der Luft. Die Füße stecken in Kinderschuhen und sind im Vergleich zu meinen winzig.

„Lustig, oder?“, fragt er und schaukelt schwungvoll die Unterschenkel hin und her.

„Ein bisschen“, gebe ich schmunzelnd zu und schaue ihm ins Gesicht. Er lächelt und seine Augen glänzen samtig. Es ist seltsam, aber der Kopf will irgendwie gar nicht zum Rest des Körpers passen. Ich habe bisher noch keinen kleinwüchsigen Menschen bewusst wahrgenommen. Sicherlich sind mir schon welche begegnet, aber nicht so nah oder persönlich. Neben Neugier verspüre ich auch Unwohlsein. Ich bin selbst kein Riese und auch nicht breitschultrig, aber neben ihm fühle ich mich wie ein ungehobelter Klotz.

„Ich heiße Paul“, stellt er sich vor und streckt mir seine Hand entgegen. Eine männliche, raue Hand, aber kaum größer als die eines Kindes. Angenehm warme Finger schließen sich um meine, sorgen dafür, dass die Haut zu prickeln beginnt. Verwundert betrachte ich die Verbindung und schiebe das Gefühl auf Schlafmangel und Anspannung.

„Max“, erwidere ich.

„Freut mich, Max.“ Er lässt mich wieder los, was ich tatsächlich schade finde. „Also, du suchst eine Unterkunft? Für einen längeren Zeitraum?“

„Schon möglich.“ Ich zucke unbestimmt die Schultern.

„Es ist nicht gerade so, dass es in der Gegend von Pensionen und Hotels nur so wimmelt. Obwohl wir hier zwischen den Bergen schön liegen, befinden sich die touristischen Hochburgen einige Kilometer entfernt. Hier kommen allenfalls Leute her, die ein bisschen Ruhe und Ursprünglichkeit suchen.“

„Genau danach sehne ich mich“, gebe ich selbstvergessen zu. Pauls Augen werden groß, dann zieht er die Augenbrauen zusammen und betrachtet mich nachdenklich. Ein derartiger Gefühlsausbruch vor einem fremden Mann ist mir im Nachhinein peinlich. „Also ...“, murmle ich und fahre mir durch die Haare. „Ich meine, ich brauche einfach nur ein Zimmer und ein bisschen Zeit.“

„Die einzige Pension befindet sich am Markt“, sagt er schließlich. „Der Platz, auf dem vorhin die fliegenden Händler waren. Ein richtiger Marktplatz ist es natürlich nicht.“ Paul lacht, verstummt dann und sieht mich aufmerksam an. „Vermutlich ist es seltsam und auch ein bisschen befremdlich, aber solltest du …“ Er presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. Behände springt er von der Bank, holt aus der hinteren Hosentasche eine Brieftasche hervor, klappt sie auf und zieht eine Visitenkarte heraus. „Eigentlich suche ich eher etwas Längerfristiges, aber falls dir die Pension nicht gefällt und du gewissermaßen mehr möchtest. Also, mehr Platz für dich...“

„Ich verstehe nicht.“ Perplex mustere ich die Karte in meiner Hand. Diesmal ist es Paul, der tief durchatmet.

„Sie war ursprünglich … Nein, eigentlich spielt es keine Rolle, wofür sie war. Es ist nur eine winzige Wohnung. Zwei Zimmer und ein Bad. In einem der Räume befindet sich eine Singleküche.“

„Bietest du mir gerade ein Dach überm Kopf an?“, erkundige ich mich irritiert.

„Kann sein.“ Er wirkt auf einmal erstaunlich verlegen. „Ich … Es ist nichts Besonderes, aber wenn du …“ Er stockt, schüttelt den Kopf und streckt einen Arm aus, als wollte er mir die Karte wieder wegnehmen. „Egal. Ich muss los, aber wenn du … du hast ja meine Adresse.“ Brüsk dreht er sich um und geht. Genau genommen scheint er es recht eilig zu haben. Ich starre ihm hinterher, weiß nicht, was mich mehr verwirrt, seine Worte, der merkwürdige Abgang oder die Art, wie er sich bewegt. Ich betrachte das Stückchen Pappe in meiner Hand.

„Paul Huber, Wanderführer, Bergwandern“, lese ich leise. Darunter steht eine Adresse und Telefonnummer. Ich drehe das Kärtchen um. Auf der Rückseite befindet sich ein Bergpanorama. Verwundert betrachte ich erneut die Vorderseite. Irgendwie passt das gar nicht in meinem Kopf zusammen. Dieser Mann klettert in den Bergen? Er bietet sogar geführte Wanderungen an? Ich runzle die Stirn und stehe auf. Vermutlich bin ich zu müde, um das alles zu begreifen. Es wird Zeit, dass ich zurückgehe. Moritz wird hoffentlich ebenfalls wieder da sein. Es fällt mir schwer, in ihm lediglich den Pfarrer zu sehen. Meine Haut beginnt zu kribbeln und die Erinnerungen an den Abend am See fluten mein Gehirn. Es war schön, vielleicht nicht berauschend, aber … Ich schüttle resigniert den Kopf. Jetzt darüber nachzudenken, ist absurd und vollkommen überflüssig. Es gibt keinen Grund, seine Entscheidung in Frage zu stellen. Vor allem will ich keine alten Zeiten aufwärmen oder Moritz in Bedrängnis bringen. Ich brauche ihn als Freund und Unterstützer, um das Chaos zu beseitigen und neu anzufangen und vielleicht kann er mir auch dabei helfen, Verbindung zu den anderen aufzunehmen.

Ich vermisse Lukas, auch wenn ich mir das bisher kaum eingestehen wollte. Es wäre schön, wenn ich wieder Teil seines Lebens sein könnte und auch zu Jakob Kontakt hätte. Im Nachhinein verstehe ich gar nicht, weshalb ich zugelassen habe, dass Conrad mich dermaßen abgrenzt. Ich bin mit offenbar absichtlich in mein Unglück gerannt. Der Druck hinter meinen Augen nimmt zu. Ich werde nicht mitten auf der Straße heulen, obwohl ein leises Schluchzen meiner Kehle entkommt.

„Ich bin hier“, muntere ich mich selbst auf. „Das ist doch ein Anfang.“

Bis ich die Kirche erreiche, habe ich mich wieder einigermaßen gefasst. Ich gehe auf das Pfarrhaus zu und klingle. Geduldig warte ich eine Weile, aber Moritz öffnet nicht. Ich schaue mich um und überlege, ob ich in der Kirche nach ihm suchen soll. Womöglich hat das Gespräch doch länger gedauert. Eine Hochzeit. Irgendwann … in einem früheren Leben habe ich auch mal davon geträumt, zu heiraten. Nicht unbedingt kirchlich, aber ein richtig großes Fest. Ich lache bitter auf und drücke neugierig die Türklinke runter. Ein uraltes, verschnörkeltes Ding, das mir vorhin gar nicht aufgefallen ist. Tatsächlich springt die Tür auf. Überrascht betrete ich den Flur, rufe Moritz‘ Namen und lausche in die Stille.

Er antwortet nicht und ich höre auch keine Geräusche, die auf seine Anwesenheit schließen lassen. Unschlüssig gehe ich weiter. Meine Klamotten stehen immer noch im Flur. Der einzige Raum, den ich kenne, ist die Küche. Da ich nicht allein durch das Haus geistern möchte, begebe ich mich dorthin. Die Tassen stehen so auf dem Tisch, wie wir sie dort hinterlassen haben. Ich schenke mir einen Kaffee ein und mache es mir auf dem Sofa bequem. Erneut überfällt mich eine bleierne Müdigkeit. Selbst das Koffein zeigt keine Wirkung. Ich kann meine Lider kaum noch offen halten, daher lasse ich mich auf die Seite fallen. Es ist nicht besonders viel Platz. Ich hoffe, ich lande nicht auf dem Boden. Eine der Decken, die auf der Sitzfläche liegen, benutze ich als Kopfkissen, eine weitere werfe ich halbwegs über mich. Einen Moment betrachte ich den Fußboden, verfolge das Muster der Fliesen mit Blicken, dann schlafe ich ein.

 

ER, du und ich

Seltsame Geräusche dringen in mein Bewusstsein. Es klingt, als ob Töpfe aufeinanderschlagen. Ein Zischen und Brutzeln … und dann nehme ich einen wunderbaren Duft wahr, der dafür sorgt, dass mein Magen zu knurren beginnt. Verwirrt öffne ich die Augen und brauche einen Moment, ehe ich weiß, wo ich mich befinde. Immerhin bin ich nicht von der Sitzfläche gefallen. Allerdings war es nicht besonders bequem, sodass ich das Gefühl habe, sämtliche Knochen und Muskeln schmerzen. Ich starre unter dem Tisch hindurch auf zwei Beine, die in einer grauen Jogginghose stecken. Vorsichtig hebe ich den Kopf und mustere den Mann, der am Herd steht und dafür verantwortlich ist, dass das Knurren lauter und regelrecht schmerzhaft wird. Ich atme tief durch. Fleisch und Gewürze, Kartoffeln … Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, sodass ich schwer schlucke. Aber es ist nicht allein der Duft des Essens, sondern auch der Anblick der kochenden Person. Auch wenn Jogginghosen für gewöhnlich nicht besonders vorteilhaft sind, diese umspannt einen fantastischen Hintern. Das schwarze Shirt sitzt eng und betont einen breiten, muskulösen Rücken. Nichts davon ist für menschliche Augen, Hände oder Lippen bestimmt, auch wenn ich für einen winzigen Moment davon kosten durfte. Es ist eine Verschwendung.

„Starrst du mir auf den Arsch?“ Moritz dreht sich grinsend zu mir um.

„Wird der da oben etwa deswegen eifersüchtig?“, frage ich scherzhaft und deute zur Decke.

„Er hat mir dieses Aussehen geschenkt. Weshalb sollte er eifersüchtig sein?“

„Keine Ahnung“, murre ich, denn ich weiß, dass ich eine derartige Diskussion mit Moritz nicht gewinnen kann. Ich habe für all diese Dinge kein Verständnis, auch keinerlei Bedürfnis, etwas daran zu ändern.

„Hey, kein Grund grimmig zu gucken“, sagt Moritz, spießt mit der Gabel etwas aus der Pfanne und kommt damit zu mir. „Kosten?“

„Unbedingt“, erwidere ich und setze mich ächzend auf.

„Du hättest dir eine bequemere Schlafstelle suchen sollen.“

„Etwa dein Bett?“ Ich weiß nicht, weshalb ich ihn immer wieder provozieren muss. Es ist … Ich schüttle über mich selbst den Kopf.

„Es wäre auf jeden Fall besser gewesen, als das alte Ding hier. Ein Wunder, dass du nicht auf den Boden gefallen bist.“

„Im Hause Gottes geschehen eben auch für einen Ungläubigen Wunder.“

„Natürlich“, erwidert Moritz mit einem Zwinkern. „Man muss sie nur erkennen und annehmen.“

Ehe ich etwas darauf erwidern kann, schiebt er mir ein Stück Fleisch zwischen die Lippen. Genüsslich beginne ich zu kauen und noch ehe etwas davon in meinen Magen gelangt ist, verlangt dieser mit wildem Gebrüll nach mehr.

„Hunger?“, erkundigt sich Moritz lachend. Ich streiche über meinen Bauch und nicke. „Es geht sofort los. Du kannst schon mal den Tisch decken, während ich die Kartoffeln abgieße.“

„Okay“, nuschle ich und erhebe mich von dem Sofa. In meinem Rücken knackt es verdächtig, als ich mich aufrichte. „Wo finde ich das Geschirr?“

Moritz zeigt, mit einem Topflappen in der Hand, auf einen der Hängeschränke.

---ENDE DER LESEPROBE---